das sind schweden, na sicher, schweden, franzosen,
aaaaaim zwanzigsten
komfortablen, leicht bitterlichen jahrhundert lebten
aaaaasie
das aroma romantischer rosen gaben sie für kraftstoff
aaaaahin
gegen gelehrten vortrag, gegen die wucht abstrakten
aaaaamalens
in nichts einer nervenheilanstalt zu vergleichen
noch einem baume, der zum arztbesuch geschleift wird
das sind finnen, na sicher, finnen, schweizer, sie lebten
in einem häuslichen jahrhundert, zum kaffe gab es milch
das sind ungarn, na sicher, ungarn, holländer, dänen
uns in der finsternis sitzen zar iwan und zar boris im nacken
als ob räuber in weichen stiefelchen umgingen, lauernd
morgen, lügendmitri, dieb von tuschino, steigt die luftparade
der donnernde, vielmotorige name überfliegt die tribüne
vollgepfropft mit bojaren, aus dem scheelen beobachtet er
daß ihnen dieser figurenflug wohl gefalle
ich wurde im sechzehnten jahrhundert geboren, furchtdurchrüttelt
Alexander Kuschner
Interlinearfassung Katja Lebedewa
übertragen von Bert Papenfuß
EIN KATALOG NEUER LYRIKEN
Während die zeitgenössische russische Prosa im wesentlichen mit der historischen Vergangenheit abrechnet, ebnet die Lyrik Wege für ein neues künstlerisches Denken. Lyrik – ein Experimentierfeld für eine künftige Demokratie, sofern denn bei uns einmal eine solche entstehen sollte – ist die Möglichkeit, von einer Sprache in eine andere überzuwechseln, zwar vielleicht ohne daß sie einander verstehen, doch dafür auch ohne einander ins Wort zu fallen. Auf den Ruinen einer sozialen Utopie wird jetzt die Utopie der Sprache errichtet, ein babylonischer Turm des Wortes, in dem sich eine Vielzahl kultureller Codes und Fachsprachen einschließlich der Sprache der sowjetischen Ideologie vermischen. Das Ideal des mystischen Kommunismus verkörpert sich im Bereich der Sprachpraktiken als Expropriation der Bedeutungssysteme aller Epochen und Stilrichtungen, als Zerstörung ihrer Werthierarchie, als Priorität überpersönlicher Bewußtseinsebenen und als die Aufhebung der Lyrizität als Überbleibsel des Ego- und Anthropozentrismus.
Noch nie zuvor hat es in Rußland eine solche Vielzahl ähnlicher Lyriker und verschiedenartiger Lyriken gegeben. Dieser einstmals wie das Wort „Kultur“ normative Terminus kann jetzt durchaus im Plural verwendet werden und die unterschiedlichen Ordnungsprinzipien der modernen lyrischen Schreibweise bezeichnen, wo der patriarchalisch-volkstümliche Typ des pointierten Volksliedes mit der dekonstruktionistischen Prozedur einer bewußten Desemantisierung des Textes zusammenwirkt. Im folgenden möchte ich eine Aufstellung jener neuen Lyriken anbieten, welche die Situation der 80er Jahre im Unterschied zu den vorhergehenden definieren:
1. Konzeptualismus, ein System von Sprachgesten, die Bezug nehmen auf das Material der sowjetischen Ideologie und des Massenbewußtseins der sozialistischen Gesellschaft. Offizielle Parolen und Klischees werden dadurch ad absurdum geführt, daß die Kluft zwischen dem Zeichen, von dem das nackte Konzept, der Begriffskern, zurückbleibt, und dessen realem Gehalt, dem Denotat, bloßgelegt wird. Diese Lyrik entleerter Ideologeme kommt dem nahe, was man in der Malerei als „Soz-Art“ bezeichnet. Vertreter dieser Richtung sind D. Prigow, L. Rubinstein, V. Barsky.
2. Postkonzeptualismus oder „neue Aufrichtigkeit“, das Experiment, sich „gefallener“, toter Sprachen liebevoll zu bedienen, sie mit einer reinen Begeisterung zu gebrauchen, die gewissermaßen die Periode der Entfremdung überwindet. Während im Konzeptualismus das Absurde herrscht, ist der Postkonzeptualismus von Nostalgie geprägt, d.h. die lyrische Aufgabe rekonstruiert sich auf der Grundlage antilyrischen Materials wie ideologischen Küchenabfällen, umhergeisternden umgangssprachlichen Klischees sowie Elementen einer fremdsprachigen Lexik.
3. Nullstil oder die „große Niederlage“, die Reproduktion vorhandener Sprachmodelle, z.B. der russischen Klassik des 19. Jahrhunderts, in ausgesprochen durchsichtig gemachtem Zusammenhang, gewissermaßen frei von allen Merkmalen einer individuellen Autorenschaft in der Art von ausgegrabenen Texten fremder Werke. Ein Vertreter dieser Richtung ist A. Monastyrskij.
4. Neoprimitivismus, die Verwendung des Kinder- und Alltagsbewußtseinstyps für ein Spiel mit den unverrückbarsten, naheliegendsten und oberflächlichsten Schichten der Realität, da alle anderen metaphysisch unbekannt und ideologisch kompatibel sind. Nur die alleranspruchslosesten Wörter ohne jede Verlogenheit wie „Tischbein“, „Tisch“, „Bonbons“ finden Verwendung.
5. Ironische, chargierend-groteske Lyrik, ein Ausspielen der Schablonen des Alltagslebens, des Absurden der Existenz eines „typischen“ Menschen in einer „Muster“gesellschaft. Im Unterschied zum Konzeptualismus, der mit Sprachmodellen arbeitet, arbeitet die ironische Lyrik mit der Realität selbst, und zwar nicht auf der Ebene einer grammatikalischen Beschreibung des Ideolekts, sondern auf der von diesem hervorgebrachten konkreten Mitteilungen. Deshalb bleibt hier unverkennbar die Stimme des Autors erhalten, die im Konzeptualismus fehlt, nämlich Gelächter, Ironie, Sarkasmus, Humor. Ein Vertreter dieser Richtung ist V. Korkija.
Soweit die Linke im Spektrum der modernen Lyrik, die, wenn man so will, der Antikunst, der sprachlichen Diversion zuneigt. Wenden wir uns nun der Rechten zu, die zur Überkunst, der sprachlichen Utopie tendiert.
6. Metarealismus, eine Lyrik der höchsten Ebenen der Realität, bildhafter Universalien, die gesamte europäische Klassik durchdringend. Ein System von Initiations- und Weihegesten, von der Gegenwart hingewandt zur hohen Kultur und der kultischen Lyrik vergangener Epochen, von der Antike bis zum Barock, von der Bibel bis zu den Symbolisten. Archetypen wie „Wind“, „Wasser“, „Spiegel“, „Buch“ sind Bilder, die sich im Gravitationsfeld der Unbedingtheit und Überzeitlichkeit der Mythologeme bewegen. Prägend sind der Reichtum an Variationen über ewige Themen, eine Vielzahl von Bezügen auf klassische Lyriker. Vertreter dieser Richtung sind O. Sedakowa, V. Kriwulin, I. Zhdanow, J. Schwarz, O. Denissowa.
7. Präsentalismus, vergleichbar mit dem Futurismus, allerdings nicht in die Zukunft, sondern an die gegenwärtige technische Ästhetik der Dinge, an die Magie ihrer meßbaren und sichtbaren Präsenz im Leben des Menschen gewandt. Ein phänomenologischer Ansatz: Die Welt der Erscheinungen fixiert sich als solche in ihrer Gegebenheit außerhalb jeder Bezugnahme auf ein „anderes“ Sein. Betont dehumanisierter Blick, unmittelbar von der Netzhaut des Auges abgebildet, bis zu allen möglichen psychologischen Brechungen. Orientierung auf Zeichensysteme aus der modernen Wissenschaft und technologischen Produktionsprozessen unter metaphorischer Verwendung von Fachbegriffen. Die Natur wird in Termini der modernen Zivilisation umgedeutet. Vertreter dieser Richtung sind A. Parstschikow und I. Kutik.
8. Polystilistik, eine multikodierte Lyrik, die nach dem Collagenprinzip verschiedene Sprachen vereint: die Alltagssprache mit der der heldenhaft-offiziösen Ebene, die Lexik der traditionellen Naturlyrik mit der technischen Gebrauchsanweisung, „metallurgische Wälder“, in denen das wirkliche „Chlorophyll“ heranreift. Im Unterschied zum Präsentalismus, der ein Zusammenwachsen organischer Art verschiedener Codes zu einem Ganzen kraft einer „enzyklopädischen“ Beschreibung der Dinge erreicht, spielt die Collagenlyrik mit deren Unvereinbarkeit und dem katastrophalen Zerfall der Realität. Ein Vertreter dieser Richtung ist A. Jeremjenko.
9. Kontinualismus, eine Lyrik unterspülter semantischer Felder, die die Bedeutung jedes einzelnen Wortes aufheben, um den Effekt eines verklingenden, verschwindenden Verstehens zu erzielen. Die Technik der Dekonstruktion, der Desemantisierung des Textes, wie sie in den modernen literaturwissenschaftlichen Arbeiten (Poststrukturalismus) Verwendung findet, wird hier zur schöpferischen Methode. Das Wort wird in einen Zusammenhang gestellt, der dessen Bedeutung möglichst unbestimmt erscheinen läßt, „wellenartig“, frei von jeder Diskretheit und hineingezogen in eine ununterbrochene und kontinuierliche Reihe mit den Bedeutungen aller anderen Wörter. Die Last der Bedeutung wird abgenommen, und es beginnt ein Fest einer durchgängigen, ungegliederten Bedeutsamkeit. Ein Vertreter dieser Richtung ist A. Dragomostschenko.
10. Das lyrische Archiv oder die Lyrik des verschwindenden „Ichs“, die traditionellste aller neuen Lyriken, die als Zentrum ein bestimmtes „Ich“ beibehält, das allerdings bereits in Form einer entgleitenden Gegenständlichkeit, einer Unmöglichkeit, einer elegischen Sehnsucht nach der Persönlichkeit in einer Welt härter und grausamer werdender Strukturen auftaucht. Realismus in der Beschreibung der modernen Lebensweise, allerdings nicht mehr im vollen Saft, sondern entdeckt wie eine Schicht auf dem Gebiet künftiger archäologischer Ausgrabungen zur „Moskauer Kultur der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts“. Ein (dem Gefühl nach) nostalgischer und (der Gegenständlichkeit nach) archäologischer Realismus.
Obige Aufstellung ließe sich um weitere Dutzende, wenn nicht Hunderte von Lyriken erweitern, umso mehr als viele von ihnen großartig im Schaffen eines einzigen Lyrikers koexistieren (so könnte man z.B. W. Nekrassow den Punkten 1 und 4 zuordnen oder noch besser eine eigene Rubrik für ihn einrichten, oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, könnte man auf V. Barsky hinweisen, der unter Punkt 1 aufgeführt wird, parallel dazu aber auch im Bereich der unter die Nummer 6 fallenden Lyrik arbeitet und sich überdies mit konkreter Lyrik auf dem Grat und an der Verbindungsstelle zwischen der Semantik und der äußeren Gestalt eines Wortes beschäftigt); letztendlich stellt jeder Autor und sogar jedes Gedicht oder ein Zyklus eine weitere Lyrik dar. Überdies könnte man die vorgeschlagene Aufstellung als ein Werk betrachten, das im jetzt so produktiven Genre des lyrischen Katalogs geschaffen wurde, oder als ein Beispiel für die Lyrik II, welche alle anderen aufzählt und systematisiert („Paradigmenlyrik“).
Tatsächlich ist es so, daß sich die moderne Theorie in eben dem Maße an die Lyrik annähert, wie sich die Lyrik der Theorie annähert. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist der paradigmatische Textaufbau, der weniger Mitteilungen in einer dem Publikum bereits bekannten Sprache macht, als Regeln einer noch unbekannten Sprache formuliert und Tabellen für die Deklination und Konjugation neuer lyrischer Formen anführt. Der altmodische Leser beginnt, sich zu langweilen, weil man ihn hinter das Lehrbuch einer Fremdsprache setzt, statt mit ihm Erlebnisse in der Muttersprache auszutauschen.
Die moderne Lyrik kann man also, wenn man unseren revolutionären Klassiker Tschernyschewskij bemühen will, der die Literatur „das Lehrbuch des Lebens“ genannt hat, als „Lehrbuch der Sprache“ bezeichnen, das ein Modell möglicher syntaktischer und semantischer Welten hervorbringt. Unsere Literatur hat den Leser so lange gelehrt zu leben und sich mit einer allseitigen Umgestaltung des Lebens beschäftigt, daß die jetzige Beschränkung ihrer Rolle auf den Bereich der Sprache es nicht nur erlaubt, neues Leben in die Lyrik einzuhauchen, sondern auch im Leben selbst freier zu atmen.
Michaeil Epstein
übertragen von Peter Steger
Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis dieses Bandes mag verwirren. Da finden sich bis auf wenige Ausnahmen kaum bekannte Namen. Dies ist kein Zufall. Denn erst in den letzten Jahren kulminierte ein zwar lange vorher einsetzender, jedoch eher „subkutan“ wirkender Prozeß einer prinzipiellen literarischen Umorientierung. Die maßgebliche Konstellation der sechziger Jahre: hier die Tribünendichter einer antistalinistischen Aufklärung, dort die Wiederentdecker einer lyrischen Empfindsamkeit, zerfiel. Das beide Seiten verbindende Pathos der Aufrichtigkeit, einer Rückkehr zur „authentischen“ (historischen oder persönlichen) Wahrheit gegen die Lügen der Ideologie war verbraucht.
In der Überwindung dieser Tradition spielen mehrere Faktoren zusammen: Zunächst einmal handelt es sich ganz banal um einen Generationswechsel. Die in den späten vierziger und fünfziger Jahren Geborenen haben die totalitäre Epoche und den Krieg, zentrale Bezugspunkte der vorhergehenden Generation, nicht mehr miterlebt, und auch das „Tauwetter“ der fünfziger Jahre ist ihnen allenfalls eine Kindheitserinnerung. Diese Generation findet nun Traditionslinien innerhalb einer bis dahin als inoffiziell geltenden Poesie, die sich schon seit den fünfziger und sechziger Jahren am Rande der spektakulären Kulturereignisse entwickelt hat. Seit den achtziger Jahren wird die im Verbund dieser Kräfte entstehende literarische Gegenöffentlichkeit immer anziehender, und unter den neuen Bedingungen der Demokratisierung fallen auch die administrativen Barrieren. Die ehemals ausschließlich auf den Samisdat begrenzte Manuskript-Literatur wird seit einigen Jahren selbst in den sog. „dicken Journalen“ (d.h. den zentralen Literaturzeitschriften wie Nowyj Mir, Oktjabr, Drushba narodow… ) nolens volens publiziert. Interessanter sind allerdings die in eigener Regie oder von künstlerisch Gleichgesinnten zusammengestellten Sammelbände und die kleineren Zeitschriften (wie z.B. der lettische Rodnik), in denen sich Editions-Konzepte des ehemaligen poetischen Samisdat, z.B. Gruppen-Anthologien, Almanache in Kombinationen aus Text, Kommentar und Bild fortsetzen. Der erste dieser gedruckten Almanache erschien 1985 in Leningrad (Krug) und stützte sich auf die Praxis des dort schon Jahre zuvor gegründeten Dichterkreises Klub 81. In Moskau erschienen im letzten Jahr zwei Almanache, in denen mehrere der in diesem Band vertretenen Autoren zum erstenmal offiziell publiziert wurden.
Ähnliches gilt auch für die unmittelbare, mündliche Öffentlichkeit der Dichterlesungen. Poesie-„Klubs“ übernehmen mittlerweile die Organisation von Lesungen in Theater- und Vortragssälen, übrigens nicht nur in Moskau und Leningrad, sondern auch in Wolgograd, Irkutsk und Odessa. Auch hier liegt eine lange Tradition zugrunde. Lesungsabende im befreundeten Kreis von Dichtern, Künstlern und Kritikern, in Wohnungen oder privaten Ateliers waren das eigentliche Ferment der literarischen Gegenkultur, und auch hier gab es schon vor der Perestrojka Ansätze einer Überwindung der Barrieren. Der Leningrader Klub 81 veranstaltete regelmäßige öffentliche Lesungsabende, in Moskau kam es 1984 zu einem fast sensationellen Aufeinandertreffen der beiden profiliertesten neueren Richtungen des Konzeptualismus und des Metametaphorismus im ZDRI („Zentrales Haus der Kunstarbeiter“).
Die Lesungsöffentlichkeit beschränkt sich heute schon nicht mehr auf die Sowjetunion. Mehrere der hier vorgestellten Dichter waren in den vergangenen zwei Jahren auf Tournee im westlichen Ausland. In London, Paris, Rotterdam und Essen gab es die ersten großen Festivals neuerer russischer Poesie. Es kommt zur Wiederherstellung des lebendigen, persönlichen Kontakts mit der ausländischen Literatur, für russische Schriftsteller seit eh und je von existentieller Bedeutung, sowie zur Wiederbegegnung mit der literarischen Emigration. Nicht zuletzt dieser Ursache verdankt sich vorliegendes Buch, dem die erklärte Absicht des Herausgebers zugrundeliegt, dortige und hiesige russische Stimmen zusammenzubringen.
Ein weiteres interessantes Indiz für die stattfindende Ablösung der poetischen Systeme, für die Anziehungskraft der neuen Dichterszene ist das fast schlagartig einsetzende Interesse einer kritischen akademischen Öffentlichkeit für die bislang ignorierte Dichtung. Symposien an der Moskauer Staatsuniversität widmeten sich der Erörterung des Verhältnisses von klassischer Avantgarde und Neo-Avantgarde der Gegenwart bzw. der „alternativen Poesie des 20. Jahrhunderts“. Und auch hier läßt sich beobachten, was schon für die anderen Öffentlichkeitsbereiche gesagt wurde: Die vielversprechendsten Formen einer literarischen Infrastruktur der Kritik und des theoretischen Kommentars entstehen in unabhängigen Institutionen wie dem „Laboratorium der zeitgenössischen Kultur“ oder der neu gegründeten Moskau-Leningrader Zeitschrift Westnik nowoj literatury.
Soweit zu den „äußeren“ Faktoren des erwähnten Umbruchs. Wesentlicher sind die „inneren“ Gründe. Um es formelhaft zu verkürzen: An die Stelle eines primär ideologischen Verhältnisses – und sei es in Form der Negation – trat ein ästhetisches Verhältnis zur sprachlichen Umgebung. Man sah sich nicht mehr als heroische Vorkämpfer einer moralischen und politischen „Reinigung“ der Gesellschaft, sondern entwickelte eine distanziert ironische, wenn man so will: elitäre Einstellung zu den kulturellen Realitäten. Dies ging einher mit einem verstärkten Interesse für die große Zeit ästhetischer Emanzipation der Sprache: das sog. „silberne“ Zeitalter der russischen Poesie vom Symbolismus der Jahrhundertwende bis zu den verschiedenen Avantgardeströmungen der 10er und 20er Jahre. (Nachdem es bereits ein „goldenes“ Zeitalter der Puschkin-Ära gegeben hatte, sprachen nun einige vieldeutig vom „bronzenen“ Zeitalter.) Das neu erwachte poetische Traditionsbewußtsein sensibilisierte sich zusätzlich über persönliche Brücken, besonders für die älteren der in diesem Band vorgestellten Dichter. Joseph Brodskys Leningrader „Lehrjahre“ bei Anna Achmatowa sind schon Legende, und entsprechende Initiations-Erfahrungen machte der Moskauer Gennadij Ajgi schon in den frühen sechziger Jahren, als er den ehemaligen Futuristen Alexej Krutschonych „auf der Straße erkannte“ und dessen Schriften als Geschenk erhielt. Aber auch hierzulande weniger bekannte „Überlebende“ der ehemaligen Avantgarde gab es. Jewgenij Kropiwnitzkij, ein Maler und Poet, der in den zwanziger Jahren den Oberiuten (Charms, Wwedenskij u.a.) nahestand, wird zur Bezugsfigur einer Gruppe junger Moskauer Intellektueller, die sich in den sechziger Jahren als Lianosowo-Gruppe, so benannt nach dem gleichnamigen Baracken-Vorort, formiert und eine Dichtungstradition des Banalen und Absurden fortsetzt. Igor Cholin, Genrich Sapgir und Wsewolod Nekrassow stammen aus dieser Schule, die zugleich die unmittelbare Vorgeschichte des heutigen „soz-artistischen“ und „konzeptualistischen“ Schreibens darstellt.
Doch das Wiederanknüpfen an die alten Traditionen war kein ungebrochenes. Wenn man versucht, das Selbstverständnis der zeitgenössischen Poesie als einer nach-avantgardistischen zu beschreiben, muß man ein ganzes Knäuel von Bedingungen entwirren. Denn die bereits erwähnte Renaissance einer ästhetischen Einstellung traf auf völlig veränderte kulturelle Realitäten.
Für das dichterische Selbstverständnis der Moderne war über alle internen Polemiken hinweg der Glaube an die Absolutheit der poetischen Sprache, die sich in scharfer Abgrenzung aus der Profanität der utilitaristisch entwerteten Funktionalsprachen erhob, verbindend. Gleichgültig, ob in Andrej Belyjs symbolistischer Variante der „Wortmagie“, die im Wort die verlorengegangene Kraft „ursprünglicher Schöpfung“, die im „Lautsymbol“ die Symbiose von Mikro- und Makrokosmos wiedergewinnen wollte, zungenredend aus der abgestorbenen „Kruste der Begriffe“ zu den Urlauten im „Kosmos der Mundhöhle“ sich befreiend („Glossolalija“), oder in Chlebnikows und Krutschonychs „Sa-Um“-Sprache, die auf ein „Wörterbuch“ von Ur-Lauten, „dem gesamten von Menschen bevölkerten Stern gemeinsam“, abzielte, oder in der Theorie der Formalisten von der „Wiedererweckung des Wortes“ aus seiner Verblassung im automatisierten Redealltag: Immer ging es um das Postulat einer „reinen“ Sprache, die zudem, aus ihrer passiven, reproduktiven Mitteilungsfunktion befreit, ihrerseits produktive Energien entwickelte. Die Symbolisten erklärten das Mythenschaffen zum höchsten Ziel ihrer Dichtung. Das „Bauen“ wurde zur wichtigsten Dichtungs-Metapher der nachsymbolistischen Generationen. Der Akmeist Mandelstam sah im Architekten den Prototyp des Künstlers, und die Futuristen und späteren Konstruktivisten verstanden sich ausdrücklich als „Lebensbauer“.
Grundlage dieser sprachlichen Urkraft war das Bild. Im Bild entstand die in der alltäglichen Rede verlorengegangene unmittelbare Beziehung zwischen dem Wort-Zeichen und der bezeichneten Sache neu. Die Qualität dieser Beziehung mochte dabei durchaus sehr unterschiedlich bestimmt sein. Für den frühen Symbolismus war das Bild die Verbindung zwischen dem unsichtbaren Numinosen und der sichtbaren Welt, es stellte Transparenz her, ließ das erste durch das zweite „durchscheinen“, so, wie eine dünnwandige Alabasteramphore das Licht einer hinter ihr brennenden Flamme durchscheinen läßt (ein Vergleich Dmitrij Mereschkowskijs). Den Akmeisten war diese Ausrichtung zu stark von der Visualität des Hiesigen, von der Faktur des Bildmaterials entfernt. Sie, und noch stärker dann die Futuristen und Formalisten, betonten weniger die Durchsichtigkeit, als vielmehr die Widerstandskraft und das Brechungspotential der Bildfläche. Die „Verfremdung“ im Sinne einer erschwerten Wahrnehmung, eines neuen Sehens der in den automatisierten und abgenutzten Redewendungen verlorengegangenen Empfindung der Dinge war das Schlüsselwort für ein neues (und heute längst kanonisiertes) Dichtungsparadigma. Entsprechend verschoben sich die Bilder der Bilder, d.h. die Metaphern für den Bildcharakter der Worte selbst: Es waren zunehmend harte, kantige, verletzende Materialien, die den Bildeffekt ausdrücken sollten: Stein, Säge und Giftpfeil, Metalle, „in die Handflächen der Leserwahrnehmung getriebene Splitter“ (so der Imaginist Mariengof). Aber gleichgültig, ob „Transparenz“ oder „Widerstand“, ob „Schau des Göttlichen“ oder Empfindung des „Lebens“ und der „Dinge“: Immer ging es um die Wiedergewinnung einer im profanisierten nichtpoetischen Sprechen verschütteten, trübe gewordenen, in Begriffshülsen verpackten semiotischen Intensität. All diesen Mythologisierungen der poetischen Sprache lag im Kern ein rigoroser Dualismus zugrunde: Die Welt der Zeichen und die bezeichnete Welt waren zwei letztendlich unabhängig voneinander existierende, ontologisch selbständige Sphären, die erst mittels des poetischen Bildes zusammengeführt wurden. Das „selbstwertige“ Wort der Futuristen implizierte eine „selbstwertige“ Welt der Dinge. „Den Stein wieder steinern machen“ – Viktor Schklowskijs Programmformel für die poetische Verfremdung („Die Auferweckung des Wortes“) bringt dieses Verhältnis auf den Punkt.
Die Avantgarde hatte nicht, entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis, die Bilder aus der Poesie vertrieben, sie hat im Gegenteil die Bildlichkeit radikalisiert. Man kann die Dichtungsgeschichte der Moderne auch unter dem Aspekt einer zunehmenden Intensität (und Aggressivität) des Visuellen verfolgen. Bereits Blok hatte 1905 dem mißverstandenen „Etikett“ des Symbolismus, den „ermüdenden Abstraktionen“, der „Blindheit“ der Schriftsteller das unmittelbare, kindlich naive Sehen der Maler als Therapie empfohlen („Worte und Farben“). Den „Regenbogen der Farben“, Licht – tropisches Sonnenlicht – sollten die Worte wiedergeben. Das Auge sollte „die Natur berühren, sich dem sichtbaren und hellen Raum frei hingeben“. (Die „Transparenz“ der frühen Symbolisten hatte noch dialektisch das Dunkle in sich.) Die Akmeisten und Claristen kultivierten die Helligkeit, den in maximaler Tiefenschärfe zu erfassenden Raum. Und die futuristische These vom neuen Sehen schließlich wird später, 1920, in Majakowskijs berühmter Face-to-face-Begegnung mit der Sonne („Seltsames Abenteuer Wladimir Majakowskijs, sommers auf dem Lande“) zum Szenario eines jeglichen Winkel erfassenden, jeglichen Schatten ausbrennenden Flutlichts:
Licht überall und immer Licht, bis auf den Grund der Tage! Leuchten – und sonst nichts: heißt meine und der Sonne Losung.
Zwischen dieser Epoche und der Gegenwart liegt eine Erfahrung, die den positiven Glauben an die absolute Kraft der Sprache nachhaltig erschüttern mußte. Die totalitären Kulturen machten auf ihre Weise ernst mit dem produktiven Potential der Zeichen. Die universale Ästhetisierung der Wirklichkeit, ihre Verwandlung in ein Gesamtkunstwerk, war eingetreten – sicher ganz anders, als die ehemaligen Utopien es entworfen hatten. Diese epochale Erfahrung war (und wird) nicht mit Veränderungen im politischen oder sozialen System auszulöschen sein. Im Gegenteil: Die massenmediale Kultur der Gegenwart hat diese – semiotische – Erfahrung noch zugespitzt. Sie hat einen Bilder- und Wortekosmos geschaffen, der nicht mehr irgendeine „zugrundeliegende“ Realität abbildet, sondern eine solche überwuchert, an deren Stelle tritt. Die ehemalige dualistische Grundkonstellation hat sich aufgelöst. Es gibt weder eine reine, elementare Sprache noch eine vor der Sprache befindliche Welt. Die Dichtung der Gegenwart sucht und schafft keine eigene Sprache mehr, – sie findet ihre Sprachen vor („die Poesie: ein Museum“, Genrich Sapgir). Seien dies die Nachklänge triumphaler Epochen der Dichtung, der griechischen und römischen Antike, des Klassizismus, der Moderne, oder die ideologischen und Alltagsmythen der „biederen“ massenkulturellen Wirklichkeit: es sind unterschiedliche Spielarten einer mit jener poetischen Kraft ausgestatteten Sprache, die künstliche Welten schafft. Die zeitgenössische Poesie hat nicht mehr jenen klaren, bipolaren Orientierungsmaßstab: hier unpoetische reproduktive, dort poetische „schaffende“ Sprache zur Verfügung. Sie hat die universale „Poiesis“ zu ihrem Ausgangs-, nicht Zielpunkt.
Dies äußert sich bereits in ihrem durchgängig zitierenden Gestus. Das Zitat aber ist kein implizites, vom Leser erst im Prozeß der Lektüre zu entschlüsselndes, also auf das Ergebnis, das Resultat der Sinngebung hinzielendes mehr. Es ist im Gegenteil explizit, es ist der unverhüllte Generator eines nicht mehr eigenen Sprechens: eines Sprechens von Nachkömmlingen, die ihre Texte als eine sich multiplizierende Kette von „Variationen“ (Wadim Kosowoj) verstehen.
Relativiert wird auch die ehemalige Absolutheit des poetischen Subjekts und seiner Stimme. Anstelle des einen, unverwechselbaren „Tons“ eines Gedichts tritt eine indifferente phraseologische und intonatorische Vielfalt. „Elegien“ sind durchsetzt mit prosaischer Nüchternheit. Pathos und ironische Reflexion verweben sich, und beide sind in sich wiederum falsch: Das Pathos ist ein gestohlenes, und die Reflexion ist ebenfalls weit entfernt von der perspektivischen Absolutheit ehemaliger Gedankenlyrik. Sie ist irgendwelchen räsonierenden, die gängigen Reflexions-Jargons lediglich reproduzierenden Stimmen vorbehalten. (In der parodistischen Überspitzung führt dies zum Eingeständnis, ja zur Kultivierung der kollektiven „Verständlichkeit“ der Poesie, zur Stilisierung eines affirmativen Dichtertyps, bei Alexander Jeremjenko, Dmitrij Prigow u.a.). Dem entspricht eine Tendenz zur syntaktischen Neutralisierung und Anonymisierung, zur Zerstäubung perspektivisch zentrierter Aussagen in eine entsubjektivierte Partikelfolge (z.B. in den ornamentalen Syntax-Geflechten Vilen Barskys, Alexander Ocheretyanskys und Wadim Kosowojs).
Zwei extrem gegensätzliche Beispiele, die beide auf ihre Weise die fortwirkende semiotische Erfahrung der totalitären Epoche verarbeiten, mögen die Spannbreite dieses veränderten Selbstverständnisses zeigen. Brodskys Zyklus „Post aetatem nostram“ und Cholins „Der neue Name des Führers“ behandeln in ganz unterschiedlicher Methodik die imperiale Selbstinszenierung ihrer Kultur. Gemeinsam ist ihnen – und vielen anderen der hier vorgestellten Dichter – ein gleichsam archäologischer Blick auf die Gegenwart, im antiken Weltreich den Archetypus für russische Imperialmythen (Moskau als das „dritte Rom“) freilegend. Der Klassizist Brodsky unterläuft sein vorgegebenes Pathos (als kollektives: „das ganze Stadion, ein Riesenohr“) durch die desillusionierenden Kommentare eines Beobachters am Rande. Der Primitivist Cholin erhöht seinen farblosen Kanzlei- und Chronistenstil durch die Phantasievorstellungen des Verfassers von seiner Rolle als bester aller Reichs- und Herrscher-Mythographen. Bei beiden sind es Bilder, überlieferte Bilder als Zeugnisse der Mythologisierung der ehemaligen Imperien, die zum Ausgangspunkt der „eigenen“ Visionen werden (Marmorstatuen bei Brodsky, ein sozialistisch-realistisches Stalingemälde bei Cholin).
Die veränderte Einstellung zu den Bildern äußert sich auch in anderem Zusammenhang: Bilder werden nicht im visionären Erleuchtungsmoment entdeckt, sie werden als bereits mitgeteilte beschrieben und in der Reflexion dieser Tatsache geradezu zerstört. Prinzipiell in Frage gestellt wird ihre ehemalige verfremdende Funktion. Wenn Brodsky im „Raubtierkäfig“ die Aufmerksamkeit vom Löwen auf das Gitter umlenkt, dann spielt er mit eben jenem Modell der Verfremdung, welches durch die Hüllen, die Verpackungen der Wörter (das Gitter) zu den Dingen und ihrem „Leben“ (der Löwe) vorstoßen wollte. Es ist gerade das von der Konkretheit, der Intensität des „Lebens“ abschirmende Gitter (in doppeltem Sinne: sowohl als Barriere vor dem Löwen, wie auch als abstrahierende Nachahmung des Urwaldes), welches den Dichter beschäftigt.
Programmatisch wird das veränderte Verhältnis zu den Bildern in der Generation der gegen Ende der 40er oder in den 50er Jahren geborenen Dichter (Alexej Parstschikow, Iwan Zhdanow, Alexander Jeremjenko, Arkadij Dragomostschenko, Viktor Korkija u.a.), die unter Bezeichnungen wie „Dreißigjährige“ oder (einige von ihnen) „Metametaphoristen“ firmieren. Ihre Dichtung potenziert die metaphorischen Substitutionen in solchem Maße, daß die ursprüngliche Abbildungsrelation umschlägt in ihr Gegenteil („das Meer: eine Müllhalde aus Wörterbüchern“, Parstschikow). „Minus-Schiff“: Parstschikow übernimmt hier ein für die Moderne kennzeichnendes Bild. Mandelstam hatte es als Dichtungsmetapher verwendet: das vom Zimmermann „kunstvoll gebaute Schiff“, zwischen Wasser und Luft, Meer und Himmel vermittelnd („Admiralität“); bei Blok war es schon in dieser vertikalen Vermittlerfunktion aufgetaucht („Schneemaske“). Jessenin erklärte es zu einem der drei Grundtypen poetischer Bilder: fähig, nicht bloß einen Zustand, ein unbewegliches Ding, sondern einen Bewegungsablauf wiederzugeben. Diese übernommene, vorgefundene Metapher wird im Zuge ihrer abermaligen Metaphorisierungen in ihrem ursprünglichen Bildbezug negiert. Der metaphorische Prozeß treibt zur Entleerung des virtuellen Referenten. Die Metapher über, die Metapher nach der Metapher (Meta-Metapher) ist kein Bild, sondern eine „Bildstörung“. Der flimmernde Fernsehmonitor ist ein pointiert gewählter Vergleich: Er ist die Nullstufe des unfaßbar schnellen Vorüberhuschens von referenzlosen Bildfunken. Die Poesie als „Bildstörung“ will keine neuen Bilder produzieren, sie will von den alten erlösen. Sie will nicht das („abwesende“) Ding hinter diesen finden, sondern sie will das „Zentrum der Leere“, das sich in ihnen verbirgt, zugänglich machen. Das „Sehen „der „Genauigkeiten“ und „Ähnlichkeiten“ ist eine Qual („Eintritt“), die „Schwellen des Bewußtseins“ verläßt man mit einer Binde vor den Augen. Parstschikow arbeitet diese Entleerung der Metaphern auch in ihrer sprachlichen Realisierung heraus: „Der Fels – unabtrennbar von. Das Wasser – Bedingung für“. Das ist die Nullstufe des Substitutionsprozesses. Die Sprache stellt keine ersetzenden Bilder mehr bereit, der „Metaphernwandel“ ist vollends in den „bedeutungslosen“ Signifikanten (der isolierten Präpositionalkonstruktion) verlagert.
Der auf diese Art und Weise radikalisierte Mechanismus der Ersetzungen, die „Raserei des Verrückens“ horizontalisiert den Text. Das permanente Weiterwuchern metaphorischer Abweichungen verhindert den Aufbau von halbwegs konstanten Merkmalbündeln. Vertikales Lesen ist verunmöglicht: im Sinne von „wörtlichem“ Lesen, d.h. der Eins-zu-eins-Zuordnung von Wort und Ding allzumal, aber auch im Sinne einer mehrschichtigen, symbolischen Konnotation übertragener Bedeutungsebenen. Das Lesen wird „buchstäblich“, orientiert sich an der reinen Verkettung. Der Text und das ihn erfassende Bewußtsein werden von einigen Autoren immer wieder als „Felder“, „auseinandergezogene Flächen“, „Membranen“, „Tiraden“, „Teppiche“, „gestrickte Spiegelflächen“ beschrieben, auf denen sich der viel eher in den Vibrationen des Laut- und Buchstabenrhythmus denn als Bilderfolge wahrzunehmende Metaphernwandel vollzieht.
Entsprechend verändert ist der Charakter des Metaphernmaterials. Dies betrifft fast alle der hier publizierten Dichter, unabhängig von der Unterschiedlichkeit ihrer poetischen Programme und Gruppen. Die klare und harte Faktur der Avantgarde wird abgelöst durch das Amorphe. Die immer wiederkehrenden „Bilder“ – eben für die Negation gestalthaft fixierbarer Bilder – sind Wachs (Boris Schapiro, Arkadij Dragomostschenko), Fette, Sekrete, Molluske (Jewgenij Dajenin, Alexander Kuschner), „Plasma“ (Viktor Kriwulin), Flechten und „schwankend gesponnenes Gewebe“ (Dragomostschenko) , Spinnengewebe, „vagabundierendes Spitzenwerk“ (Dajenin), Mäander, „Radiowellen und Öl“ (Parstschikow), Staub und „aschfarbener Flaum“ (Dragomostschenko). Wenn der Stein das Schlüsselbild der Avantgarde war, so wird es vielleicht der Staub für die Post-Avantgarde werden (Olga Denissowa, „Psalm“; Dajenin, „Weichensteller des Staubs“; Jelena Pudowkina, „Staub“… ). Staub ist ein vergängliches Material und selbst bereits das Resultat von Vergehen, – die Negation von Baumaterial schlechthin. Er ist grenzen- und rahmenlos. Er ist passiv beweglich, permanent neue momentane Formationen bildend. Er ist unendlich wie Sand, aber nicht disparat/körnig, sondern verwebt/verfilzt. Er ist restlos diffus (im Unterschied zum Splitter als der bestätigenden Negation einer ehemaligen Einheit, im Zerstören noch auf sie rückverweisend: jeder Splitter enthält das Ganze).
In dieser Vorliebe für das Amorphe und Nichtfixierbare äußert sich eine manieristische Haltung. Die allen manieristischen Kunstepochen eigene Störung einer klaren gestalthaften Wahrnehmung, ihre Betonung des Dunklen, der Disproportionen und Unähnlichkeiten, der Extremitäten und Auswüchse, der durchbrochenen Körpergrenzen, des Wimmelns findet sich wieder in den „aufgeplatzten Häuten“, „Hornauswüchsen“, „Ameisenhaufen“, „Seidenschlangen und diversen Pflanzen“ der Jelena Schwarz, in einem „blinden Flecken des glatzköpfigen Himmels auf dem Bildschirm“ (Kriwulin)… Henri Volochonskys „Kathedrale von Chartres“ liest sich wie eine manieristische Kontrafraktur der Architekturmythen der Moderne, von Mandelstam (der die „Notre-Dame de Paris“ mit einem muskulösen Athleten und einer „Festung“ verglich) bis hin zu Malewitschs „Quadrätchen“ und „geraden Linien“ (vgl. in diesem Zusammenhang auch Barskys „Stadt“ als „Fadenknäuel“).
Die Wahrnehmung der neuen Manieristen kann eine gänzlich nicht-sehende sein. Die für die unsichtbaren Vibrationen des Amorphen empfänglichen Organe sind Muskeln, „Fasern und Fibern“, „Epithelgewebe“, Schleimhäute und Poren, „löchriger Skaphander“, „Wachszellen des Hirns“, „Nüstern des Gedächtnisses“, „Blasen des Bewußtseins“. Wenn das Auge arbeitet, dann nicht die Netzhaut, sondern sein „Muskel“ oder sein „Lid aus Wachs“. Jewgenij Dajenin thematisiert eine solche nicht-retinale, „der trugbilder weißen star“ von den Pupillen abziehende, „starrende“ Wahrnehmung „an den wegesrändern vom augenpaar“ („Sie: En-Lik“), erinnernd an die leere Mitte manieristischer Kompositionen (Caravaggio).
Ein anderer Bezugspunkt für eine „nicht sehende“ Ästhetik ist die Tradition des Abstraktionismus, der Entleerung von allen gegenständlichen Formen. Der Suprematist Malewitsch hatte sich dem Kult der Dinge und Farben entgegengestellt („so hat man um der dinge und des rings des horizonts willen das unruhige bewußtsein im blauen himmelskorb verschlossen. weg mit der himmelsbläue weg mit dem horizont und der perspektive der falschen vorstellungen… die kraft der intuition hat den schädel geöffnet und das auge des bewußtseins blickt in den abgrund des raums“). Das nicht objektgebundene, das innere „Sehen“ des Suprematismus wurde eröffnet durch ein „Abreißen der Farben“, ein „Durchbrechen des blauen Lampenschirms der Farbbegrenzungen“. Übrig blieben die Null-Farben Schwarz und Weiß und die gegenstandlosen geometrischen Idealformen. Diese zu ihrer Zeit vor allem in der Malerei vertretene Position einer absoluten Gegenstandlosigkeit wird seit den sechziger Jahren von bildenden Künstlern, aber auch Dichtern kritisch beerbt. Das utopische Pathos der Suprematisten, welches sie mit den übrigen Avantgardisten verband (auch Malewitsch verstand seinen suprematistischen Formenkosmos ausdrücklich als Baumaterial einer „neuen Welt“ und lieferte mit seinen „Architektona“ frühe Beispiele konstruktivistischer Visionen), verstummt. Statt dessen werden die kontemplativen, die mystischen Erfahrungen der Abstraktion gesucht.
Der wichtigste Nach-Suprematist in der zeitgenössischen russischen Dichtung ist zweifellos Gennadij Ajgi. Die „Reinheit“ und die „Weiße“ mittels der Sprache, in der Sprache zu erfahren, ist als „lebenslängliche“ Aufgabe gestellt. Für Ajgi führt dieser Weg über eine Erhebung aus dem Schmutz des Irdischen, er möchte die Wörter von ihrer Materialität, von den ihnen anhaftenden Bedeutungsresten aus der Zeit ihrer profanen Verwendung, von der rohen, körperlichen Stimmlichkeit ihres Alltagsgebrauchs befreien und in eine immaterielle Sphäre des „höchsten sehens“ und des nicht-menschlichen Gesangs erheben. Die Figur der Negation, der „Absenz“, die immer wiederkehrende Vermerkung der Nicht-Visualisierbarkeit („ohne spur von was auch immer“) entspricht einer Auffassung vom Bild, die dieses vor allem in seiner Abweichung vom nicht darzustellenden Höchsten, und erst zweitrangig in seiner partiellen Ähnlichkeit versteht. Das Bild ist primär eine Verdunklung des in reiner Form gar nicht wahrzunehmenden, weil „blendenden“ Urlichts, und nicht dessen „transparente“ Vermittlung. „Blenden“ und „Verdunkeln“ – diese ewige Dichotomie löst sich nicht in einem positiven „Durchscheinen“ auf, sondern sie läßt sich nur in den paradoxalen, „apophatischen“ Formen der Bildvernichtung ausdrücken („die nicht allhaft glimmende gottfeuerstatt“). In der Emigration steht Olga Denissowa dieser Auffassung am nächsten („es gibt in der welt einen punkt, der den blick freigibt – nicht freigibt den blick, der einem die sicht nimmt…“). Immaterielles Licht und materielle Dinge sind durch einen „Abgrund“ getrennt.
Auch dieser Topos der Bildverneinung, der Vorstellung von Bildern als Seh-Hindernissen (im doppelten Sinne des Wortes: sowohl eines behindernden äußeren Sehens als auch eines verhinderten inneren „Sehens“) und negativen Entsprechungen eines visuell nicht Wahrzunehmenden verbindet Dichter unterschiedlicher Provenienz. In Jelena Pudowkinas „Datscha“ ist das Licht von den Dingen und Möbeln abgefallen, nur als nicht-gesehenes läßt sich ein poetisches Sujet entwickeln. (Hier gilt noch der alte Dualismus: das „wie Silber reine“ göttliche Wort steht gegen die „Wortmünzen“ des menschlichen Geschlechts.) Olga Sedakowas „Garten“ ist nur in der Verneinung anwesend, das Fenster ist ihr nicht Öffnung für den Blick, sondern Ort der „vor Dunkelheit“ quietschenden Flügel. Bei Viktor Korkija macht diese Bildvernichtung auch vor dem eingangs erwähnten archäologischen Blick auf die Zeitgeschichte nicht halt (das von der „Figur“ der „Geschichte“ verlassene, leere Skulpturenpodest). Volochonskys Kathedrale „ersteht“ in einer negativen, von einem abgelehnten Vergleich zum nächsten getriebenen und sich schließlich verlierenden Bildfolge, gipfelnd in der Desillusionierung des Lichts selbst als vermeintlichem „materiellen Halt für unsere geschickte Handarbeit“, als letztem, gleichsam ätherischem Substrat aller Bildschöpfung.
Die radikalste Position im skizzierten Problemkreis bezieht der Moskauer „Konzeptualismus“, hier vertreten durch Wsewolod Nekrassow, Andrej Monastyrskij, „Kollektive Aktionen“, Lew Rubinstein, Dmitrij Alexandrowitsch Prigow. Der Konzeptualismus als Ideenkunst hat die „Entstofflichung“ der Kunst auf das Verhältnis zu den künstlerischen Medien (dem literarischen Text, dem Bild) selbst übertragen. Er ist von seinem Ausgangspunkt her eine nicht objektgebundene Kunst. Der Textkörper und seine Begrenztheit wird selbst zum Gegenstand der Reflexion, wenn etwa wie im Falle der Rubinsteinschen Karten-Serien der poetische Text nicht mehr auf die weiße, statische Fläche des Blatts begrenzt bleibt, sondern das dynamische Ereignis des Umblätterns selbst programmiert. Der Raum außerhalb des konventionellen Text-Rahmens, die von Sprache noch nicht gefüllte und geordnete Leere – gerade sie vermitteln dem konzeptualistischen „Minus-Text“ seine Kohärenz. Und so, wie die Grenzen zwischen Text und dessen situativer Realisierung, „Aufführung“ gegenstandlos werden, so wird es auch die Grenze zwischen dem Werk und dem (theoretischen, beschreibenden, interpretierenden) Kommentar. Der Konzeptualismus erkennt die Unterscheidung von Kunst und Theorie, Literatur und Wissenschaft nicht an. Er versteht sich als eine Methode der Kulturforschung, er sieht in den vorgefundenen Zeichensystemen, in Texten, nicht in einem davor pulsierenden „Leben“ sein eigentliches Untersuchungsmaterial. (Genauer gesagt: Er weist die Vorstellung eines solchen Lebens als Illusion zurück. Welt und Text sind für ihn identisch.) Die Anfänge dieser Richtung sind vom strukturalistischen Geist der sechziger und frühen siebziger Jahre, mit seinem ausgeprägten Textbewußtsein und seiner Vorliebe für die kleinsten, vorlexikalischen Spracheinheiten geprägt. Visuelle und akustische Dichtung konzentriert sich auf reine Buchstaben- und Phonemverkettungen. (Hier schafft die später emigrierte Elisabeth Netzkowa-(Mnatsakanowa) in ihren Textornamenten eine eigenwillige Verbindung von „westlich“ linguistisch-strukturalistischem und „östlich“ kalligraphisch-meditativem Verhältnis zur Schrift, wie sie dann in anderen Formen z.B. für Andrej Monastyrskij wichtig wurde.)
Wsewolod Nekrassow macht in polemischer Abgrenzung von einem schaffenden, demiurgischen Poesieverständnis die Reduktion auf die minimalsten „Moleküle“ des Sprechens zu seiner Methode. In der Reduktion auf den Buchstaben, auf das Satzzeichen, auf das unbedeutende Hilfswort sucht er die Befreiung von einem mit Bildern und Worten bereits vollgestellten, zugestellten Kulturraum („Nicht errichten, schaffen – was haben die Schöpfer nicht alles angerichtet – sondern aufmachen, dahinterkommen, was eigentlich ist. Entdecken, fortwälzen – ist da noch wer am Leben, und es Interjektionen.“) Metaphorisches Bilderschaffen ist ihm fremd. Er beschränkt sich auf die elementarsten, die einfachsten, kunstlosesten, am meisten automatisierten Bezeichnungen als Spuren eines universalen Sprechens. Anstelle einer metaphorischen Neubildung tritt das tautologische Nachsprechen solcher Wortspuren. Der einzelne poetische Text ist kein fertiges Kunstgebilde, er ist seinerseits nur eine zufällige Spur dieses Sprechens.
Die Überwindung des zum Werk, zum Gebilde verdinglichten Texts wird auch in den „Losungen“ der „Kollektiven Aktionen“ angestrebt. Die Losung als Text-Ding bleibt als das sinnentleerte Relikt einer Tätigkeit zurück, die in einer recht aufwendigen Art und Weise die Rahmenbedingungen für den Text erst schafft. (Dem Aufhängen der Losung im disfunktionalen Kontext der Naturlandschaft geht die mehrstündige „Reise aus der Stadt“ an den Ort des Geschehens voraus, der wiederum vorher bereits ausgesucht werden mußte; Einladungen an die beteiligten Zuschauer werden verschickt usw.). Nicht nur der Inhalt des geschriebenen Texts selbst thematisiert dessen Entleerung, sondern diese wird in seiner situativen Realisierung organisiert. In einer früheren Losungsaktion wurde ein mit Tuch verhängtes Losungsband zwischen Bäumen aufgehängt. Die Tuchverdeckung durfte jedoch erst nach einer genügend großen Entfernung des Akteurs (d.h. nach einer Entfernung, die die Unentzifferbarkeit der Schrift garantierte), mithilfe einer Schnurvorrichtung gelöst werden. Die Realisierung des Texts ist die Realisierung seines Nicht-Lesens.
Die konzeptualistische Ästhetik der Leere unterscheidet sich insofern von der suprematistischen Tradition, als sie den Prozeß der Entleerung in und mittels des vorgefundenen Kulturmaterials selbst vollzieht. Ihre Texte verstehen sich nicht mehr als reine Formen in der Ausmerzung aller störenden Kultureinflüsse (Malewitschs Kampf gegen den „Eklektizismus“), sie führen im Gegenteil das schon allgemein konstatierte Prinzip des Zitierens bis zur äußersten Konsequenz. Textproduktion wird zum Auflisten und Katalogisieren, zum „Sammeln“ von Wort- und Bildmaterial (Prigows „Alphabete“, Rubinsteins „Karthoteken“…). Poesie ist keine produzierende, sondern eine reproduzierende Tätigkeit.
Dieser Gestus des Zitierens kennzeichnete bereits die erwähnten minimalistischen Arbeitsweisen. Mit der Losung wurde ja ein zentrales Text-Ding der ideologischen Gegenwartskultur dem Mechanismus der Entleerung unterworfen. Eine andere, den reproduktiven Charakter noch stärker betonende Methode vertritt Dmitrij Alexandrowitsch Prigow. Prigow arbeitet ausschließlich mit sprachlichen und ideologischen Klischees. Er geht in seinem Verzicht auf eine „eigene“ poetische Stimme so weit, daß er sich zum „Sprachrohr des gesunden Menschenverstandes“ erklärt. In krassem Widerspruch zum durch Dissonanzen und „erschwerte Wahrnehmung“ erstrebten Verfremdungs-Ideal der Avantgarde erklärt er seine Dichtung zur „aerodynamischen Röhre“, in der die Stimmen des gesunden Menschenverstandes zusammenschmelzen, „in der alles Unpassende einfach fortfliegt“. Prigow hinterfragt in dieser Selbststilisierung auf seine Weise das übermittelte Selbstverständnis und den Status des Dichters/Künstlers als Schöpfer. Er ahmt den demiurgischen Gestus selbst nach, indem er sich einen poetischen Kosmos in mythischen Dimensionen errichtet. Die Heroen, die diese mythische Welt bevölkern und ordnen, sind die Helden der trivialen sowjetischen Wirklichkeit, in ihrem Zentrum steht die Ordnungsinstanz des Milizionärs. Doch Prigows „Schöpfertum“ vollendet nur, was die ideologische Kultur vorgibt. Es schreibt die sowjetischen Heldengeschichten der Flieger und Partisanen, Matrosen und „Milizionäre“ (Majakowskij) fort und legt ihre mythische Struktur offen. In der Selbststilisierung des Schöpfers ist das ironische Fortschreiben der modernen Dichtermythen auf die Spitze getrieben.
Georg Witte, Nachwort
– Hinweis auf neuere Publikationen. –
Keine Frage, daß die russische Lyrik des 20. Jahrhunderts an Glanzpunkten besonders reich ist. Es genügt schon, die Namen von Alexander Blok und Andrej Belyj, Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak, Wladimir Majakowskij und Welimir Chlebnikow zu erwähnen, wobei gleich neue nachdrängen, bis hin zu den beiden wohl bedeutendsten Exponenten zeitgenössischer russischer Dichtung: Joseph Brodsky und Gennadij Ajgi. Ein weites Feld, für Entdeckungen wie gemacht.
Das einzige Problem, das sich bei Lyrik – insbesondere so großartiger Lyrik – stellt, ist ihre Übersetzbarkeit. Läßt sich inhaltliche und formale Äquivalenz erreichen, und mit welchen Mitteln? Soll beispielsweise der Reim, der bis heute zu den Konstanten russischer Lyrik gehört, im Deutschen grundsätzlich beibehalten werden oder eher nicht, da er im Kontext moderner deutscher Lyrik einen anderen Stellenwert besitzt? Fragen, die sich nicht immer eindeutig beantworten lassen, doch sorgfältig bedacht werden müssen.
Indes fehlt es nicht an Übertragungen russischer Dichtung, geglückten und weniger geglückten. Und die Zahl der Versuche nimmt erfreulicherweise zu – ein Umstand, der geeignet ist, das allgemeine Niveau der Übersetzungen zu heben und das Interesse des Lesers für einen immer noch ungenügend erschlossenen literarischen Kontinent zu verstärken.
In diesem Zusammenhang sei auf vier neuere Publikationen hingewiesen; zwei davon gelten dem Schaffen eines einzelnen Lyrikers, zwei weitere sind als Anthologien konzipiert.
(…) Letztere ist in Borowskys Anthologie – bezeichnenderweise? – nicht dokumentiert. Wer sich für solche Tendenzen interessiert, greift mit Vorteil zu der von Walter Thümler herausgegebenen zweisprachigen Anthologie Moderne russische Poesie seit 1966, die neununddreißig Autoren und insgesamt über hundertfünfzig Gedichte vorstellt. Überschneidungen mit Borowskys Lesebuch ergeben sich notgedrungen bei so bekannten Namen wie Bella Achmadulina, Alexander Kuschner, Joseph Brodsky, Gennadij Ajgi und anderen, doch findet man hier eine Vielzahl experimenteller Lyriker, wie Wsewolod Nekrassow, Dmitrij Prigow, Lew Rubinstein oder die Gruppe Kollektive Aktionen, die – ob einer Soz-Art oder einer Konzept-Art verpflichtet – die Sprache der Massenkultur sowie die offizielle Sprache der Macht demontieren, indem sie sie in tautologische Bestandteile zerlegen oder ironisch imitieren.
Vergeblich sucht man allerdings nach einem Vorwort des Herausgebers, das die Kriterien der Auswahl und die Prinzipien der Übertragung (es waren viele und unterschiedliche Übersetzer am Werk) erläutert. Gerne wüßte man, warum neben der Tauwetter-Poetin Bella Achmadulina nicht auch ihr Kollege Andrej Wosnessenskij figuriert, neben Wjatscheslaw Kuprijanow nicht auch Wladimir Buritsch, und was es denn mit dem Stichjahr 1966 auf sich hat. Indes macht das (leicht hochgestochene) Nachwort von Georg Witte deutlich, daß der Akzent bei dieser Anthologie auf einer „alternativen“ Poesie lag, mithin auf Texten, die ein ästhetisches (und nicht ein ideologisches) Verhältnis zur (sprachlichen) Umgebung ausdrücken. Solcher Nenner ist weit genug, um verschiedenste lyrische Stimmen, Programme und Gruppierungen zu vereinen.
Aus der Fülle sei nur eine Stimme herausgegriffen, die Oleg Prokofjews (geb. 1928), dessen Gedichte in der Sowjetunion nie erscheinen konnten:
in dem dorfkirchlein
ist der aufguß der stille so
daß die phrasen wie stäbchen hängen
und der fries bildet ungeheuer
mit schweifen aus gemeinplätzen
die unebene pausenwand
ist mit schweigefresken ausgemalt
wo engel in posaunen blasen
und man hört musik
oder nicht
(übers. v. Joachim Rohowski)
Faszinierende Sprachwelten eröffnen auch Wadim Kosowoj, Olga Denissowa, Arkadij Dragomoschtschenko und der jüngste Autor der Anthologie, Sergej Dajenin (geb. 1962). Ob sie in der Sowjetunion leben oder in der Emigration, gemeinsam ist ihnen die Suche nach einer autonomen sprachlichen Wirklichkeit, jenseits von ideologischen Barrieren und politischen Bevormundungen. In solch intensiver Bemühung um ästhetische Freiheit liegen ungeahnte Chancen. Man darf gespannt sein, wie sie von den russischen Lyrikern im weiteren genutzt werden.
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 15./16.6.1991
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