Walter Kempowski: Langmut

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walter Kempowski: Langmut

Kempowski-Langmut

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Schlusspunkt eines großen Lebenswerks

Zu seinem 80. Geburtstag, das hat Walter Kempowski kurz vor seinem Tod verfügt, soll der Gedichtzyklus Langmut erscheinen. „Ich glaubte immer“, so Kempowski, „dass ich nie ein Gedicht schreiben werde, und doch stieß mir die Stimme, wie Rilke sagt, eines Tages den Mund auf. Da wusste ich auf einmal, dass mit meinem Buch ,Im Block‘ noch nicht das letzte gesagt worden war über meine Haftzeit in Bautzen.“
Das Leichte, Helle war dem Schriftsteller Walter Kempowski nicht gegeben. Am Beginn stand die traumatische Erfahrung der Haft in Bautzen. Dort wurde der junge Kempowski durch das DDR-Regime isoliert. Nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik ließ sein Gefängnisbuch Im Block aufhorchen. Mit Langmut, entstanden in seinen letzten Lebensjahren, schließt sich nun der Kreis.

Random House, Ankündigung

 

Langmut und Eigensinn

Seine ernsten Verse aus Bautzen hat er zu Lebzeiten nicht herausgerückt: Erinnerungen von und an Walter Kempowski, der heute achtzig geworden wäre. –

Für Walter Kempowski waren die acht Jahre, die er wegen angeblicher Spionage und antisowjetischer Hetze in Bautzen einsaß, eine Zeit der Traumatisierung und Disziplinierung zugleich. Im Gefängnis erfand der junge Jazzfan die vorher eher ignorierte bürgerliche Tradition der Literatur und Musik für sich neu. Aus der Haftzeit auch erklärte sich der Schriftsteller seine Akribie in erinnerten Details, wie sie die populären Romane der Deutschen Chronik (1972 bis 1984) prägte, und seine Leidenschaft des Sammelns von Schicksalen, die sich im kollektiven Tagebuch Echolot (1993 bis 2005) überwältigend dokumentierte. In seinem Buch Im Block (1969) wurde seine Überlebenstechnik erstmals literarische Methode. Die Erfahrung erscheint eingesperrt in Textzellen, Textblöcken und Gitterwerken und befreit sich zugleich in ironischer Distanzierung.
Im Nachhinein erschien Kempowski der Ton seines Haftberichts jedoch zu frivol. Die erneute Überwindung zur Erinnerungsarbeit erschloss ihm zu seiner eigenen Überraschung eine lyrische Stimme, die an Rilkes Dinggedichte anklingt. Diese ernsten Texte hat Kempowski zu Lebzeiten nicht herausgerückt, obwohl er beiläufig wissen ließ, er habe im Knast Verse im Rilke-Ton auf Schiefertafeln geschrieben. Der Öffentlichkeit zeigte er sich lieber in der  Rüstung seines kauzigen Humors. Im Titel des Bändchens aber wird er unmittelbar kenntlich. Langmut hat er wahrlich als Häftling, als Grundschullehrer, als Schriftsteller und Sammler, als Ehemann und öffentliche Person bewiesen. Wo der schmale Mann die Kraft und den Mut zu seinen Riesenprojekten hernahm, blieb ihm selbst „völlig unverständlich“, an sich gezweifelt hat er immer wieder.
Die kurzen Gedichte in Langmut ergreifen durch die Schlichtheit eines elementaren Vokabulars, das der Begrenztheit des Sichtbaren in der Haft entspricht. Die Stäbe im Fenster der Zelle sind immer wieder Raum- und Zeitmaß, Symbole der Isolierung zugleich und ihrer Überwindung in der gestalteten Erinnerung. Wie für Rilkes Panther gibt es hinter ihnen keine Welt, das Subjekt aber behauptet sich in der inneren Kraft des Dennoch.

Mit dem Löffel spielt einer
Auf den Stäben ein Lied.
Du klopfst, du pochst,
aber niemand vernimmt es.
Aber es bleibt.

Bücher, Bilder, ein Bogen, der Saiten streicht, sie sind das Abwesende, und doch vorhanden im Benennen des Verlusts.

Streckst Du den Arm hinaus
mit gespreizten Fingern,
da ist nichts zu greifen!

Nicht gehört zu werden, kein Adressat zu sein ist die Erfahrung, die in lakonischer Feststellung erschütternd dingfest wird.

Wartet niemand
mit einem Licht?
Kein Zeichen gilt dir.

Unter dem Titel „Piranesi“ scheint das Zuchthaus als Verlies der Phantasie wahrgenommen zu werden, die Negation aber beschwört bildlos deren Befreiung.

Unter den Halbbogen
auf eisernen Treppen
hinauf – hinunter.
Ketten hängen keine herab.
An der Tür ist kein Zeichen.
Nichts wurde vermerkt.

Die Raumerfahrung des Häftlings zeigt sich als Negativ der Sinnbilder des Lebendigen.

Im kalten Mutterleib
wartest du lange auf deine Geburt.
Kalt wird man dich ins Kalte stoßen.

Die Reduktion aufs Elementare und Ursprüngliche zieht Heilsgedanken der Wiedergeburt oder der Transsubstantiation herbei.

Wasser und Brot.
Brot und Wein?

Aber sie bleiben leer und fraglich. In der Sprödigkeit dieser Texte verweigert sich die lyrische Stimme der Sinngebung des Sinnlosen.
Gleichwohl hat Kempowski die existentielle Trennungserfahrung der Haftzeit neben dem Verlust seiner Heimat als wesentlichen Antrieb seines Schreibens und Wirkens gesehen. Wie der Langmütige gegen mannigfaltige Widerstände zum außerordentlich populären Romancier und schließlich wie kein anderer seiner Generation zum bewunderten Vorbild jüngerer Schriftsteller wurde, lässt sich bei Volker Hage erinnernd nachlesen, der Kempowskis Werk von 1972 bis zu dessen Tod im Herbst 2007 in Kritiken, Interviews und Essays begleitet hat. Dabei gewinnen nicht nur die Dimensionen des gewaltigen Werks noch einmal fasslich Kontur, sondern es wird auch schmerzlich deutlich, wie sehr diese so eigenwillige wie vernünftige Stimme der öffentlichen Diskussion fehlt.
Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, während Günter Grass mit seinen unverändert verqueren Argumenten gegen die Einheit schimpfend durch die Lande zieht, wird es Lesern guttun, sich der nüchternen und noblen Stellungnahme Kempowskis vom 3. Oktober 1990 zu erinnern:

Ich hoffe, dass die dritte Republik in Bescheidenheit ihre Aufgabe in Europa erkennt und wahrnimmt. Dass sie die sich bereits jetzt abzeichnenden Gegensätze zwischen West und Ost tolerant überbrückt und aus den zwangsläufig eintretenden Konflikten mit Gewinn hervorgeht.

Heute wäre der große deutsche Chronist und „Volksdichter“ Walter Kempowski achtzig Jahre alt geworden. Sein Ruhm, da ist sich nicht nur Volker Hage „ganz gewiss, wird weiter wachsen“.

Friedmar Apel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.4.2009
(Beitrag bezieht sich auf die Buchausgabe)

Und Trauer schwand

– Stimme aus dem Totenreich: Walter Kempowskis letzte Gedichte. –

Dass Walter Kempowskis riesenhaftes Werk mit einem Gedichtband, seinem ersten, schließen würde, hätte wohl niemand vermutet. Doch nun hat er es so gewollt, und er hat den Zyklus Langmut seinem postumen Publikum in zwei Gestalten hinterlassen: als Buch und als Audio-CD. Auf dieser spricht er selbst, eingerahmt von Präludien Schostakowitschs, die sieben Dutzend kurzen Texte. Zum letzten Mal hören wir den unverkennbaren Kempowski-Ton, die hohe, fast dünne Stimme, leicht jammerig, vorwiegend gleichmütig, unendlich zivilistisch, das genaue Gegenteil zum Staats-, Propaganda- und Kommandoton, der auch Kempowski Leben wie das vieler Millionen Deutscher ruinierte. Die Kammermusik unterstreicht diesen intimen, bürgerlichen Charakter.
Noch einmal geht es um Bautzen, um die Haft im kommunistischen Staatsgefängnis, das den Halbwüchsigen wegen einer Bagatelle um acht Jahre seines Lebens beraubte. Ob man ein Regime, das an solchen keineswegs vereinzelten Untaten nichts fand, „Unrechtsstaat“ nennen dürfe, wird derzeit diskutiert. Die kahle Lakonie von Kempowskis Notaten ist frei von Anklage. Sie spiegeln vor allem die Hilflosigkeit eines Kindes, den Schrecken, der nie verging und den auch Kempowskis erstes Buch, der „Block“, nicht abarbeiten konnte.

Hebt sich der Boden,
senkt sich die Decke,
dringen die Wände auf dich ein?
Die Säfte schießen  zusammen.

So ist das, wenn man Angst hat.
So gingen die Tage dahin
Die Zeit wird zum Kreislauf:

Du sahst die Fessel nicht,
aber du spürtest sie.
Und du spürtest sie nicht,
aber du sahst sie.
So gingen die Tage dahin.

Und so auch die Jahreszeiten:

Im Frühling
sind die Stäbe naß.

Im Sommer hell
bis in die Nacht.

Der Herbst weht ein Blatt zu dir…

Auch von den Stimmen ist die Rede, die Kempowskis späteres Werk so beflügelten, das Wispern und Zischen in den Fluren, das Lauschen auf Lebenszeichen, der Marschtritt und die Rufe. Keine Klage, nur Leere, bevölkert von Phantasien:

Keine Säulen, die du auseinanderstemmst,
und keine Kammern aus Blei, aus denen du fliehst.
Ein weißes Zimmer
und der gescheuerte Tisch.

Dazu kommen, fast immer in der Form der Selbstanrede – ein anderes Du ist nicht da –, Reminiszenzen an die Kindheit, ihre Ferien und Landschaften, die Freiheit:

Gebäck, Tee,
Wind fuhr dir ins Haar,
und das Pferd
raspelte Rinde vom Baum.
Niemand hinderte dich zu rufen.

Es bleibt alles trostlos in diesen wie Haikus aufs Papier gemalten Wörtern, in den kleinen Akkorden der Stimme des Toten:

Liebe hielt es nicht aus,
Haß wußte nicht wohin
und Trauer schwand.

Die Unentrinnbarkeit dieser Erfahrung hat dieser Dichter im ersten Text des Zyklus wie eine Art Taufe zum Lebenssiegel erhoben:

Das letzte Wort war das erste,
mit dem Pinsel schrieb
man es dir auf die Stirn.
Von da an warst du gerettet.

Wer die Gedichte rätselhaft finde, so redet ihr Verfasser auf der CD einleitend seine Hörer – „meine Damen und Herren“ – an, der solle sich einfach den kleinen Gefangenen in Bautzen vorstellen, dann verstehe man sie. Aber wer mag sich heute anmaßen, sich diesen kleinen Menschen und seine Lage in dem Riesenkerker vorzustellen? Langmut ist der unverzichtbare Schlussstein von Walter Kempowskis Lebenswerk. An diesem Mitwoch wäre der Autor achtzig Jahre alt geworden.

Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 29.4.2009
(Beitrag bezieht sich auf die Buchausgabe)

Poesie des Prosameisters

– Es war Abschiedswunsch des vor zwei Jahren verstorbenen Schriftstellers Walter Kempowski: Zu seinem 80. Geburtstag am 29. April 2009 wollte er seinen Gedichtzyklus Langmut veröffentlicht sehen. Posthum sind damit erstmals Gedichte von Kempowski zu lesen, der vor allem durch seine Prosa bekannt wurde. –

Sieben Stäbe am Fenster,
an der Wand die Ziffern von eins bis zwölf.
Zehn Finger.
Schritte ohne Zahl.

So lautet eins der lakonischen, notizartigen Kurzgedichte aus dem Zyklus Langmut, der, wie Walter Kempowski kurz vor seinem Tod verfügt hat, zu seinem 80. Geburtstag erscheinen soll, also am 29. April 2009.
Das zitierte Gedicht evoziert in äußerster Kürze die Erfahrung seiner achtjährigen Haft. 1948 war der damals 19-jährige Walter Kempowski aus Rostock vom sowjetischen NKWD verhaftet, wegen Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und ins Zuchthaus Bautzen eingewiesen worden. Nach acht Jahren wurde er 1956 vorzeitig entlassen, reiste nach Westdeutschland aus und wurde Lehrer. Parallel zu seiner pädagogischen Arbeit begann er zu schreiben und debütierte 1969 mit dem Buch Im Block, einem Versuch, die Traumata der Bautzener Jahre zu bewältigen. Dem Debüt folgte sukzessive ein gewaltiges Prosawerk aus zahlreichen, beim Publikum meist sehr erfolgreichen Romanen, Tagebüchern, kleineren Schriften und schließlich der elfbändigen Großcollage Das Echolot – aber keine Lyrik.
„Ich glaubte immer“, hat Kempowski einmal gesagt, „dass ich nie ein Gedicht schreiben werde, und doch stieß mir die Stimme, wie Rilke sagt, eines Tages den Mund auf. Da wusste ich auf einmal, dass mit meinem Buch Im Block noch nicht das letzte gesagt worden war über meine Haftzeit in Bautzen.“ Kempowskis Langmut-Gedichte, allesamt ohne Titel, umkreisen den denkwürdigen Widerspruch, ja die Paradoxie, dass die furchtbaren acht Bautzener Jahre für Kempowski nicht nur traumatisch waren, nicht nur ein Fluch: „Bautzen“, hat er einmal gesagt, „war ein Segen für mich.“ In einem der Gedichte klingt das so:

Stille drängt in die Ohren!
Schwingt in dich ein.
Im Schlaf weckt es dich
stark und streng.
Und es hält an!
Das ist der Ton,
der dich fesselt.
Er bleibt dir,
wohin du auch gehst.

Nach Bautzen kam Kempowski als ein ziemlich leichtfertiger Jüngling aus gut bürgerlichen Verhältnissen, deren Werte zu Floskeln und Fassade geronnen waren und in der kahlen und brutalen Realität des Zuchthauses endgültig pulverisiert wurden. Der Ton, den er auf diesem Nullpunkt seiner Existenz hörte, sollte zum Grundton seines späteren Schaffens werden, in dem er immer wieder versuchte, die verlorene Sicherheit eines bürgerlichen Lebens und bürgerlichen Selbstverständnisses zu erinnern und romanhaft zu rekonstruieren.
Da Kempowskis Verhaftung auch die Inhaftierung seiner Mutter und seines Bruders nach sich gezogen hatte, wurde er von Schuldkomplexen gequält, und sein schriftstellerisches Werk kann auch als Versuch verstanden werden, Abbitte zu leisten, Schuld abzutragen, das durch eigenes Zutun Zerstörte wiederherzustellen. In diesem Prozess, den Kempowski sich gewissermaßen selber machte, transzendierte er jedoch den persönlichen Rahmen und wurde zu einem der großen Romanciers, die nach der von Deutschen zu verantwortenden historischen Schuld im 20. Jahrhundert fragten. Das Ergebnis waren seine Romane der so genannten Deutschen Chronik und schließlich die Konstruktion einer Art Kollektivgedächtnis’ im Echolot.
Insofern ist Kempowskis ganzes Werk ohne die Bautzen-Erfahrung nicht denkbar. Die siebenundsiebzig Gedichte, die Langmut versammelt, können als eine Art lyrische Coda dieses Werks gelten, als ein Ausklingen, in dem dieser Autor in knappen Impressionen noch einmal seine Schlüsselerlebnisse beschwört.

In der Nacht wird der Schemel tanzen
und die Bettstatt stampfen.
Mit dem Löffel spielt einer
auf den Stäben ein Lied.
Du klopfst, du pochst,
aber niemand vernimmt es.
Aber es bleibt.

Klaus Modick, Deutschlandfunk, 29.4.2009
(Beitrag bezieht sich auf die Buchausgabe)

Impressionen aus dem „Gelben Elend“

– Er ist als Verfasser der Deutschen Chronik bekannt geworden. Manche werden sich noch an Walter Kempowskis Erfolge Tadellöser & Wolff oder Uns geht’s ja noch gold erinnern. Jetzt erscheinen posthum Gedichte unter dem Titel Langmut. Darin verarbeitet er seine Zeit im DDR-Gefängnis Bautzen, genannt „Das Gelbe Elend“. –

Walter Kempowski (1929–2007), Verfasser der neunbändigen Romanserie Deutsche Chronik und des kollektiven Tagebuchs Echolot, hat einen großen Teil seines frühen Erwachsenenlebens im Zuchthaus verbracht. Er war gerade 19 Jahre alt, als ihn 1947 ein russisches Militärtribunal zu 25 Jahren Haft wegen Spionage verurteilte. Kempowski hatte Unterlagen in den Westen gebracht, die die Demontage der familieneigenen Reederei in Rostock durch die sowjetische Besatzungsmacht belegten. Unter Folter gab er die Mitwisserschaft der Mutter zu. Auch sie kam ins Gefängnis. Dass es ihm nicht gelang, die Mutter zu schützen, hat Kempowski sein Leben lang verfolgt. Im März 1956 wurde er vorzeitig aus dem „Gelben Elend“ in Bautzen entlassen, ging in den Westen und kam nach Göttingen, wo er das Abitur nachholte und Grundschulpädagogik studierte.
1969 erschien sein Debüt Im Block, inspiriert von den teils in grotesker Verzerrung vermittelten Bautzener Erfahrungen. Mit seinem Gedichtband Langmut, dessen Erscheinen zu seinem 80. Geburtstag vom Autor testamentarisch verfügt wurde, nimmt er das Sujet noch einmal auf. „Plötzlich wurde mir klar“, äußerte sich Kempowski über seine Haftzeit und die literarische Bearbeitung in Im Block, „dass das nicht so stehen bleiben kann. So habe ich Gedichte darüber gemacht“.
Der Band Langmut besteht aus kurzen, meist ungereimten Gedichten ohne Titel mit ein oder zwei Strophen. Der Tonfall ist lakonisch. Die Themen sind die quälende Isolation, das Gefühl des Ausgeliefertseins und die erzwungene Untätigkeit. Mithäftlinge tauchen auf, aus der Ferne sind Schreie vernehmbar, manchmal hört das lyrische Ich Schritte. Immer wieder wird die eintönige Umgebung in Augenschein genommen: „Das Schachbrett der Fliesen“, heißt es einmal. Oder:

Das Licht lässt die Drähte tanzen,
und die Pfosten laufen schwarz die Wände
hinauf.
Geteiltes Licht.
Einmal erlosch es,
da wurde es hell

Ab und zu blitzen Erinnerungssplitter an die Kindheit und Jugend auf. Beobachtungen und Introspektion wechseln einander ab. Abstrakta werden gelegentlich ins Konkrete überführt. Ein gängiges Stilmittel ist das Enjambement, der Zeilenbruch. Mitunter zeigt sich eine Neigung zu übermäßigem Pathos, das zu den einfachen Stilmitteln nicht passen mag:

Das letzte Wort war das erste,
mit dem Pinsel schrieb
man es dir auf die Stirn.
Von da an warst du gerettet

Oder:

Stunde des Abschieds,
da winkte dir keine Hand.
Auf dem Hof hallten Bretter,
und aus dem Schornstein stieg Rauch

Andere Male kippen Metaphern ins Süßliche: „Wind streicht durch die Harfe des Gitters“ oder „Die Stalaktiten deiner Tage, / in deine Stille sind sie eingestimmt: / ihr Glockenton ist dir verschwiegen, / bis er in Tropfen ungehört verrinnt.“
Dass Kempowski in Bautzen große Not litt und tief traumatisiert wurde, steht außer Frage und entzieht sich jeder Bewertung. Wie er diese Erfahrungen ästhetisch bearbeitet, lässt sich aber durchaus beurteilen. Manche seiner Verse sind in ihrer Naivität und unverblümten Offenheit anrührend. Der Band hat werkgeschichtliche Relevanz – literarisch bedeutsam ist er nicht. Ein letztes Mal kommt Walter Kempowskis Lebensthema zum Tragen, nämlich zu kurz gekommen zu sein und nicht zur literarischen Elite der Bundesrepublik zu gehören. Dass er im Alter mit einer Fülle von Preisen und Ehrendoktorwürden bedacht wurde, änderte daran nichts mehr. Vielleicht war es der Hader mit dem versäumten Leben, der ihn so empfindlich werden ließ – und zu einem der produktivsten Schriftsteller seiner Generation machte.

Maike Albath, Deutschlandfunk Kultur, 23.4.2009
(Beitrag bezieht sich auf die Buchausgabe)

Der Kreis schließt sich

Lange habe ich auf die von Walter Kempowski in seinem letzten Interview angekündigten Gedichte gewartet. Nun kamen sie anlässlich seines 80. Geburtstages endlich heraus.
Es ist schon etwas ganz besonderes, seiner schon von Krankheit gezeichneten Stimme zu lauschen, und ganz einzutauchen in seine Gefühlswelt, mit der er sonst, in seinen Romanen z.B., eher hinter dem Berg hielt.
Er schreibt sich Erinnerungen von der Seele an die schlimme Zeit in Bautzen, Im Block (das Buch dazu ist sein persönlichstes u. für mich bestes überhaupt). Es erschüttert u. versöhnt den Leser zugleich, seinen Gedichten u. Gedanken zuzuhören.
Sehr schön untermalt u. unterbrochen durch die passende, melancholische Klaviermusik von Schostakovich.
Keine leichte Kost, und vieles wird sich einem erst nach mehrmaligem Anhören öffnen, aber unerlässlich, damit sich der Kreis schließen konnte.

gigunelsa, amazon.de, 21.6.2009

Lauter Rätselworte

Das Bändchen mit Gedichten des von mir geschätzten Autors ist 82 Seiten stark, wobei die einzelnen Gedichte überwiegend lediglich 5, 6 Zeilen der jeweiligen Seite beanspruchen. Man wird diese Werke vor dem besonderen persönlichen Hintergrund, vor dem sie entstanden sind (Haftzeit des Verfassers), lesen und bewerten müssen. Obwohl ich mich unter diesem Aspekt den Texten genähert habe, hat sich mir – ohne daß ich dies dem Autor zum Vorwurf mache – ihr gedanklicher Inhalt oft nicht erschlossen.
Trotzdem empfand ich die einzelnen Texte in gewisser Weise anregend und auch etwas inspirierend. Sie klingen nach, man lauscht ihnen hinterher, wenn sie verklungen sind und stellt sich etwas ratlos die Frage, was mag Walter Kempowski bewogen haben, sie zu verfassen, was wollte er uns damit sagen? Hier erzählt jemand, dem ich üblicherweise gerne zuhöre, in Worten, die ich leider nicht verstehe, von Erfahrungen, die ich (zum Glück) nie machen mußte.
Abstoßend fand ich die lieblose Aufmachung des Bandes: grauer Leineneinband, versehen mit einer häßlichen Billig-Banderole. Einziger Trost auch hier: vielleicht ist es im Sinne des Meisters geschehen, vielleicht wollte uns Walter Kempowski auch mit diesem häßlichen, abstoßenden Grau etwas sagen.

Agricola, amazon.de, 15.5.2009
(Beitrag bezieht sich auf die Buchausgabe)

Gedichte von Walter Kempowski

Ein außergewöhnlicher Autor – ein außergewöhnliches Leben und nun zum 80. Geburtstag, wie vom Autor im Testament verfügt, sein abschließendes Werk LANGMUT – ein Gedichtband. Man mag es kaum glauben, doch WALTER KEMPOWSKI hat sich zu einer Art Deutschem Gewissen entwickelt – denn seit dem ich die Bücher von Walter Kempowski gelesen habe, bin ich voll der Bewunderung für diesen deutschen Autoren.
Mit Bautzen fing es an und mit Bautzen schließt sch der Kreis, denn Walter Kempowski war inhaftiert und litt sehr darunter, sein erstes Werk im Westen beschrieb dieses Leiden und sein Werk LANGMUT schießt nun den Kreis um eine außergewöhnliche Persönlichkeit.
LANGMUT zeigt die Zeit in Bautzen in einer surrealen Art und Weise, als wäre man im Geist des Autors während seiner Haft in Bautzen.
LANGMUT von Walter Kempowski ist wie eine der letzten Zeilen: die Stunde des Abschieds – das weiße Tuch ist gefallen.
Sehr empfehlenswert!

Thorsten Wiedau, amazon.de, 25.4.2009
(Beitrag bezieht sich auf die Buchausgabe)

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ralph Krüger: Walter Kempowski: Langmut
belletristiktipps.de, 20.7.2009

Stefan Höppner: Alte Meister
literaturkritik.de, September 2009

 

Straßenfeger

– Bundespräsident Rau besucht Walter Kempowski. –

Es ist ganz still in dem kleinen niedersächsischen Ort Nartum. Kein Mensch auf der Straße. Die leuchtend grünen Felder wiegen sich im Wind. Vor einem roten Backsteinhaus weht die Deutschlandfahne. Es ist Samstagnachmittag. Der Bundespräsident ist gekommen, die höchste Ehre in der Geschichte dieser Stadt. Nichts scheint auf seinen Besuch hinzudeuten. Doch ganz am äußersten Ende Nartums, wo schon wieder die Felder beginnen und die kleine gepflasterte Straße endet, steht in einer Hofeinfahrt die Präsidentenlimousine mit Blaulicht auf dem Dach. Der Chauffeur döst hinterm Steuer. Der Präsident ist schon im Haus. Der Präsident besucht Walter Kempowski.
Etwas später – Johannes Rau ist schon eine ganze Weile da, er hat sich ausführlich Kempowskis Archiv zeigen lassen – steht der Schriftsteller im Innenhof seines Hauses. Er hält eine kurze Ansprache, erklärt, wie dieses Haus entstand, dass er die Pläne dazu vor fünfzig Jahren in der Zelle in Bautzen machte und dass alles genau so gekommen sei, wie er es damals erdacht hatte. Dass man von jedem Winkel des Hauses hinaussehen kann, die Helligkeit, die Spiegel überall, der Schriftstellerturm, der Büchergang. Nur der Rosengarten, den er seiner Frau versprochen hatte, der sei einfach nichts geworden. Die Rosen wüchsen nicht an der geplanten Stelle. Es ist eine glückliche Bilanz, die Walter Kempowski an diesem Abend ziehen kann. Und als er am Ende seiner Rede zur Begrüßung Johannes Raus, sichtlich bewegt, von Lebenslinien spricht, die hier in diesem Haus und in diesem Moment zu einem schönen Glück zusammenliefen, rettet er sich schnell, aus Angst vor dem großen Moment und allzu großen Worten, in Ironie: „Na, das war ja jetzt fast wie bei Hermann Hesse“, sagt er und lacht. Er steht dann noch eine Weile im Innenhof, schmal und klein, mit grauem langem Haar, und wundert sich:

Kinder, habe ich mich so verändert? Oder die ganze Welt? Ich weiß es wirklich nicht.

Seit einigen Jahren, seit dem Erscheinen von Echolot, deutet sich an, dass der einst von Kritik und Kollegen verschmähte, als bloßer Sammler belächelte, als Plagiator beschimpfte Schriftsteller zu größter öffentlicher Anerkennung findet. Zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag vor wenigen Wochen gab es große Feierlichkeiten, Symposien und Glückwünsche aus aller Welt. Der unermüdliche Arbeiter Kempowski ist Ehrendoktor, Ehrenbürger, von Lesern und Kritikern geliebt. „Kinder, ich sag immer, man muss nur alt genug werden“, sagt er und bittet die Gäste zu Tisch: seine Mitarbeiter, den Freund Joachim Gauck, den Bürgermeister und drei Journalisten. Jetzt ist der Präsident an der Reihe und entschuldigt sich kokett, dass er sich selber eingeladen habe. Das sei ungehörig. Immerhin habe er dafür aber das Essen mitgebracht. Er würdigt das Werk Kempowskis professionell und warmherzig zugleich. Hebt den ostwestdeutschen Leidens- und Lebensweg hervor und verweist darauf, dass er mit diesem Besuch nicht nur den Schriftsteller ehren, sondern dem Mann einfach danken wolle, für sein Werk und die Archivier- und Sammeltätigkeit, die er für uns alle geleistet habe. Und er verschenkt ein Bild von sich, das Kempowski, halb stolz, halb spöttisch, gleich an das große Fenster am anderen Ende der Tafel stellen lässt.
Das Essen wird sehr unterhaltsam. Alle trinken Wein. Der Präsident trinkt Bier. Er sitzt zwischen Kempowski und seiner Frau und erzählt von erstaunlichen Trinkwetten, die sein Amtsnachfolger Köhler erfolgreich bestehe. Kempowski sagt:

Ach, wie meine Frau, die muss auch immer wetten. Und sie gewinnt auch immer.

Frau Kempowski lehnt sich, am Präsidenten vorbei, zu ihrem Mann:

Ich habe noch nie gewettet in meinem Leben.

Kempowski: „Weiß ich doch. Ich wollte doch nur das Gespräch in Gang bringen.“ – „Ach, ich mache dir immer deine Pointen kaputt“, sagt Hildegard Kempowski etwas geknickt. Doch der Präsident tröstet sie und wirft seine Witzmaschine an. Eine Anekdote jagt die nächste. Er berichtet von der spanischen Hochzeit vor zwei Wochen, von Staatsbesuchen. Kempowski will wissen, ob er auch in China gewesen sei. Rau sagt: „O ja.“ Und wer jetzt erwartete, es käme vielleicht ein Gespräch über Kommunismus und Menschenrechte, täuscht sich sehr. „Wie kamen Sie mit dem Essen zurecht?“, will Kempowski wissen. Der Präsident windet sich mit Schrecken. Ja, das sei in der Tat schwierig gewesen. Und er könne hier am Tisch mit den köstlichen norddeutschen Spezialitäten darüber unmöglich sprechen.
Er wechselt zu Kommunistenwitzen, SPD-Witzen, Ostfriesenwitzen. Ein Journalist, der ihn schon länger kennt, darf sich seinen Lieblingswitz wünschen, „den mit dem Japaner Jakomo, der alle Gedichte so gut aufsagen kann“. Und Kempowski sagt am Ende beglückt: „Sie sind wirklich gut, Herr Präsident“ und fragt, ob er ihn zu seiner goldenen Hochzeit einladen dürfe. Ja, aber erst mal müsse Kempowski zu Raus silberner Hochzeit kommen. „Aber ich kann doch gar keine Witze erzählen“, sagt Kempowski. „Macht nichts“, sagt der Präsident. Das könne er ja selber. So geht der Abend schnell vorbei. Der Protokollchef teilt mit, nun müssten sie los. Der Hubschrauber warte schon. Rau sagt: „Kennen Sie den mit den Ostfriesen im Hubschrauber, denen es so zieht im Flug und die dann den großen Ventilator abstellen?“ lachend verabschiedet man sich. Auf dem Fußballfeld des Örtchens steht der Helikopter. Jetzt sind auch die Menschen da. Das ganze Dorf wartet. Die Kinder rufen: „Johannes, Johannes!“ und fragen ihre Eltern: „Welcher ist es denn?“ Kempowski ist nicht mehr mitgekommen.

Volker Weidermann, 2004, aus Volker Weidermann: DICHTERtreffen. Begegnungen mit Autoren, Kiepenheuer & Witsch, 2016

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Kempowskeritze“.

 

Walter Kempowskis letztes Interview (Juni 2007).

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