Wallstein zeigt seine poetischen Muskeln. Spätestens seit der Übernahme der Betreuung der Mainzer Reihe gehört der Verlag zu den Säulen im Luftschloß der Lyrik. In bester Aufmachung erscheinen hier Gedichtbücher, die Akzente setzen. So wird beispielsweise Yvan Golls Gesamtwerk von Wallstein betreut. Die 100 Gedichte (2003), ausgewählt von Barbara Glauert-Hesse, sind das poetische Mark eines Dichters, der auch nach 2000 noch Vorbild für Menschen sein kann, die eines Tages wirklich gute Gedichte schreiben wollen. Hans-Jürgen Heise brilliert auf den 368 Seiten seiner ausgewählten Schriften Am Mischpult der Sinne (2004) nicht nur mit seinem Plädoyer für die lebendige Metapher. Mit dem folgenden Gedanken spricht er mir aus der Seele:
Jede lebendige Weiterentwicklung setzt die genaue Kenntnis des bisher Geleisteten voraus. Doch so unsinnig es ist, einen nicht rückgekoppelten Avantgardismus zu betreiben, so unsinnig ist es, starr und unreflektiert bei den Formen und Inhalten von gestern und vorgestern zu verharren.
Das bestätigt auch Gustav Mahler:
Tradition ist nicht die Anwesenheit von Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.
Wer erinnert sich, daß Kurt Morawietz (1930–1994), der einst die horen begründete, auch Gedichte schrieb? In Leg auf die andere Seite deinen Scheitel (2005) lese ich u.a. „Der Kritikaster“ (zitiert im Kapitel „Kritiker in der Kritik“) und dieses
WORT
Mit hörbarer Stimme
stärken
die Widerstandskraft der Worte,
die Klarheit des Sonnenlichts,
das sprachlose Eis.
Mit fester Stimme
benennen
die Farben des Herbstes,
die Zukunft der Kinder,
den ersten, den lautlosen Schnee
und immer tiefer
treiben
die Pfahlwurzel
Wort.
Für Annemarie Zornacks locker-flockige Verse mit Rückschlagwirkung habe ich eine Schwäche. Die unangestrengt wirkenden (gesammelten) Gedichte in dich meine ich (2004) bieten auf 296 Seiten poetische Pointen, die zwangsläufig und simultan Schmunzeln und Naserümpfen hervorrufen:
BAR MANOLETE
in der bar manolete
fängt plötzlich
der an die wand genagelte stierkopf
an zu bluten
aaaaaaaaaaaer tropft
neben der stigmatisierten nonne
aus seinen nüstern
die rotweingläser voll
Erschienen in: Theo Breuer – Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005
Schreibe einen Kommentar