– Zu Helga M. Novaks Gedicht „seitdem du da bist“ aus Helga M. Novak: solange noch liebesbriefe eintreffen. –
HELGA M. NOVAK
seitdem du da bist
seitdem du da bist
gehen die Stühle aus dem Leim
das Bett hängt durch das Sofa
unter mir biegen sich alle Balken
so schwer
hab ich mich fallenlassen
wenn du weg bist
steht alles wieder an seinem Ort
das Ausgebeulte wird sich glätten
die Möbel richten sich auf
und mir
werden die Haare zu Berge stehen
Hier steht die Liebe kopf, hier geht sie aufs Ganze, hier gerät alles aus den Fugen. In so manchen Liebesgedichten Helga M. Novaks ist die Liebende, wie es einmal heißt, „vergafft“ in die „holzigen Lenden“ des Geliebten oder wartet auf den „Wildbeuter“, der sie mit Haut und Haaren nimmt. Mächtig schlägt im Gedicht „seitdem du da bist“ das Pendel der Liebe aus: zwischen dem restlosen Verfallensein an die Liebeserfüllung und der „haarsträubenden“ Empfindung der Leere während der Abwesenheit des Geliebten. Solche Spannbreite, solche Polarität der Liebe hat als Thema ihre klassische Form in Klärchens Lied aus Goethes Trauerspiel Egmont gefunden:
Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.
Da fällt es nicht leicht, den Leser vom Rang eines anderen, thematisch vergleichbaren und doch von Goethes erotischem Lied weit entfernten Gedichts zu überzeugen. In einer Hinsicht freilich wirkt der Abstand so erheblich nicht. Das Bürgermädchen in Goethes Drama ist weder eine sehnsuchtsvoll schwärmende Jungfrau noch ihr Lied ein Ausdruck platonischer Liebe. Die sinnliche Erotik wird durch Klärchens Lied zugedeckt. Nicht, dass sie der Dichtung Goethes fremd wäre; hier aber wird sie poetisch verschwiegen.
Helga M. Novaks lyrische Kunst bringt das „Freudvolle“ und das „Leidvolle“ in andere Konstellationen: in die Aufhebung einer Ordnung und deren (scheinbare) Wiederherstellung. Anwesenheit des Geliebten bedeutet Anarchie. Das Rauminventar gerät aus dem Gleichgewicht, Tollheit hat die Stühle und das Sofa erfasst. Das Bild der sich biegenden Balken ist schon Metapher für die Entfesselung elementarer Sinnlichkeit, für den „Fall“ in den Rausch, in die Ekstase des Liebesakts. Abwesenheit des Geliebten bedeutet Rückkehr der Normalität, aber damit auch die Rückkehr eines von Freude entleerten Zustands. Wie sehr er dem Schrecken gleicht, verdeutlicht das Bild der zu Berge stehenden Haare – eine salopp untertreibende, alles Pathos vermeidende Umschreibung für „Leid“. Aber nicht vergessen sei, dass aus der Situation der Gegenwart des Geliebten gesprochen wird:
seitdem du da bist.
Helga M. Novak, der die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt wurde und die es nach Island verschlug, lebt seit zwanzig Jahren zurückgezogen in einem polnischen Waldgebiet. Ihre Liebesgedichte sind prall von einer Sinnlichkeit, wie man sie bei zeitgenössischen Lyrikerinnen sonst nicht findet. Aber „seitdem du da bist“ gleicht Klärchens Lied in dem Sinne, dass die sinnliche Erotik verschlüsselt wird. Allerdings eben nicht im hohen Liedton Goethes. Die Dichterin wird, um von der Liebe zu sprechen, zum Schatzgräber im Bildrepertoire der Umgangssprache unserer Zeit. „Aus dem Leim gehen“, die „Balken biegen sich“, Haare, die „zu Berge stehen“ – alles dies sind bildhafte Wendungen, mit denen wir uns über Außergewöhnliches verständigen. Mit keinem Wort werden die Vorgänge des Liebesakts direkt beschrieben. Nur geistvoll kombinierte Metaphern vergegenwärtigen sie.
Ein erfrischender Zug geht durch diese robuste Poesie. So wird sie zum dichterischen Gegenstück jener stupiden Inszenierungen des Liebesakts, denen man fast täglich vor der Leinwand oder dem Bildschirm beiwohnen kann.
Walter Hinck, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012
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