Walt Whitman: Grashalme (CD)

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walt Whitman: Grashalme CD

Whitman-Grashalme CD

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort zur Erstausgabe der Grashalme 1855

Amerika lehnt die Vergangenheit nicht ab oder was sie in ihrer jeweiligen Sonderheit hervorgebracht hat, unter anderer Staatskunst oder der Auffassung einer Klassenherrschaft oder den alten Religionen – es nimmt die Lehren gelassen hin, ist nicht ungeduldig, weil es äußerlich noch an Ansichten, Sitten und einer Literatur festhält, während das Leben, seinen Bedürfnissen gehorchend, in die neuen Formen des neuen Lebens übergegangen ist – es spürt, daß der Leichnam langsam aus dem Eß- und Schlafzimmer des Hauses getragen wird, es spürt, daß er kurze Zeit an der Tür verweilt – daß er für seine Zeit der Tauglichste war – daß sein Wirken sich vererbt hat auf den starken, wohlgestalten Erben, der nun naht – und daß dieser der Tauglichste sein wird für seine Zeit.
Die Amerikaner haben unter allen Nationen aller Zeiten auf dieser Erde wahrscheinlich die vollkommenste poetische Natur. Die Vereinigten Staaten selbst sind im Grunde das größte Gedicht. In der bisherigen Geschichte der Erde erscheinen die weiträumigsten und tatenfreudigsten Staaten zahm und ruhig neben ihrem viel größeren Raum und Tatendrang. Hier endlich ist im Tun des Menschen etwas, was dem gewaltigen Wirken von Tag und Nacht entspricht. Hier, aller Fesseln ledig, ist Tatkraft, notwendigerweise blind für Besonderheiten und das einzelne, großartig in Massen sich bewegend. Hier waltet Gastlichkeit, die zu jeder Zeit Merkmal von Helden ist. Hier breiten die Vollendung allen Tuns, die das Gewöhnliche verachtet, unvergleichlich in der gewaltigen Kühnheit ihrer Menschenmengen, und der Antrieb ferner Zukunft sich in uneingeengter fließender Weise aus, ihren fruchtbaren herrlichen Überfluß verströmend. Man sieht, dieses Land hat wirklich des Sommers und des Winters Fülle, und es kann niemals zugrunde gehen, solange Korn aus dem Boden wächst, in Obstgärten Apfel von Bäumen fallen, in Buchten Fische schwimmen und Männer mit Frauen Kinder zeugen.
Andere Staaten treten durch ihre Bevollmächtigten in Erscheinung – aber der Genius der Vereinigten Staaten zeigt sich nicht am besten oder reinsten in ihren Exekutiv- oder Legislativkörperschaften, nicht in ihren Gesandten und Schriftstellern, ihren Universitäten, Kirchen oder Salons, auch nicht in ihren Zeitungen oder in ihren Erfindern – sondern immer am reinsten im gemeinen Volk aller Staaten des Südens, Nordens, Westens, Ostens, in seiner ganzen machtvollen Weite. Indessen, die Größe der Nation wäre ohne eine entsprechende Größe und Großmut des Geistes ihrer Bürger monströs. Weder dichtbevölkerte Staaten noch Straßen und Dampfschiffe, weder blühender Handel noch Farmen, Kapital und erworbenes Wissen können dem Ideal eines Menschen – auch dem Dichter nicht – genügen. Ebensowenig können Traditionen genügen.
Eine lebendige Nation kann allzeit ihr Gepräge geben und höchste Autorität auf einfachstem Wege erlangen – nämlich aus der eigenen Seele heraus. Das ist der höchste Grad einträglichen Nutzens von einzelnen wie von Staaten und von augenblicklicher Wirksamkeit und Großartigkeit und der Themen der Dichter. (Als ob es nötig wäre, den Weg zur Überlieferung des Ostens Generation um Generation zurückzutrotten! Als ob die Schönheit und Heiligkeit des Sichtbaren hinter der des Mythischen zurücktreten müsse! Als ob die Menschen sich nicht zu jeder Zeit ihr eigenes Gepräge geben könnten! Als ob die Erschließung des westlichen Kontinents durch Entdecker und das, was aus Nord- und Südamerika geworden ist, geringer wäre als das kleine Schauspiel der Antike oder das ziellose Schlafwandeln des Mittelalters!) Der Stolz der Vereinigten Staaten kehrt sich ab von der Wohlhabenheit und der Eleganz der Städte, von allem Gewinn aus Handel und Landwirtschaft, von aller geographischen Größe und dem Glanz äußerer Siege, um sich zu erfreuen am Anblick und der Vergegenwärtigung vollentfalteter Menschen oder eines vollentfalteten unbezwingbaren einfachen Menschen.
Amerikas Dichter sollen das Alte wie das Neue fassen, denn Amerikas Geschlecht wird von keinem übertroffen. Der Ausdruck des amerikanischen Dichters soll außergewöhnlich sein und neu. Er soll indirekt sein, nicht direkt oder beschreibend oder episch. Sein Wert wird dadurch nur höher. Laßt die Zeiten und Kriege anderer Nationen besungen, ihre Geschichtsepochen und ihr Wesen geschildert sein und ihr Gedicht beendet. Nicht so das Hohelied der Republik. Hier bleibt das Thema schöpferisch, hat Ausblick. Was auch immer zum Stillstand kommt unter dem Geheiß von Sitte, Abhängigkeit oder Gesetz, der große Dichter kennt keinen Stillstand. Abhängigkeit ist nicht sein Meister, er meistert sie. Hoch oben steht er, außer Reichweite, und läßt ein in einem Punkt zentriertes Licht kreisen – er dreht die Achse mit seinem Finger – er verwirrt die schnellsten Läufer, da er da steht; und leicht besiegt er sie und verhüllt sie. Der Zeit, die sich zur Treulosigkeit, Konfektion und Verhöhnung hin verirrt, gebietet er durch stete Treue Einhalt. Treue ist das Antiseptikum der Seele – sie durchdringt breit das einfache Volk und verleiht ihm Beständigkeit, und dieses gibt nie mehr Glaube, Hoffnung und Vertrauen auf. Da ist um einen unwissenden Menschen jene unbeschreibliche Frische und Unbewußtheit, die aller Macht des edelsten ausdrucksreichsten Genius spottet und sie demütig macht. Der Dichter erkennt mit Sicherheit, daß einer, der kein großer Künstler ist, ebenso begnadet und vollkommen sein kann wie der größte Künstler.
Zu vernichten oder umzugestalten, diese Macht wird von dem größten Künstler großzügig geübt, selten aber die des Angriffs. Was vergangen, ist vergangen. Schafft er nicht höhere Vorbilder und bewährt er sich nicht durch jeden Schritt, den er tut, ist er nicht das, was man erwartet. Das Wesen des großen Dichters, obsiegt – nicht Reden noch Kämpfen oder vorbereitete Anschläge. Schau ihm nach, nun ist er diesen Weg gegangen! Keine Spur von Verzweiflung oder Menschenhaß, weder List noch Unnahbarkeit, keine Schmach der Geburt oder Hautfarbe, weder das Blendwerk der Hölle noch die Armseligkeit der Hölle – und kein Mensch wird hinfort wegen Unwissenheit, Schwäche oder Sünde erniedrigt werden. Der größte Dichter kennt nichts Kleinliches, keine Nebensächlichkeit. Haucht er seinen Atem in etwas, was zuvor als klein galt, so weitet es sich in die Größe und Lebensfülle des Universums. Er ist ein Seher – er ist individuell – ist in sich selbst vollkommen – die anderen sind ebensogut wie er, nur, er sieht es und sie nicht. Er stimmt nicht ein in den Chor – er macht vor keiner Vorschrift halt – er ist es, der Vorschriften gibt. Was die Sehkraft für die anderen Sinne, das ist er für die anderen Menschen. Wer kennt das wunderbare Geheimnis der Sehkraft? Die anderen Sinne bestätigen einander, sie aber ist jedem Beweis entrückt, außer dem in sich selbst, und ist ein Vorläufer der Identitäten der geistigen Welt. Ein einziger Blick von ihr spottet aller Forschungen des Menschen, aller Instrumente und Bücher auf Erden und allen Verstandes. Was ist wunderbar? Was unwahrscheinlich, unmöglich, grundlos, unbestimmt – nachdem du einmal den Lidspalt, schmal wie eines Pfirsichs Narbe, geöffnet hast, und alle Nähe und Ferne, der Sonnenuntergang und alle Dinge in dich eingedrungen sind mit elektrischer Schnelle, sacht und in aller Ordnung, ohne Verwirrung, Stoßen und Drängen?
Land und Meer, die Tiere, Fische und Vögel, das Gewölb des Himmels und seine Gestirne, die Wälder, Gebirge und Flüsse sind keine geringen Themen – doch die Menschen erwarten vom Dichter mehr, nicht, daß er nur die Schönheit und Würde weist, die allen stummen greifbaren Dingen eignet – sie erwarten von ihm, daß er den Pfad aufzeige zwischen der Wirklichkeit und ihren Seelen. Männer und Frauen gewahren die Schönheit durchaus – wahrscheinlich ebensogut wie er. Die leidenschaftliche Ausdauer von Jägern, Holzfällern, Frühaufstehern, Garten-, Obst- und Ackerbauern, die Liebe gesunder Frauen zur männlichen Gestalt, zu Seefahrern und Rosselenkern, die Leidenschaft für Licht und Luft, all das sind seit je mannigfaltige Anzeichen des unfehlbaren Schönheitssinnes und der Poesie, die den Menschen innewohnt, die im Freien leben. Ihnen nutzt beim Wahrnehmen die Hilfe des Dichters nichts – einige würden sich ihrer bedienen, aber sie können es nicht. Der poetische Wert ist nicht durch Reim und Gleichmaß gegeben oder durch abstraktes Rühmen der Dinge, noch liegt er in melancholischen Klagen oder trefflichen Lehren, er ist das Leben dieser Dinge selbst und noch vieles mehr, er ruht in der Seele. Der Nutzen des Reims besteht darin, daß er Samen legt für einen noch wohllautenderen und volleren Reim, und der des Gleichmaßes, daß er sich den eigenen unsichtbaren Wurzeln überträgt. Reim und Gleichmaß vollkommener Gedichte weisen das freie Wachstum metrischer Gesetze auf und knospen aus ihnen ebenso untrüglich und zwanglos wie Flieder und Rosen am Busch und nehmen Gestalt an, die ebenso fest ist wie die von Kastanien, Orangen, Melonen und Birnen, und verströmen Duft, um ihm unspürbar Gestalt zu verleihen. Fluß und Schönheit der gelungensten Dichtwerke, der Musik, Rede oder Rezitation sind nicht selbständig, sondern abhängig. Alle Schönheit kommt aus schönem Blut und einem schönen Gehirn. Wenn alles, was groß ist, in einem Mann oder einer Frau zusammenfindet, so ist es genug – diese Tatsache wird durch das ganze Weltall hin Geltung haben; alles Einschränkende und der äußere Glanz von Jahrmillionen wird jedoch keine Geltung haben. Wer seiner Schönheit und seines Wortflusses wegen sich ängstigt, ist verloren. Was du tun sollst, ist dies: Liebe die Erde, die Sonne und die Tiere, verachte Reichtümer, gib jedem, der da bittet, tritt ein für die Unwissenden und Schwachsinnigen, widme dein Einkommen und deine Arbeit anderen, hasse Tyrannen, streite nicht wider Gott, habe Geduld und Nachsicht für deine Mitmenschen, zieh den Hut vor nichts Bekanntem oder Unbekanntem, vor keinem Menschen und vor keiner Menschenmenge – gehe frei mit starken einfachen Menschen um, mit jungen Leuten und Müttern der Familien – überprüfe alles, was du in Schule und Kirche oder aus irgendeinem Buch gelernt hast, und verwirf, was auch immer deine Seele beleidigt; und dein leibhaftiges Fleisch und Blut sollen ein großes Gedicht sein und reichsten Fluß haben, nicht in Worten nur, auch in den stummen Linien der Lippen und des Gesichts und zwischen dem Zucken deiner Lider und in jeder Bewegung, jedem Gelenk deines Körpers. Der Dichter soll seine Zeit nicht in unnützer Arbeit vertun. Er soll wissen, der Boden ist bereits gepflügt und gedüngt; andere mögen es nicht wissen, er aber soll es wissen. Er soll geradewegs an die Schöpfung herangehen. Sein Vertrauen soll das Vertrauen aller Dinge meistern, die er berührt – es soll alle Neigungen meistern.
Das ganze uns bekannte Universum hat einen wahrhaft Liebenden, und das ist der größte Dichter. Er verschwendet sich in ewiger Leidenschaft und ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, welch mögliche Zufälligkeiten an Glück oder Unheil, er erringt täglich und stündlich seinen köstlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht – ihm ist es Nahrung nur für das Feuer seines Verlangens nach Vereinigung und Liebeslust. Anderer Fähigkeit zur Freude schwindet zu nichts vor der seinen. Alles, was man vom Himmel oder vom Höchsten nur erwarten kann, bewegt ihn innig, beim Anblick der Morgendämmerung oder der Szenerie des Winterwaldes oder in der Gegenwart spielender Kinder oder wenn er den Arm um den Nacken eines Mannes oder eines Weibes legt. Seine Liebe hat mehr denn alle andere Liebe Muße und Raum – Raum über ihn selbst hinaus. Er ist kein zaghafter, kein argwöhnischer Liebhaber – er ist zuversichtlich, er verschmäht Distanz. Sein Erleben, seine Schauer und Erschütterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn abschrecken – Leiden nicht noch Finsternis – nicht Tod noch Furcht. Ihm sind Klage, Eifersucht und Neid Leichname, begraben und im Erdreich verfault – er sah sie in die Grube fahren. Die See ist ihres Ufers nicht gewisser oder das Ufer nicht der See als er des Genusses seiner Liebe und aller Vollkommenheit und Schönheit.
Der Genuß der Schönheit ist keine Sache von Glück oder Zufall −, er ist so unumgänglich wie das Leben – ist wirklich und gewichtig wie die Schwerkraft. Vom Augenlicht geht ein anderes Augenlicht aus und vom Hören ein anderes Hören und von der Stimme geht eine andere Stimme aus, ewig begierig auf die Harmonie zwischen dem Menschen und den Dingen. Diese verstehen das Gesetz der Vollendung in Menschenmengen und -fluten: daß es verschwenderisch ist und gerecht – daß es nicht eine Minute des Lichts oder des Dunkels gibt, nicht ein Geviert Erde oder Meer ohne es – nicht eine Richtung des Himmels noch irgendein Gewerbe oder eine Beschäftigung noch den Ablauf irgendeines Geschehens. Dies ist der Grund dafür, daß im eigentlichen Ausdruck der Schönheit Genauigkeit herrscht und Ausgewogenheit. Kein Teil braucht den anderen zu übertreffen. Nicht wer die zarteste und kraftvollste Stimme hat, ist der beste Sänger. Nicht durch den schönsten Klang und das schönste Maß haben wir Gefallen an Gedichten.
Ohne Anstrengung, ohne im geringsten darzulegen, wie es zustande kommt, bringt der größte Dichter den Geist jeder Begebenheit und Leidenschaft, von Bild und Mensch hervor, manchmal mehr, manchmal weniger stark, so beim Hören oder Lesen deine eigene Persönlichkeit formend. Dieses gut zu vollbringen, heißt sich messen mit den Gesetzen, die der Zeit entsprechen und ihr obliegen. Zweck und Ziel müssen auf jeden Fall erfüllt werden, und der Schlüssel dafür muß vorhanden sein – und der leiseste Hinweis ist der Hinweis auf das Beste und wird so der deutlichste Hinweis. Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt voneinander, sondern vereint. Der größte Dichter gestaltet, was sein wird, folgerichtig aus dem, was ist und war. Er zieht die Toten aus ihren Särgen und stellt sie wieder auf die Füße. Er sagt zur Vergangenheit: Stehe auf vor mir und wandle, auf daß ich dich erkenne! Er lernt von ihr – er stellt sich dorthin, wo die Zukunft Gegenwart wird. Der größte Dichter wirft nicht nur seine Strahlen über Charaktere, Szenen und Leidenschaften – er erklimmt zum Schluß größere Höhen und verleiht allem Vollendung – er läßt die höchsten Gipfel sehen, von denen niemand sagen kann, wozu sie da sind oder was jenseits von ihnen liegt – er leuchtet einen Augenblick auf am äußersten Rand. Am wunderbarsten ist er in einem halbverborgenen letzten Lächeln oder Runzeln der Stirn; durch diesen Blitz im Augenblick des Scheidens wird der, der ihn sieht, für viele Jahre später noch ermutigt oder erschreckt. Der größte Dichter moralisiert nie, er gibt keine Regeln für Moral – er kennt des Menschen Seele. Der Seele eignet der grenzenlose Stolz, niemals eine Lehre oder Erfahrung anzuerkennen als die eigene nur. Aber so groß wie ihr Stolz ist auch ihr Mitgefühl, eines gleicht das andere aus, und keines von beiden kann zu weit gehen, solange es sich mit dem anderen verbindet. Die innersten Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem Einssein. Der größte Dichter hat eng zwischen ihnen beiden gelegen, und sie leben ganz in seinen Gedanken, seinem Stil. Die Kunst der Künste, der Glanz der Darstellung und die leuchtende Sonnenhelle der Literatur ist Einfachheit. Nichts ist besser als Einfachheit – nichts kann Übertreibung oder Unbestimmtheit wiedergutmachen. Das Schwellen des Impulses weiterzutreiben, die geistigen Tiefen zu durchdringen und allen Gegenständen Ausdruck zu verleihen sind weder gewöhnliche noch sehr ungewöhnliche Fähigkeiten. In der Literatur aber mit der vollkommenen Richtigkeit und Unbekümmertheit der Bewegung von Tieren, mit der Unanfechtbarkeit empfindsamer Wesen von Bäumen im Wald und vom Gras am Wege zu sprechen, ist der makellose Triumph der Kunst. Hast du einen gesehen, dem das gelungen ist, so hast du einen der Meister unter den Künstlern aller Völker und Zeiten gesehen. Du sollst nicht den Flug der grauen Möwe über der Bucht, den feurigen Schritt des Vollbluts, die vom hochgewachsenen Stengel sich neigenden Sonnenblumen, die Erscheinung der Sonne bei ihrem Lauf am Himmel und die Erscheinung des Mondes danach mit größerem Wohlgefallen betrachten als ihn. Der große Dichter hat nicht so sehr einen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken und Dingen ohne Zugabe oder Abschwächung und der freie Kanal seiner selbst. Er gelobt seiner Kunst: Ich will mich nicht aufdrängen, ich will in meinen Arbeiten weder Eleganz noch Effekthascherei noch Originalität haben, die wie ein Vorhang zwischen mir und den anderen hängen. Nichts will ich zwischen uns haben, auch den prächtigsten Vorhang nicht. Was ich sage, bedeutet genau das, was es wirklich ist. Mag, wer will, begeistern, verblüffen, bezaubern oder schmeicheln, meine Ziele wollen die gleichen sein wie die von Gesundheit, Hitze oder Schnee, und wie sie will ich unbekümmert sein, was andere davon halten. Was ich erlebe oder darstelle, soll aus meiner Arbeit ohne eine Spur meiner Tätigkeit hervorgehen. Du sollst neben mir stehen und mit mir in den Spiegel schauen.
Das alte rote Blut und der makellose Adel großer Dichter wird durch ihr ungezwungenes Wesen bewiesen. Ein heldenhafter Mensch schreitet ruhig durch Gewohnheiten, Herkömmlichkeiten und Geltungen, die ihm nicht gemäß sind, hindurch. Kein Charakterzug der Gemeinschaft von bedeutenden Schriftstellern, Gelehrten, Musikern, Erfindern und Künstlern ist so vortrefflich wie der schweigende Trotz, der aus neuen freien Gestaltungen vorwärtsdrängt. Im Bedürfnis nach Dichtung, Philosophie, Politik, Technik, Wissenschaft, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, nach einer angemessenen großartigen ursprünglichen Oper, der Schiffsbaukunst oder jeglicher Handwerkskunst, ist für allezeit der Größte, der das größte neuartige praktische Beispiel liefert. Das ist der reinste Ausdruck, der keine geistige Sphäre seiner selbst würdig findet und sich selbst eine schafft.
Die Botschaft großer Dichtungen an alle Menschen lautet: Kommt als Gleichberechtigte zu uns, nur dann könnt ihr uns verstehen. Wir sind nicht besser als ihr; was in uns ist, das ist auch in euch, woran wir uns erfreuen, daran könnt ihr euch auch erfreuen. Meintet ihr, es könnte nur einen einzigen Höchsten geben? Wir versichern, daß es ungezählte Höchste geben kann und daß der eine den anderen ebensowenig aufwiegt wie ein Augenlicht das andere – und daß die Menschen nur durch das Bewußtsein ihrer eigenen Hoheit gut und groß sein können. Worin, glaubt ihr, liegt die Größe der Stürme und Verheerungen, der verlustreichsten Schlachten und Schiffbrüche, der wildesten Wut der Elemente und der Gewalt des Meeres und des Kreislaufs der Natur, der tiefen Schmerzen menschlichen Sehnens, der Würde, des Hasses und der Liebe? Es ist jenes Etwas in der Seele, das uns sagt: Wüte weiter, wirble fort und fort, ich wandle hier und überall als Herr – Herr über die Zuckungen des Himmels und des Meeres Zerschmettern, Herr über Natur und Leidenschaft und Tod, über alle Schrecknisse, alle Qual.
Die amerikanischen Sänger, sollen durch Großmut, Wohlwollen und durch die Ermutigung ihrer Gefährten gekennzeichnet sein. Sie sollen, ohne Ausschließlichkeit und Heimlichkeit, welthaltig sein; sie sollen glücklich sein, jedem alles zu übermitteln – Tag und Nacht dürstend nach Wesensgleichen. Sie sollen nicht nach Reichtum trachten und Privileg – sie sollen selber Reichtum und Vorrecht sein – sie sollen spüren, wer der überströmendste Mensch ist. Der Überströmendste ist, der allen Erscheinungen, die er wahrnimmt, entgegentritt, kraft des Gegenwertes seines ihm innewohnenden stärkeren Reichtums. Der amerikanische Sänger soll keine besondere Klasse beschreiben, weder eine Interessenschicht noch zwei, nicht vorrangig Liebe noch Wahrheit, nicht vorrangig die Seele noch den Leib – auch nicht die Oststaaten mehr als die Weststaaten oder die Nordstaaten mehr als die des Südens.
Exakte Wissenschaft und ihre praktische Tätigkeit ist für den größten Dichter nicht Hemmnis, sondern stets eine Ermutigung und Stütze. Dort sind Anfänge und Erinnern – dort die Arme, die ihn zuerst emporhoben und ihn am besten hielten – dorthin kehrt er nach all seinem Gehen und Kommen zurück. Der Seefahrer und Reisende, der Anatom, Chemiker, Astronom, Geologe, Phrenologe, Spiritualist, Mathematiker, Historiker und Lexikograph sind keine Dichter, aber sie sind die Gesetzgeber der Dichter, und ihre Erkenntnisse liegen dem Bau jedes vollendeten Gedichtes zugrunde. Gleichviel, was emporwächst oder Ausdruck findet, sie pflanzten den Samen zu der Konzeption – von ihnen kommen, bei ihnen stehen die sichtbaren Zeichen von Seelen. Wenn Liebe und Einverständnis sein soll zwischen dem Vater und dem Sohn, und wenn des Sohnes Größe die Ausstrahlung der Größe des Vaters ist, dann soll auch Liebe walten zwischen dem Dichter und dem Mann der beweisbaren Wissenschaft. Die Schönheit der Dichtung soll künftig Zierde und letzte rühmende Bestätigung der Wissenschaft sein.
Groß ist das Vertrauen in den Strom des Wissens und in die Erforschung der Tiefen von Eigenschaften und Dingen. Eindringen und Einkreisen läßt hier des Dichters Seele wachsen, doch immer ist er Herr seiner selbst. Die Tiefen sind unergründlich, also stumm. Unschuld und Nacktheit werden zurückgewonnen – sie sind weder züchtig noch unzüchtig. Die ganze Theorie vom Übernatürlichen und alles, was damit in Zusammenhang gebracht oder daraus abgeleitet wurde, schwindet wie ein Traum. Was je geschehen – was geschieht und immer auch geschehen mag oder wird, die Gesetze des Lebens schließen alles ein. Sie genügen jedem Fall und allen – keines soll beschleunigt oder verzögert werden −, jedes besondere Wunder einer Begebenheit oder eines Menschen ist unzulässig in diesem weiten offenen System, in dem jede Regung, jeder Grashalm, Gestalt und Geist von Männern und Frauen und alles, was sie betrifft, unsagbar vollkommene Wunder sind, alle aufeinander abgestimmt und ein jedes verschieden und an seinem Platz. Es ist auch unvereinbar mit der Wirklichkeit der Seele, anzunehmen, es gäbe im bekannten Universum etwas, was göttlicher sei als Männer und Frauen.
Männer und Frauen und die Erde und alles, was auf ihr ist, sollen genommen werden wie sie sind, und die Erforschung ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und Zukunft soll ununterbrochen und mit vollkommener Unparteilichkeit geschehen. Auf dieser Grundlage stellt die Philosophie ihre Betrachtungen an, den Blick immer zum Dichter gewandt, immer das ewige Streben aller zum Glück im Blickfeld, immer in Übereinstimmung mit dem, was den Sinnen und der Seele klar ist. Denn das ewige Streben aller zum Glück macht allein den Kern einer geistig gesunden Philosophie aus. Alles ist belanglos, was weniger umfaßt als dies – was geringer ist als die Gesetze von Licht und astronomischer Bewegung −, als die Gesetze, die den Dieb, den Lügner, den Schlemmer und den Säufer in diesem Leben verfolgen wie zweifelsohne auch danach oder als die unermeßliche Erstreckung der Zeit, das langsame Herausbilden von Dichte oder das geduldige Wachsen geologischer Schichten. Ebenso belanglos ist, so man gegen ein Wesen oder eine Einwirkung kämpft, was Gott in eine Dichtung oder ein philosophisches System legen würde. Gesundheit und Ganzheit kennzeichnen den großen Meister ist ein einziger Bestandteil verdorben, ist alles verdorben. Der große Meister hat nichts mit Wundern gemein. Er sieht die Gesundheit für sich darin, einer der Menge zu sein – er sieht die Abspaltung in besonderem Vorrang. Zur vollkommenen Form gehört eine allgemeine Grundlage. Unter dem allgemeinen Gesetz zu stehen, ist etwas Großes, denn das heißt, mit ihm in Einklang stehen. Der Meister weiß, daß er unsagbar groß ist und daß alle unsagbar groß sind – daß zum Beispiel nichts größer ist, als Kinder zu empfangen und sie gut aufzuziehen – daß zu sein ebenso groß ist wie wahrzunehmen und zu erzählen.
Für das Werden großer Meister ist die Idee der politischen Freiheit unerläßlich. Freiheit findet Helden als Anhänger, wo immer Männer und Frauen leben – niemals aber findet sie treuere Anhängerschaft und heißeres Willkommen als bei den Dichtern. Sie sind die Stimme und die Verkörperung der Freiheit. Sie sind seit Menschengedenken dieser großen Idee würdig – ihnen ist sie anvertraut, und sie müssen sie hüten. Nichts hat Vorrang vor ihr, nichts kann sie beirren oder erniedrigen.
Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos in ihrem leibhaftigen Körper konzentriert sind und in ihrem Gefallen an den Dingen, haben sie den Vorzug der Echtheit vor aller Erfindung und Schwärmerei. Wenn sie sich verströmen, werden alle Dinge mit Licht übergossen – das Tageslicht ist aufgehellt mit flüchtigerer Helligkeit −, und die Tiefe zwischen Sonnenauf- und -untergang wird um vieles tiefer. Jeder bestimmte Gegenstand, jeder Zustand, jede Vereinigung, jeder Vorgang stellt eine besondere Schönheit dar – das Einmaleins die seine – das Alter die seine – das Zimmermannshandwerk die seine, die Große Oper die ihre – der scharfbugige Riesenrumpf des New-Yorker Schnellseglers auf See, unter Dampf oder vollen Segeln, leuchtet in unvergleichlicher Schönheit – die weiten, in Eintracht handelnden Kreise der Regierung Amerikas leuchten in gleicher Weise – und die gewöhnlichsten, klar umrissenen Vorhaben und Handlungen in gleicher Schönheit. Die Dichter des Kosmos schreiten durch alle Hindernisse, Barrieren, durch Aufruhr und Kriegslisten hindurch zu den höchsten Prinzipien. Sie sind nützlich – sie befreien die Armut von ihrer Not und die Reichen von ihrem Dünkel. Du mächtiger Besitzender, sagen sie, sollst nicht mehr zu Geld machen, nicht mehr erreichen als irgendein anderer. Eigentümer der Bibliothek ist nicht, wer einen Rechtsanspruch darauf hat, weil er sie gekauft und bezahlt hat. All und jeder ist Eigentümer der Bibliothek (in Wirklichkeit ist er oder sie allein Eigentümer), der sie in all den verschiedenen Sprachen, Themen und Stilarten zu lesen vermag, in den diese ohne Mühe eingehen und den sie gelehrig, stark, reich und weit machen. Diese Staaten Amerikas, stark, gesund und vollkommen, sollen kein Vergnügen an Entweihung der natürlichen Vorbilder haben und dürfen sie nicht zulassen. In Gemälden, Skulpturen oder Schnitzwerken aus Stein oder Holz, in Illustrationen, von Büchern und Zeitungen, in den Mustern von Geweben, in allem, was Räume, Möbel und Kleider schmücken oder auf Gesimsen und Denkmälern stehen soll oder auf dem Bug und Heck der Schiffe oder irgendwo vor dem Auge des Menschen im Haus oder draußen ist alles Unfug und Verrat, was die rechtschaffene Form verzerrt oder unirdische Wesen, Örtlichkeiten oder Ereignisse darstellt. Vor allem ist die Menschengestalt so erhaben, daß sie nie ins Lächerliche gezogen werden darf. Übertriebene Verzierungen eines Werkes können nicht zugelassen werden – nur solche, die den vollkommenen Erscheinungen, der freien Natur entsprechen und die unumgänglich aus der Natur des Werkes selbst hervorgehen und zu seiner Vollendung nötig sind. Die meisten Werke sind am schönsten ohne Aufschmuck. Übertreibungen rächen sich an der Physiologie des Menschen. Reine und starke Kinder werden nur in den Gemeinwesen hervorgebracht und empfangen, wo die Vorbilder natürlicher Formen jeden Tag vor aller Welt sichtbar stehen. Der große Genius und das Volk unserer Staaten darf nicht ins Schwärmerische erniedrigt werden. Wenn die Geschehnisse richtig erzählt werden, bedarf es keiner Schwärmerei.
Die großen Dichter sind zu erkennen am Fehlen jeglicher Unechtheit und an der Bestätigung ihrer vollkommenen persönlichen Lauterkeit. Wer von vollkommener Lauterkeit ist, dem sollen alle Fehler verziehen sein. Hinfort soll keiner von uns mehr lügen, denn wir haben erkannt, daß Aufrichtigkeit die innere wie die äußere Welt gewinnt, ohne eine einzige Ausnahme, und daß, seit unsere Erde sich zu einer Masse geballt hat, noch nie Betrug, Falschheit und Verschlagenheit auch nur das kleinste Körnchen von ihr oder den leisesten Hauch eines Schattens an sich gezogen haben – und daß auch durch Reichtum und Macht eines Staates oder der ganzen Staatenrepublik ein sich verbergender kriecherischer verschlagener Mensch entdeckt und der Verachtung ausgesetzt wird – und daß die Seele sich nie hat narren lassen und nicht genarrt werden kann – und daß Sparsamkeit ohne die liebende Zustimmung der Seele nur ein fauliger Brodem ist – und daß es nie ein Wesen gegeben hat, das von Natur die Wahrheit haßte, auf keinem Kontinent des Erdenrunds, auf keinem Planeten oder Satelliten, nicht im Mutterleib noch irgendwann im Wechsel des Lebens, in keiner Spanne der Ungewißheit oder des Wirkens der Lebenskraft noch in irgendeinem Prozeß des Wachsens oder der Umgestaltung irgendwo.
Äußerste Vorsicht oder Klugheit, prächtigste leibliche Gesundheit, starkes Vertrauen und ein sich Gleichsetzen, Liebe zu Frauen und Kindern, große nährende und zerstörende Gewalt und Ursprünglichkeit mit dem vollkommenen Sinn für die Einheit der Natur, den Besitz des nämlichen Geistes, der menschlichen Dingen eignet, werden aus dem Strömen des Weltgehirns aufgerufen, wesentlicher Teil des größten Dichters zu sein vom Geborenwerden aus seiner Mutter Schoß an und von ihrem Geborenwerden aus ihrer Mutter Schoß an. Vorsicht reicht selten weit genug. Man hatte gedacht, die wären bedachtsame Bürger, die ihr ganzes Selbst auf solide Gewinne richteten und für sich und ihre Familie wohl gesorgt und ein Leben nach dem Gesetz ohne Schuld und Verbrechen zu führen beschlossen hätten. Der größte Dichter sieht diesen Nutzen durchaus, er läßt ihn gelten, wie er auch den Nutzen von Ernährung und Schlaf sieht, aber er hat höhere Vorstellungen von Klugheit, als zu glauben, er gäbe schon viel, wenn er nur ein paar flüchtige Aufmerksamkeiten an der Türklinke erweist. Die Voraussetzungen zur Lebensklugheit bestehen nicht in des Lebens Gastlichkeit, nicht in seinem Reifen oder seiner Ernte. Über jene Unabhängigkeit hinaus, die eine kleine Summe auf die Seite gelegten Sterbegeldes, ein paar Schindeln ringsum, ein paar Ziegel über dem Kopf auf einem eigenen Fleckchen amerikanischer Erde und die für die alljährliche Kleidung und Nahrung zur Verfügung stehenden Dollars gewähren, über die traurige Lebensklugheit hinaus, daß sich ein so erhabenes Wesen wie der Mensch preisgibt dem Glücksspiel und der Leere jahrelangen Gelderwerbs mit all seinen dörrenden Tagen und eisigen Nächten, all seinen würgenden Enttäuschungen und heimlichen Winkelzügen, mit seinem endlosen KIeinkram in Salons und dem schamlosen Prassen, wenn andere verhungern, mit all der Einbuße an Blüte und Duft der Erde, der Blumen, der Luft und des Meeres, der wahren Freude an Frauen und Männern, denen du begegnest oder mit denen du zu tun hast in der Jugend und im besten Alter und mit der ausbrechenden Krankheit und dem verzweifelten Aufbegehren am Ende eines Lebens ohne Aufschwung und Unschuld (selbst wenn du es zu einer Rente von zehntausend Dollar im Jahr gebracht hast oder in den Kongreß oder die Regierung gewählt worden bist) und mit dem grausigen Geschwätz über einen Tod ohne Heiterkeit und Hoheit – gibt es den großen Betrug an der modernen Zivilisation und ihrer Vorsorge, der die Oberfläche und die zweifelsohne planvoll entwickelte Ordnung der Zivilisation entstellt und ihre unermeßlichen Züge, die sie mit so großer Schnelligkeit immer weiter ausbreitet, mit Tränen netzt, bevor die Küsse der Seele sie erreichen können.
Immer noch steht die wahre Auslegung der Klugheit aus. Die Klugheit bloßen Reichtums und Ansehens, die das höchst achtbare Leben genießt, scheint zu schwach, um überhaupt mit dem Auge wahrgenommen zu werden, wenn klein und groß in gleicher Weise in Gedanken über die Klugheit, die der Unsterblichkeit angemessen ist, friedlich nebeneinandergeraten. Was bedeutet eine Weisheit, die die Geringfügigkeit eines Jahres oder von siebzig oder achtzig Jahren ausfüllt – gegenüber der Weisheit, die über Jahrhunderte sich erstreckt und zu einer bestimmten Zeit sich wieder meldet mit angewachsener Kraft und reichen Geschenken und, so weit du blicken kannst, in jeder Richtung, den strahlenden Gesichtern von Hochzeitsgästen, die dir fröhlich entgegenlaufen? Nur die Seele ist aus sich selbst – alles andere lebt vom Bezug zu dem, was sich ergibt. Alles, was ein Mensch tut oder denkt, hat seine Konsequenz. Nie kann der Drang der Barmherzigkeit oder persönlicher Kraftentfaltung etwas anderes sein als der lauterste Beweggrund, ob er nun den Beweis liefert oder nicht. Eine genaue Aufstellung ist nicht vonnöten – ein Hinzurechnen, ein Subtrahieren oder Teilen ist unnütz. Ob wenig oder viel, gebildet oder ungebildet, weiß oder schwarz, gesetzlich oder ungesetzlich, krank oder wohlauf, vom ersten Atem, der durch die Luftröhre fließt, bis zum letzten Ausatmen ist alles, was ein Mann oder eine Frau tut, so es stark, mild herzig und sauber ist, ganz zweifellos für allezeit von Gewinn für ihn oder für sie in der unerschütterlichen Ordnung des Universums und in seinem ganzen Bereich. Die Klugheit der größten Dichter entspricht am Ende der grenzenlosen Sehnsucht und Fülle der Seele, sie vertagt nichts, gestattet kein Ablassen von der eigenen Sache noch von irgendeiner anderen, kennt keinen besonderen Sabbat noch ein eigenes Jüngstes Gericht, scheidet die Lebenden nicht von den Toten noch die Gerechten von den Ungerechten, gibt sich zufrieden mit der Gegenwart, bringt jeden Gedanken und jede Handlung mit ihren Auswirkungen in Einklang und kennt keine mögliche Vergebung oder übertragene Sühne.
Die unmittelbare Prüfung, wer der größte Dichter sein könnte, findet heute statt. Wenn er sich nicht selbst wie mit ungeheurer Meeresflut mit der heutigen Zeit überströmt – wenn er selbst nicht das umgewandelte Zeitalter wäre und ihm nicht die Ewigkeit aufgetan ist, dann laß ihn untertauchen im allgemeinen Gang der Dinge und seiner Entwicklung harren. Die Ewigkeit, die allen Epochen, Orten und Vorgängen, allen beseelten und unbeseelten Gebilden ihr Ebenbild verleiht, ist das Bindende der Zeit und hebt sich aus ihrer unbegreiflichen Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit heraus in die fließenden Formen des Heut und wird gehalten von den dehnbaren Ankern des Lebens und bildet den gegenwärtigen Durchgangspunkt für das, was war, zu dem, was sein wird, und anvertraut sich selbst dem Spiel dieser Woge einer Stunde, dieser einen unter den sechzig schönen Kindern der Woge. Die endgültige Prüfung von Dichtung, Wesensart und Werk stehen noch immer aus. Der ins Künftige schauende Dichter wirft sein Bild Jahrhunderte voraus und beurteilt Künstler und Darstellung nach dem Wandel der Zeit. Lebt es durch sie? Währt es noch, unerschöpft? Wird der nämliche Stil und die Wegrichtung des Genius auf ähnliche Ziele noch Befriedigung gewähren? Hat der Gang von zehn, Hunderten oder Tausenden von Jahren die Umwege nach rechts und nach links um seinetwillen gemacht? Wird der Dichter, nachdem er begraben ist, fort und fort geliebt würden? Denkt der Jüngling oft an ihn? Und denkt die junge Frau oft an ihn? Und die mittleren Alters und die Alten, denken sie an ihn?
Große Dichtung ist Jahrhunderte und Jahrhunderte gültig, für jeden Rang und jedes Temperament, für alle Lebensbezirke und Glaubensrichtungen, für die Frau ebenso wie für den Mann und für den Mann ebenso wie für die Frau. Ein großes Gedicht ist für Mann und Frau nicht Abschluß, sondern Beginn. Hat jemand sich vorgestellt, er könnte am Ende im Schutz einer angemessenen Macht sitzen und ausruhen, an Auslegungen Genüge finden und sie verwerten und Zufrieden sein und erfüllt? Der größte Dichter schafft einen solchen Endpunkt nicht – er führt weder zur Ruhe noch zu wohlbehüteter Sattheit und Bequemlichkeit. Seine Berührung wirkt wie die Natur in voller Tätigkeit. Die er mitführt, führt er festen sicheren Griffs in lebenerfüllte, einstmals unerreichbare Gebiete mit – von nun an ist keine Ruhe mehr – sie gewahren den Raum und den unbeschreiblichen Glanz, die alle alten Flecken und Lichter in ein totes Vakuum verwandeln. Nun soll dort ein Mensch sein, ganz Aufruhr und Chaos – der Ältere spricht dem Jüngeren Mut zu und weist ihm, was er tun muß – und beide sollen furchtlos zusammen fortschreiten, bis die neue Welt sich eine neue Planetenbahn geschaffen hat und ohne Wirrnis auf die unbedeutenden Bahnen der Sterne schaut und hinfliegt durch das unaufhörliche Kreisen und nie wieder zur Ruhe kommt.
Bald wird es keinen Priester mehr geben. Ihr Werk ist getan. Eine neue Ordnung soll erstehen, sie sollen Priester der Menschen sein, jeder Mensch soll sein eigener Priester sein. Sie sollen ihre Inspiration in den wirklichen Gegenständen des Tages finden, Zeichen der Vergangenheit und Zukunft. Sie sollen sich nicht herablassen, die Unsterblichkeit zu rechtfertigen oder Gott, die Vollkommenheit der Dinge, die Freiheit oder die erlesene Schönheit und Wahrheit der Seele. Sie sollen von Amerika ausgehen, und die übrige Welt soll ihnen entgegenkommen.
Die englische Sprache begünstigt das große amerikanische Ausdrucksvermögen – sie ist stark genug, geschmeidig und reich genug. Als zäher Stamm eines Menschengeschlechts, das durch alle Wechselfälle hindurch nie die Idee der politischen Freiheit aufgegeben hat, die der Geist jeglicher Freiheit ist, hat sie Begriffe aus Sprachen übernommen, die feiner heiterer gewandter und eleganter sind. Sie ist die machtvolle Sprache des Widerstandes – sie ist die Ausdrucksform des gesunden Menschenverstandes. Sie ist die Sprache des stolzen und schwermütigen Geschlechts und aller, die emporstreben. Sie wird bevorzugt, um Wachstum, Treue, Selbstachtung, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Wohlwollen, Großmütigkeit, Klugheit, Entschlossenheit und Mut auszudrücken. Sie ist das Medium, das fast das Unaussprechliche verkünden soll.
Keine große Literatur, keine ähnliche Lebensart oder Redekunst, kein gesellschaftlicher Umgang, keine Haushaltführung oder öffentliche Einrichtung oder die Art, wie Vorgesetzte ihre Angestellten behandeln, keine Durchführungsbestimmung, keine Richtlinie der Armee und der Marine, weder der Geist der Gesetzgebung und der Gerichtshöfe, weder die Polizei, das Erziehungswesen oder die Architektur, weder Gesänge noch Vergnügen können sich auf die Dauer der eifernden leidenschaftlichen Natur der amerikanischen Maßstäbe entziehen.
Ob die Münder der Menschen es aussprechen oder nicht, es pocht eine lebendige Frage im Herzen jedes freien Mannes, jeder freien Frau nach dem, was vergeht, und dem, was aufgebaut wird, um zu dauern. Ist es meinem Land gemäß? Bergen die Anordnungen keine schändlichen Sonderbestimmungen? Steht es für die stetig wachsende Gemeinschaft von Brüdern und Liebenden, weit, wohlverbunden, stolz, über den alten Vorbildern, kühn über allen Vorbildern? Ist das, was vergeht und aufgebaut wird, als wäre es frisch aus den Feldern aufgeschossen oder aus dem Meer gezogen, damit ich heute und hier es nutzen kann? Ich kenne den, der an meiner Statt Antwort gibt: ein Amerikaner in Texas, Ohio oder Kanada muß für jeden einzelnen, jede Nation Antwort geben, die mir Bestandteil meines Stoffes ist. Gibt dies Antwort? Nährt es die Jugend der Republik? Löst es sich gut und schnell in der süßen Milch der Brust der Mutter vieler Geschöpfe?
Amerika bereitet sich mit Gelassenheit und Wohlwollen auf seine Besucher, die sich angemeldet haben, vor. Nicht der Verstand soll ihnen Gewähr und Willkommen sein. Der Begabte, der Künstler, der Intellektuelle, der Verleger, der Staatsmann, der Gelehrte, alle sind geachtet – sie sind recht an ihrem Platz und erfüllen ihre Aufgabe. Aber auch die Seele der Nation erfüllt ihre Aufgabe. Sie weist keinen zurück, sie läßt alle zu. Nur wer ihr gemäß, dem wird sie halbwegs entgegengehen. Ein einzelner ist ebenso herrlich wie eine Nation, wenn er die Eigenschaften aufweist, die eine herrliche Nation ausmachen. Die Seele der größten reichsten und stolzesten Nation kann wohl der ihrer Dichter halbwegs entgegengehen, um sich der ihren zu verbinden.

Walt Whitman, Vorwort

 

Wir haben uns entschieden,

für diese kleine Auswahl der Whitmanschen Lyrik eine in eben dieser Form bereits bestehende Auswahl von Georg Goyert, erschienen 1948, in seiner Übersetzung zu übernehmen. Unseren Hörern möchte ich sagen, dass es eine Sache ist, einen lyrischen Text möglichst treu und korrekt am Original entlang zu lesen, eine andere, ihn auf einem ununterbrochenen und ungebrochenen Atem hörbar zu machen.

Christian Brückner

Grashalme

Ein fundamentales Werk der amerikanischen Literatur bis heute.
Zu Lebzeiten war Whitman ein Outcast und Sonderling. Sein Lyrik wurde als obszön stigmatisiert. Wortgewaltig feiert er die Natur, den Menschen und die Schönheit des menschlichen Körpers. Generationen von Dichtern in den USA und überall auf der Welt haben von ihm gelernt und seinen hymnischen Ton aufgenommen. Heute wird er als einer der Gründerväter der amerikanischen Literatur verehrt.

Argon Verlag, Ankündigung

Grashalme

Die große Dichtung vom Selbstbewusstsein Amerikas.
Walt Whitman legt die Fundamente einer eigenen amerikanischen Literatur und besingt in seiner hymnischen Lyrik das endlose Land und die neuen Menschen, die in ihm leben. Liebe und Erotik, der nackte Körper in seinen Freuden und die Seele, die er umschließt. Die brüderliche Gemeinschaft aller Menschen, von Mann und Frau, Mann und Mann, und Aufbruch aller in eine Menschencommunio, die ihr Glück findet in Leib und Seele. 

Parlando Verlag, Klappentext, 2012

 

Iggy Pop / Tarwater / Alva Noto – Leaves of Grass

 

Dichtung über das Dichten1

Allzu häufig, so scheint mir, haben die Kommentatoren Walt Whitman als den bärtigen, uralten Greis vor Augen, der dem Schmetterling nachschaut und in dessen sanften Blicken die Abgeklärtheit gegenüber aller Freude und allem Elend dieser Welt steht. Vielleicht ist jene Photographie daran schuld, die wir auf den Titelseiten aller Ausgaben der Leaves of Grass, die mit Genehmigung der Testamentsvollstrecker Bucke, Harned und Traubel erschienen sind, finden. Vielleicht liegt der Grund aber auch in dem Mythos des majestätischen Propheten, und gleichsam des Wundertäters, den die begeisterten Jünger geschaffen haben, oder aber in der unbewußten Erinnerung an das Dreigestirn, das seinerzeit die Vorstellungskraft der Menschen beherrschte: Tolstoi – Hugo – Whitman. Obwohl die Legende um den großen Seher, Wissenden und Religionsstifter Walt Whitman durch die Arbeiten vor allem der französischen und englischen Kritik2 zerstört worden ist, gehört doch dem Bild des schönen Greises im weißen Vollbart die unbewußte Vorliebe der Leser. Auch hat sich inzwischen allzusehr die Auffassung verbreitet, daß der wahre, der große Whitman zwar nicht der Whitman der letzten, matten Gruppen der Leaves („Sands at Seventy“; „Good-by“, „my Fancy“; „Old Age Echoes“) sei aber doch der Whitman der kurzen Impressionen über die Freundschaft („Calamus“), der kraftvollen und gleichzeitig zarten Kriegsbilder („Drum-Taps“) und der flüchtigen Visionen in den „Whispers of Heavenly Death“.3 Es erscheint uns merkwürdig, einen weißbärtigen Walt Whitman mit den Gedichten „Calamus“, die er im Alter zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren geschrieben hat und die von jugendlicher Gesundheit und Lebensfreude vibrieren, in Verbindung zu bringen. Man weiß zwar, daß Dichtung nichts mit Jugend und Alter zu tun hat, sondern eben Dichtung ist. Wenn ich aber in dieser Weise von den ersten Gruppen der Leaves spreche, so nicht, um sie abzuwerten, ich möchte nur bemerken, daß die Kommentatoren Whitmans, die sein ganzes Werk nur auf die anschaulichen impressionistischen Kleingemälde beschränken möchten, Gefahr laufen, die besondere Eigenart des Dichters und somit schließlich auch diese Bilder nicht unbeträchtlich zu verfälschen und herabzusetzen. Denn damit stellt man die Dichtung der Reifezeit, in der außer dem raschen Gedankenflug im „Calamus“ auch die herrlichen großen „Songs“, die über die ersten beiden Bücher der Leaves verstreut sind, entstanden, auf die gleiche Ebene wie die matte und fragmentarische Geschwätzigkeit (das Urteil stammt von Walt Whitman persönlich)4 eines Alters, das, um es zu wiederholen, nicht ausgesprochen olympisch ist. Man vergißt eine sehr auffällige Tatsache: Als nämlich der „Weise von Camden“ im Jahre 1881 die siebente Ausgabe dieses Buches, seines Lebenswerks, besorgte, die dann die endgültige Form darstellte, er mit zweiundsechzig Jahren die Ergebnisse eines Werkes sichtete und abschloß, dessen erste Umrisse sich ihm mit dreißig Jahren abzeichneten und das er mit achtundvierzig in der vierten Ausgabe von 1867 zum größten Teil vollendet hatte. Und wer sich aus den Gedichten noch keine Vorstellung machen kann, wie Walt Whitman in der Blüte seiner Jahre aussah, als er das Buch plante und ausführte, betrachte die Photographie, die Walt Whitman, noch nicht der „Weise von Camden“, 1855 in der ersten Ausgabe der Leaves dem späteren „Song of Myself“ voranstellte. Sie zeigt einen Riesen im offenen Arbeitshemd mit kurzem, hartem Bart, dessen ganzes Wesen sich in den geheimnisvollen Augen konzentriert, die einen fast zärtlich anzublicken scheinen. Ich glaube, irgend jemand hat dieses Bild die Photographie eines „Rowdys“ genannt. Ob man will oder nicht, für jeden, der W. W. versteht, ist dies der Dichter aller jener Teile der Leaves of Grass, die etwas gelten.

Im Gegensatz zu der Ansicht, die als Reaktion auf die unkritische Kanonisierung des „Sehers“ zur Zeit Verbreitung gefunden hat, kann man mit gutem Grund behaupten, Walt Whitman habe seine Arbeit immer mit klarem kritischem Bewußtsein verfolgt. Aber das ist nur natürlich. Denn sonst müßte man sich Whitman, diesen mit beiden Füßen auf der Erde stehenden Menschen der an seinem Werk so verbissen feilte wie keiner, als unsympathischen, exaltierten Faulpelz vorstellen, dem ein Dämon von Zeit zu Zeit Gesänge ins Ohr flüstert. Der prachtvolle Faulpelz ist auch der Titel einer Biographie in Romanform, die Cameron Rogers über ihn verfaßt hat.5 Dieser Kritiker hat meines Erachtens unseren Dichter am besten verstanden, gerade weil er sich nicht wortreich über Aufzählungen oder Bilder, psychischen oder inneren Reim, über Päderastie oder Magnetismus und all die anderen ewig wiederkehrenden Whitman-Lappalien ausgelassen hat, sondern weil er die Gestalt des Dichters in seinen Gebärden, Worten und Seelenzuständen, wie sie jeder Leser zwischen den Zeilen der Gedichte erkennen kann, mit sicherer Hand nachgezeichnet hat. Walt Whitman war tatsächlich ein Faulpelz in jenem Sinn, in dem jeder Dichter ein Faulpelz ist; dann nämlich, wenn er, statt zu arbeiten, durch die Gegend streifte und dabei seine Verse oder Gesänge mit großer Mühe und in seltenen, alle Anstrengungen belohnenden Momenten freudiger Genugtuung immer wieder von neuem durcharbeitete und an ihnen feilte. Er war ein Faulpelz bei allem, was üblicherweise als Arbeit gilt, weil seine Hände mit einem anderen Werk beschäftigt waren, das sein ganzes Interesse absorbiert und ihn vielleicht sogar bis in den Schlaf verfolgte. Doch hierüber hat schon Valéry Larbaud einige sehr gute Dinge gesagt.6
Man kann nicht oft genug wiederholen, daß Walt Whitman seine Sache verstand und daß er – wie übrigens jeder Künstler, der etwas leistet – seine Dichtungen immer wieder neu durcharbeitete, ausfeilte, nachvollzog und bewußt plante. Wenn sich auch einige seiner theoretischen Forderungen im Lauf der Zeit und im Licht der Erkenntnisse unseres Jahrhunderts als falsch oder schwach begründet erwiesen haben, so war und ist dies das Los nicht nur aller Künstler, sondern aller Menschen. Und wenn jemand angesichts eines Ausspruchs wie des folgenden:

Individuelle, auf Rang, Begünstigung oder Besitz beruhende Vorteile, die direkt oder indirekt die Fäden aller Dichtung der Vergangenheit darstellen, sind meiner Meinung nach dem republikanischen Geist zuwider und bieten keine Grundlage für einen diesem Geist angemessenen Vers,7

wenn jemand angesichts dieses Ausspruchs feststellt, daß man solche Dinge nicht einmal im Scherz sagt, kann man ihm erwidern, daß gerade mittels solcher Gedankengänge Walt Whitman imstande war, den Stoff seiner eigenen Dichtung zu klären und abzugrenzen. Außerdem erzählt er sofort nach diesem ketzerischen Ausspruch eine Anekdote, die er in seiner Jugend gelesen hat. Sie mag uns zeigen, daß die Künstler seit eh und je wußten, was sie von allen Erörterungen der Theoretiker über Kunstgattungen und Schulen zu halten hatten. Rubens sagte vor einem Bild unbestimmter Herkunft zu seinen Schülern:

Ich glaube nicht, daß der unbekannte und vielleicht nicht mehr lebende Künstler, der der Welt dieses Vermächtnis hinterlassen hat, jemals einer Schule angehört oder daß er je etwas anderes gemalt hat als dieses Bild, das eine ganz persönliche Angelegenheit ist, ein Werk, das aus einem ganzen Menschenleben besteht.8

Und als Whitman mit beinah siebzig Jahren diese Worte wiedergab, wußte er besser als jeder andere in Amerika, was ein Werk ist, das aus dem ganzen Leben eines Menschen besteht.
Würde man aus den zahlreichen Vorworten, Erklärungen, Glossen und Aufzeichnungen, mit denen der Band der Prose Works vollgestopft ist, alle theoretischen Stellen herausziehen und zusammenstellen, so würden in ihrem Licht einige Seiten des Whitmanschen Werkes recht paradox erscheinen, und man würde zu einigen unerwarteten Schlußfolgerungen kommen (unerwartet nicht nur vom Standpunkt Whitmans).
Whitman sagte:

Das fundamentale Bedürfnis in den Vereinigten Staaten von heute, im engsten, umfassendsten Anschluß an die gegenwärtigen Verhältnisse und an die Zukunft, ist eine Klasse und die klare Idee einer Klasse von einheimischen Autoren, eine Literatur, ganz anders und viel höher geartet als alle bisher bekannten: priesterlich, modern, fähig, sich zu messen mit den Möglichkeiten unserer Länder, die ganze Fülle amerikanischer Mentalität, amerikanischen Geschmacks und Glaubens durchdringend und ihr einen neuen Odem einhauchend, ihr Entscheidungskraft verleihend; eine Literatur, die auf die Politik eine tiefere Wirkung ausübt als das oberflächliche Volkswahlrecht und letzten Endes auch von innen her und indirekt die Wahlen der Präsidenten und Kongresse beeinflußt, – die nach allen Richtungen ausstrahlt, würdige Lehrer, Schulen, Umgangsformen erzeugt und als wichtigstes Ergebnis das schafft, was weder die Schulen noch die Kirchen und ihr Klerus bisher geschaffen haben und ohne das die Nation so wenig dauernd und fest stehen kann wie ein Haus ohne Grundmauern: nämlich einen religiösen und moralischen Charakter unterhalb der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Grundlagen der Vereinigten Staaten.9

Das ist wohlgemerkt eine fixe Idee von ihm, auf die man schon stößt, wenn man nur den Band der Prose Works aufschlägt. Ihr zur Seite stellen wir nun seine zweite fixe Idee, deren Besonderheit bislang von niemandem erkannt worden ist: Die Weltgeschichte wird von ihm nur durch das Medium der größten Werke der Literatur, durch die großen Nationaldichtungen betrachtet. Wenn wir daran erinnern, daß Whitman – wie er selbst berichtet – mit naturalistischen Deklamationen unter freiem Himmel die Möwen von Coney Island erschreckte bzw. die Pferdebuskutscher vom Broadway auf Kosten von Homer, Shakespeare, Aischylos, Ossian und anderen Unsterblichen unterhielt, dann haben wir schon Material genug, um unsere oben umrissene Theorie von einem paradoxen Phänomen Whitman zu belegen. Fügt man den genannten Dichtungen (auch die Zeitgenossen Scott und Tenyson zählten wie Ossian für Whitman zu den großen Nationaldichtern) noch das umfangreiche Feuilletonschrifttum der Zeit sowie Emerson, naturgeschichtliche Werke, Realienbücher und Melodramen hinzu, so hat man den gesamten äußeren Bildungshorizont Walt Whitmans umrissen.
Aus all dem ergibt sich der Schluß, daß Walt Whitman für Amerika das leisten wollte, was die verschiedenen Nationaldichter zu ihrer Zeit für ihre Völker geleistet haben. Walt Whitman ist ganz durchdrungen von dieser romantischen Idee, die er als erster nach Amerika verpflanzt hat. Er sieht Amerika und die Welt nur in Beziehung zu der Dichtung, die im 19. Jahrhundert der Ausdruck dieses Amerika und dieser Welt sein wird, alles übrige zählt nicht. Es ist bezeichnend, daß er, der große Primitive, der erklärte Feind jedes literarischen Lebens, das der Natur ihre Spontaneität nehmen könnte, als letzte Klage über die ausgerottete rote Rasse sagen konnte:

… (Kein Bild, kein Gedicht, keine Äußerung, die sie der Zukunft überliefert)10

Walt Whitman lebt so intensiv der Idee seiner Sendung, daß er, wenn auch nicht dem unvermeidlichen Mißlingen eines solchen Plans, so doch dem Mißlingen seines Werks entgeht. Er schuf nicht das Ur-Epos, das er erträumte, sondern das Epos dieses seines Traumes. Der absurde Plan, eine der demokratischen und republikanischen Welt und den Charakteren des neuentdeckten Landes angemessene Dichtung zu schaffen, schlug ihm fehl, denn es gibt nur eine Dichtung; aber da er sein Leben lang diesen Plan in den verschiedensten Variationen wiederholte, wurde daraus Dichtung, die Dichtung von der Entdeckung einer neuen Welt in der Geschichte und über das „Singen“ dieser Welt. Kurz, um es in einem scheinbaren Paradox auszudrücken, er dichtete über das Dichten.
Ich sagte allerdings auch, daß Walt Whitman seine Arbeit mit einem gewissen kritischen Bewußtsein begleitete. Nun könnte nach den vorangegangenen poetologischen Untersuchungen der Eindruck entstehen, daß Whitman keineswegs der beste Kritiker seines eigenen Werkes gewesen sei. Es handelt sich aber um einen verwickelten Fall. Walt Whitman dürfte sich wohl über die Tragweite, die Wirkung und die Bedeutung der Leaves getäuscht haben, ja, er hat sich in dieser Hinsicht Wahnvorstellungen hingegeben. Aber das eigentliche Wesen, die Natur des Buches hat damit nichts zu tun. Ich kann nicht glauben, daß ein Dichter, noch dazu ein Dichter, der wie Whitman die Aufgabe übernimmt, Geist und Ausdrucksformen des Zeitgeschmacks zu erneuern, und dem es gelingt, vitale Dichtung zu schaffen, nicht wissen sollte, wie diese Dichtung zustande gekommen ist, das heißt, nicht wissen sollte, warum er so und nicht anders geschrieben hat, über dieses Sujet. und nicht über jenes. Gerade bei Walt Whitman ist das nicht anzunehmen, denn er genießt noch nicht einmal den Schutz, den der schillernde Glanz des jugendlichen Genies bietet: Erst mit dreißig Jahren bringt er, nach Ausübung etlicher Berufe und nach jämmerlichen, novellistischen und journalistischen Versuchen in mindestens vierjähriger, mühevoller Arbeit gerade an die hundert Seiten zusammen, die er mit unermüdlichem Fleiß langsam herausbildet, entwickelt, erweitert und ausfeilt. Daß Walt Whitman mit dem wenigen an zusammengestoppelter und verschwärmter Bildung in programmatischer Hinsicht auf Abwege geriet, wird jeder, der darüber nachdenkt, natürlich finden, selbst wenn er das Werk nicht kennt. Während jedoch die Titulare der zeitgenössischen Bildung nur dekorative Sammlungen mittelalterlicher Balladen oder Hymnen an den Fortschritt zustande brachten, schuf Whitman, vermittels oder trotz dieser Bildung, das Wunder der Leaves of Grass.
Und wer da sucht, findet auch in den Prose Works bestimmte Einwände, bestimmte Behauptungen und bestimmte – nennen wir sie meinetwegen – Intuitionen die schließlich doch zu den besten Beiträgen in der ganzen umstrittenen Whitman-Kritik gehören. Man beachte zum Beispiel in dem oben zitierten A Backward Glance o’er Travel’d Roads die Leidenschaftslosigkeit, mit der der Dichter das Wesen und die Motive seines Buches analysiert. Das erste, was er darüber zu sagen hat, ist folgendes:

Ich war besessen von einem Gefühl oder einem Ehrgeiz, in literarischer Form kompromißlos meiner eigenen physischen, seelischen, moralischen, geistigen und ästhetischen Persönlichkeit einen deutlichen und getreuen Ausdruck zu verleihen, inmitten von und in Übereinstimmung mit dem Geist und den wichtigen Geschehnissen der sie direkt betreffenden Gegenwart und des zeitgenössischen Amerikas, – und diese räumlich und zeitlich identifizierte Persönlichkeit mit weit größerer Aufrichtigkeit und größerem Verständnis zu entwickeln, als das je zuvor in einem Buch oder Gedicht geschehen war.11

Und zum Abschluß kehrt nach der gewohnten und immer wieder absurden Erklärung der eigentlich demokratischen Natur der Leaves die Idee wieder, daß das Buch nicht die Darstellung einer Phantasiewelt, keine Galerie einzelner Figuren bzw. Kleingemälde sei, sondern eine Person, ein Fühlendes, das sich in der Welt der Wirklichkeit bewegt.

Und wirklich sind die Leaves of Grass (ich kann es gar nicht oft genug wiederholen) in erster Linie das Zutagetreten meiner eigenen emotionellen und rein persönlichen Natur – sie sind vom Anfang bis zum Ende der Versuch, eine Person, ein menschliches Wesen (mich selbst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert, in Amerika) freimütig, vollständig und getreulich aufzuzeichnen.12

Diese Idee hat, ganz abgesehen von ihrer Anwendung auf die Whitman-Kritik, eine einzigartige historische Bedeutung. Mit ihr wurde zum erstenmal in Amerika das Problem formuliert, das im 20. Jahrhundert sich jeder Künstler der Vereinigten Staaten von neuem stellte. Wie auch immer dieses Problem gefaßt werden mag, es bleibt insofern immer aktuell, als im Gegensatz zum europäischen Künstler vom alten Schlag, der die Meinung vertritt, das Geheimnis der Kunst bestehe darin, eine mehr oder weniger imaginäre Welt zu schaffen, die Wirklichkeit zu verneinen, um sie durch eine andere, unter Umständen bedeutungsvollere Wirklichkeit zu ersetzen, uns ein Amerikaner der jüngeren Generation sagen wird, er strebe einzig und allein danach, zu der wahren Natur der Dinge vorzustoßen, die Dinge ohne Voreingenommenheit zu betrachten und sie in jenen „ultimate grip of reality“13 zu bekommen, der allein die Mühe lohne. Es handelt sich hier um eine Art bewußter Akklimatisierung an die Welt und an Amerika. Es ist daher nur recht und billig, anzuerkennen, daß Walt Whitman nicht nur als erster mit seinem Werk diese Tendenz der amerikanischen Kultur bezeugt hat, sondern daß er sie sogar in sich selbst entdeckte und mit größerer theoretischer Deutlichkeit formulierte, als es vielen seiner Kommentatoren gelang.

Was die Form der Whitmanschen Dichtung angeht, so glaube ich zwar nicht, daß man sie (wie viele Kommentatoren behaupten oder stillschweigend voraussetzen) als eine lockere Abfolge kleiner Szenen kennzeichnen kann, die sich in ihrer Anmut aus dem Ganzen herauslösen lassen, ich bin aber auch nicht der Ansicht, daß die architektonische Struktur des ganzen Buches irgendeine Wirksamkeit hat, wie es Whitman und seine Jünger stets beabsichtigten.
Mit den kleinen Szenen oder Bildchen sind jene kurzen impressionalistischen Gedichte oder Gedichtteile gemeint, in denen eine Figur, eine Szene, ein Gedanke, ein kleines Landschaftsbild in ihren wesentlichen Zügen festgehalten werden. Allerdings wurden sie mit zunehmendem Alter des Dichters immer zähflüssiger, denn der „Weise von Camden“ war ja von der halb komischen, halb kläglichen Manie besessen, in den geringsten Dingen Zeichen seines umfassenden Systems zu erblicken und sie durch eine Parallele, ein Bild oder eine Beschreibung auszudrücken. So war bei seinem zum Prophetischen neigenden Charakter das Bild, das auch Genrebild sein konnte, immer eher Gleichnis, eine Exemplifizierung, die durch das Ganze seiner Doktrin und seines Buches ihre Rechtfertigung fand.
Die neuesten Untersuchungen aber, die zu Recht seine prophetischen Ansprüche ablehnen, haben diesen Bildern ihre Stütze und ihren Sinn entzogen und sie dadurch zu schäbigen Bruchstücken gemacht. Allerdings verdarben sie sich dadurch auch die Perspektive, denn bei einem solchen Verfahren mußten natürlich die besonders skizzenhaften Bilder wie „O Captain! My Captain!, Come up from the Fields Father“ und „The Singer in the Prison“ als die besten erscheinen.
Der architektonische Aufbau des Buches als letzte Rechtfertigung der einzelnen Kleingemälde ist die künstlerische Verwirklichung des prophetischen Impulses und stellt, wie die ausgefeilte Struktur der Divina Commedia, die technische Grundlage des Buches dar. Sei es aber nun, daß das Gebäude der Leaves aus einem weniger wertvollen philosophischen Material besteht und nicht recht einer Kathedrale oder was weiß ich ähneln will, jedenfalls hat es über den Aufbau weniger Auseinandersetzungen gegeben als bei der Commedia. Die kühnsten Kritiker sind noch diejenigen, die die Struktur der Leaves so nehmen, wie sie ist, mit der Entschuldigung, daß im Grunde die Reihenfolge der Gedichte im wesentlichen der Chronologie ihrer Entstehung entspreche.14 Also lohnt es nicht der Mühe, länger dabei zu verweilen.
Worin besteht nun das Formprinzip Walt Whitmans, wenn die Kleingemälde, diese müden oder bescheidenen Impressionen, oder die beschreibenden Stücke der langen Songs und auch die Struktur, die aus einer überflüssigen Hierarchie von Seiten gleichen Inhalts und gleicher Intensität besteht, als Formelement nicht in Frage kommen?
Bleiben wir bei einem der Gedichte, einem Riesengedicht, der härtesten Nuß der Leaves, dem „Song of Myself“. Dieser Song beherrschte seit der ersten Ausgabe von 1855 die Leaves, obgleich er zunächst noch keinen Titel trug. Er teilte das Schicksal des ganzen Buchs, das heißt, er wurde auf jede erdenkliche Art umgearbeitet, gefeilt, beschnitten und erweitert. 1881 liegt, in zweiundfünfzig Abschnitten, die endgültige Form des Gedichts vor, das sogar in der Gruppe der ersten Gedichte „aux titres immenses, les mastodontes et les iguanodons de la création whitmanienne“15 durch seine ungeheure Größe auffällt. Dieser „Song of Myself“ ist eine Art Quintessenz der Leaves of Grass; in ihm begegnet man allen Motiven (hier auch als einfache Sujets zu verstehen) der Dichtung Walt Whitmans.
Und hier beginnt es, interessant zu werden, denn wie das ganze Buch keine Strukturqualitäten aufweist, so könnte man auch dieses Gedicht stark kürzen oder erweitern oder einzelne Teile umstellen. Whitman hat es übrigens getan, und er hätte sicher bis heute damit nicht aufgehört, wenn nicht Alter und Tod dazwischengekommen wären. Wollen wir damit also sagen, daß der Wert des Gedichts ganz und gar auf den bruchstückhaften kleinen Szenen beruht, in denen realistisch umrissenes Detail unsern Blick fesselt? Auch das trifft nicht zu, obgleich man dort Seiten findet, die man übergehen kann, und andere, die zu den hundert besten der Dichtung aller Zeiten gehören.
Beginnen wir mit der Versgestaltung. Es ist verlorene Zeit, und auch ich habe viel Zeit damit verloren, die Prose Works in der Hoffnung zu durchstöbern, aus den Specimens Days, die seine Erlebnisse als Krankenpfleger im Bürgerkrieg und den glücklichen Ferienaufenthalt im Adamskostüm in der Einsamkeit von Timber Creek schildern, Seiten, Bruchstücke, das heißt Bilder auszugraben, die man den entsprechenden Motiven der Leaves gegenüberstellen könnte, um aufzuzeigen, daß im Endeffekt kein Unterschied zwischen seinen Versen und seiner Prosa besteht. Niemand kann Walt Whitmans Kunstprosa mehr bewundern als ich, aber man braucht wohl nicht daran zu erinnern, daß sie fast ausschließlich nach dem Bürgerkrieg während seiner Krankheit entstand, als sein Bart zumindest schon graumeliert war. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Walt Whitman von da an seine Gedichte lange Zeit immer von neuem durcharbeitete. Obwohl er eine neue Thematik, die wir mit dem Stichwort „Kontemplation“ umreißen wollen, gefunden hatte,16 fehlt diesem Nachsommer von Impressionen, Gedanken, Essays, aufschlußreichen Parallelen, dieser ganzen üppigen Bilderblüte trotz der vielen neuen guten Eigenschaften jene zupackende Kraft, jener Schauer, der sogar die sehr allegorischen und programmatischen Stellen der ersten Leaves dichterisch verklärt hatte. Fast alle Gedichte Whitmans seit den Autumn Rivulets (die er gleich nach dem Frieden von 1865 in Angriff nahm) bis zu seinem Tod würden, wenn sie in Prosa geschrieben wären, an Unmittelbarkeit, Klarheit und Wirksamkeit gewinnen, und darum ist die sie begleitende und reflektierende Prosa zweifellos vorzuziehen. Andererseits dürfte es kaum jemanden geben, der sich für die wenigen Prosastücke interessiert oder auch nur von ihnen weiß, die zu dem Teil des Whitmanschen Werkes zählen, das vor den Whispers of Heavenly Death (1871) entstand. Es gibt also zwei Perioden im Werke Walt Whitmans, eine lyrische und eine Prosaperiode. Und zwischen den Versen und der Prosa besteht ein wesentlicher Unterschied, den man nicht übersehen kann, wenn man nicht das, was Walt Whitman selbst so sorgfältig auseinanderhielt, wieder in einen Topf werfen will.
Mag es auch überflüssig erscheinen, so möchte ich doch wiederholen, daß Walt Whitman stets ein bewußt schaffender Künstler war, auch als er seine Art des freien Verses erfand. Nicht umsonst stellt er sich in einer Anmerkung zu seiner Erneuerung oder Befreiung des Versmaßes in Gegensatz zu Poe. Dort heißt es:

Gegen Ende hatte ich neben vielen anderen auch die Gedichte Edgar Poes durchmustert, zu deren Bewunderern ich nicht zähle, obwohl ich stets wahrnahm, daß sie trotz der beschränkten Reichweite ihrer Melodien (sie erinnern an ständiges Glockenspielgebimmel, das sich in dem Tonbereich zwischen b und g bewegt), den vielleicht nie mehr übertroffenen melodiösen Ausdruck bestimmter deutlicher Phasen menschlicher Morbidität darstellen.17

Das etwas zwiespältige Lob dieser Effekte (obwohl sie wie „ständiges Glockengebimmel im Tonbereich zwischen b und g“ klingen, stellen sie doch den harmonischen Ausdruck „bestimmter deutlicher Phasen menschlicher Morbidität“ dar) zeigt, daß Walt Whitman, als er die traditionellen Schemata durch seinen Vers ersetzte, niemals beabsichtigte, an Musikalität, Lauteffekten, an „Glockenspiel“ zu gewinnen. Und wir, deren Blick für diese Dinge nach dreißig Jahren metrischer Experimente geschärft ist, können hinzufügen, daß Walt Whitman noch weniger jemals daran gedacht hat, in unserem, das heißt im europäischen Vers libre der Dekadenzdichtung zu schreiben der nichts anderes ist als eine verzweifelte Auflehnung gegen die um die Jahrhundertmitte in England und Frankreich entstandenen Wunderwerke der traditionellen Verstechnik. Der Whitman-Vers bedeutet aber seinem Wesen nach etwas anderes, und wenn sich Whitman dem Symphoniker Poe entgegenstellt, beweist das, daß er sich dieser Bedeutung sehr wohl bewußt war.
Walt Whitman hatte durchaus nichts gegen das Versmaß und den Reim an sich. Auch er machte Gedichte mit Metrum und Reim. Aber er war gegen die Musikalität als Selbstzweck, und deswegen hätte er die Vertreter des Vers libre verurteilt, wenn er sie noch erlebt hätte. Seine metrische Einheit, deren Vorbild ganz offensichtlich die Bibelverse sind, folgt keinen lautlichen Gesetzen; Neben einem Vers von einer halben Zeile findet man bisweilen einen, der die Breite zweier Finger einnimmt. Walt Whitman folgt sozusagen den Gesetzen seiner Phantasie. Er drückt einen Gedanken, einen plötzlichen Einfall, ein Bild aus, und dann geht es wieder von vorn los. Er singt also im Rhythmus der Wellen seiner Phantasie, wobei sich auch seine Ratio in Phantasie verwandelt. Dadurch entsteht eine Harmonie, die von einer metrischen Einheit in die andere übergeht und dafür sorgt, daß die auf den Dichter einstürmenden Gespenster und Gedanken ihren adäquaten befreienden Ausdruck finden. Sie alle haben ihren Eigenwert, ob sie nun für einen Augenblick vorüberhuschen oder sich auf zwanzig Seiten ausbreiten. Niemals behindern sie sich gegenseitig, niemals entsteht ein Durcheinander (es sei denn, der Dichter sei gerade müde oder abgelenkt gewesen). Diesen mit Hilfe der Versgestaltung geschaffenen Rhythmus weisen alle guten Gedichte der Leaves auf. Man versteht sehr gut, daß Whitman, nachdem er alle seine Motive bereits in diesen mächtigen Gedichten verbaut und sich in und nach dem Bürgerkrieg an den Stil rascher, erläuternder Prosanotizen gewöhnt hatte, nunmehr die naive herrliche Freude an der Entdeckung einer Welt, der Welt, verloren hatte und sich mit zunehmendem Alter zum subtilen Betrachter der Gegenstande der Natur wandelte, zum Schilderer hochkomplizierter Impressionen, dem die senile Freude am moralisierenden Genrebildchen nicht fremd war. Nun, alle diese Eigenschaften sind einem guten Prosaschriftsteller von Nutzen (und haben auch Whitman genützt), nicht aber einem Lyriker. Und hier interessiert uns der Lyriker Whitman.
Um zu verstehen, wie die besten Verse Whitmans beschaffen sind, braucht man nur zum „Song of Myself“ zurückzukehren. Und jetzt können wir auch die Frage nach der Form seines Gesanges beantworten: Es gibt kein alle Teile umfassendes Konstruktionsschema, auch handelt es sich nicht, wie bei den Alterswerken, um überlebende Fragmente. Der Vers, der geschriebene oder geflüsterte Satz, der oratorische, immer in Versen skandierte Rhythmus, ist die eigentliche Form des „Song of Myself“ und damit aller Leaves, solange dem Dichter der Atem nicht ausging.
Der Anfang des „Song of Myself“:

Ich preise mich selbst und singe mich selbst,
Und was ich auf mich nehme, sollt ihr auf euch nehmen,
Denn jedes Atom, das mir gehört, gleich gut gehört es euch.

und der Schluß:

Findet ihr mich nicht sogleich, so verliert nicht den Mut,
Verfehlt ihr mich an einer Stelle, so suchet woanders.
Irgendwo bin ich und warte auf euch.

könnten ohne augenscheinlichen Schaden ihre Plätze tauschen, obwohl dazwischen eine Unzahl von Motiven liegt, die sich gleichfalls untereinander umstellen ließen. Diese beiden Stücke sind nicht deshalb schön, weil sie eine besondere Vision einleiten oder abschließen, erläutern oder aufbauen helfen, sondern weil sie durch ihr rhythmisches oratorisches Wogen, in dem jeder Vers mit seinen Harmonien und seiner Aussage ein abgeschlossenes Ganzes bildet, ihren Eigenwert erhalten. Man könnte sagen, Walt Whitman denke in Versen, das heißt, daß sich bei ihm jeder Gedanke, jeder Geistesblitz eine augeschlossene Form schafft und in ihr aufgeht, sich aber nicht einem bereits bestehenden oder anderen Gesetzen unterworfenen Rhythmus anpaßt. Die hohen und die tiefen Töne der Whitmanschen „Musik“ sind die hohen und die tiefen Töne seiner Gedanken- und Phantasiewelt. Keine Rede also von Fragmenten: eine Dichtung, die so weit vereinfacht ist, daß sie schließlich auf dem Vers, auf die in jeder metrischen Einheit beschlossenen Periode gründet („Ich preise mich selbst und singe mich selbst…“), ist nicht mehr fragmentarisch. Sie stellt die von Walt Whitman tausendfach wiederholte und variierte Formulierung seiner Entdeckung dar, wie wundervoll und herrlich die einfache Tatsache ist, daß man lebt.

Walt Whitman, ein Kosmos, von Manhattan der Sohn…
Jetzt will ich nichts anderes tun als lauschen…
Allein, fern in der gebirgigen Wildnis jage ich…
Ich bin einer von Alten und Jungen, von den Törichten so gut wie von den
aaaaaWeisen…
Ich bin der Dichter des Leibes, und ich bin der Dichter der Seele…

So beginnen viele Abschnitte des „Song of Myself“. Was auf jede dieser Anfangszeilen folgt, entwickelt weniger das dort angeschlagene Motiv weiter, sondern wiederholt mit anderen Details und anderen Gedankengängen die am Beginn stehende von jeder Pose freie Aussage, wie schön es sei, das Leben zu entdecken und zu umarmen. Um diese Idee klar herauszuarbeiten, strapaziert sie der Dichter etwas: Manchmal benötigt er mehrere Verse für ein Bild manchmal folgen die Gedanken logisch aufeinander, immer aber ist jeder einzelne Vers von endgültiger Aussagekraft. Er wird in sich abgeschlossen vorgetragen, als stelle er die Synthese des ganzen Buchs dar und sei gleichzeitig innerhalb seiner Abteilung ein ganz besonders unverbrauchtes und frisches Detail. Die Erklärung dafür kann nur im Wesen der oben erwähnten Gedanken und Phantasievorstellungen Whitmans zu finden sein, die den Versen ihre Form geben.

Ich möchte nicht darauf schwören, daß alle Kritiker die 52 Abteilungen des gigantischen „Song of Myself“ in extenso gelesen haben. Jedenfalls ist er für sie ein echter Prüfstein. Wenn einer sagt: „,Der Song of Myself‘ ist vielleicht gar keine Dichtung, sondern eine der erstaunlichsten Manifestationen von Lebenskraft, die je in einem Buch zu finden waren,“18 und ein anderer andeutet es handele sich um eine Art Bergpredigt: „Das ist der Gesang, wie er vom Propheten der neuen Zeit auf dem Berge des Gesichts gesungen wurde,19 dann ist der zweite nicht unbedingt der größere Phantast. Freilich enthält der „Song of Myself“ auf Grund seines Umfangs und seiner Eigenart alle Tugenden und Untugenden Whitmans. Das Gedicht ist so merkwürdig, daß man versucht ist, Walt Whitman und, was schlimmer ist, seinem Kritiker zu folgen und in ihm eine Dichtung neuer Prägung zu sehen, nicht irgendwelche kleine Lyrik, sondern eben „eine Manifestation der Lebenskraft“. Aber nur nicht schwach werden! Nach kurzem Nachdenken gelangt man zur Überzeugung, daß auch der „Song of Myself“, der „tremendous Song of Myself“,20 trotz aller Exzentrizität nichts anderes sein kann als Lyrik, als Dichtung (ob gelungen oder nicht, das zu untersuchen ist die Aufgabe des Kritikers), das heißt der Ausdruck von Gemütszuständen. Er ist nicht mehr oder nicht weniger Dichtung als beispielsweise die Lyrik von Keats, den die Whitman-Kritiker so gern ihrem Dichter gegenüberstellen:21 eine Art Äquivalent zur beliebten Gegenüberstellung von Ariost und Dante: hier der Künstler – dort der Dichter.
Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen, daß das Gedicht keine Struktur, kein Gefüge hat, die seine einzelnen Teile zu notwendigen Bauelementen machen. Eine Zusammenfassung zu geben ist daher nicht einfach und wäre außerdem wertlos. Auch zeigen alle anderen großen Gedichte Walt Whitmans, die sich leichter zusammenfassen lassen (zum Beispiel „The Mystic Trumpeter“ und „Out of the Cradle endlessly rocking“), bei aufmerksamer Untersuchung, daß ihr Wert und ihre Kraft aus einer tieferen Schicht kommen, aus einem Geist, der trotz seiner äußeren Faßlichkeit schwerer zu greifen ist als das akzidentielle logische Erzählmuster. Oder mit anderen Worten: alle Dichtungen Walt Whitmans (ich meine die uns hier interessierenden, jene also, die entstanden sind, ehe Walt Whitmans Kunst zu einem trotz seines Impressionismus kraftvoll und geordnet erscheinenden Prosastil gereift war), alle Gedichte seiner Mannesjahre zeigen nur ein einziges Muster, den starken nachdenklichen, „rezeptiven“ Menschen, der sich zwischen den Erscheinungen dieser Welt bewegt, der sie, von ihrer Einfachheit, Normalität und Realität hingerissen, in sich aufnimmt und auf sie eingeht, mit einer Anhänglichkeit und einer unaufhörlichen Begeisterung, die aus der in seiner Phantasie vollzogenen Identifizierung des Ichs mit den Menschen und den Dingen resultiert.
Oft war Walt Whitman in dieser Hinsicht sein eigener bester Kritiker:

Als ich zu lernen anfing, gefiel mir der erste Schritt so gut,
Die bloße Tatsache des Bewußtwerdens, diese Formen, die Kraft der Bewegung,
Das kleinste Insekt oder Lebewesen, die Sinne, Augenlicht, Liebe,
Der erste Schritt, sage ich, erschreckte mich und gefiel mir so gut,
Daß ich kaum über ihn hinauskam und das auch kaum wollte,
Sondern stehenbleiben und verweilen, um ihn in verzückten Gesängen zu
aaaaasingen.
Die ganze Zeit
.22

Unter diesem Gesichtspunkt öffnet sich auch der „Song of Myself“ unserem Verständnis. Der lockere Aufbau – das Ich, das seine Unabhängigkeit verkündigt (Abteilung 1–8), angesichts der Erfahrung zum Nichts wird (9–19), in fleischlicher und geistiger Gestalt wiederkehrt (20–24) und schließlich nach einem weiteren Chaos von Erlebnissen (25–45) männlich den Arm um das Du, den vollkommenen Kameraden, legt (46–52) – stellt offensichtlich die für Whitman typische Struktur dar. Gestalten erscheinen nur als Einzelheiten eines ungeheuren Feldes von Erfahrungen, des Universums. Eine einzige Gestalt, eine einzige Tatsache umfaßt alles und nimmt alles in sich auf, das Paar „Myself-Comrade“, das durch sich selbst das ganze Universum katalogisierend erfaßt.
Nachdem wir dieses Fundament gelegt haben, wird das Durchblättern des größten Teils der Whitman-Kritik eine höchst vergnügliche Angelegenheit. Da wird zum Beispiel erörtert, ob die Gruppe Calamus wirklich Dichtung über die Freundschaft sei („Liebe ohne Sexus“) und die vorangehende Gruppe, die Children of Adam, wirklich erotische Dichtung sei („Sexus ohne Liebe).23 Das Ganze wird dann noch gewürzt durch bewegte Entrüstung, durch Verteidigungsplädoyers und durch eifrige biographische Forschungen, die sich alle um den Verdacht der Päderastie drehen. Übrigens ist es wegen der Zurückhaltung und der unbeholfenen Anspielungen schwerfälliger puritanischer Literaten eine Hundearbeit, diesem Verdacht nachzugehen.24
Man vergleicht etwa eins der „liederlichen“ Gedichte der „Children of Adam“:

Urgefühle – wenn ihr über mich kommt – ah jetzt seid ihr da!
Gebt mir jetzt nichts als Freuden der Wollust,
Gebt mir den Trank meiner Leidenschaften, gebt mir Leben üppig und rauh,
Heute und heute nacht schließ ich Gemeinschaft mit den Lieblingen der Natur.
Ich bin für die, die an lockere Freuden glauben, ich teile die Mitternachtsorgien
aaaaajunger Männer,
Ich tanze mit den Tänzern und trinke mit den Trinkern,
Das Echo schallt von unserm wüsten Geschrei, ich greife mir einen niedrigen
aaaaaMenschen heraus als liebsten Freund,
Er soll gesetzlos sein, roh, ungebildet, er soll von den anderen verdammt sein
aaaaawegen Verbrechen, die er begangen,
Ich will nicht länger Komödie spielen, warum sollte ich mich ausschließen von
aaaaameinen Gefährten?
O ihr Gemiedenen, ich meide euch nicht,
Ich komme sogleich in eure Mitte, ich will euer Dichter sein,
Ich will mehr für euch sein als für alle andern.

Für jeden ist es klar, daß dieses Gedicht, abgesehen von seiner leicht polemischen Färbung, nur ein Moment des für Whitman charakteristischen Wunsches darstellt, eine unter Tausenden von Erfahrungen zu durchlaufen, sich in ihr zu vergessen und zur eigenen Identität zu finden. Es ist das Gedicht einer Entdeckung. Jedem ist es klar, daß die „von allen Gemiedenen“ niemand anders sind als der vertraute Comrade, das vertraute alter ego Whitmans, in dem die jeweilige Verkörperung des ganzen Universums zusammenfließt. Nur de Sélincourt, der sich an anderer Stelle als keineswegs dumm erweist, zieht es vor, spitzfindig aufzuzeigen,25 daß Walt Whitman nie die unmoralischen Erlebnisse hatte, von denen er in den Native Moments spricht, und zwar aus dem höchst überzeugenden Grund, weil unser Dichter, der ja in dem Gedicht solche Erlebnisse ersehnt und sie sich wünscht sie eben deshalb gar nicht gehabt haben konnte.
Dieses Durcheinander von biographischen und ästhetischen Problemen hat in der Kritik über die beiden erotisch orientierten Gruppen der Leaves großen Schaden angerichtet und viele an sich glasklare Perspektiven getrübt. In Wirklichkeit stellen die „Children of Adam“ und „Calamus“ für den unvoreingenommenen Betrachter einen einzigen Hymnus auf den vollkommenen Whitman-Menschen (ob Weib oder Mann ist unerheblich) dar, der die Freude, das Gesunde und die Freiheit einer jeden Berührung mit den Dingen dieser Welt, einer Handvoll Grashalme, dem Körper eines anderen Menschen oder einem „prophetischen“ Gedanken erfährt.
Man kann Walt Whitman nicht verstehen, wenn man nicht erkannt hat, daß die verschiedenen Gestalten, die er zu den verschiedenen Zeitpunkten seiner Existenz in seiner Dichtung auftreten läßt, immer dieselbe Figur sind, die jedesmal mit den verschiedenen Erfahrungsbereichen identifiziert wird (und in dieser Identifizierung besteht ihr Leben). Das gilt für die Liebenden und die Freunde (besser: die Kameraden) der beiden erotischen Gruppen, für die Soldaten (besser: die Kameraden) des Bürgerkrieges, für die Pioniere (besser: die Kameraden) der großen Songs auf Amerika – und charakteristisch ist in diesem Zusammenhang die Gestalt Lincolns –, es gilt sogar für die überirdischen Erscheinungen, die himmlischen Wesen (besser: die Kameraden) der „Whispers of Heavenly Death“.
Bezeichnend ist, wie unterschiedslos Walt Whitman in den ersten Gruppen den weiblichen Körper neben dem männlichen nennt. Sparen wir uns die moralische Entrüstung. Für sie besteht kein Anlaß, denn niemals unterläuft Walt Whitman eine Schlüpfrigkeit um ihrer selbst willen, er schreit nur seine Dankbarkeit heraus, Dankbarkeit für den nie versiegenden Strom von Erfahrungen, den Strom des Einsseins. Und schließlich gibt es außer Mann und Frau auch noch die Erde, das Meer, ja das ganze Universum, wo er Aufnahme finden kann:

Arme und Hände der Liebe, phallischer Daumen der Liebe, Bäuche gepreßt und
aaaaageleimt aneinander mit Liebe,
Erde keuscher Liebe, Leben, das Leben nur ist nach empfangener Liebe,
Der Leib meiner Liebe, der Leib des Weibes, das ich liebe, der Leib des Mannes,
aaaaader Leib der Erde,
Linde Vormittagslüfte, die wehen aus Süd-West…

Und im folgenden26 bringt er das Summen der Bienen den Duft der Äpfel, den Schweiß seines Körpers, die Töchter Adams, also alle symphonischen Motive seiner weniger erotischen Dichtungen. Über dem Ganzen liegt Morgenstimmung, Freude an den Dingen, deren Wesen sich zum ersten Mal enthüllt.
Man denke, wie wenig Liebe und wie viel comradeship dagegen für gewöhnlich in seinen Frauen steckt.

Sie sind kein Jota geringer als ich,
Sie sind gebräunt im Gesicht von scheinender Sonne und blasenden Winden,
Ihr Fleisch hat die alte göttliche Geschmeidigkeit und Kraft.
Sie wissen zu schwimmen, zu rudern, zu reiten, zu ringen, zu schießen, zu
aaaaarennen, zu schlagen, zurückzuweichen und anzugreifen, zu widerstehen
aaaaaund sich zu wehren,
Sie sind letztgültig in ihrem eigenen Recht – sie sind ruhig, klar und Herrinnen
aaaaaüber sich selbst
.27

Man beachte die vollkommene Verschmelzung, dieselbe vollkommene comradeship, die mit einer Umarmung alle langen Songs der Entdeckungen abschließt und die hier gesondert in einem Madrigal neuen Typs erscheint:

O Du, zu der ich oft und leise komme zu deinem Aufenthalt, damit ich bei Dir
aaaaasei,
Wenn ich an Deiner Seite gehe oder neben Dir sitze oder mit Dir im gleichen
aaaaaZimmer bin,
Wenig nur weißt Du von dem feinen elektrischen Feuer das Deinetwegen wie
aaaaaspielerisch in mir glüht
.28

Das gilt auch für die Soldaten Whitmans. Es sind weder die epischen Helden eines Heldenliedes noch die doughboys des großen Krieges, sondern die comrades, die in den mehr programmatischen Stellen ihren Beitrag zur Rettung der demokratischen Einheit leisten, in den lyrischen Stellen aber Walt Whitmans Erlebnisse und Gefühle teilen und mit ihm beherzt auf die Entdeckung des Mitmenschen ausgehen:

Den zerschmetterten Kopf pflege ich (arme, irre Hand, reiße den Verband nicht
aaaaaweg!),
Den Nacken des Kavalleristen mit dem Flintenschuß durch und durch
aaaaauntersuche ich;
Hart keucht der Atem, gläsern starr schon das Auge, doch das Leben wehrt sich
aaaaahart,
(Komm, süßer Tod! Laß Dich erflehen! O schöner Tod! Aus Gnade komme
aaaaaschnell.)
29

Das gilt auch für das „Flüstern des himmlischen Todes“, wo es Walt Whitman gelingt, sogar den Tod zu einem Mythos der Entdeckung zu machen, zu einer ekstatischen Reise zwischen Dämmerlicht, Ahnungen und überirdischem Schauder in zuversichtlicher Hoffnung auf die Umarmung durch den göttlichen comrade, der ihn schon erwartet und den Ankömmling von gleich zu gleich behandelt, wie es einem Pionier gebührt, der ebenfalls das ganze Universum, vom Wassertropfen bis zum Stern, von gleich zu gleich behandelt hat:

Wagst du nun, o Seele,
Auszugehen mit mir in das unbekannte Land,
Wo weder Grund für den Fuß ist noch Pfad zu folgen?

Weder Landkarte dort noch Führer
Noch der Klang einer Stimme, noch die Berührung einer Menschenhand
Noch ein Gesicht mit blühendem Fleisch noch Lippen noch Augen sind in diesem
aaaaaLand.

Ich kenne es nicht, o Seele,
Noch kennst du es, alles ist leerer Raum vor uns
Alles wartet, nie erträumt, in diesem Gebiet, in diesem unzugänglichen Land.

Bis wenn die Fesseln sich lösen,
Alle, außer den ewigen Fesseln Zeit und Raum,
Wenn weder Finsternis, Schwerkraft, Sinne noch irgendwelche Bande uns
aaaaabinden:
Dann stürmen wir vor, dann fluten wir
In Raum und Zeit, o Seele, bereitet für sie,
Ihresgleichen, ausgerüstet endlich (o Freude! o Frucht alles Seins!) sie zu
aaaaaerfüllen, o Seele.
30

Walt Whitman ist der Dichter der Entdeckung, sei es nun die Entdeckung einer Staude Gras, des Präsidenten Lincoln oder, wenn die künstlerische Stimmung weniger hergab, der amerikanischen Union. Und durch sein kosmisches Staunen vor den Dingen und vor den Menschen erfüllt Walt Whitman den verwelkten romantischen Plan eines amerikanischen Urepos mit neuem Leben. Nie besingt er Amerika, er besingt sich selbst als einen, der auszieht Amerika zu entdecken, und zwar (hier wird er ganz besonders wolkig) als politische Wesenheit. Genauso aber besingt er sich als einen, der sich zur Entdeckung des Lebens aufmacht, des Lebens, von dem Amerika nur ein Atom oder, in seinen künstlerisch weniger glücklichen Momenten, ein Symbol ist.
Alles das trägt dazu bei, daß man in Walt Whitman vor allem einen großen „Aufzähler“ sieht. Das Problem der Aufzählungen kommt bei den Kommentatoren gleich nach der Frage, ob Walt Whitman metrisch gedichtet habe oder nicht. Es sei beiläufig vermerkt, daß die Whitman-Kritik mit ihrer Entdeckung der Formel von den kleinen Gemälden und Bruchstücken keinen anderen Zweck verfolgte und verfolgt, als alle katalogisierenden Seiten des Dichters in die Hölle des Formlosen zu verdammen. Zugegeben, daß viele Bilder des alten Whitman weniger müde und monoton wirken als die früheren Dichtungen, zunächst aber muß festgestellt werden, daß sie doch nur ein blasser Abglanz der herrlichen Perlenkette kurzer und klar umrissener Bilder sind, wie sie die Aufzählungen der großen Songs darstellen.
Der „Song of Myself“ ist voll von solchen Aufzählungen:

Das Kleine schläft in der Wiege.
Ich lüfte den Gazevorhang, beschaue es lange und scheuche schweigend die
aaaaaFliegen mit meiner Hand.

Der Junge und das Mädchen mit rotem Gesicht wenden sich seitwärts den
aaaaabuschigen Hügel herauf,
Ich verfolge sie spähend oben vom Gipfel,

Der Selbstmörder liegt auf dem blutigen Boden des Schlafzimmers…
Die reine Altstimme singt auf dem Orgelchor,
Der Tischler glättet sein Brett, die Zunge des Hobels pfeift ihr wildansteigendes
aaaaaZischen…

Abgesehen von einigen Fällen, in denen Walt Whitman einen besonderen politischen, praktischen oder künstlerischen Effekt erzielen will, gehören alle Gesänge, die Aufzählungen bringen, zu seinen besten. Ein absolut überzeugendes Beispiel dafür bietet „Our Old Feuillage“:

Auf den Flüssen Schiffer, beim Einbruch der Nacht in ihren Booten, sicher
aaaaavertäut im Schutz hoher Ufer,
Einige der Jüngeren tanzen zum Klang des Banjos oder der Geige, andere
aaaaasitzen rauchend und schwatzend auf dem Deck;
Am Spätnachmittag sind die Spottdrossel, die amerikanische Imitatorin, im
aaaaaGroßen Düsteren Sumpf,
Dort sind grünliche Wasser, harziger Duft, üppiges Moos, die Zypresse und der
aaaaaWacholder;
Weiter nördlich, junge Männer von Mannahattan, der Schützenverein, der
aaaaaabends von einem Ausflug zurückkehrt, alle Flintenläufe geschmückt mit
aaaaaBlumensträußchen, Geschenken von Frauen; …

Wenn aber Walt Whitman – wie in vielen der kürzeren Gedichte (ich denke an „Calamus“, „Drum-Taps“ und „Whispers of Heavenly Death“) – zu einem logischeren und konstruktiveren Stoff greift, so handelt es sich immer um einen technischen Raffungseffekt, bei dem rationaler Gedankengang oder ein klar umrissenes Milieu dazu dient, dem typischen Augenblick der Verzückung, des entscheidenden Liebeskontaktes mit einem Kameraden, einem synthetischen „Du“ des Universums, ob Mensch oder Sache, einen Rahmen zu geben.
Das gleiche beobachtet man auch im Schlußteil des „Song of Myself“, wo nicht mehr eine Aufzählung der Erlebnisse gegeben wird, mit denen das Myself verschmilzt, sondern wo vor den „visionsträchtigen“ Augen des Lesers eine Stimmung eintritt, als sei ein Wunder geschehen.

Da ist dies Etwas in mir – ich weiß nicht, was – aber ich weiß, es ist in mir.

Verkrümmt und schweißig – ruhig dann und kühl wird mein Leib,
Ich schlafe – schlafe lange.

Ich kenne es nicht – es ist namenlos – ein unausgesprochenes Wort,
In keinem Wörterbuch, Ausspruch, Sinnbild enthalten.

Es kreist auf etwas, das mehr ist als die Erde, auf der ich kreise,
Ihm ist die Schöpfung der Freund, dessen Umarmung mich weckt.

Vielleicht vermöchte ich mehr zu sagen. Umrisse! Ich bitte für meine Brüder
aaaaaund Schwestern.
Seht ihr, o meine Brüder und Schwestern?

Es ist nicht Chaos noch Tod – es ist Form, Einheit, Plan, es ist ewiges Leben –
aaaaaGlückseligkeit.

Vergangenheit und Gegenwart welken – ich habe sie erfüllt und habe sie
aaaaageleert,
Und gehe daran, die nächste Zukunftstiefe zu füllen.

Lauscher dort oben! Was hast du mir anzuvertrauen?
Schau mir ins Gesicht, indes ich das Heranschmeicheln des Abends wittre
(Sprich ehrlich, es hört dich niemand sonst, und ich bleibe nur eine Minute).

Widersprech ich mir selbst?
Nun gut, so widersprech ich mir selbst.
(Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit).

Es zieht mich zu denen, die nahe sind, ich warte auf der Türschwelle.

Wer hat sein Tagwerk getan? Wer wird zuerst mit seinem Abendbrot fertig
aaaaasein?
Wer will mit mir gehen?

Willst du reden, ehe ich gehe? Oder willst du zu spät kommen?

Der gefleckte Falke stößt vorüber und klagt mich an, er schilt mein Schwatzen
aaaaaund Trödeln.

Auch ich bin bei Gott nicht zahm, auch ich bin unübersetzbar,
Ich rufe meinen barbarischen Raubvogelschrei über die Dächer der Welt.

Das letzte Leuchten des Tages weilt noch für mich.
Es wirft mein Ebenbild zu den andern und treu wie eins auf die schattige
aaaaaWildnis,
Es schmeichelt mich in Nebel und Dämmerung hinein.

Ich scheide wie Luft, ich schüttle meine weißen Locken gegen die davonlaufende
aaaaaSonne,
Ich verströme mein Fleisch in Wirbeln und laß es in flockigen Fetzen treiben.

Ich vermache mich selber dem Erdboden, um aus dem Gras, das ich liebe, zu
aaaaawachsen,
Wenn du mich wieder brauchst, so suche mich unter deinen Schuhsohlen.

Du wirst kaum wissen, wer ich bin, oder was ich meine,
Trotzdem werd ich dir gut bekommen
Und dein Blut klären und kräftigen.

Glückt es dir nicht, mich gleich zu fassen, behalte nur Mut,
Triffst du mich nicht an einer Stelle, so suche woanders,
Irgendwo bleib ich und warte auf dich.

Damit sind die Spielregeln der Whitman-Verse für jeden ersichtlich: Es handelt sich um eine Abfolge von Gedanken, die vor Fülle bersten, einer Fülle, die durch die Identifizierung des Myself mit allen Dingen dieser Welt entstanden ist. Entscheidend ist die Freude an der schrittweisen Entdeckung dieser Gedanken; das heißt ihre Dynamik, nicht ihr logischer Wert ist von Bedeutung.

Widersprech ich mir selbst?
Nun gut, so widersprech ich mir selbst.
(Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit).

Jeder Gedanke wird im Augenblick seiner Fixierung gedacht; der Vers entsteht aus der Selbstsicherheit und Vielgestalt eines wirkenden Geistes, der sich während des Denkprozesses beobachtet und dieses Sich-seiner-selbstbewußt-Sein zum Ausdruck bringt. So besingt Walt Whitman die Freude, Gedanken zu entdecken.
Man beachte noch etwas: Der Falke, der im letzten Abschnitt erscheint, ist kein Bild, oder wenigstens nicht das, was wir unter Bildern verstehen. Er ist eins der vielen Wesen des Universums, mit denen Walt Whitman sich identifiziert, er ist eine Einzelposition in der Aufzählung. Bilder sind nicht Walt Whitmans Sache, und wer sich an das „Nest behüteter doppelter Eier“ und den Gürtel, der in die großen ovalen Seen eingezogen ist – vermutlich, um die Hosen der Staaten festzuhalten31 – erinnert, wird derselben Überzeugung sein. Walt Whitman strebt nach einer einfachen und klaren Sprache, die den Dingen unmittelbar entspricht und einen ursprünglichen Charakter hat. Je direkter er sein Objekt darstellt, desto mehr ist er in seinem Element, und wo andere Dichter sich bewogen fühlen, einen ganzen Hagel von Bildern auszulösen, da erscheint bei ihm eine innere, unendliche und immer wieder erneuerte Landschaft, in der die beiden Gegenstände eines Vergleichs als zwei rasch vorüberziehende Momente einer einzigen Vision oder Entdeckung aufgefaßt werden.
Der Einwand,32 gewisse Aneinanderreihungen von reinen Namen, so die geographischen Bezeichnungen im Salut au Monde und die anatomischen Details in „I sing the body electric“:

Kopf, Hals, Ohren, Ohrläppchen und Trommelfell
Augen, Augenwimpern, Augenstern, Augenbrauen und das Wachen und
aaaaaSchlafen der Lider
Mund, Zunge, Lippen, Zähne, Mundhöhle, Kinnbacken und Scharniere der
aaaaaKinnbacken,
Nase, Nasenlöcher und Scheidewand
Wangen, Schläfen, Stirn, Kinn, Kehle, Nacken und Nackenwirbel
Starke Schultern, männlicher Bart, Schulterblatt, hintere Schultern und die
aaaaavolle Seitenwölbung der Brust…,

der Einwand, solche Stellen beweisen, wie schlecht sich die Verwendung der Technik der ersten Gesänge für Whitman ausgewirkt habe, ist also sinnlos. Natürlich macht man keine Lyrik, indem man anhand eines Lexikons oder einer Enzyklopädie Aufzählungen zusammenstellt, nur um ein vorher festgesetztes Thema anzufüllen. Aber die These, Walt Whitmans Eigenart bestehe darin, daß er sich nicht mit in sich abgeschlossenen kleinen Szenen oder Bildern begnügt, sondern daß er sein leidenschaftliches Streben und seine ihn immer wieder überkommende Freude, das ganze Universum in seiner brüderlichen und realen Gegenwart zu empfinden, ausdrückt oder – in schlechten Augenblicken – deklamiert diese Theorie wird hierdurch nicht widerlegt, sondern vielmehr als psychologisches Dokument bekräftigt.

Cesare Pavese, 1933, aus Cesare Pavese: Schriften zur Literatur, Verlag Volk und Welt, 1980

 

WHITMAN

Was geb ich den Siegern des morgigen Tages, ich, Gekreuzigter der großen Wirklichkeit?
Die nackte Fackel der Knochen und die Schale des Fleisches, siedend heiß.

Ich schäme mich, daß ich sie mit dem Krampf der Hämmer und dem rauschenden Korn zu begrüßen wage.
Eine Fahne ist zu Mitternacht ihr Gesang, und sonnige Massenumzüge sind ihre Tage.

Ich schäme mich, mir fehlen seidene Pfühle des Frührots und der Lüfte warme Milch droben.
Es beten meine schwitzenden Arme, die euch mit einem Vaterunser der Hand aufs Kreuz emporgehoben.

Befreit doch, die ihr glüht in des Schicksals 48 Regenbogen,33
Sieger des morgigen Tages, mich – das Amerika des Jammers und der Ährenwogen!

Jalu Kurek, 1925
Übersetzung Heinrich Olschowsky

 

 

Fakten und Vermutungen zum Vorleser
Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 125. Todestag des Autors:

Christian Lindner: Tod des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman
deutschlandfunk.de, 26.3.2017

Zum 200. Geburtstag des Autors:

Oliver vom Hove: Walt Whitman: „Ein Yankee, der seiner Wege geht“
Wiener Zeitung, 26.5.2019

Florian Baranyi: Der Dichter der Demokratie
orf.at, 31.5.2019

Manfred Orlick: „O Captain! My Captain!“
literaturkritik.de, Mai 2019

Hannes Stein: Der Mann, der die richtigen Worte für Amerika fand
Die Welt, 31.5.2019

Erwin In het Panhuis: „O Captain! My Captain!“ 
queer.de, 31.5.2019

Ulf Heise und Torsten Kohlschein: Dichter Walt Whitman: „Den Neuen Menschen singe ich“
Freie Presse, 31.5.2019

Jürgen Brôcan: Ein Mann, ein Kosmos: An Selbstbewusstsein fehlte es dem Lyriker Walt Whitman nicht
Neue Zürcher Zeitung, 1.6.2019

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1, 2, 3 & 4 + IMDb +
MAPS 1, 2 & 3Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Walt Whitman – Dokumentation von 1988.

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