Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor

Höllerer (Hrsg.)-Ein Gedicht und sein Autor

DIE MASCHINEN

Manche Maschinen sind früh aufgekommen,
andere spät. Außer der Zeit, der sie angehören,
hat die Welt keinen Platz für sie. 

Heronskugel Wurfschleuder Voltasäule.
Die Große Fahrkunst zu Falun. Kuriosa:
Die „pneumatische Kornfege“
Una macchina per riscaldare i piedi 

Die uns auffallen, das sind Maschinen
aus einem fremden Jahrhundert: sie wirken ortlos.
Sie werden deutlich, nehmen Bedeutung an.

Doch was sie bedeuten, weiß niemand.

Das Kunstgezeug: eine Vorrichtung
aus zwei gegenläufigen Stangen, um Kraft
über große Strecken hinweg zu überführen.
Was bedeutet das Kunstgezeug?

Die Bergwerke im Harz anno 1723

Der Kupferstich wimmelt von Leuten. Menschen,
klein wie Fliegen, fahren auf und ab in den Körben,
und „La Grande Machine«, Abbildung Ziffer j,
neben dem sprudelnden Wasserfall, treibt alle Riemen an.

Es wäre ohne weiteres denkbar,
Dampfmaschine und Kunstgezeug,
Heronskugel und Voltasäule
zu kombinieren. Niemand hat das getan.
Möglichkeiten als Überbleibsel.

Eine fremde Sprache, die nie jemand sprach.

Und genau genommen ist die Grammatik
selber eine Maschine,
die unter unzähligen Sequenzen
das Gebrabbel der Kommunikation auswirft:

die „Fortpflanzungswerkzeuge“, die „Zeugungsglieder“,
die „Schreie“, das „erstickte Geflüster“.

Wenn die Wörter verschwunden sind, bleibt die Grammatik zurück
und das heißt: eine Maschine. Doch was sie bedeutet,
weiß niemand. Eine fremde Sprache.
Eine durchaus fremde Sprache.
Eine durchaus fremde Sprache.
Eine durchaus fremde Sprache. 

Der Kupferstich wimmelt von Leuten. Wörter,
klein wie Fliegen, fahren auf und ab in den Körben,
und „La Grande Machine“, Abbildung Ziffer j,
neben dem sprudelnden Wasserfall, treibt alle Riemen an.

Mein Gedicht „Die Maschinen“ schließt in sich ein offenbares Paradoxon, das vielleicht einen Kommentar verträgt. Um den Blick auf seine Beschaffenheit freizumachen, möchte ich zunächst ein paar Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, die im Detail stecken.
Daß die Heronskugel ein antiker Vorläufer der Dampfturbine (angeblich eine Erfindung des Alexandriners Heron), daß die Voltasäule eine Ahnin der modernen Flüssigkeits-Batterie und die Wurfschleuder eine primitive Form der Artillerie, nämlich ein riesiges Gerät ist, das mit Steinen schießt, brauche ich kaum zu erklären.
Weniger bekannt dürfte die Große Fahrkunst zu Falun sein. Es handelt sich um eine enorme Vorrichtung zur Erzförderung, die Christopher Polhem, ein Zeitgenosse von Wilhelm Leibniz, für die größte schwedische Kupfergrube seiner Zeit konstruierte. Die Konstruktion bestand fast ausschließlich aus Holz. Sie wurde durch Wasserkraft angetrieben. Wie manche andere Erfindungen des achtzehnten Jahrhunderts wirkt die Große Fahrkunst von Falun gewissermaßen „maschineller“ als moderne Maschinen. Das mag an der altertümlichen Art der Kraftübertragung liegen, für die ein klobiges und umständliches System von gegenläufigen Gestängen sorgte. Das Original jener riesigen Konstruktion ist heute eine Ruine: es ist längst verwittert und verfault. Doch hat sich Polhems eigenes Modell der Maschine erhalten; es wird im Technischen Museum zu Stockholm aufbewahrt. Diese Vorrichtung bewegt sich ruckartig, intrikat und unbarmherzig: der Eindruck läßt sich kaum beschreiben.
Die „pneumatische Kornfege“ ist ein Kuriosum, dessen Spuren man in alten Lehrbüchern der Physik finden kann. „Una macchina per riscaldare i piedi“ ist eine Reminiszenz an jene Zeiten, da die mechanischen Erfindungen noch gleichsam in der Luft hingen. Die Renaissance betrachtete Maschinen als Gegenstände der Unterhaltung und der Verwunderung, die zum Inventar der fürstlichen Kuriositätenkabinette gehörten; allenfalls konnte die eine oder andere sinnreiche mechanische Vorrichtung der Bequemlichkeit eines adligen Herrn in seinem Lehnstuhl dienen.
Die Mechanik stand damals sozusagen noch jenseits der Erfahrung; mit der Produktion hatte sie nichts zu schaffen; sie genoß, als eine Art von Taschenspielerei, wie die Kunst eine zweifelhafte Autonomie.
Das Kunstgezeug schließlich war eine Art von Transmission, die im achtzehnten Jahrhundert die Umgebung der Bergwerke auf weite Strecken hin beherrscht haben muß: wenn man will, ein Vorläufer unserer Hochspannungsleitungen. Die Wasserkraft wurde vom Schaufelrad über Pleuel auf ein System von gegenläufigen, hin- und hergehenden Stangen übertragen. Solche Kunstgezeuge, auf hohen Pfählen montiert, liefen zuweilen kilometerweit über das Gelände hin; sinnreiche Vorrichtungen, sogenannte Kunstkreuze, erlaubten es, die Laufrichtung im rechten Winkel zu ändern.
Sie werden bemerken, daß ich es vermieden habe, eine Maschine aus meiner eigenen Zeit in das Inventar des Gedichts aufzunehmen. Mit voller Absicht. Was mich hier interessiert, das sind nicht die Maschinen selbst: es ist ihre mechanische Natur. Nicht ihre Funktion, sondern ihr maschineller Charakter. Dieser schwer bestimmbare Zug aber tritt an Maschinen, die veraltet oder zu Kuriosa geworden sind, deutlicher hervor als an jenen, die uns heute umgeben. Er zeigt sich an Vorrichtungen, die außerhalb der alltäglichen Zusammenhänge stehen, und für die die Welt, wie das Gedicht sagt, „keinen Platz hat“.
Daß ein Gedicht von Maschinen handelt, ist natürlich nicht weiter bemerkenswert. Die ältesten mechanischen Vorrichtungen, von denen die Literatur sich Bilder ausgeliehen hat, sind vermutlich der Webstuhl und die Mühle. Seit den Tagen Tennysons gehen immer mehr Maschinen in der Poesie um. Sie  haben ihr die verschiedensten Erfahrungen und Gefühlslagen zugeführt: von der naiven Bewunderung (die bei den Futuristen zum Rausch geworden ist) bis zur hemmungslosen Verzweiflung. Auf eine einzige literarische Traditionslinie läßt sich das nicht bringen: eine ganze Reihe von literarischen Entwicklungen beruht auf dem Ausdrucksreichtum der Maschinen. Mit dem, was ich hier ausführen will, hat weder der romantische Enthusiasmus einiger Poeten aus der Kindheit des industriellen Zeitalters, noch die ekstatische Haltung der Futuristen, noch das „realistische“ Maschinenpathos der frühen Sowjetpoesie etwas zu tun.
Es ist eine ganz andere, schwer bestimmbare Gefühlslage, die mich interessiert, eine Faszination, die ich in manchen Zeichnungen aus „Un autre monde“ von Granville wiederfinde. Dort werden Maschinenteile zu Karikaturen ihrer selbst. Dampfpfeifen und gußeiserne Details nehmen menschliche Gestalt an und führen ein parodistisches Dasein, zugleich biedermeierlich wie im Kindermärchen und fantastisch wie im surrealistischen Gedicht. Die gleiche Faszination zeigt sich in den seltsamen, minutiösen und unfaßbar komplizierten Maschinenbeschreibungen, von denen es in Raymond Roussells Romanen wimmelt, und sie kehrt, mit erschreckender und glasklarer Deutlichkeit, in Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ wieder, deren Zentrum die Beschreibung einer entsetzlichen Maschine, eines mechanischen Folterwerkzeugs, ist.
Eine ähnliche Erfahrung tritt einem vielleicht aus Marcel Duchamps Glasmalerei „La Mariée, mise à nu par ses célibataires mêmes“ entgegen, auf dem merkwürdig benannte Maschinenelemente in einem offenbar zweckvollen, aber unbegreiflichen Prozeß begriffen zu sein scheinen. Alle diese Kunstwerke würden eine ausführliche Interpretation verdienen. Was sie unterscheidet, ist sicherlich nicht weniger wichtig und interessant, als das, was sie gemeinsam haben. Ich begnüge mich hier mit der Feststellung, daß sie allesamt sich ein und derselben, spezifischen Erfahrung des Maschinellen annähern. Sie reagieren nicht auf die Maschine, sondern auf den Maschinencharakter, der bei ihnen von einer eigentümlichen, geheimnisvollen und Schrecken einflößenden Aura umgeben scheint. Wir kennen alle dieses Gefühl, und wir sind mit einer Symbolik vertraut, die dem berechenbaren Gleichlauf der Maschine die fruchtbare Unberechenbarkeit des organischen Lebens gegenüberzustellen pflegt.
Die Maschine beunruhigt uns auf ähnliche Weise wie die Idee des Gespenstes: etwas Lebloses bewegt sich und lebt, das heißt: es simuliert Leben. Hebt man die mechanischen Bewegungen der Maschine gegen die Regungen des organischen Lebens ab, so läuft das nicht darauf hinaus, daß die Maschine zum Todessymbol wird. Nicht auf den Tod weist sie hin, sondern auf die Möglichkeit, daß unser eigenes Leben, wie das ihre, nur ein simuliertes sein könnte.
Wir alle teilen eine Erfahrung, mag man sie Entfremdung nennen, mag man sie in den Marxschen oder Kierkegaardschen Begriffen zu fassen suchen, die uns nötigt, eine solche Hypothese ins Auge zu fassen: die Möglichkeit nämlich, daß wir bloße Marionetten sind, mechanische Puppen, Homunculi. Und daraus folgt unvermeidlich die Frage: Wenn dies so wäre, würde es einen Unterschied machen?
La Mettrie ist, soviel ich weiß, der erste, der diese Frage explizit gestellt hat. In den letzten hundert Jahren hat sie sich zunehmend verschärft, wie ein Verdacht, der immer stärker wird.
Dies ist die Erfahrung, die bei der Entstehung meines Gedichts den Ausschlag gegeben hat. Sein Paradoxon besteht darin, daß sie sich bei der Arbeit mit einer anderen, ebenso eigentümlichen Erfahrung gekreuzt hat, was schließlich dazu führt, daß ich in einem Zustand, der andere desorientiert, verwirrt und erschreckt hat, auf paradoxe Weise meine Zuflucht suche.
Manchem Leser mag es wie eine weithergeholte Allegorie vorkommen, daß ich die Sprache mit dem Verhalten der Maschinen vergleiche und behaupte, die Grammatik selber sei eine Maschine. Dazu haben mich einige Gedankengänge der neueren Linguistik veranlaßt, insbesondere die Überlegungen, die sich mit dem Begriff der grammatischen Struktur verbinden. Genauer gesagt, schwebte mir Naham Chomskys Versuch vor, den grammatischen Satz mit Hilfe einer Anzahl von elementaren Operationen zu definieren.
Im Verhältnis zu den Gedanken, zu deren Vermittlung sie dient, behauptet ja die Grammatik eine schier unergründliche Objektivität: ihre Formen geben sich einerseits zu allem her, was denkbar ist, und sie bewahren andrerseits eine gleichsam unmenschliche Selbständigkeit.
Es war Chomsky, der in seiner Untersuchung „Syntactic Structures“ die Grammatik als eine Maschine bezeichnet hat: als jene Maschine nämlich, die aus der Mannigfaltigkeit aller theoretisch möglichen Wortkombinationen und Sequenzen, aus dem „Gebrabbel“, von dem das Gedicht spricht, eben jene auswählt, welche die organisierte und verständliche Sprache ausmachen.
Wem dieser Gedanke vertraut geworden ist, der kann sich schwer von der Vorstellung freimachen, daß unseren Worten und unserm Sprechen etwas Mechanisches und gleichsam Unpersönliches anhaftet, als wären nicht wir es, die unsere Gedanken hervorbrächten, sondern als dächte die Sprache in uns, und als liehen wir bloß einer größeren, unübersehbaren sprachlichen Struktur unsere Stimme, die uns durchwüchse, so wie in einem parasitären Pilz das Myocel die Wirtszellen durchdringt. Oder, um den Vergleich zu wechseln: als wäre die Sprache ein enormer, unsichtbarer mechanischer Prozeß.
Es gibt wohl keinen Menschen, der nie erfahren hätte, mit welch paradoxaler Selbständigkeit die Wörter in uns leben und denken, und der es nicht am eigenen Leib erlebt hätte, wie diese Objektivität der Sprache uns mit fremden, entfernten oder halbvergessenen Gedanken, mit verschwundenen historischen Erscheinungen und mit Haltungen behaftet, die uns völlig fremd sind. Man könnte auch sagen: in solchen Erfahrungen schlägt die Logik durch, deren rätselhafte Kraft eben darin liegt, daß aus jedem Satz, den wir äußern, eine unendliche und unüberblickbare Menge von weiteren Sätzen folgt, gleichgültig, ob wir diese Konsequenzen verstehen oder nicht, ob wir sie wahrhaben wollen oder ob wir sie leugnen. Das Erlebnis, das ich meine, läßt sich auch in mathematischen Begriffen erläutern. Es hat etwas von der Halsstarrigkeit der natürlichen Zahlen. Einmal definiert, lassen sie nur noch jene Verwandlungen und Kombinationen zu, die in ihrer Natur liegen, und sperren sich gegen jede andere Art, sie zu brauchen.
In ihrer Natur? Der Natur der Zahlen? Ganz recht. Jedenfalls eher in ihrer als in unsrer Natur.
Wir sehen uns also einer fremden, unpersönlichen, unübersehbaren Mannigfaltigkeit ausgesetzt, an der wir auf eine ganz intime Weise teilhaben. Und man kann ebensogut sagen, daß diese Mannigfaltigkeit in uns denkt, wie daß wir uns beim Denken ihrer bedienen.
Die moderne Kybernetik hat eindeutig gezeigt, daß eine ganze Reihe von Eigenschaften, die wir für Eigentümlichkeiten des menschlichen Denkens hielten, von Maschinen simuliert werden können: das Gedächtnis, die Fähigkeit, logische Schlüsse zu ziehen, und das Vermögen, auf Grund gegebener Voraussetzungen eine rational begründete Wahl zu treffen. In den Diskussionen über die modernen Rechenmaschinen und ihre Analogien zum Menschen kann man zuweilen das Argument hören, die Maschine sei „außerstande, zu phantasieren“. Soweit ich sehe, steht aber der Konstruktion einer Maschine nichts im Weg, bei der jede einzelne Operation ähnliche, aber nicht identische Operationen auslösen würde und zwar derart, daß der Ablauf nicht durch logische, sondern durch andere, beispielsweise assoziative Gesetze bestimmt wäre.
Möglicherweise wird mir der eine oder andere Zuhörer oder Leser nun die Absicht zuschreiben, eine deterministische oder mechanistische Philosophie zu entwickeln. Das liegt mir fern. Es hätte mit dem, worauf ich hinauswill, auch nichts zu tun. Wer in ein kybernetisches Gerät blickt, der sieht keine Gedankengänge, er sieht nur Maschinenteile. Es wäre reinster Animismus, wollten wir dem Gerät Leben zuschreiben. Wer einen Menschen öffnet und hineinblickt, sieht allerdings auch keine Gedanken; nur indem er sich selbst beobachtet, erlebt der Mensch sich als ein Bewußtsein. Wie, wenn auch dies eine animistische Vorstellung wäre?
Der symbolische Wert der Maschinen liegt darin, daß sie uns an die Möglichkeit erinnern, daß unser eigenes Leben in einem ähnlichen Sinn etwas Simuliertes sein könnte wie das ihrige.
Mein Gedicht handelt von dieser Möglichkeit. Der Mensch wird darin aufgefaßt als eine kybernetische Vorrichtung, die mit unserer eigenen Sprache und unserer eigenen Logik programmiert ist. Es handelt sich um einen Versuch, die Perspektive zu ver-ändern und das, was uns am besten bekannt ist, unter einem neuen Gesichtswinkel zu betrachten: 

Der Kupferstich wimmelt von Leuten. Menschen,
klein wie Fliegen, fahren auf und ab in den Körben
und „La Grande Machine“, Abbildung Ziffer j,
neben dem sprudelnden Wasserfall, treibt alle Riemen an.

Die Geschichte der Philosophie ist voll von Argumenten, die zeigen sollen, daß das Ich keinen Zugang – jedenfalls keinen direkten Zugang – zum Innenleben anderer Menschen hat, und daß mithin alle andern Menschen außerhalb dieses Ich durchaus bloß Marionetten sein könnten. Sehr viel seltener wird dahingehend argumentiert, daß auch dieses Ich selbst eine Marionette sein könnte, ohne es zu wissen.
Wenn das Innenleben der Andern tatsächlich im Sinn jener Philosophen unzugänglich wäre, so hätte dies eine wichtige sprachliche Konsequenz. Es würde bedeuten, daß jedes Wort, das ich gebrauche, beispielsweise das Wort Apfel oder das Wort rot, zwei verschiedene Bedeutungen hätte: eine öffentliche, die jedermann zugänglich, und eine private, die nicht mitteilbar wäre.
Auf eine solche Betrachtungsweise gründen ich weiß nicht wieviele ästhetische und poetische Doktrinen von der „Unvollkommenheit der Sprache“ und von der „linguistischen Mauer“, die den Menschen angeblich von seinen Mitmenschen trennt. Sehr wohl möglich, daß diese Auffassung von einer „antipoetischen Mauer“ zu den wichtigsten Quellen des poetischen Purismus gehört, der seinerseits zu den Voraussetzungen der modernen Lyrik überhaupt zählt. Heute kommt mir diese Vorstellung, nach der das einzelne Wort oder die sprachliche Sequenz einen Erlebnisrest enthält oder vielmehr verbirgt, der sich niemals mitteilen läßt, mehr und mehr wie eine Selbsttäuschung vor. Sie ist selber ein Rest, das Überbleibsel alter und unhaltbarer metaphysischer Denkweisen, eine Illusion, die nach wie vor ihrer Überwindung harrt.
Ich bin hingegen der Auffassung, daß mit dem, was gesagt wird, alles gesagt ist, und ich betrachte die Sprache als etwas vollkommen Durchsichtiges: sie schöpft unsere Gedanken ohne Rest aus. Oder, um es mit einem Gedanken aus Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ zu sagen: ein sprachlicher Ausdruck, der für andere prinzipiell unverständlich wäre, müßte auch für mich selber, den Sprecher, prinzipiell unverständlich bleiben.
Linguistische Mauern gibt es nicht. Jedes Erlebnis ist (klar oder unklar formuliert) hier und jetzt unverkürzt und erschöpfend zugegen in der Formulierung, die ich ihm gebe. Unsere Worte bergen keine unzugänglichen Reste und keine privaten Bedeutungen. Die Sprache schöpft uns aus. Sie ist das Unpersönliche in uns, und unsere Gedanken existieren nur in diesem unpersönlichen und gleichsam objektiven Medium. Es denkt in uns.
Eine solche Betrachtungsweise muß zu einer Poetik führen, die sich von der des hergebrachten, klassischen Modernismus unterscheidet.
Das Gedicht „Die Maschinen“ kann als ein anspruchsloses Bruchstück zu einer solchen Poetik gelten. Es geht davon aus, daß es eine Gemeinschaft gibt, die ein für allemal gegeben ist, und daß diese Gemeinschaft in ihrem innersten Wesen etwas Unpersönliches ist. Und hierin sucht das Gedicht einen Trost.
Es handelt sich, wenn man es so ausdrücken will, um eine Gemeinschaft zwischen Marionetten, die zu leben vorgeben, die ihr Leben bloß simulieren. Aber eben dies ist die Grundbedingung ihrer Gemeinsamkeit, und es wird Zeit, daß wir uns den metaphysischen Schlaf aus den Augen reiben und diese Bedingung ins Auge fassen. Unsere Gemeinsamkeit ist von eigentümlicher Art, sie reicht tief in die Mechanik hinein; aber sie ist immerhin eine Gemeinsamkeit, ja eine Vertrautheit, die wir miteinander teilen.
Wer so denkt, für den liegt die Tragik des Menschen nicht darin, daß er eingeschlossen wäre, daß ihn etwas vom Leben ausschlösse. Und auch nicht darin, daß seine Worte nie ans Ziel kämen.
Die Tragik des Menschen, wie die der Maschinen, liegt darin, daß er kein Geheimnis hat.

Lars Gustafsson

 

GEDICHT UND REFLEKTIERENDER ESSAY

sind benachbart; Autoren moderner Gedichte sind nicht selten kritisch argumentierende Essayisten.

Im Augenblick, wo jemand in vollem Umfang zu reden anfängt, ist es sein Problem, dem Werk die eigene Ernsthaftigkeit zu verleihen, eine Ernsthaftigkeit, die hinreicht, das Ding, das er schafft, zu bewegen, seinen Platz neben den Dingen der Natur einnehmen zu wollen. (Charles Olson)

Im Vers und im Essay kann der Versuch „im vollen Umfang zu reden“ unternommen werden, es sind zwei verschiedene Möglichkeiten, dieses Ziel anzusteuern, – und sei es auch nur, daß der Ort der Gedichte etwas genauer beschrieben wird durch den Essay: „Meine eigenen Gedichte betrachte ich mit großem Mißtrauen. Ich habe sie aus dem Rest der übriggebliebenen, geretteten Worte gefügt, aus uninteressanten Worten, aus Worten vom großen Müllhaufen“ (Różewicz), – Bei anderen ist der Essay dem Gedicht völlig gleichberechtigt. Schritt für Schritt zeigt er den Gang des Autors, so wie, in anderer Fortbewegungsart, das Gedicht Schritt für Schritt/ den Leser mit sich zieht. Der Autor nähert sich dem ihm gemäßen Konzept lediglich von zwei verschiedenen Schreibmöglichkeiten her. Mit einem solchen Autor beginnt dieses Buch, mit Lars Gustafsson.
Dieses Buch: es kam dadurch zustande, daß das Literarische Colloquium Berlin für den Winter 1966/67 Autoren von Gedichten aus verschiedenen Ländern einlud. Sie nahmen eines ihrer Gedichte zum Beispielfall, zeigten an ihm, in einem Essay, ihren Standpunkt, und lasen weitere neue Gedichte vor. Man sah, man hörte, daß in Ost und West sondiert wird, wie weit Formulierbares trägt; daß in verschiedensten Sprachen Engagement und Zukunftsvorstellung der Poeten vergleichbar sind. Durch die Mitarbeit von Autoren und Übersetzern – die Übersetzer hatten schwierigste Arbeit – und von Verlegern, die ihre Erlaubnis zum Druck gaben, entstand aus diesen Vorlesungen das vorliegende Buch. Die Reihenfolge der Kapitel entspricht der Reihenfolge der Berliner Lyrik-Veranstaltungen.
Lars Gustafsson, der mit „Maschinen“-Gedicht und mit „Maschinen“-Essay die Reihe eröffnete, bekam im Rückblick von einigen Kritikern attestiert, daß er neben Heißenbüttel die kühlste und genaueste Sondierung vornahm. Er wurde von seinem Übersetzer Hans Magnus Enzensberger vorgestellt: 

Auf den Handzetteln, die eine freundliche Direktion hier im Saal verteilt hat, steht, daß Lars Gustafsson ein wichtiger Mann sei. Ich kann diese Auskunft nur bestätigen, Lars Gustafsson dirigiert von winzigen Tischen aus, einem Tisch in Uppsala, einem Tisch in Stockholm, einem Tisch in Dunshamar, einem Tisch in Västerås – von vier winzigen Tischen aus dirigiert er eine große Zeitschrift, einen halben Verlag, und vor allem seine eigene Produktion, die, wer Lust dazu hat, einteilen kann in Abhandlungen, Gedichte, Romane, Essays, Erzählungen, Leitartikel und Rezensionen.
Auch muß er von seinen vier kleinen Tischen aus eine große Menge von Fragen beantworten, die aus ganz Schweden an ihn gerichtet werden. Ganz gleich, ob ein politischer Strafprozeß zur Debatte steht, oder eine alte Moral oder eine neue Ästhetik oder ein Spezialproblem der transfiniten Mathematik – in Schweden fragt man immer, was Lars Gustafsson darüber denkt. Er aber antwortet zögernd, ungern und genau. Doch daß er ein wichtiger Mann ist, das ist an Lars Gustafsson das Unwichtigste.
Zu seinen Lieblingsvokabeln gehört das Wort eigentümlich. Das wundert mich nicht. Dieser Schüler der Akademien aus Oxford und Uppsala, dieser gelehrte Aufklärer, der den mystischen Schwärmer Swedenborg schätzt und den dunklen Romantiker Almkvist liebt, dieser glasklare Nachfolger des undurchsichtigen Strindberg, er stammt aus einer ,eigentümlichen‘ Gegend. Aus der tiefsten Provinz. Dem tiefsten Schweden. Dorther, wo das Land so aussieht, wie es ausgesehen haben mag vor 500 bis 800 Jahren. Nur eine Einhundertkilovolt-Leitung zieht sich durch den Wald und über den See. Gustafsson, ein Mann von kosmopolitischer Bildung, ist zugleich ein Hinterwäldler. In diesem Wald gedeiht die Philosophie, aber nicht auf Holzwegen. Es ist eine Philosophie, die man in Deutschland kaum angefangen hat zur Kenntnis zu nehmen, obgleich sie auch deutsche Ahnen hat, von Leibniz bis zu Frege, eine sehr kühle, sehr rationale, mit einem Wort: die analytische Philosophie. Gustafsson hat – und von wievielen Poeten kann man das schon sagen? – die formale Logik, die Philosophie der Alltagssprache, die strengen Labyrinthe der angelsächsischen Erkenntnistheorie, durchaus studiert. Und wie diese Kenntnis dem Gedicht zu Hilfe kommt, das werden Sie gleich hören. Sie räumt mit alten Geheimnissen auf, sie führt zu einer Deutlichkeit, die ,eigentümlich‘ ist, so eigentümlich, daß im kühlen klaren Spiegel des Gedichts eine seltene Beute erscheint etwas Logisches, das nicht dürr, und etwas Phantastisches das nicht trübe ist. Die logische Phantasie, die phantastische Logik des eigentümlichen Herrn Gustafsson aus Uppsala.

Walter Höllerer

 

 

 

Der Autor, die Sprache des Alltags

und die Sprache des Kalküls 

Hier kamen zu Wort: Autoren mit wissenschaftlich-reflektierenden Methoden, Ekstatiker, Gesellschaftsanalytiker, Anhänger des Mythischen, Techniker der Sätze, Verabsolutierer der Lautmusik, Geschichtskritiker, Autoren der weitreichenden Visionen, der genauen einzelnen Beobachtung, politisch argumentierende Autoren. Was zustande kam, ist es ein Zufallsbild? Solche Eigenarten, insgesamt, ergeben das Spektrum des gegenwärtigen Gedichts.
Die Autoren waren nicht zu katalogisieren nach ihrer nationalen oder ideologischen Herkunft. Woher die Autoren der progressiven Literatur auch kamen: überall hatten sie sich, in ihren Herkunftsbereichen, zunächst gegen Dogmen durchzusetzen. Das ist es, was sie auf Anhieb verband, – und sollten sie wirklich eine weltweite Verbindung finden, wie sie das anstreben, sollten sie sich, und das erscheint schwierig genug, weithin verständlich machen können, dann allerdings wird es kaum eine Zukunft für Dogmen geben.
Haben Sie beobachtet, wie sich Autoren zu ihren Arbeiten äußern? Das hat manches Mühsame, Vorgeschobene, Versteckende. Wortreichtum wird als Barriere verwendet. Dann die Dürre der Sätze, das Abbrechen der Perioden. Die Verbohrtheiten. Die Anläufe. Der rechthaberischste Aussagesatz hat in dem Zusammenhang, in dem er steht, noch den Schatten eines Fragezeichens, – oder er übertreibt die Festlegung so, daß sie einen Anflug von Ironie bekommt.
Dennoch, und gerade deswegen erscheinen mir diese Aussagen von Gewicht. Einer beschreibt etwas, und Sie finden, beobachtend, das Beschriebene im Beschreibenden: schon seine Kleidung, dann seine Gesten gehören zu seinem Zeichensystem, sind ein Teil seines semiologischen Bestands, wie die Formulierungen selber. Seine Begriffe sind nicht zu trennen von dem Gestus, mit dem sie formuliert werden. Und so erscheint, wenn Sie richtig zuhören, etwas überraschenderes und Zutreffenderes vor Ihnen als wieder einmal Vergangenheitssortierung und Zukunftsprognosen.
Sie beobachten die Grenzen der Genauigkeit. Sie sehen einen Beispielfall. Ich greife lieber auf diese Beispiele zurück, auf diese feinmechanischen Demonstrationen von Autoren, die der Selbsttäuschung offen sind, die gleichwohl verbarrikadierte Erkenntnis freilegen, – lieber auf sie, wenn von der Literatur der Gegenwart die Rede ist, als auf Ergebnisse und Vorschriften derer, die die Literatur in Übersichten und Pläne, in ihre Gesamttableaus eingeordnet haben. – Vergleicht man solche Autorpoetiken mit dem, was der Autor schreibend bewältigt, oder nicht bewältigt: so nähert man sich den primären Fragen der gegenwärtigen Literatur. Sie werden im Bewußtsein und im Schreibvorgang der Autoren entschieden.
Bei allen Verschiedenheiten der literarischen Traditionen, der gesellschaftlichen Hintergründe und der individuellen Sensibilität stand ein bezeichnendes Merkmal im Mittelpunkt: Der Autor stößt auf das Faktum, daß die Alltagssprache neben den künstlichen Sprachen des Kalküls gleichberechtigt weiterbesteht, – und daß beide reale Wirkungen und Bedeutungen schaffen.
In der Sprache des Alltags, also in der Umgangssprache und in der informierenden und werbenden Massenmediensprache wird der Ablauf des täglichen Lebens formuliert. Aber nicht weniger ist dieses tägliche Leben von den künstlichen Sprachen, den Formelsprachen des Kalküls beeinflußt und geformt.
Beide Arten von Sprachen sind in ihrem Nebeneinander nur dadurch möglich, daß es für sie gemeinsame Ausgangspunkte gibt; daß es eine Basisstruktur der Sprache gibt, in der die Sprache des Alltags und die Sprache des Kalküls inkorporiert sind. Der Autor versucht, in welcher Muttersprache er auch schreibt, dafür Ausdrücke zu finden. Oft gebraucht er dazu die scheinbar simpelsten Alltagswendungen, die aber im einzelnen Satz, im Nacheinander der Sätze seine kennzeichnende Betroffenheit zeigen. Diese Inkorporation ist mit angestrengten Mitteln schwerer zu fassen als mit weniger starren, weniger verbissenen; wohl deswegen, weil der Zustand der Basisstruktur kein Miteinander und Nebeneinander ist, sondern ein paradoxer Zustand von sich Berührendem und sich Widersprechendem. –
Die Mittel, mit denen der Autor vorgeht, sind jeweils seine Kompositions- und Stilmittel. Er gibt nicht einen Abdruck der wahrnehmbaren Welt, die ihn umgibt, eine in sich beruhigte Milieuschilderung, er kann sich auch nicht mit einer Nachahmung mathematischer Formeln mit Worten oder Buchstaben begnügen, – er sucht, will er nicht ins Zufällige abgleiten, die Welt in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten von Alltagssprache und Kalkül darzustellen. Was er anfaßt, es lenkt seine Aufmerksamkeit, seine Sensibilität in diese Richtung. Er ist an dieser kontradiktorischen Welt beteiligt, reibt sich an ihr, verlängert ihre Perspektiven, mit scheinbarer Unbeteiligtheit, mit Eifer, mit Wut, mit Hoffnung, mit Veränderungswünschen in die Zukunft.
Wenn ich behaupte, daß zur Zeit allein der Autor die Möglichkeit hat, im Schreiben, mit seiner offenen Poetik, den Zusammenhang und den Widerspruch der verschiedenen gegenwärtigen Zeichensysteme sichtbar zu machen, – so hat das seinen Grund in der Beobachtung, daß der Autor nicht, zumindest nie ausschließlich, als Spezialist schreibt. Er wäre falsch beraten, streng wissenschaftliche, spezialisierte Methoden nachzuahmen, das gerade beraubte ihn seiner Möglichkeit. Er findet seine eigenen Methoden, mit Hilfe der Grammatik und notfalls gegen sie. Die Autoren haben dazu, von Jarry bis zu Beckett von Kafka bis Brecht die verschiedensten Wege begangen, und sie begehen auch heute verschiedenste Wege. Sie suchen für einen Fundus von widersprüchlichen Zeichensystemen möglichst zutreffende Zeichen. Hier liegen die Leistungen der modernen Literatur, – nicht in der Wiederholung historischer Konzeptionen, wohl aber in der Auseinandersetzung mit ihnen.
Hier, im Sondieren der Basisstruktur der Sprache, zeigt sich ein wichtiger Ansatzpunkt der Autorpoetiken, – wahrscheinlich einer der wichtigsten für realistisches Schreiben. Denn als realistische Literatur ist doch wohl die Literatur zu bezeichnen die ein Bewußtsein von dem bildet, was eigentlich geschieht, und was geschehen kann. Jedes Detail des hier und jetzt Sichtbaren, Schmeckbaren, des taste and see, erscheint von den Modellen mitgezeichnet, die das Kalkül errichtet hat, die nicht geschmeckt und gesehen werden können. Ein Zwiespalt wird spürbar, der im Schreiben ausgetragen wird. Gerade dieser Zwiespalt ist es, der verschiedene moderne Autoren nachdrücklich auf die Sinne zurücklenkt, ohne daß das unumwundene Vertrauen auf sie zurückkehrt.
Umgekehrt, wenn der Autor von den abstrakt-formelhaften Strukturen des Kalküls ausgeht, so wird er gezwungen, sich ebenfalls mit dem Verhältnis von Alltagsformulierung und Sprache des Kalküls auseinanderzusetzen. Solche Erfahrungen sind z.B. in Gedichten von Gustafsson und Heißenbüttel in Prosastücken von Kurt Schwitters erkannt und ironisch ausgespielt worden. Sie lassen diese Autoren nicht modisch-dogmatisch werden.
Das alles läßt erkennen, daß mit „Basisstruktur der Sprache“ nicht eine gleichbleibende Ursprache gemeint ist, ein mystischer Urgrund der Sprache, der unveränderlich wäre und zu dem allein der Dichter, als Seher, direkten Zugang hätte, – nicht die „Sprache der Engel“ Hamanns. Die Ausgangsmöglichkeiten für die sprachlichen Zeichen verschiedenster Art verändern sich, erweitern sich, verengen sich, – und der Autor stößt, bei seiner Suche nach zutreffendem Ausdruck, jeweils auf die „höchst vertrackte Mischung aus eigenem Handelnwollen und dem Rückgriff auf den vorgebildeten Apparat“ (Rühmkorf). Da die Sprache, die komplizierteste Form des sozialen Verhaltens, eng zusammenhängt mit Moden, Sitten, Riten, bleibt, was hier ausgetragen wird, nicht eine linguistische Auseinandersetzung. – Daß diese Auseinandersetzungen zu Verstößen gegen vordem systematisch Geordnetes führen, ist ein Kennzeichen von Gedichten und Essays dieses Buches. Das beschränkt sich nicht auf die hier vorliegenden Texte. Die Romane Becketts, die deutlich die Probleme Alltagssprache-Sprache des Kalküls zeigen, wurden auf dem Wiener Kritiker-Kongreß, kurz nach den Berliner Lyriker-Veranstaltungen, als asozial bezeichnet, und zwar mit den Worten:

ich spüre hier einen Trieb zum Asozialen, das beunruhigt mich, das kann ich nicht annehmen, ich kann nicht froh darüber sein.

Selten findet man diese Gegenposition sympathischer vorgetragen. Der Opponent ist von Literatur beunruhigt. Er liefert damit den Beweis, daß „asoziale Literatur“ soziale Wirkung haben kann. Wer will diese Wirkung als verwerflich bezeichnen. Fest bezogene Positionen in Frage zu stellen, ist kein inhumaner, sondern ein humaner Akt. Die allzu große Sicherheit des Lesers, und insbesondere eines Lesers, von dem Macht ausgeübt werden kann, ist keine geringere Gefahr als Selbstzweifel.
Die Autoren haben allenthalben Gegenzüge unternommen gegen das „Herumrühren in dem alten Topf“, gegen die Sprache, die in der Hauptsache nur bestätigt. Sie sind nicht durch Vorschriften aufgehalten worden, durch retardierende Programme, weder durch eng gefaßte Realismus-Thesen noch durch Klassizismus-Thesen, und auch nicht dadurch, daß man ihnen einen Begriff überstülpte, gegen den man verärgert ist: den Begriff Avantgardist. Ich kenne keine Autoren, die Wert darauflegen sich mit diesem militärischen Ausdruck zu benennen. – An die Stelle der unzutreffenden Alternative von Begriffen wie Avantgarde und Tradition werden gerne Ersatzbegriffspaare gesetzt, die ebenso ungenügend sind, Literatur zu charakterisieren: Harmonie, die mit Klassik, Chaos, das mit Avantgarde verbunden sein soll; oder soziale Literatur (also Literatur der Ordnung) und asoziale Literatur (also Literatur der Unordnung).
Was die Autoren beisteuerten, lief nicht auf solche Gegenüberstellungen hinaus. Sie zeigten auf eine in den Konturen sichtbare Welt, deren sprachliche, poetische, gesellschaftliche, politische Form mehr und mehr gefunden werden will; hier allerdings gilt am ehesten Gunar Ekelöfs Satz:

Oft sind unsere Gewohnheiten unsere schlimmsten Feinde.

Die neueren Gewohnheiten, wenn sie zu Dogmen werden, zeigen sich da nicht weniger hinderlich als die alten.
Die moderne Literatur entstand und entsteht in der Zone des Widersprüchlichen und Unvereinbarlichen, und damit in Ungelegenheiten. Nach Wosnessenskij: „Sie entsteht dort, wo die Zone des Schmerzes ist, sie ist dort, wo es den Menschen schmerzt, wo es das Volk schmerzt.“ – Schon in den Anfängen der modernen Literatur sind diese Einschnitte vorhanden. „Die Wunde Heine“ hat Th.W. Adorno einen Essay überschrieben. Und was Francis Ponge am gegenwärtigen Autor beobachtet, die „Schamlosigkeit“ im Gebrauch der Sprache, durch die er die Schranken der Begriffe und Formeln durchbricht, die Aufkündigung des Gehorsams gegen die alten Bilder, gegen die euklidische Geometrie, – das liegt ebenfalls in der Zone der Trennungen. Solche Überlegungen provozieren Gegenforderungen, die zur Selbstprüfung anhalten. Der Forderung nach Schamlosigkeit und Rücksichtslosigkeit im Formulieren steht die andere gegenüber, nach Möglichkeit auszukommen mit den vorgegebenen Mitteln, sie nicht leichtfertig zu verlassen, an ihnen zu arbeiten.
Dies alles wird ausgetragen inmitten von Bewußtseinsindustrie, in der zu fragen ist, ob sie nicht das Ende aller möglichen Innovation, die Eliminierung jeden Geheimnisses und damit für den Autor die Folgerung mit sich bringe, das Schreiben aufzugeben und dafür ein Plädoyer über die Unmöglichkeit des Schreibens zu halten. Der Vorschlag liegt nahe. Aber abgesehen davon, daß schon dieses Plädoyer den Ansatz zur Selbstwiderlegung enthielte, – der Autor lebt nicht in reinen Endzuständen. Er sieht sich in unreinen, gemischten Verhältnissen. Er reibt sich an ihnen. Er befindet sich inmitten von Literarischem, das nicht vom festen Kunstwerkbegriff einer geschlossenen Ästhetik her beurteilt werden kann, sondern das vom Kindervers bis zur Werbung reicht. Er ist daran beteiligt. Er kann sich kein Alibi durch reine Idealkonstruktionen oder durch pure Beschränktheit verschaffen.
Er sucht Worte, schreibt Sätze. „Wann sollen wir aufhören? Wann ist eine Unterscheidung genau genug?“ – Es liegt ihm nichts an dem Gebrauch des Worts Avantgarde. Es liegt ihm daran, an Gegenwärtiges ohne gestrige Vorbehalte heranzukommen.

Walter Höllerer, Nachwort

 

Über dieses Buch 

Für den Winter 1966/67 lud das Literarische Colloquium Berlin 21 Autoren aus 11 Staaten ein. Sie nahmen eines ihrer Gedichte zum Beispielfall, zeigten an ihm, in einem Essay, ihren Standpunkt und lasen weitere neue Gedichte vor. Man sah, man hörte, daß in Ost und West sondiert wird, wie weit Formulierbares trägt; daß in verschiedensten Sprachen Engagement und Zukunftsvorstellung der Poeten vergleichbar sind. Durch die Mitarbeit von Autoren, Übersetzern und Verlegern, die ihre Erlaubnis zum Druck gaben, entstand aus diesen Vorlesungen das vorliegende Buch. Die Reihenfolge der Kapitel entspricht der Reihenfolge der Berliner Lyrik-Veranstaltung.
In der dtv-Taschenbuchausgabe wird jeder Lyriker mit einem biographisch-bibliographischen Abriß, einer kurzen Einleitung des Herausgebers und einem Foto vorgestellt. Außerdem wird der Essay des Autors und das Gedicht, das er als Beispiel wählte, veröffentlicht. Ferner enthält der Band einen Aufsatz von Walter Höllerer „Der Autor, die Sprache des Alltags und die Sprache des Kalküls“ sowie Übersetzerbiographien.

Deutscher Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1969

 

Literaturvermittlungskaskaden

Als Berlin vermauert am Tropf hing,
hüpfte er quicklebendig
in die Schwangere Auster
und verkündete lauthals
des Überlebenskünstlers Poesie
saalsprengenden Auftritt.
Er lehrte uns hochstapeln
und tanzen auf einem Seil,
aus Wörtern gezwirnt.

Und sparte nie.
Geld gab er aus, zwölfhändig
War aus Prinzip Verschwender.
Und alle zehrten von ihm:
heillose Dichter, fromme Buchhändlerinnen,
die Stadt, die nicht wußte,
wie ihr geschah
.1

Dass von Höllerer wegweisende Impulse ausgingen und er mit einer neuen Zeit im Bunde war, musste der Gründer und Chef der Gruppe 47 missmutig (an-)erkennen. Mit polemischem Unterton hatte ihn Richter rückblickend als jemanden porträtiert, der sich in die Rolle eines „großen Impresarios“ hineinsteigerte, „indem er literarische Großveranstaltungen managte, die viel besucht, ja, überlaufen waren.“ Zwar gestand er ihm zu, dass er einen großen Anteil daran hatte, Berlin in den 1960er Jahren ein „literarisches Gesicht“ zu geben, Dieses „Gesicht“ entsprach seiner Meinung nach aber nicht ganz der Wirklichkeit, hatte etwas Inszeniertes, Maskenartiges. Überhaupt war Höllerer für ihn ein „Meister der Imitation“, der sich immer in einer unausgesprochenen Distanz zur Gruppe bewegte.2
Die Konkurrenzsituation ist hier nicht zu übersehen: Denn um 1964 wollte Richter selbst mit seinem „Salon“ und seinen mit der SPD Willy Brandts sympathisierenden politisch-literarischen Gesprächsrunden, die zeitversetzt im Rundfunk ausgestrahlt wurden, das literarische Profil Berlins prägen.3 Die Wohnung im Samuel-Fischer-Haus in Charlottenburg, in der Richter und seine Frau wohnten, war vom LCB angemietet und tatsächlich war es Höllerer mit seinen Veranstaltungen und institutionellen Neugründungen, der das literarische Gesicht Berlins in dieser Zeit prägte. Von dem neuen literarischen Stadt-Profil gingen Impulse aus, die noch zum Tragen kamen, als nach der Wende Berlin nicht nur eine deutsche, sondern auch international eine literarische Hauptstadt wurde.
Für die persönliche Konkurrenz, die in polemischen Bemerkungen Richters zu Höllerers Veranstaltungen zum Ausdruck kam, gab es übergeordnete Gründe. Denn die Zeit der auf persönliche Verbindungen beruhenden Gruppengemeinschaft, in deren Zentrum eine dirigierende Person stand, ging vorbei. An ihre Stelle traten eigendynamische Verbindungen: später sogenannte Netzwerke, die Personen nicht nur untereinander, sondern immer mehr mit Institutionen und Öffentlichkeiten verbanden, wie sie heutzutage den Gegenwartsliteraturbetrieb in geradezu exzessiver Weise prägen. Höllerer war ein Netzwerker avant la lettre4 – einer, der selbst noch aus der personenbezogenen Gemeinschaft kam, aber über ihre Grenzen hinausstrebte. Die Zeit der in die ,breite Gegenwart‘ gehenden komplexen, medialisierten und ökonomisierten Vernetzungen und Öffentlichkeitsstrukturen war angebrochen. Höllerers neue Literaturvermittlungsformen koinzidierten mit der Dynamik einer sich formierenden projektorientierten Netzwerk-Gesellschaft. Sie gaben ihr wichtige Impulse, fanden aber hier auch ihre Grenzen.
Tatsächlich war Höllerer zunächst ein integrales Mitglied der Gruppe 47. In diesem Kreis wurde er aber vor allem als Literaturkritiker und immer weniger als Belletrist wahrgenommen; umgekehrt war er in der Gruppen-Mentalität nie völlig aufgegangen. Von einer modernen literarischen Kommunikation hatte er eine andere Vorstellung als das sich um den „elektrischen Stuhl“ drehende Diskurs-Modell der Gruppe 47. Er strebte einerseits nach kleineren Gesprächsgruppen und andererseits nach größeren, technisch erweiterten Wirkkreisen. Daher entwickelte er in den 1960er Jahren unermüdlich neue Literaturveranstaltungen, die sich – einem Springbrunnen gleich – kaskadenhaft von einem Wirkkreis zum nächsten erweiterten, bis die um ihn als großen „Impressario“ organisierten ,konzentrischen Expansionen‘ im Zuge der 1968er Politisierung ihre Grenzen erfuhren und die Dynamik von der allgemein zunehmenden Medialisierung, Eventisierung und Festivalisierung der Kultur übernommen wurde.
Höllerers erweiterter Literaturbegriff zeigte sich in der Programmatik des LCB am deutlichsten. Das LCB verfolgte eine dynamisch-offene kommunikative Zielsetzung, bei der es darum ging, den „Meinungsaustausch zwischen Schriftstellern, Künstlern etc. zu fördern; […] neue Möglichkeiten der Verbindung der Literatur mit den Massenmedien zu erproben; durch Diskussionen und Publikationen das literarische Leben in Berlin anzuregen und Kontakte zu in- und ausländischen Autoren und Institutionen herzustellen.“5 Damit wollte das LCB grundsätzlich etwas anderes sein als die Gruppe 47. Denn der um einen „elektrischen Stuhl“ herum organisierte kritische Diskurs der Gruppe 47 zeigte im inner circle deutlich einen autoritären Charakter.
Höllerer, der als Kritikerinstanz mittendrin und maßgeblich am Diskurs beteiligt war, empfand ein zunehmendes Unbehagen an dieser Art der Auseinandersetzung mit und über Literatur. Seine differenzierte, philologisch geschulte und an der literarischen Moderne orientierte, aber auch poetologisch vereinnahmende literarische Kritik hatte letztlich das Nachsehen gegenüber einer am Stoff orientierten, professionalisierten Literaturkritik, die zunehmend das Kriterium „langweilig“ – „nicht langweilig“ geltend machte. Entgegen einer sich im Feuilleton zunehmend etablierenden „Literaturkritik“, für die der Werdegang Marcel Reich-Ranickis exemplarisch war, hatte Höllerer andere Vorstellungen von einer „literarischen Kritik“ in Deutschland. Ihre Grundzüge formulierte er programmatisch in einer Rede, die anschließend in der von ihm neu gegründeten Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter gedruckt wurde.6 Die Rede zur Neubestimmung der literarischen Kritik ist in ihrem Entstehungskontext selbst Ausdruck der neuen dynamischen, netzwerkartigen Veranstaltungskaskaden, die Höllerer anstrebte. Sie bildete, zusammen mit einer weiteren kleinen Vortragsreihe über das deutsche Buch- und Verlagswesen (mit Vorträgen über das Taschenbuch, die Buchgemeinschaften und über den Antiquariatsbuchhandel) den Abschluss der ersten großen Veranstaltungsreihe Literatur im technischen Zeitalter im Wintersemester 1960/61 an der Technischen Universität Berlin.
Bereits der Titel verweist auf das Anliegen, den Begriff der „Literaturkritik“ mit ihrer festgefügten Diskursordnung wieder auf einen offenen Lektüreprozess einer „literarischen Kritik“ in Auseinandersetzung mit dem Text zurückzuführen. Die Rede beginnt mit einer, vielleicht noch im Echo-Raum der Frankfurter Zeit mit Adorno stehenden, Aufwertung der Kritik, die das Lesen und alle damit zusammenhängenden Auswahlentscheidungen begleiten sollte:

Meine Damen und Herren, wer beim Lesen Kritik unterläßt oder unterbindet, der ißt eine ungesalzene Suppe. Kritik stand am Anfang dieser Leserreihe [sic!], Kritik bei der Auswahl der Autoren, Kritik bei der Auswahl der Themen. Kritik hat die Veranstaltungsreihe begleitet, und einige Ausführungen über Kritik sollen sie beschließen.7

Höllerer reagierte hier auf eine zeitgenössische Debatte über die Rolle der professionellen Kritik in Zeitungen und Zeitschriften. Dagegen wollte er die „literarische Kritik“ im Sinne des englischen Begriffs der controverse verstanden wissen, also nicht im Sinne von Recht haben, Streit, Polemik oder Kränkung, sondern als produktive Abgrenzung verschiedener Standpunkte, als Kunst, eine „entgegengesetzte Auffassung“ zum Ausdruck zu bringen. Im Lichte dieses geradezu aufklärerischen Kritikbegriffs, der das Zentrum einer literarischen Öffentlichkeit bilden sollte, schrieb Höllerer den damaligen wie auch noch den heutigen Literaturkritikern ins Stammbuch, dass „ein beleidigter Kritiker etwas völlig Absurdes ist, eine contradictio in adjecto.8
Es ist bemerkenswert, dass Höllerer, der neben Walter Jens, Joachim Kaiser, Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki zur ersten Riege der sich im Kontext der Gruppe 47 etablierenden ,Großkritiker‘ Westdeutschlands zählte, Anfang der 1960er Jahre feststellte, dass sich die literarische Kritik in Deutschland in einer „Sackgasse“ befinde. Dabei war sein Maßstab wiederum international, denn in seinen Augen hing die Misere damit zusammen, „daß ein großes sachgerechtes oder auch impulsiv geleitetes kritisches Besprechungsforum im Stil von Times Literary Supplement in Deutschland fehlt.“ Dagegen bliebe die Kritik in den deutschen großen Zeitungen und Wochenschriften beliebig. Belanglose Erscheinungen würden mit „raffiniertester Akribie“ gewürdigt, während „höchst belangvolle Erscheinungen“ (er denkt zum Beispiel an die Lyrikbücher von Hans Arp) „mit einigen ironischen Nebensätzen“ abgetan würden.9 Sein Fazit ist deutlich:

Die Kritik in Deutschland hat sich weitgehend als nicht fähig erwiesen, die deutschen Bücher zu erkennen, die im internationalen Wettbewerb eine Rolle spielen könnten. […] Diese Kritik hat einen Ballast von Mittelmäßigkeit, vor allem reputierlicher alter Mittelmäßigkeit – fehleingeschätzter neuer, von Jahr zu Jahr weitergeschleppt.10

Fünf Kritiker-Typen führten die literarische Kritik in Deutschland in die „Sackgasse“: der „Schade, daß-Typ“, der vom Idealtypus des abgeschlossenen Werks und nicht von Literatur als Schreibprozess ausgeht; der „Darüber-hinaus-Typ“, der auf das Transzendente des „Dahinterstehenden“, statt auf den vorliegenden Text als Material selbst zielt; der „Wie-wir-gezeigt-haben-Typus“, der den Text nach dem Maßstab eines an ihn von außen herangetragenen Schemas von Leitwissenschaften misst (damals vor allem der Soziologie, der Psychoanalyse oder des Existenzialismus). Dieser Kritiker-Typ vermischt sich mit den letzten beiden „Sackgassen“-Typen: dem „Echte-Anliegen-Typ“ und dem „Ich-gebe-mit-auf-den-Weg-Typ“.
Höllerers Kritik der Literaturkritik endet mit einem Mallarmé-Zitat, das nochmals die Nähe eines als offenen Schreibprozess verstandenen Literaturbegriffs zu einem neu zu denkenden und zu praktizierenden Kritikbegriff betont: Literarische Kritik solle ein sinnloses, aber ernstes Spiel des Schreibens sein, eine „Anmaßung, auf Grund eines Zweifels, auf Grund einer Pflicht alles neu zu erschaffen, in einigen Erinnerungen, um zu zeigen, daß man wirklich da ist, wo man sein muß.“ Da das Zeitalter der Objektivität und der normativen Poetik vorbei war, sei alles, sowohl die Literatur als auch die literarische Kritik, tatsächlich nur ein „Betrug“.11 Hier kündigte sich bereits ein Moment der ,neuen Beliebigkeit‘ an, das später zum negativen Kennzeichen der sogenannten „Postmoderne“ wurde. Das Spielerische-Offene der Literatur, für das Höllerer eintrat, war aufs engste mit ihrer Medialisierung verbunden: Der offene Literaturbegriff, sein Präsenz- und Prozess-Charakter, hängt in der „klassischen“, mehr noch aber in der „zweiten“ Moderne seit Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute mit einer Vermittlung, mit dem Dazwischenschalten von technischen Vermittlungsinstanzen wie auch von Kulturvermittlern, ihren Institutionen und Netzwerken zusammen. Andererseits ist diese Medialisierung eng mit einer Ökonomisierung der literarischen Öffentlichkeit verbunden, die für die Literaturkritik konkrete Folgen hat. Denn das Fehlen einer guten literarischen Kritik, die für Höllerer nicht zuletzt auf das Fehlen einer guten Textkritik zurückging, führte dazu, wie er hellsichtig erkannte, „daß nun die Buchhändler selbst zu Kritikern werden und im schönen Drang, dem Kunden zu helfen oder seine Seele zu retten, oft das aussondern, was ihnen verdächtig erscheint.“12
Der Versuch einer qualitativen ,Rettung‘ der literarischen Kritik angesichts ihrer Medialisierung und Ökonomisierung hin zu einer Dienstleistung verweist auf den Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit, den Habermas im gleichen Jahr, 1962, in seiner berühmten Studie darlegte. Die Ursachen für die Krise der literarischen Öffentlichkeit sah Habermas aber weniger in Kritiker-Typen als in einem Strukturwandel auf mehreren Ebenen: die „tendenzielle Verschränkung der öffentlichen Sphäre mit dem privaten Bereich“, die „Polarisierung von Sozial- und Intimsphäre“, der Wandel „vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“ und allgemein die „Entwicklungslinien des Zerfalls bürgerlicher Öffentlichkeit.“13 Wenn aber Habermas den Strukturwandel der Öffentlichkeit seit der Aufklärung deutlich kritisch als einen Zerfall ansah, verstand ihn Höllerer als Chance, als Möglichkeit, neue Wege der Literaturvermittlung einzuschlagen. Grundlage hierfür bildeten sein neuer Lehrstuhl an der Technischen Universität (ab 1959), die Gründung der neuen Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter (1961), schließlich die Eröffnung des Literarischen Colloquium Berlin (1963).
Höllerer, der noch bis 1967 zusammen mit Bender die Akzente herausgab, verstand seine neu gegründete Zeitschrift als Ergänzung zu den Akzenten. Eng gekoppelt an seinen Lehrstuhl an der Technischen Universität Berlin, wo Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer in seine Lehrveranstaltungen kamen, konnte er hier die Anbindung der Literatur wie auch der Literaturwissenschaft an neueste wissenschaftliche Diskurse in einer Art und Weise umsetzen, wie sie in diesem Umfang in den verlagsgebundenen Akzenten nicht möglich war. Zugleich war die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter näher an gesellschaftspolitischen Zeitthemen orientiert. So beginnt das von Höllerer verfasste Programm der Zeitschrift mit einer Bezugnahme auf den Bau der Berliner Mauer, durch den sich „der Plan dieser Zeitschrift noch bestätigt und gefestigt habe.“14 Jedoch – und dies wird im weiteren Wortlaut des Programms der ersten Ausgabe deutlich – werden alle gesellschaftlichen und politischen Bezüge vorrangig in ihrer sprachlichen Form thematisiert. Sprache sei vor allem „technisch“ in ihrem Wortlaut zu analysieren, da sich hier ihre Wahrheit offenbare:

Was und wie die Sprache spricht, kann sie auf die Dauer nicht verbergen; sie ist verräterisch; sie hat einzustehen für ihren Wortlaut. Was sie nicht bewältigt, ist nicht bewältigt und bleibt im unbestimmten Dämmern der Wunschbilder und Voreingenommenheiten.15

Die programmatische Ausrichtung der neuen Zeitschrift stand positionell zwischen einer ,entideologisierten‘ Ideologiekritik der neuen Linken, die an vergleichbare Studien Enzensbergers zur Sprache der „Bewusstseinsindustrie“ erinnert,16 und einer angewandten erweiterten Diskursanalyse, wie sie sich mit Michel Foucault und Roland Barthes in Frankreich ankündigte und später mit Jürgen Links Zeitschrift KultuRRevolution explizit verfolgt wurde.17 Höllerers insbesondere am amerikanischen Linguisten Benjamin Lee Whorf und an den in Ostberlin lehrenden Sprachwissenschaftler Manfred Bierwisch orientierte Sprachpraxis-Kritik war gleichermaßen sprach-, literatur- und – avant la lettre – medienwissenschaftlich ausgerichtet. Für die Zeitschrift charakteristisch wurde die Verbindung des Erstdrucks von literarischen Texten mit theoretischen und literaturwissenschaftlichen Beiträgen, Essays und Interviews. Der enge Zusammenhang zwischen Text und Kritik, den Höllerer verfolgte, hat sich also in der Zeitschriftenkonzeption niedergeschlagen. Nicht zuletzt kam hierin auch der konzeptuell enge Zusammenhang mit dem zwei Jahre später begründeten Literarischen Colloquium Berlin zum Ausdruck.
Das LCB wollte etwas grundsätzlich anderes sein als die Gruppe 47. Es wollte das literarische Gespräch von den autoritären Verhältnissen, vom ,rauhen‘, ,scharfen‘ und ,knappen‘ Ton der Kritik, wie Richter das erste Treffen 1947 am Bannwald charakterisierte,18 zu einer neuen dialogischen Kommunikationsform führen:

Das Literarische Colloquium Berlin versucht die Grenzen zwischen Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft, die in Deutschland unverhältnismäßig hoch gezogen worden sind, durchlässig zu machen. Es bringt, um dieses Ziel zu erreichen, jüngere, am Anfang stehende Schriftsteller und erfahrene Autoren zusammen, seien es nun Romanciers, Dramatiker, Lyriker, Universitätsprofessoren, kritische Publizisten, fördert das Zusammenspiel von Literatur und Theater, Autor und Film, Fernsehspiel, die Nachbarschaft von Kritik und moderner Sprachwissenschaft und hat sich einer Gattung besonders angenommen: des literarischen Essays.19

Allgemein zeigte sich bereits in Höllerers Literaturvermittlungskaskaden ein Reihen- und Vernetzungsprinzip, das er mit dem ,Laboratorium‘ des LCB weiterverfolgte und heutzutage – in gewandelter Form und Dynamik – für den Literaturbetrieb wie auch für die Literatur- und Kulturwissenschaften, die sich immer mehr mit dem Literaturbetrieb verflechten, charakteristisch ist. Maßgeblich war die frühe programmatische Einbindung aller Medien – Hörspiel, Film, Theater, Fernsehen und die jeweilige technische „Apparatur“ – und der damit einhergehende Diskurswandel, der für eine neue Gesprächskultur im Sinne der anglo-amerikanischen Tradition der controverse eintrat.
Die neue Qualität des medialisierten literarischen Diskurses stellte eine technisch und in die präsentische Breite erweiterte Salonkultur dar, in der die verschiedenen gesellschaftlichen Diskurse zusammentrafen. Exemplarisch hierfür war die in Verbindung mit der TU Berlin organisierte internationale Lesereihe Literatur im technischen Zeitalter im Wintersemester 1961/62, die aus der Kongresshalle spät abends vom Fernsehen aufgezeichnet und dann am nächsten Sonntagvormittag ausgestrahlt wurde.
Statt Celan eröffnete Bachmann die internationale Lesereihe. Sie war das große gesellschaftliche Ereignis in einem Jahr, in dem Berlin geteilt wurde und politisch im Fokus der Weltöffentlichkeit stand.20 Wegen des zu erwartenden Andrangs fand die neue Lesereihe nicht mehr im Hörsaal 3010 der TU Berlin, sondern im großen, 1.200 Besucher fassenden Saal der Kongresshalle statt, also genau an jenem Ort, wo später – 1989 – das Haus der Kulturen der Welt eröffnet wurde. Hier war auch der Ort, wo zunehmend ein nicht-europäischer und nicht-kanonischer Weltliteratur-Begriff verfolgt wurde. Der seit 2009 jährlich vergebene Internationale Literaturpreis steht für diesen neuen Begriff der „Literaturen der Welt“.
Die Kongresshalle West-Berlins, die zu Zeiten des Kalten Kriegs eine kulturpolitische Funktion hatte, war der richtige Ort für die multimediale ,Intonation‘ neuer Autoren-Stimmen. Im Grunde handelte es sich um einen erweiterten ,Hörsaal‘: im konkreten Sinne des großen Hörsaals der Technischen Universität als akademisch legitimierter Diskursraum, der hier seine mediale Expansion erfuhr. Die mediale Öffnung des einst exklusiven ,Salons‘, in dem die ersten Treffen der Gruppe 47 stattfanden, hin zu einer allgemeinen, politisch-literarisch bestimmten Öffentlichkeit zielte auf ein medial erweitertes, sowohl studentisches und akademisches als auch bildungsbürgerliches Publikum. Auch der engere Kreis der Literaturkritiker in der Gruppe 47 wurde durch eine deutschlandweite Berichterstattung in Zeitungen und Fernsehen gesprengt. So hatten die Fernsehübertragungen der Lesereihen aus der Kongresshalle eine nicht zu unterschätzende nationale und internationale Wirkung, die eine eigene, über die Akteure hinausgehende Diskursdynamik erzeugte.
Höllerers einführende Präsentation der Autoren und anschließende Moderation ihrer Lesung markierten den Beginn eines neuen Kommunikationsmodells der „moderierten Lesung“.21 Für diesen neuen Lesungs-Typ spielte die mediale Erweiterung des Hörsaals eine zentrale Rolle, aber auch ihre Rahmung durch die Reste einer universitären Legitimationssphäre. Dass er dabei die präsentierten Autoren und auch sich selbst einer medialen Apparatur aussetzte, darüber war sich Höllerer im Klaren, wie seiner Einführungsrede zu entnehmen ist:

Die Worte der Autoren sind in diesem Saal, wie Sie sehen, einem beträchtlichen äußeren Aufwand ausgeliefert. Sogar die Gesichter der Autoren sind dieser Apparatur ausgesetzt. Sie werden beide, Worte und Gesichter, sich dieses Aufwandes erwehren müssen und sich durchzusetzen bemühen, jedes auf seine Art: Durch die Art des Schutzes vielleicht, den sie um sich herumziehen, und der doch immer verbunden bleibt mit dem, woraus sie lebendig sind, der die verborgenen Antriebe nie ganz leugnen kann. Oder durch die Art der Selbstpreisgabe, mit der sie sich des Schutzes entblößen.22

Die Maske Molières musste auch auf dem Weg der Medialisierung voranschreiten: Sie nahm die Form der Selbstinszenierung eines Autor-Images an. Allerdings stand bei Höllerer noch nicht das Spektakel als Selbstzweck im Vordergrund. Denn den televisuell erweiterten Hörsaal, der das Prinzip des „elektrischen Stuhls“ der Gruppe 47 in eine mediale ,Selbstpreisgabe‘ verwandelte, wollte Höllerer als eine Art neue ,Agora‘ verstanden wissen: Literatur im technischen Zeitalter und ihre Kritik sollten nicht mehr in einem geschlossenen Raum privilegierter Teilnehmer, sondern auf einem medial erweiterten demokratischen ,Marktplatz‘ der Stimmen erfolgen, denn „in diesem Saal werden in den nächsten vier Monaten die unterschiedlichsten entschiedenen Worte in den verschiedensten Sprachen zu hören sein, Worte, die von entgegengesetzt argumentierenden Personen erdacht worden sind und gesprochen werden. […] Daß sich hier ein Forum aus Gegensätzen bildet, und nicht ein eingegrenztes, uniformes Forum, gehört zu unserer Auffassung von Realität und von Durchdringung der Realität.“23
Hier hallt das angloamerikanische Vorbild der kritischen Kontroverse und vielleicht auch noch die Erfahrung der Re-Education in amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach. In einem Positionspapier zur „Literatur in der Konsumgesellschaft“, das er im Zusammenhang mit der Film-Reihe Das literarische Profil europäischer Großstädte Ende der 1960er Jahre formulierte, plädierte Höllerer für die Einführung eines neuen „Inter-Aktions-Modell[s] von Autor und Rezipienten.24 Der Sprachmarkt sollte zum Ort eines kommunikativen Experiments werden, das bereits auf eine Rezeptionsästhetik zielte, in der die museale Ausstellung des Dichters und seines Werks durch ein neues ,Hören und Sehen‘ der Literatur ersetzt wird.25 Das mit seinen vom Fernsehen übertragenen Lesereihen angestrebte Modell einer kritischen literarischen Öffentlichkeit war allerdings mit dem durch seine akademische Stellung legitimierten Anspruch verbunden, das diskursive Marktgeschehen moderierend zu lenken. Genau an diesem Punkt erfuhr aber Höllerer auch die Grenzen seines Kommunikationsmodells.
Im Unterschied zu seiner Rolle als akademisch legitimierter, selbstsicherer ,Dirigent‘ stellte Ingeborg Bachmanns Lesung – genauer: ihre körperliche Präsenz und ihre textvorführende Performanz – auf dem in der Kongresshalle und durch die Fernsehübertragung erweiterten Markt der literarischen Stimmen ein Angebot dar, das für das Publikum, gerade indem es sich als fragile und verneinte Stimme einer Dichterin präsentierte, attraktiv war. Die historische Fernsehaufnahme zeigt die Körperlichkeit einer Frau, die sich für ihren Auftritt als Autorin mit Verlegenheit zu entschuldigen scheint. Bachmanns Körpersprache mit ihrem gesenkten, in sich gekehrten Blick verweist auf die Ikonografie der allein durch die Kraft ihrer Worte gerechtfertigten Prophetin Kassandra. Auch ihre Artikulation ist die einer Prophetin: der ,brennende Geist‘, die Disziplinierung der Affekte und die Verneinung der eigenen, konkreten Person in der Kundgabe einer Höheren (poetisch-existenziellen) Wahrheit verbinden sich hier. Sprachsoziologisch lässt sich in Bachmanns Auftritt die Bildung eines Kompromisses erkennen: eines Kompromisses zwischen einerseits einem ,weiblichen‘ Pendant zu Celans stimmhaften Deklamationsstil und andererseits einem von der ,nüchternen‘ Sprachordnung der Gruppe 47 akzeptierten disziplinierten Körper als bloßes Verlautbarungsorgan eines schriftlich fixierten literarischen Textes. Diese Kompromissbildung in der Vortragssituation des transformierten Hörsaals scheint aber nur im performativen Verlauf des Ereignisses zu funktionieren, wie sich aus Bachmanns Körpersprache am Ende der Lesung während des Schlussapplauses als punctum der Aufnahme erkennen lässt: Bachmann wechselt irritierte Blicke mit Höllerer, den sie mit diesen Blicken zu fragen scheint, was man denn jetzt machen solle. Sobald die ,Vorlesungsszene‘, die mündliche Inszenierung des schriftlichen Textes vorbei war, zeigte Bachmanns körperliche Präsenz, wie sehr sie sich auf der Bühne der großen Kongresshalle fehl am Platz fühlte.26 Dass sich ihre mündliche, sich der voyeuristischen Kamera-Apparatur ausliefernde Vortragsart konstitutiv auf Schriftlichkeit und damit auf einen legitimierten Werk-Charakter stützte, zeigte sich in der dem Gedicht-Vortrag folgenden Lesung eines Prosa-Textes. Denn in der Erzählung „Undine lebt“, die kurz darauf auch als Hörfunkaufnahme des Bayerischen Rundfunks ausgestrahlt wurde, geht es wiederum um das Problem weiblicher poetischer Artikulation in Räumen männlicher symbolischer Herrschaft. Mit dieser Erzählung hatte die Autorin das Ende ihrer Poesie und den Übergang in eine feministisch ausgerichtete Prosa eingeleitet und performativ vorgeführt.27
Bachmanns Lesung in der Berliner Kongresshalle lässt sich als Verneinung von und zugleich als Streben nach einer im medial erweiterten Hörsaal verkörperten und vorgeführten literarischen Stimme begreifen. In einem kurz danach, im Dezember 1961 geschriebenen Brief an Höllerer unterschied Bachmann ein „Primärleben“ des Dichtens und ein „Sekundärleben“ des literarischen Betriebs.28 Sie war sich über die wachsende Bedeutung des „Sekundärlebens“, über die Bedingungen der Möglichkeiten, auf einem zunehmend medialisierten und ökonomisierten literarischen Markt eine erkennbare Stimme zu repräsentieren und gegen die ,Apparatur‘ zu behaupten, im Klaren. Bereits in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung von 1959 über „Fragen zeitgenössischer Dichtung“ lehnte sie den Vorrang der Poetik über die Poesie ab. Damit war aber indirekt auch Höllerers Anspruch auf Moderation und poetologische Einordnung der poetischen Stimmen infrage gestellt. Zugleich hatte Bachmann schon früh in der medialisierten literarischen Öffentlichkeit Erfolg. Er beruhte nicht zuletzt darauf, dass sie durchaus den ,sekundären Diskurs‘ des entstehenden Literaturbetriebs bedienen und ihn in ihrer Autorschaft als eine distanznehmende Reflexionsbewegung einbinden konnte. Hierin, in ihrer poetischen Lesung, die ihre den Literaturbetrieb verneinende Poetik implizit vollzog, war sie Höllerer überlegen. Als „Impressario“ hatte er dagegen Erfolg im „sekundären Leben“ der Literaturvermittlung, aber er lief Gefahr, als literarischer Autor immer weniger wahrgenommen und anerkannt zu werden. Mit seinem ,Anti-Pathos‘-Ideal, das Höllerer mit dem konstituierenden Selbstverständnis der Gruppe 47 teilte und das mit dem Gebot der wissenschaftlichen Distanz kompatibel war, unterschätzte er die Eigendynamik der inszenierten Autorpräsenz und Performanz auf der erweiterten, medialisierten Bühne.29
Die von Höllerer organisierten und moderierten Autorlesereihen standen für einen Übergang vom eingeschränkten Sprachmarkt der Tagungen der Gruppe 47 hin zu den Ökonomien großer, massenmedial vermittelter Veranstaltungen und ihrer Interdiskurse, die den Beginn einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) markierten. Als Ordinarius konnte er noch die „legitimierte Legitimationssphäre“ (Pierre Bourdieu) der Universität auf die nicht nur hörbare, sondern nun auch sichtbare körperliche Anwesenheit der Autoren in einem technisch und diskursiv erweiterten Kommunikationsmarkt übertragen. In eben dieser Form der körperlichen Autorpräsenz erfuhr er aber auch die Grenzen der „moderierten Autorenlesung“ und seiner akademischen Perspektivierung: so erstmals gegenüber dem ,Naturereignis‘ Heimito von Doderer, denn „[i]n der Fernsehaufzeichnung wird Doderer während des kurzen Eingangsgespräches mit Höllerer immer größer, sein Körper scheint durch ausladende, wuchtige Bewegungen den Raum immer mehr auszufüllen, während Höllerer daneben immer kleiner und geduckter wirkt.“30 Schließlich drohte von Doderers ,männlich-selbstbewusster‘ Sprechfluss die Sendezeit des Fernsehens, also das neue Ordnungsregime des erweiterten Kommunikationsraums, zu dem später – mit Einführung des Privatfernsehens – noch die Quote kommen wird, zu sprengen. Deshalb ließ der Regisseur des SFB kurz vor Schluss der Veranstaltung Höllerer einen Zettel zuspielen:

An Herrn Prof. Höllerer. Wir dürfen 19.35 nicht überziehen. Bitte Herrn v. Doderer daran hindern, nach Herrn Dr. Jaggberg nochmals das Wort zu ergreifen.31

Die zunehmende Interaktion der Autorenstimmen in einer erweiterten literarischen Öffentlichkeit einerseits, der wachsende Anteil technischer Vermittlung und professionalisierter Vermittler des ,Sprechaktes‘ andererseits: Beides sprengte das Bestreben nach akademisch-poetologischer Moderation und Aufmerksamkeitslenkung. Exemplarisch zeigte sich diese ,Übernahme‘ der moderierten Autorenlesung im Verlauf der Lesung der von Lawrence Ferlinghetti, dem Gründer der City Lights Books aus San Francisco und Hauptvertreter der amerikanischen Beatlyrik, und Andrej Wosnessenskij aus Moskau. Mit ihnen auf der Bühne waren die Übersetzer Heiner Bastian und Alexander Kaempfe.
Diese Ost-West-Lesung stellte einen Höhepunkt in der Reihe Ein Gedicht und sein Autor dar, die Höllerer im Winter 1966/67 in der Akademie der Künste veranstaltete.32 Der Literaturprofessor führte noch ausführlich in die Lesungen ein, indem er beide Autoren aus Ost und West im Prinzip des „Nomadischen“ verbunden sah: jener herumschweifenden Bewegungsdynamik, die sich in den nachfolgenden Gegenwartsliteraturen zu einer fast schon obligatorischen mobilen Existenzweise des Autors im globalisierten Literaturbetrieb entwickeln sollte. Höllerer, der die Dynamik der Kontakte, Begegnungen und Festwochen durchaus anstrebte, gedachte sie durch Ateliers, Werkstätten und Residenz-Programme auszugleichen. Seine Einführung, die er mit einem tiefen Einatmen und einer Körpergeste der Erleichterung beendete, konnte die sich anschließende Lesung von Ferlinghetti und Wosnessenskij nicht mehr an seine Moderation ,rückbinden‘.
Vor dem Hintergrund der politischen Situation der erstarrten Ost-West-Blöcke entfaltete die Lesung eine performative Eigendynamik. Das ,Ausblenden‘ der zentralen Position des Moderators hing nicht zuletzt mit der Kameratechnik, der Körperpräsenz und der Emanzipation der Stimmen-Aufführung auf der Bühne zusammen. Für den Fernsehzuschauer übernahm nun die Großaufnahme von Gesicht und Körper des Sprechers die Moderation des Bühnengeschehens. Zusätzlich erhielten die Autorenstimmen durch die beiden Übersetzer einen jeweils zweiten Stimmkörper und Interpreten. Das Publikum in der Kongresshalle wusste in dieser Zeit noch nicht recht, wie es die künstlerische Leistung der performenden Übersetzer bewerten sollte. Es war sich noch nicht sicher, ob es sich um einen legitimen Artikulationsstil der nichtakademischen Literaturvermittler in Anwesenheit der Autoren handelte. Daher applaudierte es den Übersetzern zunächst nur zögerlich. Am Ende war aber klar, dass die fließend zwischen drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Russisch) wechselnde, dialogische Lesung ein performatives Stimmereignis darstellte, das für sich sprach und keiner externen Moderation mehr bedurfte.
Eine besondere Wirkung erzielte dabei Wosnessenskij, der durch seinen 1963 in der edition suhrkamp erschienenen Band Dreieckige Birne. Dreißig lyrische Abschweifungen in der Übersetzung von Eckhart Schmidt und Alexander Kaempfe schon einigen westdeutschen Lesern bekannt geworden war. Im Nachwort betonte Kaempfe, dass Wosnessenskij einerseits den Ost-West-Gegensatz überbrücke und er zu einer internationalen Beatnik-Bewegung zu zählen sei. Denn 1961 reiste er durch die USA und die hier gemachten Erfahrungen regten ihn zu seinen Gedichten an. So verdankt sich der Titel des Gedichtbandes der Glühbirnen-Form in den U-Bahn-Schächten von New York. Der im Buch Ein Gedicht und sein Autor schriftlich wiedergegebene poetologische Selbstkommentar Wosnessenskijs zur Frage nach dem gegenwärtigen Standort der Poesie und ihrer Wirkmöglichkeit dürfte Höllerer in seiner Behauptung einer internationalen modernen Autorpoetik bestätigt haben:

Wahrscheinlich ist Poesie in unserem Zeitalter das, was dem Standard, dem Fließband entgegensteht und was der menschlichen Seele in dieser Hinsicht ein Gegengewicht zu bieten vermag.33

Dagegen unterschied Kaempfe im Nachwort des Gedichtbands von Wosnessenskij wiederum die poetischen Traditionslinien: Während die lyrische Modernisierung im Westen eine ,Entklanglichung‘ im Namen des freien Rhythmus bedeute, stehe sie allgemein im Osten und konkret bei Wosnessenskij, der ein Erbe von Pasternak und Majakowskij sei, für eine „Verklanglichung“, die an versinternen Reimen, etwa durch Assonanzen, festhalte.34
Ü
ber diese russische Moderne-Linie des Klangs, der Akzentsetzung und der Reimbindung, die mit der westlichen Beatnik-Bewegung kompatibel, aber nicht identisch war, konnte Wosnessenskij das Publikum direkt ansprechen, zunächst noch mit Hilfe seines Übersetzers auf Deutsch:

Ich möchte einige Worte vorausschicken. Ich glaube, im Vers ist die Musik die Hauptsache. Die Musik bringt sowohl das Gefühl wie den Gedanken an den Leser. Deshalb möchte ich hier in diesem Fall keine deutsche Übersetzung vorstellen. Ich möchte, dass Sie diese Gedichte ohne Übersetzung hören. Ich möchte, dass die Musik den Schrei des Krieges, den Schrei der Tragödie zu Ihnen bringt, das Baumeln der Gehenkten.35

Sein anschließender Vortrag des Gedichts „Goya“ auf Russisch kommunizierte also ohne Moderation und ohne Übersetzung, allein durch Rhythmus, Klang und Körpersprache mit dem Publikum im Saal und vor dem Fernseher, das wohl größtenteils nicht Russisch sprach. Hier zeichnete sich eine Tendenz ab, die die weitere Entwicklung des literarischen Feldes prägen wird: Nicht nur die mediale Präsenz der Autorenstimmen wird zunehmen und in ihrer Performanz für sich sprechen, auch die technisch-medialen Vermittlungen und professionalisierten Vermittler werden zunehmend an die Stelle der akademischen Legitimation treten. Die Emanzipation der artikulatorischen Performanz zeigte sich schließlich darin, dass die zu einer internationalen „Beatnik-Bewegung“ zu zählenden Autoren und ihre Übersetzer ihren Text nicht mehr sitzend, sondern stehend und mit gestischer Begleitung vortrugen. Was aber neben der Körpersprache sowohl in der amerikanischen als auch in der russischen Lyrik zum Ausdruck einer gemeinsamen Poetik beitrug, waren Artikulation, Rhythmus und Musikalität, also eine lyrisch-musikalische Zeichensprache des Vortrags. Der körperlich-musikalische Artikulationsstil emanzipierte sich sowohl von der akademischen Vermittlung als auch vom Vorrang schriftlich legitimierter Autorschaft, an der einige Jahre zuvor noch Bachmann – befangen blickend– festhielt, um zu rechtfertigen, dass sie ihre poetische Stimme in einem über die Fernsehaufnahme der Öffentlichkeit preisgebenden Hörsaal erhebt.
Mit der Aufwertung der körperlichen Autorpräsenz und der performativen Inszenierung der Texte ging auch eine Aufwertung der Alltagssprache einher. In Verbindung mit den neuen „Sprachen des Kalküls“, wie sie die ausdifferenzierten Systeme der Gesellschaft permanent produzierten, sollte sie für Höllerer ein zentrales Element für die neue internationale literarische Weltsprache bilden.36 Enzensberger hatte im Nachwort zu seinem Museum der modernen Poesie programmatisch von einer „Weltsprache der modernen Poesie“ gesprochen.37 Die in seinem Museum versammelten Dichter verbinde das Einverständnis, dass die Aufhebung der nationalen Grenzen der Dichtung, dem Begriff der Weltliteratur zu einer „Leuchtkraft“ verholfen habe, an die in anderen Zeiten nicht zu denken gewesen sei.38 Höllerer und Enzensberger kamen darin überein, die Modernisierung und Internationalisierung als Prozess einer sich wechselseitig entfaltenden poetischen Weltsprache zu verstehen. Für Enzensberger handelte es sich aber um ein „Museum“, um eine abgeschlossene, historisch gewordene Moderne, deren ins Leben hineinwirkende „Energie“ sich im technischen Zeitalter der Bewusstseins-Industrie verbraucht habe.39
Dagegen wehrte sich Höllerer stets gegen eine museale Ausstellung der Literatur. Ihm ging es darum, die Möglichkeiten einer ernsthaften und nicht ironischen oder zitathaften Weiterführung der Moderne in der zeitgenössischen Gegenwart zu sondieren. Zieht man seinen abschließenden Aufsatz in Ein Gedicht und sein Autor hinzu, hatte Höllerer die Poetik einer neuen internationalen Lyrik-Moderne im Auge. Deren Sprache sollte in die ding- und zeichenhafte Horizontale der Alltagswelt zielen, die „Alltagssprache“ mit einer technischen „Sprache des Kalküls“ verbinden und dadurch eine neue Literatursprache ausbilden.
Die neue, internationale moderne Autorpoetik resultierte für ihn also aus der Auseinandersetzung mit den allgegenwärtigen technisch-kalkulierenden und administrativen Sprachen der „Systeme“. Deren ausdifferenzierte Spezialdiskurse haben sich zunehmend entfernt von der Alltagssprache der Menschen und ihrem Interdiskurs, der die Spezialsprachen in eine allgemein verständliche Sprache überführt. Für Höllerer bestand das international Verbindende der in Ein Gedicht und sein Autor versammelten Autoren und ihrer Poetik darin, dass sie sich mit der von den „Sprachen des Kalküls“ ausgehenden Fremdbestimmung und Entfremdung der Menschen konfrontieren, gerade indem sie die Alltagssprache in ihre Poesie integrieren und damit auf die „Sprachen des Kalküls“ mit einer neuen Kunstsprache reagierten. Die vermeintliche Oberflächlichkeit der jüngsten amerikanischen Lyrik der Beat Generation war in dieser Perspektive die neue Maske Molières. Die neuen Autorpoetiken der modernen, internationalen Literatur basierten – so Höllerer – auf einem „Sondieren der Basisstruktur der Sprache“ und bildeten daher einen wichtigen Ansatzpunkt für ein sprachartistisches realistisches Schreiben:

Denn als realistische Literatur ist doch wohl die Literatur zu bezeichnen, die ein Bewußtsein von dem bildet, was eigentlich geschieht, und was geschehen kann. Jedes Detail des hier und jetzt Sichtbaren, Schmeckbaren, des taste and see, erscheint von den Modellen mitgezeichnet, die das Kalkül errichtet hat, die nicht geschmeckt und gesehen werden können. Ein Zwiespalt wird spürbar, der im Schreiben ausgetragen wird. Gerade dieser Zwiespalt ist es, der verschiedene moderne Autoren nachdrücklich auf die Sinne zurücklenkt, ohne daß das unumwundene Vertrauen auf sie zurückkehrt.40

Mit Höllerers Entwurf einer neuen, im Unterschied zu Enzensberger, nicht-musealen internationalen Autorpoetik war nicht zuletzt der Anspruch verbunden, den politischen Ost-West-Gegensatz zu überbrücken. Er nahm Impulse auf, die insbesondere aus der amerikanischen Lyrik der Beat Generation kamen und zur Entstehung einer kunstsprachlichen und kultursemiotischen Popliteratur führten,41 wie sie ein paar Jahre später in der von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla bei Rowohlt herausgegebenen Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene (1969) zum Ausdruck kam.42 Von den Autoren, die in der acht Jahre zuvor von Höllerer und Corso herausgegebenen zweisprachigen Anthologie Junge amerikanische Lyrik vorkamen, waren nur noch William S. Burroughs und Frank O’Hara vertreten. Die „amerikanische Szene“ hatte sich stark verbreitert. Sie umfasste nun alle möglichen Bereiche, in die sich die Literatur einreihte, vor allem Film, Fernsehen, Comic und Werbung. Aus den verschiedenen, gleichberechtigt koexistierenden und ineinandergreifenden Bereichen der popkulturellen, performativen und konzeptuellen Kunst trat eine Vielzahl neuer Namen mit Kult-Charakter auf, wie zum Beispiel Charles Bukowski, Andy Warhol, Frank Zappa, Leslie A. Fiedler oder Gregory Battcock. Dagegen hielt Höllerer weiterhin an der besonderen Stellung der Literatur in der Gesellschaft und an einem emphatischen Autorbegriff fest.

Heribert Tommek: Flecken. Walter Höllerer und die Epiphanien der Moderne. edition text + kritik, 2022

 

 

Zum 65. Geburtstag des Herausgebers:

Peter Rühmkorf: Dem ,Langen Gedicht‘ ein langes Leben!

Zum 100. Geburtstag des Herausgebers:

Alexander Cammann: Aus Feuerschlünden
Die Zeit, 29.12.2021

Gregor Dotzauer: Zeremonienmeister der Literatur
Der Tagesspiegel, 16.12.2022

Michael Krüger: Weltgeist von Sulzbach-Rosenberg
Süddeutsche Zeitung, 19.12.2022

Simon Strauss: Der Hüter der Schatulle
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2022

Michael Braun: Zirkusdirektor der modernen Poesie
Badische Zeitung, 19.12.2022

Dieter M. Gräf: Elefantisch
der Freitag, 18.1.2023

Das LCB sammelt hier zum 100. Geburtstag Fundstücke in Ton, Bild, Text und Film sowie aktuelle Veranstaltungen und Ausstellungen.

 

 

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Günter Grass: Walter Höllerer nachgerufen
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Norbert Miller: Der Vogel Rock
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Peter Rühmkorf: Der Forderer
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

Bernhard Setzwein: Mitten am Rand
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 166, Juli 2003

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Hölleritze“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Höllerer, die“.

 

Technik und Poetik – Symposium in Erinnerung an Walter Höllerer.

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