Walter Hinck: Zu Hilde Domins Gedicht „Köln“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Köln“ aus Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Köln

Die versunkene Stadt
für mich
allein
versunken.

Ich schwimme
in diesen Straßen.
Andere gehn.

Die alten Häuser
haben neue große Türen
aus Glas.

Die Toten und ich
wir schwimmen
durch die neuen Türen
unserer alten Häuser.

 

Rückkehr nach Vineta

Sie sind uns aus der Sage bekannt, die versunkene Insel und die versunkene Stadt: das geheimnisvolle Atlantis der Antike und Vineta, das spätere Wollin, in Ostpommern. An Vineta, die von den Wellen verschlungene Handelsstadt, mag man bei diesem Köln-Gedicht noch am ehesten denken. Auch das heutige Köln erhebt sich über einer versunkenen, allerdings unter den Gesteins- und Bauschichten der Jahrhunderte begrabenen Stadt: der römischen Colonia Agrippinensis.
Aber nicht diese auf dem Grund der Geschichte liegende römische Kaiserresidenz ist im Gedicht gemeint. „Für mich / allein / versunken“, sagt Hilde Domin von der Stadt, in der sie am 27. Juli 1912 geboren wurde. Und doch kann der Leser den Gedanken an ein anderes versunkenes Köln nicht abwehren: an die im letzten Krieg durch die Flächenbombardements zerstörte Stadt, aus deren Schutt wie ein mahnender Finger nur noch die gotische Kathedrale hervorragte.
Denn zwischen der Einebnung ganzer Straßenzüge und dem Versunkensein der Stadt, von dem im Gedicht die Rede ist, besteht ein unmittelbarer geschichtlicher Zusammenhang. Für Hilde Domin und ihre jüdische Familie ging die Stätte der Kindheit schon in jener antisemitischen Sturmflut unter, die 1933 in Deutschland zu wüten begann. Der Vater, ein Jurist, entwich mit der Mutter heimlich über die belgische Grenze, nachdem man jüdische Rechtsanwälte auf Lastwagen mit Spott und Schimpf durch die Straßen Kölns gefahren hatte. Hilde Domin selbst ging nach Italien ins Exil, später mit ihrem Mann über England in die Dominikanische Republik.
Die aus dem Exil Zurückgekehrte hat der Stadt Köln ihre Verstoßung nie mit Groll vergolten, und sie hat hier als Dichterin neue Freunde gewonnen. Aber unter dem neuen Köln-Wollin liegt für sie immer noch das Köln-Vineta, der verlorene Ort der Kindheit, einer wahrhaft glücklichen Kindheit, in der fast kein Wunsch unerfüllt blieb. In ihrem autobiographischen Bericht „Mein Vater“ erinnert sie sich an die Straßen, die Ahornbäume des Hansarings, die väterliche Führung durchs Wallraf-Richartz-Museum und das gemeinsame Schwimmen in der Badeanstalt am Rhein.
Das „Schwimmen“ im Gedicht ist nicht mehr ein realer, sondern ein bildlicher Vorgang, zugehörig zur Metapher der vom Meer überspülten Stadt. Beide sind sie für die Dichterin da: die gegenwärtige, die neu erbaute Stadt, in deren Straßen leibhaftige Passanten gehen, vorbei an modernen Häusern mit großen Glastüren, und jene vergangene Welt, die sie nur mit den Toten teilt, mit den Eltern und anderen Nächsten: ihr „Vineta“. In den „neuen Türen“ und den „alten Häusern“ werden beide noch einmal verbunden.
Entscheidend im Bild der letzten Strophe ist für mich die Bewegung: die Dichterin „schwimmt“ mit den Toten durch die „neuen Türen“ hindurch. Das neue Köln hat sich ihr und dem Angedenken an die Toten nicht verschlossen, sie sich nicht ihm. Die Zurückgekehrte ist wieder aufgenommen, und sie hat Köln wieder angenommen.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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