Walter Hinck: Zu Jürgen Beckers Gedicht „Das Fenster am Ende des Korridors“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jürgen Beckers Gedicht „Das Fenster am Ende des Korridors“ aus Jürgen Becker: Erzähl mir nichts vom Krieg. –

 

 

 

 

JÜRGEN BECKER

Das Fenster am Ende des Korridors

Der Himmel, die Landschaft, der Fluß:
das Bild am Ende des Korridors.
Links und rechts die Appartements;
die Feuerlösch-Anlage. Das Summen des Aufzugs.
Die Zeit nach Büroschluß. Abweisende Gesichter,
kein Wort und keine Zärtlichkeit.
Jemand wird den Anfang machen
und an seiner Tür vorbeigehen
und weitergehen durch das Bild
hinaus in den Raum zum Fliegen.

 

Jemand wird den Anfang machen

Das Ende der Landschaftsmalerei, so nannte Becker seinen Gedichtband von 1974, seine lyrische Topographie einer Natur, in die Industrie und Technik ihre Schneisen der Zerstörung schlagen. Auch in diesem Gedicht des letzten Bandes Erzähl mir nichts vom Krieg, eines lyrischen „Tagebuchs“, wird Natur als Natur-Entzug erfahren. Himmel, Landschaft und Fluß sind zwar sichtbar, aber wie stillgestellt in dem Bild, das der Fensterrahmen vortäuscht.
Der Korridor, an dessen Ende sich das Fenster wie ein künstliches Panorama, wie eine Landschaftstapete ausnimmt, gehört zu einem großen Wohnhaus, ja – was viele andere Texte des lyrischen Tagebuchs bestätigen – zu einem Hochhaus (am Südrand der Stadt Köln). Die Gänge des Hochhauses, dieser Stadt unter einem Dach sind Straßen, in denen aller zwischenmenschliche Kontakt erstorben ist:

es soll
Bewohner geben, die sich im Haus hin und her bewegen,
in der Hoffnung, jemandem zu begegnen und guten Tag
zu sagen, wie früher, zu Hause, in den Dörfern.

Wenn man den Aufzug verläßt, gerät man in die „leere Tiefe des Korridors“.
Das ist das Gefühl der Isolation und wohl auch Angst, das jeden befallen kann, der allein durch die Höhlengänge moderner Wohngiganten geht. Aber unser Gedicht setzt eine andere Situation voraus: die Stunde der überfüllten Aufzüge und der allseitigen Begegnung, die „Zeit nach Büroschluß“. Und selbst sie löst nicht den Bann der Vereinzelung. Der Unwirtlichkeit des Hauses entspricht die Verschlossenheit seiner Bewohner. Keiner gibt und keiner empfängt ein Signal der Freundlichkeit, geschweige denn Zärtlichkeit. Im babylonischen Turm wurde den Menschen die Sprache verwirrt – hier ist sie ihnen abhanden gekommen. In den Türmen aus Stein und Beton versteinert alle Kommunikation. Hier sind die Alpträume Wachträume.
Aber sie wecken auch Wünsche des Traums, den Wunsch, sich diesem Alpdruck zu entziehen, davonzufliegen. Ich mag das Gedicht vor allem seiner letzten vier Zeilen wegen. Nicht nur, weil sie mich erinnern an Bilder von Marc Chagall, auf denen die Gesetze der Schwerkraft auf gehoben sind und Menschen im Raum schweben, sondern weil sie in ihrer Vielsinnigkeit das Gedicht so offen halten.
Nicht ausgeschlossen scheint der fatale Ausgang: es stürzt sich einer aus dem Fenster. Man weiß, welche Rolle in den Selbstmord-Statistiken die Hochhäuser spielen. Aber solche Lesart würde das Gedicht aus dem Zusammenhang mit anderen Texten des Bandes reißen. Denn Becker erlebt das Hochhaus nicht nur als den Ort der Verlorenheit, sondern auch als die Warte, von der aus der Blick weit über die Stadt und das Land und zu den nahen Höhenzügen geht. Die Vogelperspektive macht den Betrachter frei, die Phantasie bekommt Aufwind und entrückt ihn nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Vergangenheit – etwa in die Geschichte der Stadt Köln:

Geschiebe des Himmels, und plötzlich
sehe ich eine silberne Stadt.
Die alten Maler kannten die Engel,
die sie hier malten,
den fröhlichen Flug über den Ebenen
der Dunkelheit..
.

Zu einem ähnlichen Flug mag das „Bild“ am Ende des Korridors einladen. Aber man muß den letzten vier Zeilen nicht unbedingt die Wirklichkeit eines Chagallschen Bildes oder des Märchens unterlegen. Als eine uneigentliche, metaphorische Aussage genommen, enthüllen die Verse ihren eigentlichen Sinn. „ Jemand wird den Anfang machen“ und aus diesem Käfig der versteinerten Kommunikation, aus der Kette alltäglicher Lebensgewohnheiten ausbrechen („an seiner Tür vorbeigehen“) und beginnen mit einer neuen Weise des Lebens. Der „zum Fliegen“ ansetzt, bricht auf. Wohin? Dorthin, wo Natur nicht nur Ersatznatur („Bild“) bleibt, wo mehr Mitmenschlichkeit ist und wohin man nur gelangt mit mehr Phantasie.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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