– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Winterantwort“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. –
ILSE AICHINGER
Winterantwort
Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt:
keine Augen mehr,
um die weißen Wiesen zu sehen,
keine Ohren, um im Geäst
das Schwirren der Vögel zu hören.
Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende,
wessen Wangen reiben sich heute
noch wund an den Mauern im Dorf?
Ist es nicht ein finsterer Wald,
in den wir gerieten?
Nein, Großmutter, er ist nicht finster,
ich weiß es, ich wohnte lang
bei den Kindern am Rande,
und es ist auch kein Wald.
In gut einem Drittel aller Texte des Bandes Verschenkter Rat, in dem Ilse Aichinger Gedichte aus der Zeit zwischen 1958 und 1978 vereinigte, tauchen die Motive Schnee und Winter auf. Nichts wird zur eindringlicheren Metapher als der Schnee. Das Heu erwartet den ersten Schnee, „der ihm den Himmel nehmen wird“. Aber „aus der Ferne“ kann Gott „über dem Schnee“ gesehen werden. Menschen, Fremde können „aus Schnee“ sein. Im Schnee erscheinen „die goldenen Füchse“. Das „Findelkind“, „dem Schnee untergeschoben“, wird von einem „tollen Fuchs“ gewärmt. Tatsächlich sah Ilse Aichinger während ihrer Nachkriegsjahre in Bayern und, zwischen 1963 und 1984, in Großgmain bei Salzburg monatelang eine Landschaft im Schnee.
„Winteranfang“, „Winterfrüh“ oder „Winter, gemalt“ sind Gedichttitel von einiger Anschaulichkeit. Schon unbestimmtere Erwartungen weckt „Winterrichtung“. Und „Winterantwort“? „Winterliche“ Antwort oder Antwort in winterlicher Zeit? Die Bedeutung bleibt in der Schwebe. Unzweifelhaft ist der Bezug zur Großmutter, die Anrede an die Tote. Mehrfach im Gedichtband wird die Großmutter genannt; die Erinnerung an sie ist intensiver als die Erinnerung an die Mutter. Nach der Scheidung der Eltern (1927), eines nichtjüdischen Lehrers und einer jüdischen Ärztin, nahm sich in Wien vor allem die jüdische Großmutter des Kindes an. Unauslöschlich eingebrannt ins Gedächtnis der Enkelin hat sich die Deportation der Großmutter in den Osten im Jahre 1942. So bietet sich dem Leser ein biographischer Kompaß, der ihm die Orientierung im Gedicht erleichtert. Ein Passepartout ist auch er nicht. Sie stelle, so hat Ilse Aichinger einmal gesagt, keine Zusammenhänge her, solange sie vermeidbar seien.
Beim Lesen der ersten beiden Verse meint man ein Echo auf den Anfangsvers von Terzinen Hugo von Hofmannsthals mitzuhören:
Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen.
Ilse Aichinger kannte aus ihrer Kindheit die Umgebung der Wiener Wohnung Hofmannsthals, und sie mag später den berühmten Vers im Ohr gehabt haben. Aber wie ein Gegenwort liest sich ihr Text. Von Träumen, die „in uns“ sind und „immer Leben“ haben, wissen ihre Verse nichts. Denn ihr Gedicht ist eine Totenklage. Es klagt nicht an, beschwört keine Torturen der Verschleppung und nicht das schreckliche Ende. Es beklagt die Verluste, das Erloschensein der Sinneswahrnehmungen: des Sehens, des Hörens, des Schmeckens, des Riechens und des Tastens, der Hautempfindlichkeit. Aber die Reihung bleibt nicht beim aufzählenden Benennen, dem metaphorischen Auftakt (das Weiß der Wiesen steht für die winterliche Landschaft) antwortet eine Verknüpfung eigentlich sich ausschließender Vorstellungen: die Wahrnehmung des Himmels durch den Geruchssinn. Ein Himmel von unerhörter sinnlicher Gegenwärtigkeit wird hier vermißt, nur die Wendung „zu Ende“ deutet Metaphysisches an. Das Bild der an Mauern wund geriebenen Wangen mag auf ein bestimmtes Kindheitserlebnis zurückgehen.
Kindheit wird auch in den folgenden Versen zurückgeholt: im Märchenrequisit des finsteren Waldes. In die Finsternis geriet tatsächlich die Familie nach dem „Anschluß“ Österreichs, als die Zeit der Willkür begann. Aber das „Nein“ leitet im Gedicht eine Wende ein, den Übergang in die Nachvergangenheit. Sie ist „nicht finster“ – als Zeugen werden die Kinder aufgerufen. (Das Gedicht entstand vor dem Tod des Sohnes Clemens, des Schauspielers und Schriftstellers.) So ist denn „Wald“ auch nicht der angsteinflößende Wald der Kindheit und der Märchen.
Wenn das Gedicht mit einer Aufhellung schließt, so erschwindelt es keine Harmonie und widerruft nicht die Klage um das Verlorene. Es wird auf eine wohl nur Ilse Aichinger zu Gebote stehende Weise einer Welt gerecht, die „Betrachtung“ verlangt: Aufnahme mit allen Sinnen und Nerven und zugleich abwägende Reflexion. Die Klage um den Verlust ruft das Bild einer Großmutter zurück die – solange sie durfte – alle Poren zur Welt geöffnet hielt. So wird das Gedicht zum Requiem in Dur.
Walter Hinck, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002
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