Walter Hinck: Zu Hans Sahls Gedicht „Charterflug in die Vergangenheit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Sahls Gedicht „Charterflug in die Vergangenheit“ aus Hans Sahl: Wir sind die Letzten. Der Maulwurf. –

 

 

 

 

HANS SAHL

Charterflug in die Vergangenheit

Als sie zurückkamen aus dem Exil,
drückte man ihnen eine Rose in die Hand.
Die Motoren schwiegen.
Versöhnung fand statt
auf dem Flugplatz in Tegel.
Die Nachgeborenen begrüßten die
Überlebenden.
Schuldlose entschuldigten sich für
die Schuld ihrer Väter.

Als die Rose verwelkt war, flogen sie
zurück in das Exil ihrer
zweiten, dritten oder vierten Heimat.
Man sprach wieder Englisch.
Getränke verwandelten sich wieder
in drinks.
Als sie sich der Küste von
Long Island näherten,
sahen sie die Schwäne auf der Havel
an sich vorbeiziehen,
und sie weinten.

 

Schwäne auf der Havel

Nicht für alle verbannten Dichter gab es eine Rückkehr, und manchen führte sie ins Verderben. Der rebellische Humanist Ulrich von Hutten starb 1523 im schweizerischen Exil; Nikodemus Frischlin, zu ruhelosem Wanderleben verurteilt und dann an die württembergische Regierung ausgeliefert, kam bei einem Fluchtversuch 1590 ums Leben. Den jungen Georg Büchner ereilte in Zürich ein früher Tod, doch ein Abschied auf immer war auch für andere der erste Massenaufbruch ins Exil: in der Ära Metternichs. Alle vorherigen Maßstäbe aber sprengte die Verjagung von mehr als zweihundertfünfzig Schriftstellern unter der Hitler-Diktatur, und in anderer Weise griff die Vertreibung an die Wurzel des Daseins. In Verzweiflung und durch Selbstmord endeten Ernst Weiß und Ernst Toller, Carl Einstein, Walter Hasenclever und Walter Benjamin, Kurt Tucholsky und Stefan Zweig, in französischen und amerikanischen Hotelzimmern, im Internierungslager oder an der französisch-spanischen Grenze, im schwedischen und im brasilianischen Zufluchtsort. Opfer der Stalinschen Säuberungsaktionen in der Sowjetunion wurde Ernst Ottwalt; und Georg Hermann, im holländischen Unterschlupf verhaftet, streifte deutschen Boden nur noch einmal im Transportzug, der ihn dem Gastod in Auschwitz entgegenfuhr.
Die schreckliche Bilanz läßt leicht vergessen, was es für manchen Exilierten hieß, sich fürs Überleben zu entscheiden. Hans Sahl, bis 1933 Theater-, Film- und Literaturkritiker in Berlin, hat sich in einer kleinen New Yorker Wohnung und zunächst mit Übersetzungsarbeiten durchgeschlagen. Ein späterer Besuch in Berlin wurde zum Anlaß des Gedichts.
Er beklagt sich nicht. Den „verlorenen Sohn“ – wie er in einem anderen Gedicht selbst sich nennt – empfängt die Heimat mit Takt. Aber ein Schatten fällt auf die freundliche Szene. Für die „Schuld der Väter“ entschuldigen sich die Nachgeborenen; so macht es sich die Versöhnung zu leicht. Die Besucher aus dem Exil sind willkommen, sind es auch die zur Heimkehr Entschlossenen? „Die uns durchaus halten wollen, / lieben uns noch mehr, wenn wir / bereits die Rückfahrkarte / vorweisen können“, heißt es in „Befragung des verlorenen Sohnes“.
Der Rückflug ist für Hans Sahl tatsächlich Rückkehr in die „vierte Heimat“, denn über die Stationen Prag, Zürich und Frankreich entkam er 1940 mit einem der letzten Schiffe ins amerikanische Exil. Der jetzt die Küste Amerikas erreicht, ist längst eingebürgert: in den Staat, in die Sprache und in die Lebensgewohnheiten des Landes. Aber nun erst bricht der Schmerz, den der „Charterflug in die Vergangenheit“ aufwühlte, an die Oberfläche und erleichtert sich in Tränen. Der Anblick der Küste von Long Island ruft die Erinnerung an Berlin, an den An- oder Abflug über die Havel, und mit ihr eine frühere wieder wach, ein Schlüsselbild der nie verwundenen Trennung: das Bild der Schwäne auf der Havel.
Hier dichtet Sahl das wehmütige Lied des Exils weiter, für das Heinrich Heine unvergeßliche Verse vorgab: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland… / Es war ein Traum.“ „Dort wob ich meine zarten Reime / Aus Veilchenduft und Mondenschein.“ Auch andere Verbannte unseres Jahrhunderts nahmen die Melodie auf, Bertolt Brecht etwa in der elegischen Huldigung an die deutschen Landschaften oder Rose Ausländer in ihren melancholischen Liedern auf die „Grüne Mutter / Bukowina“.
Hans Sahl, inzwischen als Romanautor, Lyriker und Essayist vom deutschen Publikum angenommen, hat im Jahre 1989, siebenundachtzigjährig, seinen Wohnsitz doch wieder in Deutschland genommen, in Tübingen. Ob es eine wirkliche Heimkehr war, ob der Blick auf den Neckar das Bild der Schwäne auf der Havel verdrängen kann?

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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