1
Schließt eure Türen nicht vor mir, ihr stolzen
aaaaaBüchereien,
Denn was auf euren wohlgefüllten Borden fehlte,
aaaaadoch dringendst nötig war, das bring ich.
Auftauchend aus dem Streit, hab ich ein Buch
aaaaagemacht,
Des Worte nichts sind, doch alles dessen Trift und
aaaaaTrieb,
Ein Buch für sich, den andern unverbunden und dem Verstande nicht erfühlbar,
Doch wird Geheimnisvolles, unerzählt bisher, aus jeder Seite euch entgegenschauern.
2
Künftige Dichter, Redner, Sänger, Musiker kommender Zeit!
Nicht das Heute rechtfertigt mich, noch kann es antworten, wofür ich bin,
Aber ihr, ein neues Geschlecht, eingeboren, muskelstark, festländisch, größer als Vorgekanntes,
Erhebt euch! Denn ihr müßt mich rechtfertigen!
Ich selber schreibe ja nur ein aufzeigendes Wort oder zwei für die Zukunft,
Ich trete ja nur vor für einen Augenblick und eile zurück in die Dunkelheit.
Ich bin ein Mensch, der so hinschlendert, nie anhält, euch nur manchmal einen Blick zuwirft und dann sein Gesicht wegwendet,
Es euch überläßt, zu beweisen und zu bestimmen,
Und von euch die Hauptdinge erwartet.
Walt Whitman: Hymnen für die Erde bei Projekt Gutenberg-DE
EIN SPAZIERGANG DURCH DIE LITERATUR
42. Ich träumte, ich sei achtzehn und sähe, wie mein bester Freund von damals, der auch achtzehn war, es mit Walt Whitman trieb. Sie taten es auf einem Sessel, beim betrachten der stürmischen Abenddämmerung von Civitavecchia.
Roberto Bolaño
DIE BRUCHBUDE
(Walt Whitman nimmt ein Bad)
„überteuert, das Geld nicht wert“, hatte ihm der Bruder
mit dem geschulten Blick des Kanalinspektors gesagt.
ja, das Haus war klein, fast schäbig, es gab keinen Ofen,
Wasser tropfte von der Traufe in den feuchten Keller,
die meisten Bretter mußten festgenagelt werden,
die Hintertür schloß nicht ganz, im Winter krustete
eine Eisschicht den Spalt: er hatte es trotzdem gekauft,
mit vierundsechzig Jahren sein erstes eigenes Haus.
eins der ärmlichsten in der Straße, aber er konnte sich
zurückziehn, ein Taschenkrebs, als wüchsen die Mauern
direkt aus seiner Haut, wie eine Kruste, ein Schorf,
der sich beim Kratzen verdickt. Neid gärte doch in ihm:
Henry Longfellow wohnte in einem weiten Anwesen,
John Whittier in einem Farmhaus, reich genug, daß
er einen Anbau nach dem nächsten finanzieren konnte,
Herman Melville auf Arrowhead mit Ausblick ins Grüne,
Oliver Holmes residierte fürstlich in der Beacon Street,
William Bryant hockte im stuckverzierten Cedarmere,
die Wasser des Atlantiks aufbruchbereit vor der Tür.
er saß im Schaukelstuhl, bei geschlossenen Fensterläden,
und hörte dies: Händler, die klapprige Karren ziehn,
die Hausierer, die ihre Angebote ausrufen, so melodiös
wie Opernsänger, das Geläute der Methodistenkirche,
zwanzig Mal fährt die Bahn von Camden nach Amboy,
südlich von New York, tags wie nachts: Schienenrattern,
quietschende Bremsen, schnaufender Dampf, Signale;
er hörte das Treiben auf dem Delaware, die Heulbojen
der Werft von Kings Point (Sirenen auf homerischer See),
die Kommandos beim Beladen und Entladen der Schiffe,
die Pfeifen der Fähren, ihr imposant langgezogenes bu-r-r-r,
das von der andern Uferseite, von Philadelphia, rübertönt,
vermischt mit dem Gestank aus der Guanodüngerfabrik,
die Aufmärsche mit dröhnendem bumm, buMM, BUMM…,
das Gekeife der Nachbarsfrauen, die den Bürgersteig
mit einer an Besessenheit grenzenden Leidenschaft fegen.
hinterm Haus eine kleine Wiese mit einem Birnbaum,
im Verschlag Hühner, miauend die Katze an der Tür,
er saß im Schaukelstuhl, wiegte vor und wiegte zurück,
stundenlang, bis der Boden zu schwanken begann –
die Wände wegbröckelten – die Zimmerdecke aufbrach –
dann träumte er, daß er mit dem Buggy ans Meer führe,
der Weg schnürt durch Salzgraswiesen, der Duft des
Riedgrases erinnert an Maische und die südliche Bucht
der Heimatinsel – bis in die elektrisierte Nacht könnte er
durch die Meerprärien fahren! draußen in der Ferne
Vollschiffe, Briggs, Schoner, deren Segel Wind fangen –
fast außer Sichtweite der Rauchwimpel eines Dampfers.
im Schaukelstuhl träumte er, wie er seine Kleider
abstreift, den gelähmten Körper, und ins Wasser steigt,
kleine Schaumkronen schwappen gegen seine Brust,
hinterlassen ein klebriges Weiß: der milchweiße Strahl,
der früher vorschoß wie Morgensonne über die Bergzipfel.
bade mich, O Gott, in dir, schreit er so laut (im Zimmer
oder am Meer?), wies die schwachen Lungen zulassen,
stützt sich auf seinen Stock, humpelt aus dem Wasser,
will zurück zum Haus – hinter den Salzgraswiesen wartet
das Meer geduldig auf die Seele, die es längst befährt.
Jürgen Brôcan
Christian Lindner: Tod des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman
deutschlandfunk.de, 26.3.2017
Oliver vom Hove: Walt Whitman: „Ein Yankee, der seiner Wege geht“
Wiener Zeitung, 26.5.2019
Florian Baranyi: Der Dichter der Demokratie
orf.at, 31.5.2019
Manfred Orlick: „O Captain! My Captain!“
literaturkritik.de, Mai 2019
Hannes Stein: Der Mann, der die richtigen Worte für Amerika fand
Die Welt, 31.5.2019
Erwin In het Panhuis: „O Captain! My Captain!“
queer.de, 31.5.2019
Ulf Heise und Torsten Kohlschein: Dichter Walt Whitman: „Den Neuen Menschen singe ich“
Freie Presse, 31.5.2019
Jürgen Brôcan: Ein Mann, ein Kosmos: An Selbstbewusstsein fehlte es dem Lyriker Walt Whitman nicht
Neue Zürcher Zeitung, 1.6.2019
Walt Whitman – Dokumentation von 1988.
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