BERLIN: LUISENSTRASSE 14
Weiter. Nur selten eine vergleichsweise statische
aaaaaPhase.
Weiter nach Süden! Auge plus Gedächtnis, als hätten
aaaaabeide
nur auf die schreibende Hand gewartet. Und kaum
aaaaabeginne
ich mit den ersten Zeilen, schon treibt die Reise auf
aaaaaihr Ende zu.
Zwei, drei Züge bestiegen und schon erblickst du das weiße Kreuz
auf rotem Feld. Draußen der Weltraum. Die Ecken der Zeit.
Alles ist nah. Das Kleine und Große ist hier kleiner und größer als
anderswo. Sich abbremsen. Sich Zeit lassen. Was ist schon
spannender im Leben, als der Betrachtungstrieb. Dieses beden-
kenlose, schamlose Hinschauen. Über alle Erdteile verteilt.
In Zürich wechselte ROBERT WALSER mindestens zehnmal
seine Wohnung: Eine davon war in der FROSCHAUGASSE 18.
Hier erlebte er sein ICH ALS EINEN FORTLAUFENDEN ANFANG.
Nicht mehr das Ganze denken, nur Details, Partikel, Polaroids.
Alles Momentaufnahmen. Vernetztes Wissen. Genetische Wurzeln.
Was ihn auszeichnete? Dieser herrliche Wille zur Nichtigkeit.
Unmöglich, die Ereignisse von damals in gebührender Reihen-
folge mitzuteilen. Orte, Daten und Personen zu benennen.
In BERN wechselte ROBERT WALSER mindestens fünfzehnmal
seine Wohnung: Eine darunter war in der LUISENSTRASSE 14.
IM WAHRSTEN SINNE DES WORTES eine Überlebensnische.
Was zählte, war sein FORMWILLE. Ein Leben lang schreiben und sich
erinnern. Sich in winzigen Worten erinnern. Der inneren Welt verpflichtet.
Und daran Gefallen finden: An der verborgenen Rückseite der sicht-
baren Welt. Die Wörter erden. Die Sensoren aufladen. Ein Horchsender
Und Dienender. Und damit ist BERLIN gemeint, wo WALSER
zeitweilig eine Dienerschule besuchte: Wer schreibt, der bleibt.
Der kann im entscheidenden Moment seinen Atem anhalten
und sich erinnern. Kultur ist, wenn nichts vergessen wird.
Was dann folgte, waren DIE VERWAHRUNGSJAHRE in WALDAU
Und HERISAU (1929 bis 1956), wo er nachmittags in der Gärtnerei arbeitete
Und gelegentlich Billard oder Schach spielte. Eine Tätigkeit,
die die Gestaltung der immateriellen Wörter weit übertraf.
Manchmal sprach er mit ADOLF WÖLFLI, der seine Blätter zeichnete.
„mitunter lag ich auf dem Bett ausgestreckt wie ein Kranker.“
Manchmal das Trauma eines deformierten Körpers, vereinzelte
Gliedmaßen, die ihm davoneilten und nicht mehr wiederkehrten.
Ja, ich war dort, 1982 oder 83, nahm mir ein Stück seines Schubkarrens mit.
Einstmals galt er als Strahlender. Aber „heute halte ich mich
für einen geschmeidigen Unbeugsamen“ schrieb ROBERT WALSER.
Aber dann lag er erstarrt und erfroren zur Weihnachtszeit im Schnee.
Und ja, ich kann mich erinnern: Wir gingen die Wegstrecke nach,
suchten die Delle, Jörg Ammann und ich. Nur weiter nach Süden.
sondern eine rückwärtsgewandte Landkarte meiner Erinnerungen, meiner Reisen, die ich in den vergangenen Jahren u.a. zu den Schauplätzen einer Vielzahl von Poeten unternahm, die mich einmal begeisterten und mein eigenes Schreiben beeinflußten. In den 70er und 80er Jahren habe ich für den „Sender Freies Berlin“ einen Großteil dieser Reisen zu den Geburts- oder Aufenthaltsorten zeitgenössischer Literaten beschrieben, und die Autoren in der von mir entwickelten Sendereihe „Schriftsteller als Fährtensucher“ vorgestellt. Nachdem ich die RADIOWELT nach 30jähriger Rundfunktätigkeit verlassen habe und wieder Gedichte Schreibe, versuche ich mich in diesen Prosagedichten an einen Teil meiner damaligen Feature-Projekte zurück zu erinnern, die im allzuschnellen Medienverbrauch längst vergessen wurden. Im Gegensatz zu meiner „normalen“ literarischen Arbeitsweise, in der ich immer die Recherche VOR ORT, den authentischen Blickwinkel und das Erlebnis des Augenzeugen bevorzuge, bestimmt in diesen Texten zum erstenmal die nachträgliche Reflexion die Beschreibung. Was mich immer interessierte, war die Biographie der Autoren und die atmosphärischen Voraussetzungen, die zur Entstehung von Literatur führten, und deshalb habe ich die Wörter, die Bücher, die Bilder der bevorzugten Poeten meistens bis zu ihrem Ausgangspunkt zurückverfolgt, das reale Terrain ihrer Entstehung erkundet. So entstand daraus nicht nur ein kleiner, subjektiver Querschnitt unserer Weltliteratur, sondern gleichzeitig auch ein autobiographisches Netz meiner eigenen Lebenswege, an die ich mich zurück zu erinnern versuchte.
Walter Aue, Druckhaus Galrev, Ankündigungstext, 1999
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