FRAGMENT IV
Zu jeder Stunde wälzen große Sonnen
Sich durch den Raum, und Monde schillern viel.
Zu jeder Stunde wird die Welt begonnen,
Und schreiend stirbt ein neu verworfnes Ziel.
Groß geht der Mensch durch eine Wüsten-Welt.
Die Häuser schlagen sich in seine Stirn.
Die Bäume brausen, Chor der Flüsse gellt.
Doch Schiffe ziehen sanft durch sein Gehirn.
Antlitz der Andern rast um ihn im Tanz.
Er ist der Züge krummer Schienenweg.
Ein unbewußtes Tier zerschlägt ihn ganz.
Er taumelt irr auf allerschmalstem Steg.
Oft löst ihn Nacht in schlimmes Dunkel weit.
von den Laternen reißt ihn großer Wind.
Oft fließt er hin in seidnem Frauenkleid
Und schläft in Mutteraugen, kleines Kind.
Der Wald hebt sich und gibt ihm guten Duft.
Dann flicht die Stadt ihn auf ihr Straßen-Rad.
Er sitzt im Dunkel, und die Eule ruft.
Schon lockt das Meer zu unerhörtem Bad!
Und jede Stunde wälzt ihn durch den Raum,
Beginnt in neu. Und Sonnen, Monde schrein.
Verworfen stirbt er, Welt und Ziel ein Traum:
Allein der Tod hört niemals auf zu sein!
Der Dichter Walter Rheiner (1895–1925) lebt im Bewußtsein der Nachwelt vor allem als Bildnis fort, das wie eine Chiffre für Leben und Werk steht. Gemeint ist das oft reproduzierte Porträt „Der Tod des Dichters Walter Rheiner“ aus dem Jahre 1925, mit dem ihm sein Dresdner Freund Conrad Felixmüller ein Denkmal setzte: Wie ein Traumwandler zwischen Himmel und Erde schwebend, als Stürzender bereits der Wirklichkeit, dem Leben entrückt, in der linken Hand die oft benutzte Morphiumspritze, zuletzt die tödliche Dosis enthaltend. Gleichnishaft überhöht das kurze, tragische Leben eines Menschen, der auf Erden nicht Fuß zu fassen vermochte, vom Rauschgift zerstört – die Malweise noch ganz dem Expressionismus verpflichtet, der den Porträtisten und Porträtierten verband, obwohl er sich Mitte der zwanziger Jahre bereits überlebt hatte. Ein Nekrolog, der auch dem Expressionismus als Stilrichtung gelten kann. Rheiners Schaffen, das weniger als ein Jahrzehnt umspannt, beginnt und endet expressionistisch. Erste literarische Versuche datieren aus dem Jahr 1911. 1915 begann er in Zeitschriften zu veröffentlichen, u.a. in der Aktion, im Zeit-Echo, in den Weißen Blättern, in der Dachstube, in der Schönen Rarität, im Orchideengarten, in der Roten Erde, im Saturn, im Sturmreiter. Sein literarischer Höhepunkt liegt in den Jahren 1918/19 und ist ganz an die Stadt Dresden gebunden, nach der Novemberrevolution für kurze Zeit eines der wichtigsten progressiven Kulturzentren in Deutschland. Während Rheiner andernorts nur einer unter andern blieb, gehörte er in Dresden zu den Wortführern des Expressionismus. Das damalige geistige Klima beflügelte ihn zu einer rauschhaften Produktivität. Wichtigstes Organ der Dresdner Expressionisten war die Zeitschrift Menschen, in ihr fand Rheiner eine Tribüne für seine Gedichte und Rezensionen. Außerdem gehörte er zum Mitarbeiterkreis von Hugo Zehders Neuen Blättern für Kunst und Dichtung und dessen Neuer Schaubühne. Der Dresdener Verlag von 1917, der von Felix Stiemer geführt und von Heinar Schilling finanziert wurde, druckte seine Bücher; von 1918 bis 1921 sieben Bände. Danach verlor er den Anschluß, was wohl in erster Linie seiner Rauschgiftsucht zuzuschreiben ist, aber auch den sich rapid verschlechternden wirtschaftlichen Verhältnissen während der Inflation. Rheiner blieb ohne jeden finanziellen Rückhalt und schaffte es nicht, sich in das bürgerliche Erwerbsleben einzugliedern. So taumelte er nach 1920 einem Abgrund zu, von dem ihn niemand zurückzureißen vermochte. Alle Entziehungskuren schlugen fehl. Das Verhängnis hatte seinen Anfang genommen, als er sich bei Kriegsbeginn zu einer kleinen Gruppe intellektueller Wehrdienstverweigerer schlug, die durch Einnahme von Drogen dem Krieg zu entkommen glaubten. Der geistige Urheber dürfte Ferdinand Hardekopf gewesen sein, vielleicht auch der österreichische Psychologe und in Bohemekreisen legendäres Ansehen genießende Otto Gross. Zu dieser Gruppe gehörten u.a. der Danziger Hugo Kersten, der bereits Ende 1919 auf die gleiche Weise endete wie später Rheiner, Johannes R. Becher, dem es als einem der wenigen gelang, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, der tödlichen Sucht zu widerstehen. Vermutlich gehörte auch Felix Stiemer dazu, der ebenso als Rauschgiftsüchtiger zugrunde ging.
Rheiners Leben blieb überschattet von den verheerenden Wirkungen des Kokains und des Morphiums, nachdem er als Neunzehnjähriger in Berliner Bohemekreisen damit Bekanntschaft gemacht hatte. Die Erzählung „Kokain“, 1918 in wenigen Tagen niedergeschrieben, kann als Selbstporträt gelesen werden, es nimmt die grauenvollen Jahre des Abstiegs, das unbeschreibliche Elend und das frühe Ende im Zeitraffer vorweg. Hier wird erschütternd nacherlebbar, wie einer seinen Tod jahrelang erlitten hat in kleinen Dosen. Dieses Prosastück, das paradigmatisch für eine bestimmte literarische Szene steht, gibt eine deutliche Vorstellung von der sozialen Misere, die Rheiner durchlebt hat.
Die Position Rheiners innerhalb des Expressionismus ist schwer zu fassen, zumindest läßt er sich nicht eindeutig auf eine bestimmte Gruppierung oder Richtung festlegen. Ungeachtet der Klarheit und des Sprachvermögens, wie sie die Erzählung „Kokain“ auszeichnen, wird der literarische Rang Rheiners von der Lyrik bestimmt. In der Prosa gelangte er über Proben seines Talents nicht hinaus. In Franz Pfemferts Aktion, in der fast der gesamte „linke Flügel“ des Expressionismus zu Wort kam, gab Rheiner nur eine Gastrolle. Er war nicht der Typus des politischen Dichters, die der streitbare Berliner Publizist um sich scharte, solange der Krieg währte. Bemerkenswert ist die eng Geistesverwandtschaft zu Johannes R. Becher. Als typisches Gestaltungsmittel vergleiche man den „harten“ Substantivismus, die kolonnenhaft aufmarschierenden Substantiv-Komposita, die unverbunden als heterogene Wort-Masse nebeneinanderstehen, durch Punkt getrennt, ekstatische Steigerungen erzwingend, die in Visionen münden, aus denen die schwärmerische Sehnsucht nach „einer neuen Erde und neuen Menschen“ spricht, abgehoben von aller sozialen und gesellschaftlichen Konkretheit. Selbst die russische Revolution, die Rheiner wie alle seine Freunde begrüßt, bleibt ein metaphysisches Ereignis, Symbol einer ganz in die Bereiche des Geistigen transponierten „Wende“. Das über irdische Belange hinausweisende Weltgefühl, die Weitung ins Kosmische könnte stark von Theodor Däubler inspiriert gewesen sein, den Rheiner 1917 kennengelernt hatte, in dessen Bann übrigens auch der junge Becher eine Zeitlang stand. Die Titel der ersten Publikationen deuten ganz in diese Richtung: „Insel der Seligen. Ein Abendlied“, „Das schmerzliche Meer“, „Das tönende Herz“, „Der inbrünstige Musikant“. Sphärische Gesänge der Brüderlichkeit dichteten auch andere Dichter des „Menschen“-Kreises wie Iwan Goll und Rudolf Adrian Dietrich. Goll prägte den treffenden Begriff von der „besternten Sprache“, in der gedacht und gedichtet wurde. Die politische Zielrichtung bleibt verschwommen. Unmißverständlich ist die ablehnende Haltung zum Krieg und die daran anknüpfende Friedenssehnsucht. Dafür steht eine ganze Reihe von Gedichten, die in ihrer Leidenschaftlichkeit und Wortgewalt zu den besten gehören, die Rheiner geschrieben hat. Die wenigen theoretischen Äußerungen des Dichters stützen die Bemerkungen, in denen versucht wird, die Position wenigstens annähernd zu bestimmen.
Ziel aller Kunst ist ein metaphysisches Mittel. Die Definition des Expressionismus würde demnach… lauten: Expressionismus ist der Versuch, die transzendentale Idee des kosmischen Weltzusammenhangs, deren Träger das indifferente Subjekt (das intelligible Ich) des Künstlers ist, an allen und durch alle Objekte des zu schaffenden Kunstwerks zu realisieren („Expressionismus und Schauspiel“, in: Die Neue Schaubühne, Dresden 1919).
Wie in so vielen anderen Fällen ist auch hier der Lyriker dem Theoretiker überlegen. Ungeachtet solch einengender Postulate zeichnet sich Rheiners Lyrik dadurch aus, daß in ihr viel „Irdisches“ enthalten ist. Lebensgrund war und blieb die Großstadt, namentlich Köln, Paris, Berlin faszinierten den urbanen Dichter. Fabrik – Warenhaus – Café – Nachtschnellzug – Aeroplan – Stummfilm bilden Kristallisationspunkte, aus denen sich seine frühreife Welterfahrung und sein Weltgefühl entwickelten.
Sein letzter Brief, kurz vor der Verzweiflungstat geschrieben, gibt Einblick in sein desaströses Familienleben, das er nicht in geordnete Bahnen zu bringen vermochte. Die Existenz des Bohemiens, den es unentwegt umhertreibt, läuft gegen das Nichts. Er ist der verlorene Sohn, der sich rauschhaft zerstört hat. Für ihn gab es keinen Weg zurück ins Leben. Die Konflikte seiner expressionistischen Zeitgenossen wirken im Vergleich zu Rheiners Biographie geradezu harmlos.
Wulf Kirsten, aus Wulf Kirsten: Brückengang, Ammann Verlag, 2009
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