– Zu Dieter Schlesaks Gedicht „Meine Liebste laß uns gehen“ aus Dieter Schlesak: Herbst Zeit Lose. Liebesgedichte. –
DIETER SCHLESAK
Meine Liebste laß uns gehen
sieh wir haben uns schon die Hände
über die Augen gelegt.
War nicht dein Geschlecht schon wie immer
der Aus- und der Eingang zur Welt?
Bleib mir im Herzen
wenn wir vergehen.
Der Himmel ist uns hier offen
doch gehen ja gehen
muss jeder allein diesen Weg.
Die letzte Umarmung Liebste
die letzte ist
wenn wir uns nicht mehr sehn
der Leib in der Erde
die Seele im Flug
Denn alles fällt ab was wir waren.
Dieter Schlesaks Dichtung ruht im Elegischen. Im Band Herbst Zeit Lose. Liebesgedichte, in dem diese Verse stehen, mischt sich noch in den Taumel des Sinnlichen und den Jubel der Sprache ein Zug von Trauer; über alle Himmel Schlesaks zieht eine Wolke. Der 1934 im rumänischen Transsylvanien als Angehöriger der deutschen Minderheit geborene Lyriker, Romanautor und Essayist, nach seinem Studium in Bukarest Redakteur der Zeitschrift Neue Literatur, kam 1969 in die Bundesrepublik und lebt seit 1973 in der Toskana und in Stuttgart. Seine bedeutendste Übersetzung rumänischer Dichtung ist sicherlich die Übertragung der Elf Elegien von Nichita Stanescu, dem Dichter der inneren Emigration zur Zeit der Diktatur Ceauçescus (Neudruck 2005). In der italienischen und rumänischen Literaturkritik gilt Schlesak als einer der wichtigen Vertreter moderner deutscher Lyrik; ein Band von siebzig Gedichten mit Übersetzungen ist kürzlich in Pisa erschienen. Jenseits der Alpen hat Schlesak ein Echo gefunden, das man ihm auch in Deutschland wünscht.
Mit seinem Band Herbst Zeit Lose. Liebesgedichte schließt sich Schlesak an die Tradition einer Liebeslyrik an, die man heute leicht in den Verdacht der prickelnden Oberflächlichkeit bringen kann, wenn man sie erotische Lyrik nennt – einer Lyrik, mit der wir Namen wie Catull und Horaz verbinden, die Liebesgenuß und -erfüllung preist. Sie begegnet uns auch in Goethes Römischen Elegien, deren Titel in einer Handschrift noch „Erotica Romana“ lautet. Zumal Schlesaks Gedichte im Abschnitt „Komm, schlaf jetzt mit mir“ zieren sich nicht, beschreiben Liebe als „Vulkan“ in „Flammen“, Aber fast immer geht aus dem Aufruhr der Sinne das Besinnen hervor. Ein an barocke Vergänglichkeitsklagen erinnernder Ton ist Signal: das Begehren nach dem Augenblicksbegehren verstummt; wahre Liebe will Ewigkeit. „Doch die Liebe ist Leben für immer“, heißt der Sammeltitel für eine der Gedichtreihen.
Im Gedicht „Meine Liebste laß uns gehen“ ist nach der Zeit der wilden Vereinigungen nun die Zeit des Abschieds gekommen. Die über die Augen gelegten Hände deuten an, daß sich der Vorhang vor der Welt der sinnlichen Wahrnehmungen schließt. Aber noch einmal bringt sich Erotisches in Erinnerung, das weibliche Geschlecht, als poetisches Bild für Geburt und Zeugung. Was den Augen mangelt, kann das Herz bewahren – Herz verstanden als Inbegriff für jenes Unbeschreibbare, das mit der Seele, dem ebenfalls unbeschreibbaren Spirituellen, verschwistert ist. Unendliche Traurigkeit durchdringt die vierte Strophe. Trennung der Liebenden und Einsamkeit des einzelnen werden unwiderruflich, und nicht zufällig wählt Schlesak in der Zeile „doch gehen ja gehen“ eine die Gemütssaite berührende Wiederholungsform des Volkslieds. Noch gewähren die Erde des Grabes und „die Seele im Flug“ eine „Umarmung“, Aber bleibt auch das poetische Bild des offenen Himmels in Kraft, so besiegelt doch der Schlußvers eine Endgültigkeit:
Denn alles fällt ab was wir waren.
Es gibt im Band auch Gedichte von geringerer Direktheit, Beispiele wie in der Strophe:
Denn was dann nicht mehr ist
und war
die Erde, jede Zelle
Atome dieser Hand die wir so warm berühren werden!
Du meine und ich deine Hand
Sind ihre Elemente. Sie drehn sich rasend schnell
wie Glücksgefühle
und duften weiter.
Von „Verjüngung“ wird gesprochen. Die Abschiedselegie „Meine Liebste laß uns gehen“ ist von herber Trauer. Hingenommen wird das Bedingte unserer Existenz mit einer Kraft der melancholischen Gefaßtheit, zu der wohl nur eine Liebe verhelfen kann, die ihrer Unverlierbarkeit gewiß ist. Dieses Liebesgedicht schön zu nennen wäre zu wenig; es macht dem Gefälligen keine Zugeständnisse, ist aber nicht fatalistisch, es ist bewegend, doch nicht erweichend, die poetischen Bilder leiten uns unaufdringlich, aber unausweichlich zur Frage nach unserer Endlichkeit, kurz, dies ist ein großes Gedicht.
Walter Hinck, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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