– Zu Margarete Hannsmanns Gedicht „Pfad in Eftalu“ aus Margarete Hannsmann: Drachmentage. –
MARGARETE HANNSMANN
Pfad in Eftalu
Sieben Mandeln fand ich am Weg
die erste war taub
die zweite war bitter
mit der dritten zerbiß ich den süßen
Kern des Sommerrests
Salz auf den Lippen
Westwind schüttelt die Feigenbäume
triefend vom Mark der zerplatzenden Früchte
stopfe ich
verklebt und besudelt
alles Leben in mich hinein
Das Gedicht beginnt wie ein alter Rätselspruch mit einer mystischen Zahl. Sieben Mandeln liegen am Weg, die erste erweist sich als taub, die zweite als bitter. Doch was geschieht mit den anderen? Mit der dritten vollzieht sich im Gedicht ganz plötzlich eine metaphorisch-poetische Verwandlung, die sich nicht auf Anhieb deuten läßt, obwohl die Bilder bei dem äußeren Anlaß bleiben und verständlich scheinen. Der Biß in die süße Mandel wird mit dem „Kern des Sommerrests“ in Verbindung gebracht, dann mit dem Geschmack von „Salz auf den Lippen“ und schließlich mit dem Mark der Feigen. – Es läßt sich allerdings schnell ein Zusammenhang herstellen zwischen dem Kern der süßen Mandel, dem Kern des Sommerrests und dem „Mark der zerplatzenden Früchte“. Es handelt sich um konkrete Reduktionen, in denen sich das Wesen der Dinge versinnlicht, oder, anders ausgedrückt, das Innere sich nach außen wendet. Das Gedicht, so zeigt sich hier, spricht nicht in Rätseln, sondern strebt eine Enthüllung mit den Mitteln der Poesie an. Der Reiz dieses Textes besteht darin, daß aus der ebenso einfachen wie vollkommenen poetischen Zeichensprache sich Zeile für Zeile ein vielseitiger Bedeutungszusammenhang aufbaut, der die Phantasie des Lesers beschäftigt und nicht mehr losläßt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein spannendes Gedicht.
Die abgezählten Mandeln beziehen sich auf die Außenwelt und die hier gemachten Erfahrungen, negative und positive. Doch auch in der positiven Erfahrung, dem „süßen Kern des Sommerrests“, steckt noch die Erinnerung an die Bitterkeit, nun verschoben und abgemildert zum „Salz auf den Lippen“. Es fällt auf, daß diese Feststellung in der sechsten Zeile gerade die Mitte des Gedichts bildet; sie trennt den Text in zwei Hälften: in der ersten wird das Bild- und Aussagefeld von den Mandeln, in der zweiten von den Feigen bestimmt.
Der, wenn man will, kontemplativere erste Teil schlägt in dem zweiten in einen frenetischen Lebenshunger um: alles Leben wird geradezu zwanghaft dem Inneren einverleibt. Nichtsdestoweniger bleiben die negativen Signale anwesend: es ist der Westwind, der die Feigenbäume schüttelt, es sind außerdem „zerplatzende Früchte“, die „hineingestopft“ werden; das lyrische Ich weiß sich selbst „verklebt und besudelt“. Tod und Leben, Ende und Anfang, Herbst und Sommer, Zerstörung und Zeugung kommen aus einer Frucht oder einem Kern. Der Pfad in Eftalu, einem kleinen Ort auf der Insel Lesbos, erweist sich als Lebens- und Todespfad zugleich.
Der Text gehört nicht von ungefähr zu dem Zyklus „Elegie auf Lesbos“, den Margarete Hannsmann in Erinnerung an ihren 1981 verstorbenen Lebensgefährten, den Holzschneider und Graphiker HAP Grieshaber, geschrieben hat. Der Tote ist, wie es in einem anderen Gedicht heißt, in allem, im „Eingeweide der aufgeplatzten / Feigen im Baum“ und „im Lila des Herbstes“. Während der Verstorbene in den meisten Gedichten des Zyklus angeredet wird, scheint er in „Pfad in Eftalu“ nur indirekt anwesend. Worte wie „Salz“ und „Feigen“ verweisen deutlich auf frühere Texte der Gedichtgruppe und beziehen von daher ihren Zusammenhang.
Zu Beginn des Zyklus gesteht die Autorin, sie wolle den Toten von Lesbos, der Insel der Sappho und so mancher antiker Lyriker, fernhalten, aber er wird gerade hier, am geheiligten Ort der griechischen Poesie, zum Anlaß der elegischen Klage und der poetischen „Verherrlichung“. Doch Margarete Hannsmann teilt nicht mehr den poetischen Glauben von Schillers „Nänie“, wo eben als „herrlich“ gefeiert wird, „auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten“.
Der „Pfad in Eftalu“ dagegen bietet keinen Ausweg: weder ins Leben noch in die Poesie. Am Schluß bleibt vielmehr unversöhnbar die Trauer zurück, die „Abfallgrube“ oder, wie es in der letzten Zeile der Elegie hintersinnig heißt:
Daphnis und Chloe sind nicht verschont.
Das Sterben des einen bedroht das Leben des anderen. Da gibt es keinen Widerruf, da hält sich nur der Widerspruch, der das getrennte Dasein unwiderruflich beschwert.
Walter Hinderer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
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