Die erlesene Umgebung der Fakten. Das endgültige Gedicht wird ein Gedicht aus Fakten in der Sprache der Fakten sein. Aber es wird ein Gedicht aus vorher nicht erkannten Fakten sein.
– Nachbemerkung zu den Adagia von Wallace Stevens. –
Ab 1930 und bis zu seinem Tod im Jahre 1955 hat Wallace Stevens parallel zu seinem lyrischen Werk Notizbücher geführt, in die er entweder ihm wichtige Zitate aus Texten anderer Autoren, häufig die Quellen für Titel eigener Gedichte, aufnahm und kommentierte oder eigene Aphorismen formulierte, die seine poetologischen Ansichten im weitesten Sinne wiedergaben. Hierzu gehören neben „Sur Plusieurs Beaux Sujects“ (1932–1937), „Materia poetica“ (1942) und „Miscellanous Notebooks“ (1942–1955) auch die zwischen 1934 und 1940 entstandenen Adagia. Sie wurden erstmals vollständig in der von Milton J. Bates betreuten erweiterten Ausgabe von Opus Posthumous (New York, 1989) abgedruckt. Heute gelten die in sich abgeschlossnen Adagia mit dem Essayband The Necessary Angel als wichtigste Äußerung des Dichters zu den Aufgaben und Möglichkeiten von Dichtung.
Die Gesamtheit dieser knappen, oft dogmatischen Maximen und Sprichwörter ergibt kein poetologisches System. Doch ordnen sie sich, neben isolierten Notaten („Gesellschaft ist ein Meer“), Geläufigem („Der Mensch lernt nie aus“) und fixierten Stimmungen des Übermuts („Das Gedicht ist ein Kaffee“), zu einigen wenigen Kräftefeldern, zu denen Stevens auch über längere Zeiträume mit größtem Nachdruck immer wieder zurückkehrt. In erster Linie geht es ihm um das, was ein Gedicht ist, um das Verhältnis von Dichtung zur Wirklichkeit und zur Imagination, und um Zweck (purpose) und Ziel (objective) der Dichtung. Am offensten bleibt die Definition des Gedichts. Sie gelingt Stevens nicht, und er weiß es. Kumulativ werden Fragmente von Definitionen aneinandergefügt. So sehen wir uns einer Vielzahl von Aussagen gegenüber: „Dichtung ist ein Weg zum Heil“, „eine Form der Melancholie“, „ein Fasan“, „ein Meteor“, und „Das Gedicht ist eine vom Dichter geschaffene Natur“. Letztlich bleibt, was Dichtung ist, offen, ergänzbar, in Bewegung. Sie kann eben nicht festgelegt werden: Sie ist „die Summe ihrer Eigenschaften“. Doch eines ist für Stevens ein Glaubenssatz: das Gedicht darf nicht Erklärung sein, es ist immer eine Handlung, ein Akt. Die Adagia insistieren, daß Dichtung nicht diskursiv ist. Sie teilt nicht Gedanken oder Erklärungen über ein Thema mit. Vielmehr ist das Gedicht das, was es darstellt: „Der Körper ist das große Gedicht.“ „Ein Stilwechsel ist ein Themenwechsel.“ „Ein Gedicht braucht keine Bedeutung zu haben und wie die meisten Dinge in der Natur hat es oft auch keine.“
Für Stevens erschafft der Dichter eine eigene Welt der Imagination, die scharf getrennt ist von der Alltagswelt und von der Welt des Verstandes. So wird beispielsweise der Philosophie in mehreren Aphorismen eine Absage erteilt; sie ist Stevens ein Ort, aus der die Imagination – die eigentlich bewegende und erhellende Kraft – verbannt wurde, ein Ort, der dürr ist, ein Skelett, abzulehnen wie Rhetorik oder Tradition.
Alle bedeutenden nordamerikanischen Dichter der ersten Jahrhunderthälfte haben aufgrund ihrer pragmatischen Einstellung und ihrer Absage an die symbolische Ästhetik über das Verhältnis von Erfahrung und Wirklichkeit, von Wirklichkeit und Imagination nachgedacht. Hier ergibt sich ein besonders intensiver Berührungspunkt zwischen Stevens und seinem Kollegen William Carlos Williams. Für beide Dichter existiert die Wirklichkeit für sich. Sie ist der Ausgangspunkt:
Die große Eroberung ist die Eroberung der Wirklichkeit.
Die sinnliche Teilhabe an den Fakten, den ,wirklichen Dingen‘, verwandelt sich in einen neuen (verbalen) Gegenstand, in ein Gedicht mittels einer Kraft, die für Williams und für Stevens nicht wesentlich verschieden ist von der Elektrizität, von Dampf, von Gas oder Licht: der Imagination. „Wie Licht fügt sie nichts hinzu außer sich selbst“, definiert sie Stevens in The Necessary Angel. Während Williams glaubt, daß die Imagination auch Dinge hervorbringen kann, die es in Wirklichkeit vorher nicht gibt, sieht Stevens ihre Bedeutung darin, das Ungesehene, noch nicht Erkannte, aber dem Wirklichen bereits Inhärente zu erhellen und an den Tag zu bringen. Das hängt mit Stevens’ umfassenderem Begriff von Wirklichkeit zusammen. Für ihn sind die Welt der Imagination und die wirkliche Welt potentiell identisch.
Daß aber die dichterische Imagination die Welt erst zündet, zeigt die hohen Erwartungen, die Stevens an Dichtung stellt. Kein anderer Dichter unserer Zeit, vielleicht mit Ausnahme des ganz anders gearteten Ezra Pound, nimmt Dichtung so überschwenglich ernst. In mehreren Adagia wird sie, in eigentlich spätromantischer Manier, als Ersatz der obsolet gewordenen Gottes-Idee angesprochen und der Dichter als „Wundermann“, als „Priester des Unsichtbaren“. „Hat man den Glauben an Gott aufgegeben“, heißt es explizit, so „ist Dichtung jene Wesenheit, die seinen Platz einnimmt als des Lebens Heil.“ Sie schenkt also Seelenfrieden, weist einen Heilsweg, hilft, in der Welt eine andere Welt zu finden, die in ihrer Kombination von realen und imaginierten Elementen eine Totalität herstellen kann. Klaus Martens der über die Utopie im Werk Wallace Stevens’ gearbeitet hat, erinnert im Zusammenhang mit der überragenden Rolle, die Stevens dem Dichter zuweist, an Ralph Waldo Emerson und insbesondere an die englische Romantik und Shelleys Formel von den Dichtern als „unacknowledged legislators“ der Welt. Um Wallace Stevens eigene singuläre Größe zu erfassen, müssen wir seine Gedichte lesen. Die Adagia sind ein Komplement dazu, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir können in ihnen Stevens denken hören, wenn er sich von einer Maxime zur übernächsten widerspricht und darunter leidet, daß nicht sein ganzes Leben „für Dichtung frei“ ist, obwohl er „kein Leben außer in Dichtung“ hat. Zusammen ergeben die Adagia das ergreifende Portrait eines Dichters, der von der humanistischen, ja nahezu religiösen Aufgabe der Dichtung überzeugt war.
Auf einen Fragebogen von Twentieth Century Verse zu Entwicklungslinien in der amerikanischen Lyrik antwortete Stevens, der Furor der Poesie komme immer „von ein oder zwei Verrückten“. Vielleicht gibt es wirklich nur zwei Arten von Dichtern: diese Verrückten und dann die Dichter im Sonntagsanzug, mit Köfferchen und unzerfurchter Miene. Stevens gehörte zu der zweiten Kategorie. Ein Geschäftsmann, ein Sprachvirtuose, der die vollkommensten amerikanischen Gedichte unseres Jahrhunderts geschrieben hat. Wer sich ihnen anvertraut, kann für einen „zündenden“ Augenblick Teil der Welt, des Weltzusammenhangs sein, so wie ihn Stevens erkannte und für uns in eine ästhetische Struktur von großer Dauer und Schönheit stellte.
Joachim Sartorius, Nachwort
Jeder Versicherungspolice folgt das Kleingedruckte. An diese bewährte Zweiteilung hat sich Wallace Stevens – im Brotberuf Direktor einer amerikanischen Assekuranz – auch in seinem poetischen Doppelleben gehalten. Seine Gedichte sichern ihm einen Platz in der Ruhmeshalle der Moderne direkt neben T.S. Eliot, Robert Frost und William Carlos Williams. Die beigehefteten literaturtheoretischen Kommentare, Kautelen und Kundenbelehrungen aber sind mit Vorsicht zu genießen.
Das gilt insbesondere für die jetzt in einer – nicht immer glücklichen – Übersetzung vorliegenden Adagia, die Stevens zwischen 1934 und 1940 zu Papier gebracht hat. Es handelt sich dabei um Gedankenstenogramme, Notizen und Notate wie aus einer endlosen Kette von Vorstandssitzungen. Bemerkenswertes wird mitgeschrieben, etwa: „Der Dichter verkörpert den Geist bei dem Versuch, uns vor sich selbst zu schützen“, oder:
Der endgültige Glaube besteht darin, an eine Fiktion zu glauben, von der man weiß, daß es eine Fiktion ist, weil es sonst nichts gibt.
Dazwischen aber macht sich viel zuviel Gutgemeintes und Bemühtes breit, gibt eine im Nadelstreifen der Seriosität auftretende Gedankenarmut ihre gewichtigen Statements ab, bis zu vorgerückter Stunde nur noch die Hohlköpfigkeit das Sagen hat. Sie tarnt sich lakonisch und beglückt uns mit Einsichten wie: „Wir mögen die Welt, weil wir es nun mal tun“, oder: „Ein Gedicht ist ein Kaffee (Wiederbelebung).“ Nach dreißig Seiten, und das ist das schönste an den Adagia, ist die Tasse leer.
Größte Dichter des Modernismus sind mit dem langen Abschied dieser Periode nicht unmodern geworden. Zu diesen gehört Wallace Stevens, der in Abständen in geringem Umfang „wiederentdeckt“ wird, etwa alle zehn Jahre nach seinem Tod im August 1955. Es muß sich bei der Aufnahme dieses Amerikaners in dieses oder jenes Museum nicht allein um ein unvollendetes, sondern auch um ein wenig geliebtes Projekt handeln. Man konnte das manchmal auch am übersetzerischen Umgang mit seinen Gedichten beobachten, bei dem gelegentlich die Theorie im Gedicht zu ungunsten der Dichtung darin formuliert wird. Die poetische, die liebhaberische, die kritische Annahme von Stevens’ kurzen und langen Gedichten, die keineswegs so dunkel sind, wie gemeint wird, hat noch gar nicht richtig begonnen. Zum Glück, muß man wohl sagen, und kein Unglück die über vierzigjährige Verspätung, denn sonst wäre der Mann längst der Länge und Breite nach entdeckt, verortet, vermessen, säuberlich verfrachtet und endlich ausgestopft und wohltemperiert im offenen Sarg zur Schau gestellt worden. Schild in den über der Brust gehaltenen Händen: Gotcha.
Er war nicht sonderlich „amerikanisch“: Kein Babbitt, kein Bukowski, kein Big-Sur-Bewohner. In Reading im bäuerlichen Pennsylvania geboren, den Dialekt des Tulpehocken im Ohr, lebte er, wie vor ihm Mark Twain und Harriet Beecher-Stowe, zumeist in Hartford, Connecticut. Dort lenkte den Versicherungsmann wenig vom Schreiben ab, nicht einmal die Fabrik von Samuel Colt mit ihrer sternhimmelblaugoldenen maurischen Kuppel.
Mit der lyrischen Revolution, die über die französische Rezeption Poes durch Baudelaire nach Frankreich geriet, dann über die deutsche Rezeption des Amerikaners und des Franzosen (als seien sie Zwillinge gewesen) durch mehrere Dichter-Übersetzer – darunter George – den langen Weg über Europa nahm, bis sie, gewissermaßen gehärtet durch den Symbolismus und Impressionismus, zurück in die USA gelangte, verbindet Wallace Stevens die Kunst der Tonsetzung, die Instrumentierung seines lyrischen Sprachorchesters, die endlosen Feinschattierungen der Pastellfarben seiner Sprachpalette. Sie bringt die konzeptuelle, die thematische Welt der Poetik als einer Gegenwelt zu ungehörten neuen Tonfarben. Die Welt poetischer Utopie hat ihre Wurzeln gewiß bei Francis Bacon und Thomas Morus, näher gelegen aber in der englischen Romantik, bei Percy Bysshe Shelley, der sich eine poetische Welt mit sich selbst als Gesetzgeber vorstellen konnte; bei William Wordsworth, der das Grauen vor dem gelebten Alltag brauchte, um poetisch alltäglich zu tun, aber auch bei den zeitgenössischen Visionären neuer Gedanken- und Weltordnungen, zuletzt William Butler Yeats, der – oft Überhört – bei Stevens mitspricht. Der Yeats des beinharten Elfenturms, sein weithin sichtbarer Rückzug vom poetischen Rand irischer Mythen in die Mitte der bronzegehämmerten Welt eines überall denkbaren Byzanz. Alltagsmythenbildend sind dagegen Walt Whitman und Wallace Stevens. Sie begegnen sich im Entwurf amerikanischer poetischer Autarkie und im Prinzip des Ausbaus von Aperçus zu geistigen Eremitagen, vorgeschrieben durch Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson, letzterer in den Essays „Nature. The American Scholar“ und „The Poet“ und in den Realisationen skeptischerer Aspekte dieses Gedankenprojekts in „Circles“ und „Experience“. Sie teilen, alle vier, die Vorliebe für die shore ode, den Gesang am Meer, die Stimmfestigung und Icherprobung im Ansingen gegen flatternden Wind und schwappende Wasser einer Natur, auf die kein anthropologisierender Zugriff mehr gestattet ist. Stevens teilt die dichtungsförderliche Zurückgezogenheit nahe dem Epizentrum des Trubels, aus dem zentrifugal arabeske Überraschungen aus den Tiefen von Webster’s Dictionary, aus dem Trichter des Plattenspielers und aus dem bilderhortenden Gedächtnis der Verzettelung entgegenfliegen, wie Eingebungen.
Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen T.S. Eliot, James Joyce, Ezra Pound, den Kreisen der Imagisten und Vortizisten und der Gruppen um Magazine und Zeitschriften – wie Harriet Monroes und Alice Corbin Hendersons Poetry (ab 1912), Margaret Andersons The Little Review (ab 1914) oder Alfred Kreymborgs Others (ab 1925) – war Stevens nie in Europa. Er war aber wie alle „New Poets“ ebenfalls an europäischer Dichtung orientiert, neben den bereits Genannten auch an Jules Laforgue und Rainer Maria Rilke. Daß Stevens sich während des Ersten Weltkriegs und in den ersten Jahren danach nie auf Lesereisen befand, aber per Eisenbahn auf wochenlangen Geschäftsreisen die Städte und Kleinstädte des Südens, Südwestens und der Staaten des Mittleren Westens bis nach Chicago durchfuhr, um Schadensmeldungen zu überprüfen und Verträge aufzulösen oder abzuschließen, anstatt sich in Paris, London, Venedig, München oder Zürich aufzuhalten, schloß ihn jedoch von den Entwicklungen in der neuen englischsprachigen Lyrik nicht ab. Es könnte vielmehr durch den Abstand von den europäischen Kunstzentren eine größere Sensibilisierung für neue Kompositions-, Schreib- und Sehweisen erzeugt worden sein. Mit ihr einher gingen die Bestandsaufnahme und Analyse des amerikanischen Umfelds und mehr als nur ein Begriff davon, was dies Amerika war, mit und in dem seine Lyrik etwas bewirken könnte. So mögen seine frühen, „Anekdoten“ genannten und imagistische Verkürzungen nutzende Gedichte zu verstehen sein, darunter das programmatisch zu lesende „Anecdote of the Jar“ (1919):
Anekdote vom Krug
Ich tat den Krug in Tennessee,
und rund war er, auf einen Berg.
Der Wildnis Schlamperei zieht er
Herum um diesen Berg.
Die Wildnis stieg zu ihm hinauf
Und warf, gezähmt, sich um ihn hin.
Der Krug war rund auf diesem Grund
Und hoch und himmlisch anverwandt
Und herrschte nun im ganzen Land.
Der Krug war grau und blank.
Er hatte nichts von Kräh’ und Kraut,
Wie gar nichts sonst in Tennessee.
Wallace Stevens setzt zwischen die einheimischen Wildgewächse der zeitgenössischen Dichtung – vielleicht wäre an die mit eher bodenständigen Themen und Szenerien beschäftigten Vachel Lindsay, Edgar Lee Masters, Carl Sandburg, Edwin Arlington Robinson zu denken – weithin sichtbar sein „einfaches“ anekdotisches Kunstwerk. So kurz es ist, ist es ein Lehrgedicht. Der Krug ist kein antikes griechisches Gefäß, das naives Leben auf ewig lebend hält, aber Kunst inmitten der Natur. Sie ist Teil von ihm. Es geht nicht um eine Frage von Zentrum, Vorder- und Hintergrund, sondern um das beherrschende Kunstwerk, das sich alles anverwandelt. (Der Begriff vom Kunstwerk als eines Beherrschenden kehrt u.a. 1922 in „The Emperor of Ice-Cream“ wieder). Vielleicht antwortete Stevens, dem die Relationen von Dichtung und Malerei nicht nur in seinem gleichnamigen Essay nahe waren, mit seiner „Anekdote“ auf den zeitgenössischen amerikanischen Modernismus eines Malers wie Thomas Hart Benton, auf dessen lokalkolorierenden, folkloristisch inspirierten „epischen“ Gemälden, oftmals in Tennessee angesiedelt, die angeblich festumrissenen Linien von Mensch, Tier und Ding zu wuchern scheinen.
Stevens war mit seiner Sehweise natürlich nicht allein; die anti-realistische Kunst seiner Zeit teilt sie mit ihm. Auch Ezra Pounds ironischer Ausruf in seinem nur wenig früher erschienenen Gedicht „Cantico del sole“ geht in dieser Richtung:
The thought of what America would be like
If the Classics had a wide circulation
Troubles My Sleep.
Der Dichter aus Hailey, Idaho sucht sein Klassisches in Europa, in Paris und London; der Dichter aus Reading und Hartford richtet es im Herzen Amerikas auf, in einem „Tennessee“, findet aber sein „Paris“ in New Yorker Ausstellungen. Dem poetologischen Gedicht „Anecdote of the Jar“ implizit ist bereits das Schlüsselwort seiner Dichtung: order, Ordnung, Gedankenstruktur der Welt. Das Kunstwerk gliedert, strukturiert die Welt, zu der es gehört, neu. Auch Stevens’ meist anthologisiertes, weltanschaulich programmatisches Gedicht „Sunday Morning“ (1915) unternimmt in acht Strophen das Sprachgemälde vom Aufbruch des Bewußtseins in die Welt des Zwanzigsten Jahrhunderts, ohne Gott, ohne Jenseits, ohne Gottesdienst am Sonntagmorgen, aber unter Aufbietung des ganzen Arsenals der Selbsterkenntnis in dieser Kriegszeit und der sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten, da außer dieser Erde und Welt nichts sei. Scheint anfangs das Gedicht mit seiner träumenden Frauengestalt und den flammenden Gold- und Braun- und Grüntönen in den ersten Zeilen noch von der präraphaelitischen Malerei eines John Everett Millais, William Holman Hunt oder Dante Gabriel Rossetti inspiriert zu sein, so zeigt sich die Gestalt sehr bald als Muse der poetischen Revolution in einer von Ästhetizismus, Dekadenz und ausgeleierten Glaubensbegriffen zugelegten Welt. Zugleich zieht es Stevens in den Gedichten seines ersten Bandes Harmonium (1923) weiterhin durchaus auch noch in impressionistisch komponierte Gedichte, die sich inmitten der Zerstörungen dieses ersten Jahrhundertdrittels all dessen versichern, was anregen kann und exotisch, sinnenfroh und farbenprächtig ist, wie in Gemälden von Mary Cassatt. Stevens’ mit epischen Mitteln komponiertes Langgedicht „The Comedian as the Letter C“ (1922) ist ein Höhepunkt dieser Phase, die bald nach dem ersten Gedichtband endet. Es ist, als ob, jenseits des wüsten Landes, ein Neues Atlantis aufzufinden wäre. Pounds Zeilen:
Then on an oar
Read this:
„I was
And I no more exist;
Here drifted
An hedonist“
könnten ohne Anpassungsverlust auf den Stevens solcher Gedichte zugeschnitten sein. Doch ist diese Interpretation zu eng. Sie läßt aus, was Stevens deutlich von seinen Zeitgenossen unterscheidet: den Geist der Komödie, das Komödiantische. Dieser Geist spielt nicht allein in dem Umgang mit allen Varianten des Buchstabens und des Lautes „C“ in diesem Gedicht mit. Vielmehr werden die Laute des Gedichts in ihrem Wortspiel zu dem, was den dichterischen Komödianten ausmacht auch in anderen Stevens-Gedichten: Der „Emperor of Ice-Cream“ ist eben auch der Herrscher des „I seem“, dem nur durch das poetische Sein ein Ende bereitet werden kann – in einer Realität, einem paradoxen Sein, das nach Schnörkeln farbenprächtigster, vergänglichster Eiskrempaläste ruft:
Laßt Sein sein das Finale von Schein:
Der Eiskrem-Kaiser ist Kaiser allein.
Stevens erarbeitete sich eine paradoxe „komische Persona“ (Richardson 412), deren verbale Farbenpracht und verdeckter Witz die allfällige Ödnis am Ende des Ersten Weltkriegs nicht leugnen und die Leere nicht mit Kulturfragmenten aufzufüllen trachtete, sondern dem äußeren Ruin zum Trotz umso prächtigere „confits“ entgegenhielt. Es galt, dem äußeren Druck des Unpoetischen nicht nachzugeben und ihn durch den Gegendruck des Poetischen zumindest zeitweise zu neutralisieren.
Stevens war auf eher unauffällige Weise Chicagoer und New Yorker Künstlerkreisen in der Phase des beginnenden High Modernism in Amerika verbunden. Er besuchte wohl die epochale Armory Show (1913) zeitgenössischer Kunst im Zeughaus der New Yorker Nationalgarde. Walter Pach, Stevens’ Freund und Mitredakteur während ihrer gemeinsamen Studienzeit in Cambridge, hatte sie mitorganisiert und bei der Zusammenstellung geholfen. Er war häufiger Gast in der Wohnung eines anderen Freundes, des reichen Sammlers Walter Conrad Arensberg. Dessen private Räumlichkeiten waren voll neuer Kunstwerke und übertrafen in der Qualität und Vielfalt des Gezeigten manche Galerie zeitgenössischer Malerei und Skulptur. Hier standen und hingen Originale von Brancusi, Braque, Cézanne, Derain, Matisse, Picabia, Picasso, Sheeler und Duchamp. Marcel Duchamps „Nude descendant l’escalier“, als Bild eines Bewegungsablaufes zu sehen, ist wohl auch nicht ohne Einfluß auf eine kleine Gedichtserie Stevens’ gewesen, die er entsprechend Phases (1914) nannte. Man sah sich bei Alfred Kreymborg, selbst Lyriker und Stückeschreiber, las und diskutierte die Zeitgenossen, die Expressionisten und Futuristen, wie etwa Giovanni Papini, dem Stevens noch 1948 in dem Gedicht „Reply to Papini“ antwortete.
Wie mancher in diesen einander überschneidenden Kreisen, denen auch Myrna Loy, Alfred Stieglitz und Man Ray angehörten, schrieb Stevens neben seinen Gedichten mit unterschiedlichem äußerem Erfolg minimalistische, vom Nō-Theater inspirierte und stark pantomimische Stücke: Three Travellers Watch a Sunrise (1916), Carlos Among the Candles (1916) und Bowl, Cat and Broomstick (1917). Nur zwei gelangten zur Aufführung durch die von George Cram Cook geleiteten Provincetown Players in Greenwich Village. Es ist ebenfalls die Zeit des beginnenden, noch nicht so genannten Dada, die – kaum beachtet – für Stevens zur Phase nicht nur imagistischer, sondern ebenso intrikat wie amüsant-erotisch wortspielerischer Texte wird. So dürfte Stevens Gedicht „Bantams in Pine-Woods“ (1922) zu lesen sein:
Chieftain Iffucan of Azcan in caftan
Of tan with henna hackles, halt!
Damned universal cock… –
ein Gedicht, das bislang zumeist nur allzu steifnackige Deutungen über das Verhältnis von Realität und Imagination erfahren hat.
Das Umfeld, aus dem ein solches Gedicht kam, hatte neben William Carlos Williams auch Djuna Barnes aufzuweisen. Und da war, zwischenzeitlich von der Kritik vergessen, beider Freundin, die bettelarme, von dem deutschen Übersetzer und Romancier Felix Paul Greve in Kentucky verlassene, in New York verheiratete (und erneut verlassene) Baroneß Else von Freytag-Loringhoven. Die ehemalige Geliebte von Mitgliedern des George-Kreises erregte in New York zeitweise Aufsehen als exzentrische Priesterin der zeitgenössischen Kunst und der sexuellen Revolution. Die Baroneß trat gern mit einer Zwei-Cent-Marke (rosa, gestempelt) auf der Wange in die Öffentlichkeit. Mit einer Kohlenschaufel oder einer Torte mit fünfzig brennenden Kerzen als Hut und einer Kette aus Feigen um den Hals ging sie auf Ämter und zu Empfängen und suchte Williams und Stevens zu verführen (Herring 112–15). Obwohl Stevens sie keineswegs dazu ermutigte und sie auf der Straße floh, schien sie eine ganz eigene Leidenschaft für ihn zu empfinden. Man weiß nicht, was passiert wäre, schreibt Stevens’ Biographin Joan Richardson, wenn der Dichter während seiner New Yorker Zeit mit seiner Frau zu einem jener Abende gekommen wäre, auf denen die Baroneß auf Kommando ihre Kleider fallen ließ und als „erfolgreichstes ready made“ sich selbst vorzeigte. Sie schrieb in ihrem Gedicht „A Dozen Cocktails – Please“ ähnlich erotisch anzüglich und witzig wie Stevens über seinen Zwerghahn (Richardson: 468; Herring: 114–15). Die mit Deutsch durchsetzten, oftmals sich deutscher Syntax und Grammatik bedienenden Gedichte der Else von Freytag-Loringhoven, deren Mehrsprachigkeit sich keineswegs allein der Intention der Autorin verdankt, aber sehr geschickt auch die Schwächen der Verfasserin im Englischen nutzen, sind selbst in dieser Phase modernistischer Experimentation avantgardistisch.
Wie die Baroneß, vor allem aber wie Pound (in den Cantos) und Eliot (in The Waste Land), nimmt Stevens die Manier an, das fremdsprachliche Zitat, die charakteristische fremdsprachliche Wendung in seine Gedichte aufzunehmen und damit seine Texte zu internationalisieren und sprachlich zu bereichern. Französisches und Deutsches sind seine liebsten Quellen. Schreibt Pound mehrsprachige Moeurs Contemporaines, so veröffentlicht Stevens in derselben Phase Carnet de Voyage (1914) und die Sequenz Lettres d’un Soldat (1918). Es zeigen sich in seinen Gedichten mit Vorliebe die Titel französischer Gemälde zitierende oder spielerisch imitierende Überschriften: „Cy Est Pourtraicte, Madame Ste Ursule, et Les Unze Mille Vierges“ (1915) und „Le Monocle de Mon Oncle“ (1918), aber auch dem Deutschen nachempfundene Komposita: Lebensweisheitsspielerei. Es ist gerade diese Internationalisierung, die die sprachliche Grundausstattung als zufällig hinzustellen bereit ist, während sie zugleich der Tradition amerikanischer Mehrsprachigkeit zugeordnet bleibt, die bei einem Dichter aus dem Pennsylvania Dutch-Milieu selbstverständlich scheint, welche Stevens’ besonderen experimentellen Modernismus auszeichnet. In seinem Gedicht „The Pleasures of Merely Circulating“ (1934) gibt er diesem Empfinden ironischen Ausdruck:
Mrs. Andersons schwedisches Baby
Hätte gut spanisch oder deutsch sein können,
Doch daß die Dinge sich um und um drehen,
Klingt nach etwas Klassischem.
Es sind weniger die gelehrten Zitate aus den Werken der – griechischen und lateinischen – Klassiker, mit denen Stevens seine Gedichte durchsetzt und schmückt, sondern der klangliche, der lautliche Zuwachs aus dem Fremdsprachlichen, der ihn reizt. Er zitiert nicht Homer, um prophetisch zu sein, macht nicht Tiresias zum Zeugen armseliger Begierde auf freudloser Couch, dem Baudelaireschen hypocrite lecteur als geistig abgerissenem Zeitgenossen zur Kenntnis. Intertexte, Musik und Technik spielen weniger Richard Wagner als Edgar Varèse. In dem Gedicht „The Ordinary Women“ ist das Reimwort für guitar neutönend catharr, in Verszeilen von The Man with the Blue Guitar antwortet der Reim things as they are. Hier werden die ersten Worte einer Poetik, eines Gedichts gehört, das ein „neuer Text für die Welt“ sein soll („Things of August“, 1949), aber auch in der Neuen Welt noch nie gehörte Klänge nicht-englischer amerikanischer Sprache enthält. Bereits Whitman hatte sich, bei einiger Unsicherheit, damit versucht, als er in gleich zwei Gedichten vom „Word En-Masse“ schrieb („One’s Self I Sing, Song of Myself“). Die fremden Sprachen, das Französische vor allem, von Whitman und Stevens eingesetzt zur Beschreibung des niederschmetternd Heimischen, gewähren jedoch auch in außerpoetischer Praxis eine Art distanzierender Optik, so etwa in der Nachschrift zu einer kleinen Serie kurzer poetischer Observationen, die Harriet Monroe zugingen (Letters: 218):
Certainties cutting the centuries
Je vous assure, madame, qu’une promenade à travers the soot deposit qu’est Indianapolis est une chose véritablement étrange. Je viens de finir une belle promenade. Le jour après demain je serai à Pittsburg d’oû je partirai pour Hartford. Au revoir.
Recevez, madame, etc.
Wallace Stevens
Der Gegensatz zwischen der „promenade à travers the soot deposit“ und einer anderswo erhofften „belle promenade“, zwischen einer denkbaren Kulturlandschaft der französischen Sprache und Indianapolis oder Pittsburg, zwischen, wie es in The Man with the Blue Guitar (1936) heißen wird: „Olympia“ und „Oxidia“, zwischen dem Paradies und der rußigrostigen Vorstadt, zwischen der Imagination und der Realität – diese prekären Balancen, die ohne Verlust an Realitätssinn durchzuhalten sind, deuten sich auch in der von Stevens eingesetzten Mehrsprachigkeit seiner Gedichte an.
Mustert man die Galerie Stevensscher Personae, so ist sie wenig differenziert und selten sonderlich eindrücklich. Kein Byronscher „Childe Roland“, kein „Don Juan“, kein Ich als Whitmanscher kosmos, keine ausdrucksmächtigen Darsteller wie in der grand opera desselben vielstimmigen Autors. Stevens’ Figuren treten in einem Studio auf, die große Oper ist nicht der erwünschte Spielort und nicht die weitergeschriebene literarische Gattung. Es ist richtig, daß die personale „Besetzungsliste“ der Geistesbühnen Stevensscher Gedichte nicht umfangreich ist. Der Autor, Regisseur und Hauptdarsteller unter vielen Masken – Rabbi, Leser, Philosoph – ist zumeist ein wenig emphatisch entwickelter Aspekt des Dichters. Es fehlen die zur Identifiktion verleitenden Figuren, obwohl gerade in der Frühzeit manche an die Komik eines Charles Chaplin oder Harold Lloyd erinnern. Man denkt an Crispin, den Komödianten. Noch in The Man with the Blue Guitar erscheint die Figur des Tramp – Stevens nennt ihn, charakterischerweise ein französisches Wort wählend: fantoche – als mögliche Erlöserfigur.
Wenn man sich für Stevens anderweitig vorbildliche Dichter anschaut, so ergeben sich in diesem Punkt kaum Analogien. William Wordsworth als Autor und Held seines Entwicklungsgedichts „The Prelude“ entspricht nicht Stevens’ amerikanischem Pulcinello in „The Comedian as the Letter C“. Stevens hätte sich denn schon selbst als auf Reisen, vielleicht in einem „Life of an Insurance Salesman“ betitelten Gedicht, unverhüllt zentral setzen müssen, im Zug, im Bus, im Auto. Walt Whitman als extroverte poetische Inkarnation seiner selbst, dieser lauthals intonierende Phineas Taylor Barnum als dichterischer Großunternehmer und Zirkusdirektor in manchen seiner Gedichte, stellt sich anders dar als der hoch private Stevens von „The Idea of Order at Key West“ (1934). William Butler Yeats’ Cuchulain und Michael Robartes, schreiten und streiten heroischer als die Stevenssche Dichterpersona, die sich antiklimaktisch als Hahn auf einer Bohnenstange in „Credences of Summer“ (1946) parodiert findet (eine Variation auf den frühen Bantamhahn). Eher deuten die Byzantium-Gedichte von Yeats auf Stevens’ „The Auroras of Autumn“ (1947). Der sich selbst ironisierende Clown Crispin, Nanzia Nunzio und der expansive Kanonikus der Imagination, Callon Aspirin, in „Notes Toward a Supreme Fiction“ (1942), sie sind amüsant, ja komisch, aber nicht immer eindrücklich. Es sind nicht die Charakterköpfe, nicht die Figuren von Mythos und Romanze, sondern es ist die Sprache, ihr Spiel und die aus ihr poetisch gebildete Sprachwelt, die bei Stevens im Zentrum stehen. Ihr Sternenwagen ist die Allegorie. Der jahreszeitliche Kursus, die Richtungen des Kompaß, der Gezeitenwechsel und der Wechsel von Tag und Nacht, der Gang der Gestirne geben die offenliegende und früh entdeckte Struktur solcher Allegorien. Kurz, Wallace Stevens macht sich das „Romantische aller Zeiten“ zu eigen, nutzt Analogie und Parallele zwischen Welt und Gedanke, erschreibt sich Szenarien im Zusammenschluß unterschiedlicher dichterischer Quellen, deren Autoren aber eines mit Stevens teilen: Den Entwurf einer Sprachwelt.
Ein Beispiel. Ich lese in den späten Gedichten – in „Page from a Tale“ (1947), einem Präludium zu dem Großgedicht „The Auroras of Autumn“ – eine Art Kosmologie der Imagination, wie sie zuvor am eindrücklichsten wohl im „Märchen“ des Heinrich von Ofterdingen und in Jacob Böhmes Morgenröte im Aufgang, von Novalis zitiert, zu finden ist und in Form der für Stevens durchweg attraktiven Gattung der Allegorie vorbildlich wird. Die Stevensschen „Auroren“, die farbig erstrahlenden Nordlichter im gleichnamigen Herbstgedicht, diese „crown and mystic cabala“, nimmt Böhmes „mitternächtliche Krone“ auf. Sie steht im nördlichen Sternenhimmel im Stern des Arcturus. Stevens hat Arcturus – personifiziert als Majestät auch bei Novalis – in „Page from a Tale“ genannt. In Stevens’ Gedicht entfacht die Imagination über der kleinen nächtlichen Lebenswelt am Strand mit seinem Treibholzfeuer das „anarchische“ Sternenfeuer von Alter, Kälte und Ewigkeit. Diese Versparabel nimmt ihr Thema von der notwendigen Veränderung des armseligen Lebens in einem herbstlichen Zeitalter und im Herbst des Dichterlebens. Aus der Reduktivität der Existenz wird ein Geistesschauspiel. komponiert, das wiederum vielleicht nur vor dem Hintergrund des armseligen Minimalgrunds, auf dem man trotz allem steht, möglich wird.
Das Gedicht ist indirekt das Produkt der Armut an Imagination in der Welt, des Ungenügens, der Verzweiflung über die Sprachlosigkeit. Es ist das Erzeugnis des Willens, der Welt die festgefügten Codes zu nehmen und sie neu zu sagen. In „An Ordinary Evening in New Haven“ (1949), diesem mit einunddreißig Cantos fast überlangen, dialektisch nachdenkenden Altersgedicht (ich habe für diese Veröffentlichung eine von Stevens angefertigte Kurzfassung übersetzt), klingt es über weite Strecken so, als wolle Stevens in Selbstkasteiung das Alltägliche, das Gewöhnliche, ja das Uninteressante zum Ideal erheben, gewissermaßen die lokalen Abendnachrichten als Ansatz für ein Gedicht. Es ist ja ein Gedicht, dessen Titel allein schon hervorzuheben scheint, daß es um den Abend eines gewöhnlichen Wochentags geht. Es ist kein Sonntagmorgen, wie in dem frühen gleichnamigen Gedicht, durchflutet von Helle, Klarheit und Stille. Nun, in dem späten nicht-enden-wollenden Gedicht, dem Gegengedicht zu früher Feier und feierlicher Frühe und zu großen gestalterischen Entwürfen wie „Notes Toward a Supreme Fiction“ (1942), ist es programmatisch Abend. Es ist kalt, regenreich und herbstlich kahl in einer eher unansehnlichen und langweiligen Mittelstadt, die dem Dichter bekannt, aber wenig vertraut ist und die in ihrer Monotonie und Herabgekommenheit außer ihrer Universität, Yale, wenig zu bieten hat. In ihr ist nichts erhebend, in ihr ist alles, was uns drängt, eine neue Schöpfung zu versuchen. Es fällt nicht mehr leicht, Toukan und Zitrone hierher zu denken, die schlecht beleuchtete, zugige Ecke eines grauen Hotel Taft für Handlungsreisende und Eltern von Kollegiaten an Chapel und Church Street in New Haven zum Dreh- und Angelpunkt der Welt zu machen. Der abweisende und geradezu niederschmetternde Gedichttitel „An Ordinary Evening in New Haven“ scheint daher zunächst ex negativo auf all das hinzuarbeiten, was Stevens in seinen frühen Gedichten vom wahren Überfluß der Imagination, der sich ihm zeitlebens in der natürlichen Überfülle Floridas und Kubas vorzeigte, in ausgesuchte und feinste Sprache getan hat. Sie brachte Gedichte hervor, die selbst Augenblickskreationen eines Illusionskünstlers zu sein scheinen, mit dem er sich einmal verglich („The Sense of the Sleight-of-Hand Man“, 1939), Lebenserleichterungen in einer grauen Welt, dem eigenen Eskapismus geschaffene Inseln voll Sehnsucht und Zuflucht. Diesen erfindungsreichen, frappierenden drôleries als unübertroffenen Paradestücken – nach all der gravitätischen, steifleinenen, ernst-revolutionären treuherzig und bedeutsam dreinblickenden Dichtungsprogrammatik, die das nach-viktorianische Zeitalter noch in den Beinkleidern hatte, während es sich das Haar modernistisch, aber doch mittig scheitelte – zeigten all das, was im amerikanischen Englisch leichtfüßig, frech, brilliant, undogmatisch, unerhört raffiniert und elegant möglich war.
Anders ist das im Alter, wenn man sich zu akademischen Preisverleihungen nach New Haven begibt und abends, im Hotel gestrandet, ein Gedicht macht. Es entsteht das lange Gedicht als Existenzbefragung. Es ist das Kunstwerk nicht mehr allein als elaborierte und fein gefeilte Sprache, sondern das Gedicht des Immer-weiter-Sprechens, des Sprechens gegen das Keuchen und Pumpen der Heizung und das Heulen des Windes, gegen das Läuten der Glocken von den drei Kirchen auf dem New Havener Common. Es ist das Kunstwerk, das in den imaginationsentleerten Ort hinein gesprochen wird, der es braucht:
Besagte Worte der Welt sind das Leben der Welt.
Solche Befragung und Berechnung unserer Existenz im Kosmos hatten wir zuletzt in Edgar Allan Poes Heureka. Stevens brachte es erneut mit den Auroren, den Nordlichtern, die Helligkeit in unser Dunkel mit der Erleuchtung bringen, daß kein Gott sei, es sei denn, wir machten ihn aus uns selbst. Doch nicht in unserem Bilde wäre er zu erschaffen, nicht als Abbild, sondern als ein Bildnis aus Gedanke und Emotion, das die Essenz unserer besten Impulse und Ziele wäre. Unsere Summe nicht als summa theologica, sondern als summa humana.
Woher die Vorliebe für lange Gedichte, ja das Langgedicht? Die Muse, so deutet Wallace Stevens 1922 gegenüber Harriet Monroe an (Letters: 230), will lange umworben sein. Die Schöne ergibt sich nur dem, der lange um sie wirbt. Die Epiphanie, die Krönung des Gedichts, ist das Ziel, aber es gilt auch, die Kunstperlen auf dem Weg dahin einzusammeln. Es geht, weniger metaphorisch gesprochen, um die Dauer dichterischer Aufmerksamkeit, für die selten genug Zeit vorhanden ist. Und Stevens fügt hinzu:
Ich wünschte, ich könnte alles andere beiseite tun und mich eine Weile in großem Stil amüsieren. Beim Schreiben oder Denken kommt nichts heraus, wenn man’s nicht lange Zeit auf einmal tun kann.
Erst später entwickelt sich die Art langes Gedicht, die weder Kollage noch leitmotivisch-symphonisch orchestriert ist, sondern philosophischen Denkmustern zu folgen scheint. Es sind nicht mehr Serenaden und Divertissementi, sondern Thesengedichte, die sich Emersons Methode der Gedankenentwicklung in seinen Essays zu verdanken scheinen.
Emersons einflußreiche Essays entwickeln sich von Absatz zu Absatz über Maximen, „definitorische Aphorismen“ (R. Richardson: 564) und Leitsätze auf eine Weise, die dem Fortschreiten der römisch numerierten Abschnitte in Stevens’ langen Gedichten zu vergleichen sind. Wenn bei Emerson in „The Poet“ folgende Sätze zu finden sind:
Das Universum ist die nach außen gewendete Seele.
Die Dichter sind deshalb befreiende Götter.
Kunst ist der Weg des schöpferischen Menschen zu seinem Werk.
So bilden Kernsätze dieser Art auch das Gerüst, von dem Paraphrasen, Erläuterungen und Bilder sowie Schlußfolgerungen ähnlich bei Stevens in „An Ordinary Evening in New Flauen“ geleitet werden:
Die schlichte Version des Auges ist ein eigen Teil… (1)
Realität ist der Anfang, nicht das Ende… (II)
Wir kommen wieder und immer wieder zurück / Zum Wirklichen… (III)
Das Gedicht ist was es hervorruft… (IV)
A poet’s words are of things that do not exist without the words (NA 32) – das heißt, das Gedicht bei Stevens wird lang, weil es eine Welt macht, die Welt der in der Sprache aktiven Imagination. Das Stevenssche Langgedicht wird sobald nicht aufhören, weil es Welt und damit in seinen Möglichkeiten potentiell unendlich ist. Es kann eine Geschichte erzählen, einen Mythos ausdrücken, eine Suche begleiten und abbilden; es kann sich aus Fragmenten auftürmen, die dem Ich noch einmal die Illusion eines verlorenen Ganzen inmitten eines wüst gewordenen Landes vorspielen; es kann sich sequentiell in Episoden aneinanderreihen, vielleicht als eine Weiterentwicklung des Sonettenkranzes, der einem Thema oder einem Mäzen oder beiden gewunden wurde; es kann Monodrama sein, wie bei Whitman, oder dramatischer Monolog nach dem Vorbild Robert Brownings; das lange Gedicht vermag sich auch als diarische Mitschrift zu geben und behauptet sich dadurch, daß es das Gehörte und Gesehene in der Welt und aus den Medienwelten und der Erinnerung, die keinesfalls mehr in Ruhe tätig werden kann, zusammenschreibt und aneinanderreiht. So in Anlehnung an Stevens bei John Ashbery. Das lange Gedicht ist das kunstvolle Notat der einander überlagernden Informationsquellen, oftmals bereits vorgefertigte Sprachprodukte, die wieder unerwartet miteinander in Gespräch kommen und sich, wörtlich, austauschen. Es kann narrative Kollage sein. Nur eins sollte es als Gedicht nicht sein: ein beliebiger Omnibus, das lange Gedicht als Anthologie kurzer Gedichte desselben Autors. Das Stevenssche Gedicht, seine so verschiedenen Gedichte, kurz oder lang, ist darin amerikanisch, daß es Meditation ist, die Gedankenfindung eines lustvollen Puritaners, Mitschrift seines Denkprozesses: Das Gedicht als Spur eines sprachlich-gedanklichen Explorationsvorgangs – und das Entdeckte in seiner lesbaren Form, die Spur Phosphor auf dem Papier: Phosphor reading by his own light (1942).
Konkreter: Das Stevenssche Langgedicht hat eine andere Funktion als das kurze Gedicht. Obwohl er einmal schreibt, sein langes Gedicht sei lediglich eine Sammlung von kurzen, „mit denen es immer und immer weiter ging“, so sagt er im selben Brief, daß er um ein langes Gedicht bemüht sein werde, mit dem er „ein neues Buch aufbauen“ könnte. Das lange Gedicht erfordere einen ganz „eigenen Impetus“, während das kurze immer ein Neubeginn sei (Letters 640). Ezra Pounds Formulierung zum Thema, die man in der ersten, 1917 gedruckten Fassung seines ersten Canto findet, lautet:
Zum Henker nochmal, ‚s kann nur einen Sordello geben!
Doch nimm mal an, sagen wir, ich nehm’ dein’ ganzen Sack voll Tricks,
Laß deine Eigen- und Besonderheiten weg und sag, ‚s ist ‚ne Kunstform,
Dein Sordello, und daß die moderne Welt
So eines Lumpensacks bedarf und ihn mit Gedanken stopfte…
(Pound: 1917)
Aber das lange Gedicht ist bei Stevens (und bei vielen anderen, Pound eingeschlossen) kein Sack, in den man die Dinge der von Stevens wohl absichtsvoll anderweitig so apostrophierten „Lumpenwelt“ hinein stopft. Das lange Gedicht bei Stevens ist überhaupt keine „Form“ als „Behälter“, sei sie noch so schäbig, sondern etwas Anderes, viel Moderneres: „Ich glaube,“ schreibt er einmal, „daß man heute ganz bestimmt einer Dichtung des Überflusses zuneigt, die mit allem und jedem befaßt ist.“ Damit ist jedoch nicht das Gedicht als Zampelsack gemeint. Die „Macht der Literatur“, fährt er fort, „besteht darin, daß sie in der Beschreibung der Welt das erschafft, was sie beschreibt. Dinge, die nicht beschrieben werden, existieren nicht“, so daß man eigentlich eine Welt zusammenstellte (Letters: 495). Wallace Stevens nennt sie in Notes Toward „a Supreme Fiction die mundo“ der Imagination. Es gibt keine bessere Definition des langen Gedichts in seiner vollen poetischen Länge und Breite: Es ist ein Ort.
Klaus Martens, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 2, April 1997
AN WALLACE STEVENS DENKEND
Nach so vielen Jahren erscheint
das Vertraute noch fremder, die Hände
mit denen man geboren war noch ferner, die Füße
abgetreten zu verquerer Tauglichkeit, Gesicht weiter weg.
Ich liebe, liebte dich, Esmeralda, liebster Bill.
Ich mochte das Drumrum der andern, die wuselnde Menge.
Drinnen war’s leer, bestenfalls ein Brunnen im Winter,
das Gefühl eines öden, düstern Parks, geschundenes Nichts.
Kann ich sagen das Ganze war was ich wollte?
Darf ich meine einzige Absicht nochmals wiederholen?
Keiner kann mich besser kennen als ich,
dessen Urnähe fast von alters bald ermüdete.
Der Jubel, immer zu wissen daß es Jubel war,
daß alles zu dem was zuhöchst galt sich fügte.
Die Kerze flackert im raschen, wechselnden Wind.
Sie liest das Wetter klug im geöffneten Fenster.
So ist es die geistige Trägheit ohne die sich nicht leben läßt,
zurückgekehrt an diesen Ort, den nie verlaßnen Ort.
Robert Creeley
Übersetzung Klaus Reichert
Hannes Hintermeier: Geschäftsmann mit lyrischer Neigung. Über die Abwesenheit von Wallace Stevens. Merkur, Heft 593, August 1998
Peer Trilcke: Lyrik auf dem Weg ins Versicherungsbüro
Joachim Zünder: Die Wirklichkeit ist das Motiv
Die Notes toward a Supreme Fiction und die Poetologie des späten Wallace Stevens
Richard Exner: Wallace Stevens – Gedenken an den amerikanischen Dichter
Die Tat, 3.10.1959
Wallace Stevens liest Final Soliloquy Of The Interior Paramour.
Rüdiger Schaper: Das Lächeln des Dichters
Der Tagesspiegel, 18.3.2016
Thomas Steinfeld: Freund und froh
Süddeutsche Zeitung, 17.3.2016
Joachim Sartorius liest auf dem VIII. International Poetry Festival von Medellín 1998.
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