HAUPTWIL
Kein Alpenszenar, weil verhüllt,
Thron und Kastell gebodigt, wer weiß?
Flußsymphonien wo? Adelers Flug,
Göttergekreisch?
Wacker, Prolete, mit dem Riß im Kopf
Ins Feld der Ehre getummlet!
Höchstens im Herbstlaub
Möglicherweise ein Ahnden.
Er schafft in der Fabrik an der Werkbank, kommt abgeschafft heim, liest und liest sich den Kopf klar, ist endlich bei sich und gerät schreibend, sich mit Dichtern von einst verbrüdernd, außer sich: Walter Gröner, ansässig in Heubach am Trauf der Schwäbischen Alb.
Es gibt Bücher, nicht viele, an die ich mich erinnere, ohne sie schon gelesen zu haben. Auf sie habe ich gewartet. Nach ihnen habe ich, andere Bücher lesend, gesucht. Walter Gröners erstes Buch ist so eines.
Beinahe jedes Gedicht, jedes Prosastück erzählt mir von Landschaften, Erfahrungen, Gegenständen, vor allem aber von Dichtern, die ich mag, mit denen ich umgehe. „Wie schade, daß Paul Boldt so lange schon gestorben ist!“ seufzt Gröner. Und ich mit. Denn ich wünschte mir, wie Gröner, ich wäre diesem lüsternen Kentaur unter den Poeten auf der Friedrichstraße in Berlin begegnet und wir hätten uns, Glück und Unglück herausfordernd, mit Versen unterhalten können:
Irgendwo vergeht Berlin.
Oder Klabund oder Leopardi oder Ringelnatz oder Däubler. Gröner ruft sie auf, ruft sie zu sich. Sie stehen ihm bei. Ihre geisterhafte, an Sätzen reiche Gegenwart erfüllt ihn mit Stolz: „Wir sind Poeten. Ihr seid Barbaren.“ Ich könnte ihn umarmen für diesen ins Tal geschmetterten Satz.
Da streichelt einer nicht wehleidig sein Seelchen, bosselt nicht an Miniaturmythen – da ist einer fähig zu entdecken, sich hinzugeben und das, was er beredet und besingt, aus ganzer Seele zu lieben. Ein Unzeitgemäßer. Einer, der arglos aufbricht, immer neugierig und immer von seinen Dichtern begleitet. Dabei stolpert er über gewaltige Themen wie Vaterland und Nation und führt den Laberern auf den Amtshügeln vor, wie nötig ein gekonntes Stolpern dem Verstand ist:
… mit deutscher Nation sollten sie umspringen als einem wundersam wolkigen Luftfahrzeug, darinnen man sich niederläßt oder auch nicht, jedenfalls für keine Dauer; wann die Vision vorüber, bleibt die Schrift am Himmel, welche dir vertraut, Sprache.
Er fängt sich rasch, der Stolperer. Dann spaziert er. Folgt Waiblinger auf den Testaccio, läßt sich nieder in einem Kaffeehaus in Padua, besucht Luzern, Berlin und Prag. Er baut die Städte um und macht sie sich bekannt, indem er sich, Zitate wie Steine wälzend, an sie erinnert. Und er trifft sie ja dort alle, deren lesender Gefährte er ist: Petrarca, Boethius, Georg Heym, Mörike, Rabbi Löw. Er liest sie auf, liest sie weiter, spricht sie um, spricht sie neu, baut ihnen aus ihren und aus seinen Sätzen Tempel, Hütten, Grotten – Zuflucht auf jeden Fall. „Großmächtige Herren, weltoffene Damen. Da liegt die Leier; ein Wind macht sie klingen.“ Ach Leute, Leser – hört hin!
(Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe des Bandes)
An den großen Autoren der Moderne bewundern wir, wie sie ein Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzeugen, indem sie die „ewigen“ Motive der Weltliteratur völlig neu umsetzen; wie sie „gelehrte“ Assoziationen sprachlich aktualisieren und stilistisch decouvrieren; oder umgekehrt: wie sie auch das Kleine, Alltägliche, ja Schmutzige durch die stilistisch epigonale, erhabene Sprachgebärde feiern. Das Leben ist Poesie, und nichts ist lächerlich daran, auch nicht die Lohnarbeit.
Diese irritierende Spannung der Moderne hat sich in Walter Gröners Texten erhalten. Sie sind in einer Sprache geschrieben, die nicht mehr die unsere ist. Hier wird hohe Literatursprache in die alltägliche Phantasielosigkeit hineingeholt, die – im Falle von Walter Gröner (geboren 1950 in Heubach; lebt und arbeitet dortselbst) – von Akkordarbeit und Monotonie weitgehend bestimmt ist:
Selbst wenn wir in Badewannen der Kunige baden,
Auch wenn wir mit Hellebarden im Firmamente stieren,
Und wenn ein Windmühlenflügelschlag uns endlich ins
Povre Gelände trümmert –
Wir sind Poeten. Ihr seid Barbaren.
Ein erhabener, feierlicher, anachronistischer Ton durchzieht diesen Band. Hier spricht ein Poet, der von seinen literarischen Ahnen durch und durch geprägt wurde, der sich stilistisch in den ersten Kreisen bewegt, dessen Lyrik und Prosa von einer epigonalen Zitationskunst dennoch weit entfernt ist. Denn der Poet weiß, daß er im Schattenwurf der Großen steht, er hat seine Rückwendung bewußt vollzogen. „Barbaren“ sind wir, wenn wir nicht erkennen, daß es „keine zeitgenössischen Dichter“ mehr gibt. Man mag dazu stehen, wie man will. Aber es mußte gezeigt werden, daß der Poet sich seiner Anachronismen bewußt ist; denn nur das ist ein Indiz dafür, daß er sie auch mit höchster Bewußtheit einsetzt und nicht nur unschöpferisch wiederholt.
Gröners Poesie ist neu, und Stil und Inhalt gehen ein „gespanntes“ Verhältnis ein. So einmal am Grab von Ringelnatz, als die Gießkannenläufer den Betrachter stören:
Sonst hätt ich von dir ein Zehenglied aus dem märkischen Sande geborgen:
Für den Hosensack als einen Talismann auf windiger
Hochmeerfahrt.
In der erhabenen Stilgeste wird der unerhörte Gedanke enthüllt. Und zugleich sind die Worte des Betrachters, der hier die Gräber der Schriftsteller besucht, von tiefer Hochachtung und Melancholie erfüllt:
Guten Morgen, René: heut haben aus mürben, wetter-
Gefällten Birnbäumen die Raben gerufen,
Und die Sommervögel, man wußte nicht
Heimat oder Exil.
Ein Respekt und eine liebevolle Zuneigung offenbaren sich, die auch die kleinen menschlichen Schwächen nicht übersehen:
Berlin, Spandauerberg: da plagt sich
Der Walser Röbi
Im Mietshaus mit seinem Schwänzchen,
Und der Herr Cassirer gähnt.
Die Prosa ist nüchterner, auch abstrakter zum Teil. Die Lohnarbeit, Gröners Brotberuf, gewinnt größeren Einfluß auf den Stil:
Nun bin ich ganz in den Gesang der Maschinen gehüllt, die feinen Partikel der Schleifemulsion wölken pilzartig unters verschmierte Hallendach.
Die Handgriffe sind so eingeübt, daß man schon mal ein Buch neben sich legen kann. Hier liest ein Schichtarbeiter, der bei Däubler, Klabund und Robert Walser eine Education sentimentale erhalten hat. Von den Nachbarmaschinen dringen slowenische und türkische Gesprächsfetzen ans Ohr. In den Vesperecken liegen fleckige Illustrierte herum, auf den Scheißhäuseln unterhält Graffiti den schwitzenden Arbeiter. Und die spannungsvolle Poesie, die aus all diesen disparaten Eindrücken entsteht, ist spielerisch leicht, ist voller Humor und Ursprünglichkeit:
Durch Ideen zum Erfolg!
Besser
Vorteilhafter
Wirtschaftlicher
Betriebliches
Vorschlags-
Wesen
Salvatore Quasimodo
Unmerklich
Tanzt die
Zeit
Gedichte.
Das hätten sich Petrarca, Mörike, Hölderlin und Salvatore Quasimodo auch nicht träumen lassen, daß sie einmal auf der Werkbank eines Feinmechanikers gelesen würden, während die Schleifmaschine läuft. Und daß daraus mehr entsteht als bloß „Arbeiterliteratur“. Gröner ist eben alles zugleich: Fabrikler, Leser und Poet.
(Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe des Bandes)
Man ist beeindruckt von der Gedankenwelt Walter Gröners, die ihn fortführt vom Arbeitsplatz an der Maschine – hinein in die Welt der Dichter, Denker, ja Künstler überhaupt – an nahe und an ferne Orte. Ein Buch das den Leser in eine andere Welt mitnimmt und neugierig macht auf die Personen und Orte, von denen man mehr wissen möchte und das wie beiläufig den Blick für die Gegenwart schärft.
Bei jeder neu umgeschlagenen Seite war ich gespannt, was sie bringen mag.
Fabrikler, Leser und Poet heißt der erste Band mit Lyrik und Kurzprosa von Walter Gröner, der ihm 1985 die Anerkennung des Literaturbetriebs brachte. Hier schreibt einer keine Arbeiterliteratur im landläufigen Sinn, sondern erschafft seine Poesie als Gegenwelt zum Arbeitsalltag. Für Walter Gröner ist seine konkrete Arbeitsrealität Anknüpfungspunkt für Assoziationen, Anlaß, sich hinauszuträumen in die „restlich vorhandene Welt“:
Werkstück spannen, fluchten, Schleifvorgang per Hebel in Szene setzen, linksohrig das Geräusch der fressenden Scheibe verfolgen, über den Laufrost an den Tisch treten, Blickwinkel einstellen:
Vento a Tindari
Tindari, mild kenn ich dich
zwischen weiten Hügeln hängend über Wassern
die lieblichen Inseln des Gottes
oggi m’assali
e ti chini in cuore.
Schleifvorgang beendet, Vorrichtung in Ausgangsstellung, Werkstück aufnehmen, einlegen, spannen, fluchten, Hebel, Laufrost, Blickwinkel:
Unbekannt ist dir das Land,
in dem ich täglich versinke
und heimliche Silben nähre:
anderes Licht streift deine Fenster,
Freude, doch nicht die meine,
ruht dir im Schoß.
Und so weiter. Du kennst ja den Ablauf. Eine gewisse Herzensunruhe dabei ist unvermeidlich, was sich aus dem Widerspruch Poesie – Akkord ergibt.
Lesen ist für Walter Gröner nicht nur ein existentielles Grundbedürfnis, er lebt in und mit dem Gelesenen. Seine Texte sind voller Anspielungen auf Dichter und Dichtungen. So grüßt er René Schickele an dessen Grab mit „Guten Morgen, René“, erinnert an „Paul Boldt! Der Küsse mit Zähnen füllte“, spricht zu Klabund: „Grüß dich, Klabunde. Sah dich soeben bleichschädlig / Über die Dächer reiten“. Schließlich begibt er sich zu einer „Reise auf den Testaccio“, gemeinsam mit Francesco Petrarca und Giacomo Leopardi, zu Ehren des Heilbronners Wilhelm Waiblinger. Der Fabrikler und Leser Walter Gröner, wird zum Poeten, indem er durch seine Wortgefüge Assoziationen auslöst, Erinnerungen wachruft und durch die Kunst des Aussparens eine Verdichtung herstellt, die Dichtung schafft. In seinem Prosatext „Anruf, Gegenwart“, werden Orte und Personen zusammengefügt, Neues entsteht für den Leser, der aus den Kürzeln und Nebensätzen seine eigenen Geschichten herausholen kann.
Also. Monte Verità, die Geister um die „Kampfschrift des Christrevolutionärs“, Gregor Gog, Plivier, der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, vergessene Einzelgänger, Warner, Weiser. Urach, die Bachschlingen der Erms, Haus Am Grünen Weg: kabinenunterteilt für Gleich- und Ähnlichgesinnte, ein Weltanschauungsrondell und Zukunftskatapult. Einer hats begonnen: Karl Raichle, roter Matrose 1918, Literatur- und Kunstlehrling. Ende der zwanziger Jahre wars zu Ende. Raichle im Süden. (…) Einer hats verwandelt und überliefert: Johannes Becher, schriller Tubabläser, feierlicher Kantor.
Ebenso wichtig wie die Bücher ist für Walter Gröner das Unterwegssein. Seine Reisen und Aufenthalte in Straßburg, Berlin, Prag, München, Nordtitalien, Schweiz, Georgien oder auch im Elsaß.
Er erlebt Gelesenes nach und schafft daraus Eigenes. So erinnert er in seinen „Sommergesprächen“ in „Straßburg Stadt“ an René Schickele, in der „Stadt Berlin“ an Paul Boldt, Ringelnatz und Klabund, die „Stadt Prag“ ist für ihn die Stadt von Rabbi Löw und Frantisek Hales.
Walter Gröner war „nie an der intellektuellen Futterkrippe zu Hause“, wie Peter Hamm ihn, den Neuling, beim Literatentreffen im Kreienhoop 1984 vorstellte. Sein Wissen sammelte er auf den Schauplätzen des Lebens, die immer mit Existenzkampf verbunden waren.
Gröner wurde 1950 in Heubach (Ostalbkreis) geboren. Nach der Volksschule und ein paar Monaten Handelsschule macht er sich davon, heuert als Schiffsjunge an. Bald ist er wieder an Land und schlägt sich als Hilfsarbeiter durch, geht 1969 nach Berlin. Dort hört er aus brennendem Interesse Vorlesungen in Vor- und Frühgeschichte. Die Kontakte mit der Studentenbewegung bleiben nicht ohne Spuren, politisieren ihn, zum Wortführer wird er nicht. Von 1972 bis 1977 arbeitet er als Ausgräber bei der Bodendenkmalspflege Rheinland-Pfalz zwischen Darmstadt und Mainz. Walter Gröner wird Schleifer in Akkord und Wechselschicht in einer Metallfabrik. Er zieht durch Städte und Landschaften und muß doch notgedrungen immer wieder in die Fabriken zurück. Derzeit lebt und arbeitet er in München, als „Fabrikler, Leser und Poet“.
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