GEWITTER IM MONAT AU
Kruolkruolrolrol! Rollt der Donner.
Drom grom grom rom rom.
Krach-nisi. Das ist er.
Zick gni-isi. Glanz der Blitze.
Weg-go-schiwa. Bist du.
Rola, rolaa – majestätisches Rollen
Rolo, roloa!
Zsi. Zsi.
Mrr! Mrr! Nr!
Ra uh tohamouha. Das All erblaut.
Roa, roa,
Tuch tuch.
Wuj Wuje ujhe. Pfeift der Wirbelsturm.
Wije wijeh. Wuh-jähi.
Wrauwrau, wrauwrau!
Wrop, wrop, wrop!
Ruob, ruobolta. Ist des Gepolters Rollen.
Ruach, Ruak, Ruak.
Huho huhoä. Kreise der Ringe.
Zir, zirri!
Nachdichtung Manfred Ostückenberg
Wir wollen die Jungfrau des Wortes mit Augen, die den Schnee entzünden. Sie fegt den Boden mit einem Besen aus dunkelblauen Feldblumen. Sie streut Perlen aus, und die Pfauenherde pickt sie auf. Oh, himmelblauflammende, dunkelblauäugige, dunkelblaubrüstige Pfauen!
Wir wollen, daß das Wort kühn der Malerei folgt… Die Freiheit der Wortkunst war immer durch Wahrheiten eingeschränkt, von denen jede eine Besonderheit des Lebens ist. Diese Grenzen bestehen darin, daß die Natur, aus der die Wortkunst Paläste errichtet, die Seele des Volkes ist.
(1912)
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In Chlebnikows poetischer Welt ragen drei Festungen auf: „der Turm der Menschenmengen, der Turm der Zeit, der Turm des Wortes“. Mit einem Häuflein Gleichgesinnter zunächst waren es nur sieben, die sich Budetljane, ZukünftIer, nannten – wollte er die Steinriesen niederreißen und die darin Schmachtenden unter den freien Himmel führen, an dem die Sterne des Alls funkeln und auf dessen riesiger Leinwand Verständigungszeichen einer die Völker einenden Sternensprache flimmern. Wie einst Moses seinem Volk, brachte der Schwärmer Chlebnikow, nachdem er die Zeit, die Eingeschlossene des Raumes, befreit hatte, den Menschen ein neues Gesetz – „Die Tafeln des Schicksals“ – und prophezeite den Staaten des Raumes und der Kriege den Untergang. Doch wie er befürchtete, hätte er eher die Pferde von seiner phantastischen Entdeckung überzeugen können als die Menschen. Als Sprachrevolutionär zerschlug er den steinernen Bau der Sprache, wo, achtlosen Augen verborgen, die „Jungfrau des Wortes“ saß.
Welimir Chlebnikow blieb immer Dichter (Roman Jakobson nannte ihn 1971 sogar den „größten russischen Dichter in unserem Jahrhundert“). Von den unzähligen Verkleidungen, in die sein Dichter-Ich schlüpfte, liebte er besonders die Hülle „Rasin“ – „Doppelgänger Rasins“, „Gegenteil Rasins“, „umgekehrter Rasin“, „Rasin mit dem Banner Lobatschewskis“. Denn er fühlte sich dem aus Astrachan gebürtigen aufrührerischen Donkosaken verwandt in der Furchtlosigkeit und Kühnheit, mit der er das Banner des mathematischen Genies Lobatschewski durch seine dichterische Revolution trug. Chlebnikow glaubte die literarische Arbeit durch wissenschaftliche Methoden zu beflügeln. Er weitete das Material der Dichtung auf außerliterarische Bereiche aus, in sein Experimentierfeld gehörten außer der Sprache in ihren vielfältigsten Erscheinungsformen auch Malerei, Theater, Architektur, Mathematik, Astronomie, Geschichte, Physik. Er besaß die hellsichtige Aufmerksamkeit für das „Zufällige“, den „Fehler“ im Experiment und die Energie des Forschers, aus dem Zufälligen das neue System herauszuarbeiten. Da sein Werk wie jede revolutionierende Dichtung die Grenzen des Tradierten, zur Norm Gewordenen überschreiten mußte, galten seine Funde in der traditionellen Literaturkritik als Mißerfolge, und nur wenige – unter ihnen vor allem Roman Jakobson und Juri Tynjanow – bemerkten die Spur, die sein Schaffen den Wegen der neuen russischen Poesie aufprägte. Erst im Werk seiner berühmten Schüler (zu ihnen zählen so unterschiedliche Dichter und Prosaschriftsteller wie Majakowski, Pasternak, Bulgakow, Platonow, Wesjoly, Olescha, Tretjakow) ist sichtbar geworden, wie nachhaltig diese Spur war: „Sie fermentierte die Poesie der einen, sie lieferte den anderen spezielle Verfahren. Die Schüler bereiteten das Erscheinen des Lehrers vor.“
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Eine gültige Ausgabe des Chlebnikowschen Gesamtwerks steht noch aus. Zwar erschien 1928/33, von Nikolai Stepanow betreut, eine fünfbändige Ausgabe und gleichzeitig die Heftefolge Der unveröffentlichte Chlebnikow (lithographische Hefte in 80 bis 150 Exemplaren), von der „Gruppe der Freunde Chlebnikows“ (Olescha, Wesjoly, Pasternak u.a.) begründet und von Krutschonych herausgegeben, aber schon die 1940 von Nikolai Chardshijew und T. Griz sorgfältig edierte und viele Textungenauigkeiten behebende Ausgabe der „Unveröffentlichten Werke“ machte das Ausstehen einer textkritischen Zusammenschau empfindlich spürbar, und die in der kleinen Serie der Bibliothek des Dichters 1960 erschienene Auswahl N. Stepanows konnte diesen Mangel ohnehin nicht ausgleichen. Der alle Ausgaben und sämtliche zu des Dichters Lebzeiten veröffentlichten Texte vereinende Nachdruck des Fink Verlages München von 1972 erinnerte gleichfalls an das, was noch zu leisten wäre.
Die Editionsmisere ist im Falle Chlebnikows besonders verhängnisvoll. Denn was in seiner Geschlossenheit und Vollständigkeit nicht zugänglich ist, kann leicht als unzugänglich abgewiesen werden. Wer würde heute zum Beispiel von seinem futuristischen Mitstreiter Majakowski sagen, daß er „ein Dichter für Dichter“ sei? N. Stepanows Chlebnikowmonographie (Moskau, 1975) spiegelt in ihrer unermüdlichen Polemik gegen dieses Etikett das Fortleben eines solchen unüberprüften Vorurteils.
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So bleibt Chlebnikows Spur auch im engen Sinnn „Signum des Gefangenen“, so wie er es selbst im „Sangesi“, seinem letzten Poem, sah:
Ich Schmetterling, verflogen
in des Menschenlebens Zimmer, muß
hinterlassen den Schriftzug meines Staubes
den strengen Fenstern, als Signum des Gefangenen
auf dem harten Glas des Schicksals.
In diesem Bild ist die Dichterexistenz Chlebnikows umrissen, und sie wirkt nicht nur hilflos, wie Stepanow meint, sie erscheint einfach, naiv und zugleich „seherisch“, denn das „Glas des Schicksals“ ist durchsichtig und gibt den Blick frei auf ein Größeres. Vor dem Hintergrund dieser Selbstdarstellung erfährt Chlebnikows Konfrontation mit Rasin eine wesentliche Vertiefung. In dem Text „Ra“ entwickelt der Dichter die poetische Etymologie des Wortes Rasin aus Ra, dem Namen des altägyptischen Sonnengottes und Weltenschöpfers, der gleichzeitig bei den alten Griechen der Name für die Wolga ist, und dem Wort „sin“ (Auge). Rasin ist nun der, welcher Ra, den Gott, in der Unzahl, dem Wolgastrom von Augen sieht und in ihrem Leuchten und Blitzen Sonne, Freiheit, Leben schaut, der im selben Schauen auch Ra, die Wolga, sein Schicksal, sein Rebellentum sieht, im Sehen aber die tragische Erfüllung seines Schicksals (die Schlinge des Henkers) erfährt. Aus dem Namen schafft der Dichter hier den bildlichen Kosmos einer Existenz.
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Als Tynjanow 1928 schrieb, Chlebnikow bedeute eine „neue Sehweise“, da meinte er vor allem sein Verhältnis zum Wort, das „neu, kindlich und heidnisch“ war. Die Erkenntnis, daß die Literatursprache „versteinere“ („der Turm des Wortes“), daß die „taubstummen Schichten der Sprache“ wieder zum Klingen gebracht werden müßten, führte Chlebnikow zurück zu den Quellen der Sprache, dahin, wo „auf dem Land… bis heute Sprache im Entstehen ist“, wo in jedem Augenblick Wörter geboren werden, die „bald sterben und bald das Recht auf Unsterblichkeit erlangen“. So wurde das Wort als lebendiges Wesen wiederentdeckt, das eine Zeit der Blüte und eine Zeit der Frucht hatte, da es am „Baum des Wortes“ wuchs. Und da es zudem ein „Doppelleben“ führte, das im Klang und im Sinn seine Erfüllung fand, war bald das eine, bald das andere beherrschendes Element. Doch erst, wenn der Wortebaum in der „Blüte des Klangs“ gestanden hatte, trug er die „schweren Früchte des Sinns“, wie sie aus dem „Schaffen Tolstois, Puschkins, Dostojewskis“ entgegenleuchteten. Anders ausgedrückt: „Bisweilen ist die Sonne der Klang und die Erde der Begriff, bisweilen ist die Sonne der Begriff und die Erde der Klang.“
Chlebnikow wollte das Doppelleben des Wortes, das zweifach lebendige Wort für die Wortkunst, die Dichtung, zurückgewinnen. Seine mit wissenschaftlichen Methoden gewonnenen Sprachfunde, Poesiefunde (sein exemplarisches Gedicht „Beschwörung mit Lachen“ war vor 1910 entstanden) bildeten das Grundkapital, mit dem die russische Bewegung des Futurismus (speziell des Kubofuturismus, dessen Anhänger sich auch „Hyläa“ oder Budetljane nannten) ihr herausforderndes, respektloses, „die Klassiker vom Dampfer der Gegenwart“ stoßendes poetisches Programm bestritt.
Der Kampf um eine Poesie des „Wortes als solchem“, des „selbstwertigen Wortes“, war der feste Punkt in den Manifesten und Deklarationen von 1912 bis 1914 („Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, „Der brüllende Parnaß“ u.a.), die von David und Nikolai Burljuk, Wladimir Majakowski, Wassili Kamenski, Alexej Krutschonych, Benedikt Lifschitz, Viktor Chlebnikow unterzeichnet waren. In dieser eindeutig ästhetisch bestimmten Position unterschied sich der russische Futurismus von dem italienischen Futurismus Marinettis, der den entscheidenden Anstoß für Neuerung in dem Bestreben sah, „von neuen Fakten in der physischen und psychischen Welt zu berichten“. Während er mit seiner Zielsetzung in einem „emotionalen, affektiven Sprachsystem“ befangen blieb, strebten die russischen Futuristen zur Erneuerung der poetischen Sprache, zum selbstwertigen Wort als dem „kanonisierten bloßgelegten Material“.
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Der Blick für das Material der Kunst war auch durch die parallel laufende Entwicklung der Malerei geschärft worden. Der freie Umgang mit dem Material – Farbe, Linie, Fläche −, den die von Cézanne und Picasso beeindruckten jungen Maler N. Gontscharowa, M. Larionow, A. Lentulow – später auch W. Tatlin, K. Malewitsch, P. Filonow als Illustratoren der Futuristen – vorführten, gab den Dichtern, die fast alle auch zeichneten und malten, vielfältige Impulse. Nicht nur Termini wie Faktur und Verschiebung wechselten in die Wortkunst hinüber. Auch der vers libre, den man bei Rimbaud, Corbière, Laforgue in den Übersetzungen von Innokenti Annenski und Benedikt Lifschitz eben zur Kenntnis genommen hatte und dessen „einziger und hervorragendster“ russischer Vertreter (wie Burljuk meinte) Chlebnikow war, besaß sein Pendant in der freien Zeichnung der Nachbarkunst. Ein sprechendes Beispiel für die Umsetzung eines malerischen Verfahrens im Gedicht sind die Verse „Im Bobeobi sangen die Lippen…“, wo durch die klangliche Nachbildung der Tätigkeit verschiedener Körperteile (Lippen, Augen, Brauen) dynamische und zugleich farbige Einzelbilder entstehen, die sich auf der „Leinwand“ des bildlichen Denkens und Assoziierens zum lebendigen „Gesicht“ vereinigen. Daß Chlebnikow die Kombination Klang – Farbe gerade in diesem Fall beabsichtigte, geht aus folgender Notiz hervor: „B oder hellrote Farbe, und deshalb die Lippen bobeobi, wääomi dunkelblau, deshalb die Augen dunkelblau, pääo schwarz.“
Selbst das „Wort als solches“ wird von Chlebnikow als malerisches Bild dargestellt: als Jungfrau (denn „die Heimat des Wortes ist die Zukunft. Von dort weht der Wind der Wortgötter“), mit Augen, „die den Schnee entzünden“, und Händen, die den Boden reinfegen und Perlen ausstreuen, Nahrung für „himmelblauflammende Pfauen“. Und muten diese nicht als die Verkörperung der im gleichen Text zitierten „Seele des Volkes“ an?
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Chlebnikows Arbeit mit dem Wort zielt immer auf den Sinn. Mehr noch, „Wörter sind besonders stark, wenn sie zwei Sinne haben, wenn sie lebendige Augen für das Geheimnis sind“. Wenn er klangähnliche Wörter nebeneinandersteIlt, die nicht miteinander verwandt sind, wirft das eine seinen Sinnschatten auf das andere und umgekehrt, und die ganze Wortkette vermittelt innerhalb der ästhetischen eine neue Sinn-Erfahrung. Wenn er die den Gesetzen der russischen Sprache natürliche Wortbildung mit Hilfe von Prä- und Suffixen aufgreift (wie in „Beschwörung mit Lachen“), weitet er das Bedeutungsfeld der neuen Wörter bis zu ungewissen Grenzen aus. Wenn er in einem Wort mit einem festumrissenen Sinn (z.B. dworjane – Adlige) einen Laut durch einen anderen ersetzt (z.B. d durch t), dann leiht das erste Wort (dworjane) dem neuentstandenen (tworjane) die Umrisse, das Gesicht, und das neue gewinnt einen etwas unbestimmten, schwankenden Sinn, denn tworjane sind in der Gegenüberstellung mit dworjane nicht einfach Schöpfer, Schaffende, es sind im Kontext des Poems „Ladomir“ auch die neuen Herrscher. Indem er in seinem System der poetischen Etymologie davon ausgeht, daß in der Urzeit der Wortentstehung die Wurzeln der Wörter vokallos oder zumindest vokalarm waren und die Vokale als Träger der Wurzelflexion in Erscheinung traten, macht er wiederum Zusammenhänge zwischen Wörtern der entferntesten Sinnreihen sichtbar und gewinnt die lebendige Bewegung innerhalb der Wurzel für die poetische Sprache. Nach Chlebnikows Hypothese besaß die Urwurzel eine solche Bedeutungsbreite, daß durch ihre Beugung auch ein Gegensinn ausgedrückt werden konnte. Wenn die Bewegung in der Wurzel auf die Frage „von wo?“ (Genitiv) und „wohin? wo?“ (Dativ, Akkusativ) erfolgt, so ist babr (Tiger) eine Gefahr für bobr (Biber); les (Wald) Zeichen für Pflanzenwuchs, während lyssy (kahl) das Fehlen von Pflanzen angibt; byk (Stier) ist das, was stößt, bok (Seite), das, wohin gestoßen wird usw. (Schon 1921 stellt Jakobson fest, dieses Verfahren sei von Majakowski und Assejew popularisiert worden.)
Auch wenn Chlebnikow die Sprache der Saum (ein von Krutschonych geprägter Begriff) verwendet, die eine Sprache „jenseits der Grenzen des Verstandes“ ist und deren Ausgangspunkt für ihn in der magischen Wirkung von Zauberformeln liegt, gibt er ihr durch den Kontext zunächst den Wert einer Vogel-, Nixen-, Göttersprache, wie sie in der Folklore und der Sprechweise bestimmter Sekten (z.B. in den „Zungenreden“ das Warlaam Schischkow) existiert, bis er einen Weg sieht, auch sie der Herrschaft des Verstandes zu unterwerfen. Er erhebt die Konsonanten zu Herren des Alphabets und den einzelnen Laut, den „unteilbaren Körper der Sprache“, zum Namen, Zeichen und Keim einer Sternensprache, die – nach seinen Worten – die Völker einst vereinigen werde. Die Untersuchung gleichanlautender Wörter bringt ihn auf den Gedanken, daß der anlautende Konsonant die ihm folgenden Laute (die „Sternschnuppenschwänze“) befehligen müsse; er gilt ihm als Name für eine Bewegung im Raum (Sternenbewegung). So bezeichnet das tsch eine Umhüllung (die russischen Äquivalente für Schale, Schädel, Schuh, Strumpf, Scheuche, Schwindsucht beginnen mit tsch) , das l den Übergang eines längs der Bewegungsachse verlaufenden Körpers in einen, der sich in zwei quer zu dieser Achse liegenden Ausdehnungen erstreckt (aus dem fallenden Tropfen wird die Lache), das k einen unbeweglichen Punkt, der ein Netz beweglicher Punkte bindet.
Chlebnikow wollte das Wort aus der „Lüge“ befreien, in die es die Alltagssprache (mit ihren Schablonen, Etikettierungen, ihrer Oberflächeninformation), aber auch die Sprache der Dichtung (mit ihrer Tendenz zur ausschließlichen Symbolisierung) verstrickt hatte, damit das Wort, wie Tretjakow es ausdrückt, „dem Bedürfnis des Menschen entsprechend brennt, sich einschmeichelt, kratzt und sichtbare Gänge in das verstopfte Bewußtsein bohrt“. Chlebnikow ist kein Dichter des Effekts, er verbindet stets das Überraschende, Neue mit dem Bekannten, Vertrauten, und sein ästhetisches System verwirklicht sich in dieser Verkettung. Dem ehrlichen Wort, dem notwendigen, unverwechselbar „intimen“ (Tynjanow) Ausdruck, entspricht das ehrliche, motivierungsfreie Vorzeigen der Kunstmittel. Um die natürlichste, ungezwungenste Ausdrucksform zu finden, schafft er ein neues System des polymetrischen Verses, das in einer Strophe verschiedene klassische Versmaße zuläßt. Chlebnikow sagt dazu: „Die Zeile ist der Gang oder Tanz eines, der durch eine Tür eintritt und durch eine andere hinausgeht. Folglich ist das strenge Versmaß ein stummer Tanz, aber die Freiheit von ihm (nicht die künstliche, sondern die unwillkürliche) ist bereits Sprache, Gefühl, ausgestattet mit dem Wort.“ Deshalb zerstört er die gewohnten Formen der dichterischen Syntax durch Inversionen, verändert die Zuordnung der syntaktischen Glieder, stellt dienende Wörter ans Zeilenende, verwendet statt des Verbs verstärkt das Adverbialpartizip und benutzt in auffallender Weise den Instrumental zur adverbialen Charakterisierung. Er wendet sich dem bisher vorwiegend in Scherzrede und Scherzlied heimischen Kalauerreim zu.
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Chlebnikows Instrumentarium kennt keine Tabus, denn der Dichter spielt auf der „Balalaika des Budetljanin“. Für ihn gibt es keine Rangordnung der Gegenstände, mit aufmerksamem Blick sieht er in jedem Gegenstand das Prozeßhafte, das Geflecht von Beziehungen zum Ganzen, und die „reinen Gesetze“, denen er dient, „sind überall dieselben für alle Dinge, Sterne und Menschen“. Indem er die Gegenstände der Welt, einschließlich der abstrakten Zahlengrößen, mit Leben erfüllt und sie in ungewohntem, fremdem, auch widerspenstigem Gewand zeigt, gewinnt er zu ihnen ein kindliches, unentfremdetes, von Staunen und Überraschung getragenes Verhältnis zurück.
Als natürliches Thema erwächst aus seinem poetischen System das Heidentum, die Zeit, als die Menschen noch nicht „so schlau“ waren, die „Welt als tote Natur“ zu betrachten, und als das Volk in seinen Märchen und Mythen auch Künftiges der Menschheitsgeschichte prophetisch besang. In der literarischen Form einer frühen Zeit der Menschheit, dem Epos, findet er die ihm gemäße Gestaltungsform. Er beginnt mit heidnischen Poemen („Der Schamane und Venus“, „I und E“ u.a.), doch ist es eine heidnische Welt, „die in der Nähe kribbelt und die unmerklich mit unserem Dorf und unserer Stadt verschmilzt“. Zu gleicher Zeit aber entwirft er die apokalyptische Vision vom Aufstand der Dinge im „Kranich“ und – abgewandelt, als Auferstehung der Dinge und Versteinerung der Menschen in der „Marquise Desaix“. Schon im August 1909 schreibt er an W. Kamenski : „Ich habe mir ein vielschichtiges Werk ,Quer durch die Zeiten‘ vorgenommen, wo die Regeln der Logik der Zeit und des Raums so oft unterbrochen werden sollen, wie ein Trinker in einer Stunde zum Glas greift. Jedes Kapitel soll dem andern unähnlich sein. Dabei will ich mit der Großzügigkeit eines Bettlers alle meine Farben und Entdeckungen auf die Palette werfen… Gedruckt würde diese Sache so erfolglos scheinen, wie sie bemerkenswert wäre. Das Schlußkapitel ist mein Programm für die künftige Menschheit.“ Dieses in seinen zyklisch komponierten Werken „Die Kinder des Otters“, „Der Krieg in der Mausefalle“ und „Sangesi“ annähernd verwirklichte Prinzip ist tatsächlich das seherische Zentrum aller seiner Entwürfe, die darauf zielen, die unauflösliche Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erreichen, die Aufgabe eines „Weichenstellers“ zu erfüllen, wo sich Vergangenheit und Zukunft begegnen.
Mit dem Zusammenrücken der Zeiten scheinen auch die Grenzen zwischen Ferne und Nähe, Großem und Kleinem, Leben und Tod, Ich und Welt zu verschwinden; eine Geschichte kann im Krebsgang erzählt werden und sich gleichzeitig auch auf die Zukunft beziehen („Weltvomende“), das Bewußtsein kann in den Stimmen des Gesichtes, Gehörs, Verstandes, Denkens, Erinnerns sprechen („Frau Lenin“). Die Beschwörung der großen Geister verschiedener Epochen (Hannibal, Rasin, Lomonossow u.a.), wie sie in dem Orotschenmythos von den „Kindern des Otters“ erzählt wird, entpuppt sich als Einkehr in die Seele des Otternsohns, die „Chlebnikowinsel“ heißt. In diesem poetischen System kann eine gesellschaftliche Revolution (die von 1917) prophezeit werden, und die Befreiung eines Volkes kann in der Befreiung der Völker „des Staates Ich“ (wie in „Ich und Russland“) Bild werden.
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In diesem System, in dem die Türen weit offen stehen für die Bylinendichtung, das Igorlied, für Dershawin, Puschkin, Nekrassow, aber auch für Whitman und Rimbaud, hängen die Schlüssel zu den Geheimkammern überall an der Wand. Es bedarf allerdings der Mühe, die jeweils passenden Schlüssel ausfindig zu machen, um mit der Begeisterung von Entdeckern in den Räumen herumwandern zu können.
„Im ,Jungfrauengott’“, schreibt Chlebnikow, „wollte ich den slawischen reinen Ursprung nehmen in seinem golden Lindenen, mit den Fäden, die von der Wolga bis nach Griechenland gespannt sind.“ Die der griechischen Mythologie entlehnte und in dem Stück als flüchtiges Bild beschworene Verwandlung des Jungfrauengottes in einen verfolgten Hirsch und dessen Rückverwandlung steht zweifellos im Sinnzusammenhang mit dem Gedicht „Dickichte“, dem ersten dieses Bandes. Die von Chlebnikow gegebene Erläuterung, der Hirsch sei Rußland (ein Vergleich, der in „Sangesi“ wiederkehrt), legt den Gedanken nahe, daß der Hirsch mit „der Schönheit des Antlitzes, jungfräulich gleichsam“ auf die Anwesenheit des Jungfrauengottes hindeutet. Ein weiteres Mal wird sie in einem von Chlebnikows letzten großen Poemen mit Revolutionsthematik transparent, im traumhaften Zwiegespräch des Matrosen mit jenem Gott von der Ikone (Gott und Mensch und mädchenhaft und uralt), das für Augenblicke schicksalhaft die „Meereswogen“ glättet („Nächtliche Haussuchung“). Das Meer, das hier wie Blocks Schneesturm in den „Zwölf“ die Elementarkraft der Revolution versinnbildlicht, ist tiefblau und schwer und nicht von der Farbe des Himmels. Auch der Himmel muß bei Chlebnikow nicht unbedingt himmelblau sein, aber Rasins Schwert ist himmelblau und der Petschenege, der Jaroslawna streichelt, und die Pfauen, die im Wort die Perlen aufpicken, himmelblau ist der Buchstabe K und folglich das Wesen Ka, das in allen Zeiten zu Hause ist, „der Schatten der Seele“. Nimmt es dann wunder, daß im Reich des Zahlengottes, des Königs der Zeit, das Blut nicht rot, sondern himmelblau sein muß?
In diesem Reich der Zeit werden die Tiere nicht mehr die Vertriebenen sein, die in die Herzen der Menschen fliehen müssen, um „tierische Städte“ darin zu erbauen; die Menschen werden frei sein, weil sie nach den Gesetzen der Zeit handeln und den Krieg auf ewig in der „Mausefalle“ gefangenhalten. Dort werden die „Erfinder“ endlich die „Erwerber“, die immer von ihnen profitiert und sie gleichzeitig stets verfolgt haben, auf ihre Plätze verweisen, bis sich eine „wissenschaftlich geformte Menschheit“ herausgebildet hat. Die „Hirnpflüger“ aber, die dem Menschenhirn, dem „jungen Hund“, zu seinen drei Beinen (den Achsen des Raumes) das vierte (die Achse der Zeit) geben, werden die 317 Vorsitzenden des Erdballs sein (Philosophen, Revolutionäre, Dichter, Wissenschaftler), denen Welimir I. vorangeht. Mit dieser Utopie rücken die Wissenschaften – Mathematik, Geschichte, Astronomie – in die Mitte des poetischen Weltsystems, als dessen Gott sich jäh der Zahlengott zu erkennen gibt; da aber das Spiegelbild des Zahlengottes Chlebnikow selbst ist („Die Kappe des Skythen“), bleibt er folgerichtig im Zentrum seiner Schöpfung.
Den Entschluß, nach den Gesetzen der Zeit zu suchen, faßte Chlebnikow, als er im Mai 1905 von der verheerenden Niederlage der russischen Flotte bei Tsushima erfuhr: „Ich wollte die Rechtfertigung für diese Tode finden.“ Von da an stellte er die großen kriegerischen Ereignisse der Menschheitsgeschichte in riesigen Tabellen zusammen und suchte den Zahlenschlüssel zu entdecken, der ihre Abfolge regierte. Schon 1912 glaubte er im Vielfachen von 365 ± 48 (Jahren) die Zahl zu erkennen, die Gleichartiges bzw. Ungleichartiges in der Geschichte verbindet, und sagte für 1917 den Zusammenbruch eines Staates voraus (in „Lehrer und Schüler“). In dem Aufsatz „Unsere Grundlage“ (1919) stellte er die Beziehung zwischen dem Schwingen der Saite der Menschheit im Rhythmus von 317 Jahren (also 317 x 365 Tagen) und dem Lebensrhythmus des Menschen her, dessen Herz durchschnittlich 365 X 317 Schläge am Tag ausführe, und konstruierte aus diesen bei den Saiten und der Klangsaite der Tönewelt (A) die „Balalaika des Budetljanin“. Aber erst 1922 vollendete er die „Tafeln des Schicksals“, sein letztes, die Ergebnisse der von ihm als außerliterarisch betrachteten Forschungen zusammenfassendes Werk und kam auf die einfache Definition, die Gleichungen der Zeit seien die Umkehrung der Gleichungen des Raums, denn dem dreidimensionalen Raum und der zweidimensionalen Fläche entsprächen in den Gleichungen der Zeit die Potenzen der Drei („das Rad des Todes“, in dem ein Ereignis steht, wie es in der „Nächtlichen Haussuchung“ realisiert wird) und die Potenzen der Zwei, die gleichartige (positive) Ereignisse miteinander verbänden, sie „bewegten“ (wie es in dem Gedicht „Drohung, Druck und Drängelei“ heißt).
In dieser neu gesehenen Welt der bloßgelegten Gesetzmäßigkeiten sind die Sterne, die Menschen und alle Dinge Gleichberechtigte, Brüder. Und Chlebnikows Forderung, den Sonnen zu befehlen, ist hier ebenso angemessen wie die, auch das Tierreich in das Gebot der Nächstenliebe einzubeziehen. In seinen Zukunftsvisionen gehört es zum Alltagswissen, daß die lebendigen Tieraugen Strahlen aussenden, die seelisch kranke Menschen besänftigen können.
„Heilung durch Blicke“ – ist dies nicht die innerste Utopie des Dichters, der ein Seher und ein Sehender ist, bei dem die Worte Augen, die Buchstaben Farben haben und über dessen Seele sich der nächtliche Sternenhimmel wölbt? Doch haben wir Augen, zu sehen?
Marga Erb, Nachwort
ist unermesslich geringer als seine Bedeutsamkeit. Von einem Hundert seiner Leser nannten fünfzig ihn einfach einen „Graphomanen“, vierzig lasen ihn zur Erheiterung und wunderten sich über die Ergebnislosigkeit der Lektüre, und nur zehn – die futuristischen Dichter, die Philologen der „Gesellschaft zum Studium der Theorie der poetischen Sprache“ – kannten und liebten diesen Kolumbus der neuen dichterischen Kontinente, die jetzt von ihnen besiedelt und urbar gemacht werden.
Wladimir Majakowski, 1922
Gewöhnlich wird angenommen, der Lehrer bereite die Aufnahme der Schüler vor. In Wirklichkeit geschieht das Gegenteil. Es vergehen viele Jahre unterirdischer, verborgener Arbeit des fermentierenden Elements, bis es endlich nicht als Element, sondern als Erscheinung an die Oberfläche gelangt. Chlebnikows Stimme hat sich in der gegenwärtigen Poesie schon kundgetan. Der Einfluß seiner klaren Prosa liegt in der Zukunft. Chlebnikow sammelt keine Themen, die ihm von außen aufgegeben wurden. Die Methode des Künstlers, seine Person, seine Sicht entwickeln sich selbt zu Themen. Denn in diesen Methoden liegt die Moral des neuen Dichters. Es ist die Moral der Aufmerksamkeit und der Furchtlosigkeit, der Aufmerksamkeit für das „Zufällige“ (tatsächlich aber Charakteristische und Wirkliche) das durch Rhetorik und blinde Gewohnheit erstickt wurde, der Furchtlosigkeit vor dem ehrlichen poetischen Wort, das ohne literarische Tara zu Papier gebracht wird, der Furchtlosigkeit vor dem notwendigen und durch kein anderes zu ersetzendes Wort, das „nicht vom Almosen der Nachbarn lebt“.
Juri Tynjanow, 1928
Verlag Volk und Welt, Beizettel, 1984
Für Olshas Sulejmenow
Chlebnikow weiß nicht, was das ist – ein Zeitgenosse. Er ist Bürger aller Geschichte, des gesamten Systems der Sprache und der Poesie. Irgendein idiotischer Einstein, der nicht begreift, was näher liegt – die Eisenbahnbrücke oder das „Igor-Lied“. Chlebnikows Poesie ist idiotisch in der direkten, griechischen, nicht beleidigenden Bedeutung dieses Wortes. Die Zeitgenossen fanden und finden den Mangel an Epochenaffekt, von dem er auch nicht den geringsten Anflug besitzt, unverzeihlich. Wie groß erst ihr Entsetzen, wenn dieser Mensch, der den Gesprächspartner einfach nicht bemerkt, der seine Zeit in nichts aus den Jahrhunderten heraushebt, sich dabei als ungewöhnlich umgänglich erweist und in hohem Maße begabt mit der ganz puschkinschen Kunst poetischer Causerie.
Ossip Mandelstam: Sturm und Drang, 1923
Gerät, wer von Chlebnikow spricht, so stark in Erregung? Manchmal sagt er jedenfalls Dinge, die er bisher nicht zu sagen wagte und nie danach wird sagen können.
Noch bevor Mandelstam Chlebnikow „idiotisch“ fand, nämlich unkundig der Übereinkünfte, war er Majakowski wie ein „höchstedler Ritter“ erschienen – was für ein Wort in seinem Munde! Nur das Entlegene sollte auf den Dichter passen? Meinten die beiden dann wirklich noch denselben Mann?
Sechs, sieben Jahre nach Chlebnikows Tod glaubten einige Erzähler plötzlich, er allein rette die russische Prosa. Möglicherweise hat Juri Tynjanow damit angefangen.
In seinem Vorwort zur Chlebnikow-Ausgabe steht 1928 der verführerische Satz:
Der Einfluß seiner klaren Prosa liegt in der Zukunft.
Kurz; darauf verwies Wsewolod Iwanow nach einem Ausfall gegen Tschechow und dessen „Lehrer Tolstoi“, deren Einfluß „schädlich, zersetzend“ sei und, wo immer er auftrete, „erbarmungslos bekämpft und unterbunden“ werden müsse, auf das Vorbild der Prosa Chlebnikows, des Physiologen Pawlow, der Lehrbücher für Chemie und Geologie. Juri Olescha bezog sich im Dezember 1929 auf Iwanow, interpretierte ihn aber in seiner Widmung für den Neudruck von Chlebnikows Tiergarten (1909) in ganz anderer Richtung. Halluzination sei der Anfang der Dichtung; welches Entzücken bereite einem doch die „erstaunliche Einfachheit der sogenannten Unverständlichkeit“ Chlebnikows:
Den Tiergarten halte ich für ein Meisterwerk. „… ein Schrecken der Hirsch, erblühend zu wuchtigem Stein…“. – eine Akademie für Prosaschreiber. Die proletarischen Schriftsteller rufen ihre Jünger auf, bei den Klassikern zu lernen, bei Turgenjew, Tolstoi.
Lüge! Verderben.
Es muß eine große Verzweiflung gewesen sein, die den Schriftstellern diese dramatischen Reden wider die Klassiker eingab, eine Verzweiflung, gegen die nur das Fernste und Fremde half. Welcher Art mochte diese Verzweiflung sein und welcher Art die Hilfe, die man sich von Chlebnikow erhoffte? Wenn er gar Rettung verhieß, warum wurde sie so eilig in die Zukunft verlegt? Hatte man hier tatsächlich das „riesige allrussische Ritual- und Bilderbuch“, aus dem nach Mandelstam Jahrhunderte zu schöpfen sei? War Chlebnikow vielleicht das „Samenkorn des Menschen der Zukunft“, wie Artjom Wesjoly glaubte? Gab es aus dem Rausch der Verzweiflung keinen anderen Ausweg als in den Rausch der Prophetie?
Alles weist daraufhin, daß Welimir Chlebnikow in diesem Augenblick die Schlüsselfigur in einem verborgenen Kampfe war, der um die Orientierung der Literatur geführt wurde. Wie war er dazu gekommen?
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Chlebnikows tiefste Sehnsucht war die Grenze der Zeit und doch muß ich meinen Versuch mit seinem Aufbruch im Raum beginnen. Was Chlebnikow entwarf, war die kühnste Landnahme der russischen Poesie seit Alexander Puschkin. Anfang 1913 schloß er die kleine Schrift über die Erweiterung der Grenzen der russischen Literatur unmißverständlich mit dem Satz:
Das Hirn des Landes darf nicht rein großrussisch sein. Besser, es wäre kontinental.
Die russische Literatur habe sich um riesige Gebiete des Festlandes kaum gekümmert. Polen nennt Chlebnikow als erstes. Dann sei das erstaunliche Leben der tausendjährigen Seerepublik Dubrovnik-Ragusa, des „slawischen Genua oder Venedig“ nicht in die russische Literatur eingeflossen. Das slawische Rügen, die Pomoranen und Polaben fehlten ihr ebenso wie Samo, der erste Führer eines slawischen Großreichs zwischen Böhmen und Kärnten, ein Zeitgenosse Mohammeds – „vielleicht das nördliche Strahlen desselben Wetterleuchtens“. Der byzantinische Kaiser Justinian – war er nicht Slawe, gar Russe und hatte Uprawda geheißen? Unempfänglich sei sie für die persischen und mongolischen Strömungen geblieben, obwohl doch die „Mongolo-Finnen“ das Land vor den Russen beherrschten. Indien behandele sie geradezu wie einen Naturschutzpark. In den Jahrzehnten zwischen Rjurik und Wladimir oder dann zwischen Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen habe das russische Volk für die russische Literatur so gut wie nicht existiert. Und weiter: Der Wolgastaat mit dem untergegangenen Bulgar, mit Kasan sei ebenso vergessen wie die alten Wege nach Indien, die Beziehungen zu den Arabern oder das nördliche Biarmia-Reich an den Ufern des Weißen Meeres mit seinen Verbindungen zu Persien und Byzanz. Mit Ausnahme von Nowgorod spielten die russischen Teilfürstentümer für sie keine Rolle, auch die Kosakenstaaten blieben unberücksichtigt, wo doch die Kosaken einen vom Geist des Landes geschaffenen niederen Adel darstellten. Zwar sei der Kaukasus besungen worden, nicht aber der Ural, nicht Sibirien und der Amur mit seinen uralten Orotschen-Sagen von der Herkunft der Menschen. Ausgeklammert auch die großen Schlachten des 14. und 15. Jahrhunderts, die die Geschichte Europas entschieden: auf dem Schnepfenfeld 1380, als Dmitri Donskoj die Tataren schlug; auf dem Amselfeld 1389, als die Osmanen auf dem Balkan siegten; bei Grunwald 1410, als ein polnisch-litauisch-russisches Heer den Deutschen Ritterorden besiegte. Unbemerkt geblieben schließlich das Leben der Juden. Insgesamt gesehen fehle es an Dichtungen, die den Geist des Kontinents und die Seele der besiegten Ureinwohner aufnähmen und so an den Sieger weiterleiteten wie in Longfellows Indianerepos „The Song of Hiawatha“.
Wie sich Chlebnikow die Bewältigung dieser Landnahme vorstellte, liest man im Vorwort zu einer Werkausgabe, die sechs Jahre nach der Programmschrift geplant war, aber nicht zustande kam. An drei Dichtungen, dem Stück Gott der Jungfrauen (1912), der Montage Die Kinder des Otters (1913) und der Prosa Ka (1916) erklärt er seinen Versuch, den Raum zu erobern. Aus dem „Gott der Jungfrauen“ klinge die slawische Stimme – „das golden Lindene rein slawischen Ursprungs mit den Fäden, die sich von der Wolga bis nach Griechenland ziehen“. Aus den Kindern des Otters’ klinge die asiatische Stimme – die Wolga ist hier „der Fluß der Indo-Russen“ und Persien der „Winkel der russischen und makedonischen Geraden“; die Sagen der Orotschen vom Amur über den ursprünglich feurigen Zustand der Erde inspirierten Chlebnikow zu dem Plan, ein „gemeinasiatisches Bewußtsein in Liedern zu bauen“. Aus Ka klinge die afrikanische Stimme – im Gleichklang mit Puschkins „Ägyptischen Nächten“. Sehnsucht des nördlichen Schneesturms nach der Glut des Nils: erzählt werden die Abenteuer eines geflügelten Ka, nach altägyptischem Glauben des Doppelgängers des Menschen nach seinem Tode; im Mittelpunkt steht Amenophis IV., der Mitte des 14. Jahrhunderts vor Christi Geburt als Echnaton für kurze Zeit den Kult der Sonnenscheibe Aton als Staatsreligion durchsetzte – Chlebnikow nennt ihn den Mohammed Ägyptens. Auf die Spitze getrieben findet man Chlebnikows Denken in Kontinenten und ihren Mythen und Religionen in einem Text von 1919, den er so gern hatte, daß er ihn mehrfach verwandte. Es ist die arkadische Vision einer spielenden, plaudernden, kunstfreudigen Götterrunde:
Dahin, dahin,
Wo Isanagi
„Monogatari“ las Perun.
Wo Eros saß auf Shang-tis Knien
Und grau der Schopf auf Gottes kahlem Kopf
Dem Schneeball glich, dem Schnee.
Wo Amor Maa-Ema küßte
Und Ti-en Indra unterhält.
Wo Juno und Cihuacoatl
Correggio betrachten
Und von Murillo schwärmen.
Wo Unkulunkulu und Thor
Kopf in die Hand gestützt
Friedlich Dame spielen
Und wo von Hokusai entflammt Astarte –
Dahin, dahin!
Wer sich hier küßt, amüsiert, Dame spielt, an japanischer Prosa („Monogatari“) oder europäischer und japanischer Malerei erfreut, das sind die obersten Götter der Japaner (Isanagi), Russen (Perun), Chinesen (Shang-ti, Ti-en), Polynesier (Maa-Ema), Indoarier (Indra), Amazulen (Unkulunkulu) und Skandinavier (Thor) und die Liebes-, Fruchtbarkeits-, Mutterschaftsgötter der Griechen (Juno, Amor, Eros), der Azteken (Cihuacoatl) und der Phönizier (Astarte).
Reizt schon das Unfeierliche, Lockere, ja Lose des Umgangs der gemischten Gesellschaft, so wird man die drastische Variante in der kleinen Szene „Die Götter“ (1921), der unser Text als Motto dient, in vollen Zügen genießen. Chlebnikow zeigt die Götter verliebt in die Tücken ihrer Stofflichkeit: Unkulunkulu, der Holzklotz, lauscht dem Kratzen des Holzwurms in seinem Innern. Juno feilt ihre marmornen Zehennägel. Cihuacoatl fängt gedankenschwer eine Mückenlarve, die auf einer Wasserlache in seinem ausgehöhlten Kopf schwimmt usw.
Chlebnikow, der Eroberer? Die wenigen Andeutungen mögen genügen; um ahnen zu lassen, daß es sich hier um den Akt eines Lebensgewinns handelt, der in seinem Übermut und seiner Unheimlichkeit seinesgleichen sucht. Die unternehmende Seele des Dichters zog alles an sich heran, was ihr zur Ausforschung und zum Ausbau dienlich schien. Wer sich durch die Reihen der aufgerufenen Gestalten von Amenophis IV. über Marx, Mazdakund Mohammed bis Zarathustra zu schlagen versucht, wird es bestätigt finden: kein Archäologe noch Antiquitätensammler ist da am Werk, kein Präparator, kein Panoptikumserklärer. Chlebnikow bringt die Religionsstifter, Feldherren, Rebellen und Gelehrten aus vier Jahrtausenden ebenso unvermittelt und respektlos zusammen wie er die Götter aller Himmel versammelte: ihre Spiele und Geplänkel sind nicht weniger vertraut und ausgelassen und ihr Gelächter erschüttert die Mauern zwischen den Epochen nicht weniger als zwischen den literarischen Gattungen. Welche Schwierigkeiten es ihm bereitete, die andrängenden Gestalten alle zu beherbergen, hat Chlebnikow unumwunden eingestanden:
Ich stellte mir die Frage, ob es nicht Zeit sei, euch eine Skizze meiner Arbeiten zu geben, deren Verschiedenartigkeit und Verstreutheit mich manchmal erschöpft. Wenn die Seelen der großen Toten, so dachte ich, verurteilt wären, voller Sehnsucht durch diese Welt zu wandern, so müssen sie, müde von der Erbärmlichkeit anderer Menschen, sich die Seele eines Menschen als Insel wählen, um auszuruhen und sich in sie zu verwandeln. Auf diese Weise kann die Seele eines Menschen eine ganze Versammlung großer Schatten aufnehmen. Wenn aber die Insel über den Wellen etwas zu klein ist, mag es nicht erstaunen, wenn da von Zeit zu Zeit einer der Unsterblichen wieder ins Wasser gestoßen wird. Ein ewiger Wechsel in der Gesellschaft der Großen.
Man lasse sich durch den Ton nicht täuschen, in dem sich hier der Eroberer als der Eroberte gibt. Chlebnikow war sehr wohl darauf aus, die irrenden Schatten aufzunehmen und tat alles, damit ihre Wahl auf ihn fiel. Er nutzte vor allem die Gunst seiner Geburt, um ihrer so reichlich habhaft zu werden, wie irgend möglich.
Wie viele seiner späteren Futuristen-Freunde war Chlebnikow in einem südlichen Grenzland geboren, das allein in historisch belegter Zeit der Schauplatz eines mehrere tausend Jahre währenden Zusammenstoßes und Austauschs iranischer, hellenistischer, buddhistischer, islamischer Kultur war. Sein Geburtsort lag unweit von Astrachan am Nordrand der Kalmykensteppe, auf dem ausgetrockneten ehemaligen Grund des Kaspischen Meeres, des „Meers der vierzig Namen“, wie Chlebnikow immer hervorhob. In dieser Steppe wohnten die Nachkommen des um 1630 eingetroffenen Westzweigs der Mongolen, die von dem Mohammedanern und christlichen Russen Kalmyken genannt worden waren und schließlich diesen Namen angenommen hatten. Der Treffpunkt von Wolga und Kaspischem Meer und die Gegend zwischen Wolga und Don, im Verstande der Alten die Grenze zwischen Europa und Asien, war seine Heimat; hier sei im Lauf der Jahrhunderte viele Male das Schicksal der Russen entschieden worden. Übrigens waren auch die anderen Landschaften seiner Kindheit und Jugend Grenzgebiete: im Westen Polen, im Osten Simbirsk, Kasan.
In seinen Adern fließe armenisches und Saporoger Blut. Die Saporoger Kosaken hätten ihre Außerordentlichkeit bewiesen, indem sie unter ihren Abkömmlingen die Naturforscher Prshewalski, Miklucho-Maklai und andere Landsucher vorweisen könnten, Naturforscher wie sein Vater, der Ornithologe war, als der auch sein Sohn begann. 1918, in der Zeit der maximalistischen Entwürfe, setzte Chlebnikow dann Astrachan als den möglichen Angriffspunkt für ein neues Festlandbild und entsprechendes Kontinentalkonzept:
Ich denke mir, daß an der Wolgamündung die mächtigen Wellen Rußlands, Chinas, Indiens sich begegnen und daß hier der Tempel zum Studium der menschlichen Hassen und Erbgesetze gebaut wird, um durch die Kreuzung der Stämme eine neue Menschenrasse künftiger Asiensiedler zu begründen; die indische Literatur studierend wird man sich daran erinnern, daß Astrachan das Fenster nach Indien ist.
Nur wer die Sprache des geistigen Maximalismus mißversteht, wird das für die Phantasien eines Eugenikers halten. In Wahrheit handelte es sich um Chlebnikows Versuch, den geschichtlichen Kode Astrachans zu entschlüsseln. Was er hier in die Zukunft projizierte, war längst im Gange gewesen. Viele Großreiche der Vergangenheit hatten das Kaspische Meer und die Gegend um Astrachan berührt oder sogar zum Grenzland gehabt: von Norden die Reiche der Skythen, Hunnen, Awaren, Chasaren, die in der Gegend des heutigen Astrachan ihre Hauptstadt Itil hatten, der Mongolen und Russen; und von Süden die Reiche der Perser, Griechen, Araber und Turkvölker. So weit entfernt war Susa nicht, Darius’ ehemalige Residenz, wo nach dem zehnjährigen Feldzug Alexanders des Großen 324 vor Christi Geburt die berühmte „Massenhochzeit“ zwischen makedonischen Adligen und vornehmen Perserinnen stattfand. Und als der Herrscher der Chasaren 730 zum mosaischen Glauben übertrat, war der Weg in das russische Reich um Kiew frei: viel hat nicht gefehlt und der Anschluß Kiews an Byzanz wäre nicht erfolgt.
Die „Kreuzung der Stämme“ sah Chlebnikow im Vorfeld jenes Lebenslaufs, den er auszufüllen, zu gewinnen, zu erobern aufgebrochen war. Daß sein vom schulmedizinischen Durchschnitt hochgradig abweichendes Weltempfinden, Identifikations- und Assoziationsvermögen, wie sein Arzt es ihm 1919 bescheinigte, die Empfänglichkeit für den Geist des Ortes ins Magische und Seherische trieb, las ich nach alldem ohne Überraschung. Wie anders sollte auch die eurasische Biografie geschrieben werden, wenn nicht unter Aufbietung des alten Priesterwissens vom Zusammenhang der geistigen, körperlichen und seelischen Kräfte des Menschen und mit dem Einsatz der vergessenen größeren Nähe zwischen Mensch und Tier, Mensch und Meer, Mensch und Stein.
2
Die kontinentale Biografie – wie sah sie aus? Als Beispiel höre man aus den Kindern des Otters die „asiatische Stimme“. Chlebnikow nennt die zwischen 1911 und 1913 entstandenen sechs Teile der Dichtung „Segel“: auf den „Wellen des Wortes“, erläutert er, treiben sie die Gedanken. Schauplatz der Montage aus Gedicht, Szene und Prosastück sind die Küsten des Kontinents: im Osten die Mündung des Amur, im Süden das Kaspische Meer, westlich das Schwarze Meer und das Mittelmeer.
Das erste „Segel“, treibt eine Kosmogonie: der Sohn des Otters, ein geflügelter Geist mit Mongolenaugen schießt mit schwarzem Speer die rote und die schwarze Sonne ab, zurück bleibt die weiße, der Himmel wird blau, das Meer grün, aus dem Boden quillt nun statt Lava Wasser. Aus dem Meer taucht die Magna Mater auf, ein Fischotter mit Fisch im Maul, und betrachtet sinnend ihre Werke. Die nun bewohnbare Erde bringt auch gleich Wesen hervor. Man hört den Todesschrei eines Schwans, das Grunzen eines Nashorns. Ein Naturforscher erscheint, den die Tochter des Otters hänselt, indem sie ihm Wasser in den Kragen gießt. Auf einem Delphin kommt einer mit dem Saitenspiel übers Meer geritten – der Sänger Arion? Und nachdem der Heizer eines Fahrzeugs Sohn und Tochter des Otters feine Sachen gebracht und sie davongefahren hat, bleibt ein Kentaur zurück, der gedankenverloren eine Fliege von der Kruppe fängt – vielleicht der erfinderische Chiron selbst, Achills und vieler anderer Heroen Lehrer, der für Prometheus seine Unsterblichkeit hingab. Die Kinder des Otters treffen wir gleich darauf im Theater wieder, wo sie eine Mammutjagd verfolgen.
Bühne auf der Bühne auch im zweiten „Segel“. Noch Wasserspritzer auf dem Gesicht, sehen die Kinder des Otters Achill mit seiner Geliebten, der schönen Sklavin Brisëis, und den Handel um das Schicksal des Heroen auf dem Olymp, der sich jedoch bald in den Kahlen Berg verwandelt, den Hexentanzplatz der slawischen Mythologie.
Das dritte „Segel“ treibt eine neue Verwandlung des Sohns des Otters. AIs ein neuer Alexander der Große, rettet er die Königin von Berdai, einem Land am Westufer des Kaspischen Meeres, das von Warägern und Nowgoroder Flußpiraten – die auf der Wolga nach Süden vordrangen – erobert worden war.
Das vierte „Segel“ – „Der Tod Paliwodas“. Ein Prosastück. Erzählt wird das Schicksal eines Saporoger Kosaken, der im Kampf gegen die Krim-Tataren für das Heilige Rußland fiel.
Das fünfte „Segel“ – „Eine Schiffsreisse“. Sie beginnt mit einem Gespräch zwischen einem weisen Alten und einem Jüngling an Deck eines von der Terekmündung her das Kaspische Meer kreuzenden Dampfers. Die beiden erörtern den möglichen Sieg über das Wüten der Naturgewalten und Kriege. „Wer sind wir?“ fragt der Alte:
Keiner weiß es. Heiliges Ich, Werkzeug oder Ding.
Ehe das Schiff in einer überraschenden Katastrophe sinkt, die nur die Kinder des Otters als die Geschöpfe mehrerer Elemente überleben, rettet die Tochter des Otters in einem Zwischenstück den in den Felsen gewachsenen Prometheus aus seinem kaukasischen Martyrium.
Das sechste „Segel“ – „Die Seele des Sohns des Otters“. Die Insel des „erhabenen Sternengeists“ Chlebnikow, auf die sich die heimatlosen Geister aus dem Meer der Erbärmlichkeit retten, unter ihnen die Helden des zweiten punischen Krieges Hannibal und Scipio, der Großfürst von Kiew Swjatoslaw, der die Chasaren und Wolgabulgaren besiegte, Stepan Rasin und Pugatschow, Jan Hus, Kopernikus und Lomonossow. Von einer „Stimme aus dem Innern der Seele“ werden sie begrüßt:
Helft mir. Seht ihr, wie ich darbe?
In den Kindern des Otters versuchte Chlebnikow zum erstenmal die Montage aller Gattungen, die dann besonders in „Der Krieg in der Falle“ und „Sangesi“ weiter erprobt wurde. Die Herausgeber der Unveröffentlichten Werke Chlebnikows, Nikolai Chardshiew und T. Griz, haben 1940 darauf hingewiesen, daß der Dichter 1917 die Komposition ändern wollte: vor den „Tod Paliwodas“ sollte der „Gott der Jungfrauen“ gestellt werden (die „slawische Stimme“) und vor die „Seele des Sohns des Otters“ die Erzählung Ka (die „afrikanische Stimme“). Der „Schiffsreise“ sollte eine „galizische Sache“ angefügt werden und dem „Tod Paliwedas“ der „Auszug des toten Sohns aus dem Hügelgrab“. Auch sollte Uprawda-Justinian im sechsten „Segel“ seinen Part erhalten. Diese Ausweitung lag zweifellos auf dem Weg zu jenem globalen Menschheitstheater, das Chlebnikow vorschwebte und wofür er die Geschichtsgesetze, eine Gattungsstruktur und eine angemessene Weltsprache suchte: 1921 schrieb er an Majakowski, er gedenke, eine Sache zu schreiben, an der alle 3 Milliarden Menschen teilnehmen könnten.
Unter den Großformen sind die Kinder des Otters die Dichtung, die die Gunst der Geburt für die Gewinnung des Kontinentalbewußtseins am sichtbarsten durchscheinen lassen. Der Dichter war unter Kalmykell geboren – „mein zweites Ich – ein Mongolenknabe, der über das Schicksal seines Volkes nachdenkt“. Schwimmen war Chlebnikows Liebe – „Habe die Bucht von Sudak (3 Werst) und die Wolga bei Jepatjewsk durchschwommen“. Die Freiheit war für ihn eine „Tochter des Meeres“. Als Chlebnikow auf die Mythen der tungusisch-mandschurischen Orotschen vom Amur stieß, muß der Funke sofort übergesprungen sein: Die magischen Kräfte des Otters erlaubten die Struktur eines akausalen Gestalt- und Szenenwechsels. Bei den Orotschen kann siedendes Wasser einem Otter nichts anhaben. Die Chinesen kennen die Verwandlung des Otters in einen Menschen, Iren und Eskimos die Verwandlung eines Menschen in einen Otter, der Buddhismus die Reinkarnation eines Menschen als Otter. Der Otter als Helfer des Menschen, der ihn mit Fisch und Brennholz versorgt, der Otter als Wassergeist usw. So wurde es möglich, die Besonderheiten der Geburt aufgehen zu lassen in einer überpersönlichen, kontinentalen Biografie. Überschaubar, angeeignet, vertraut erscheint der Kontinent, weil er durchquerbar, umschiffbar, überfliegbar ist – auf magische wie auf natürliche Weise. Der Sohn des Otters fliegt über der glühenden Erde. Als Alexander kommt er aus den Wolken herab, um Unrecht zu rächen. Paliwodas Seele steigt gen Himmel. Ein Schiff quert das Kaspische Meer. Hannibal und Scipio agieren rund um das Mittelmeer. Olymp, Kahler Berg und Kaukasus sind wie Wolga, Nil und Amur leicht zu erreichen.
Der Sohn des Otters denkt an ein Indien an der Wolga; er sagt: „Jetzt stemme ich mich mit den Fersen in die mongolische Welt und berühre mit der Hand die steinernen Locken Indiens.“
Durchquert, umschifft, überflogen und überspannt wird der Kontinent zur Insel, zum Felsen in der Brandung, zu „Chlebnikow“. Die Landnahme erweist sich als die geistige Einung der Menschheit, die, da sie schließlich eine Sprache sprechen wird, die ganze, Welt als das „Eine Buch“ erlebt und liest:
Ich sah, wie die schwarzen Veden,
wie Koran und Evangelium
und die in Seide gebundenen
Bücher der Mongolen
hingingen und
aus dem Staub der Steppen,
aus duftendem Trockenmist
– nach Art der Kalmykenfrauen
bei Tagesanbruch –
einen Scheiterhaufen errichteten
und sich drauflegten, zuhöchst.
Weiße Witwen hüllten sich ein in Hauchgewölk,
auf daß beschleunigt sei die Heraufkunft
des Einen Buches,
des Buchs mit den Seiten, die größer sind als das Meer,
die da beben mit Blaufalterflügeln,
des Buchs mit dem Seidenfaden
als Lesezeichen an
der Stelle, wo
der Blick des Lesenden stehnblieb.
Es kommen die Flüsse, es kommen die großen
geströmt, eine tiefblaue Flut:
die Wolga, wo nachts die Lieder von Rasin erklingen,
der gelbe Nil, wo sie beten zur Sonne,
der Jangtsekiang mit der dicken Jauche von Volk,
und du, Mississippi mit deinen Yankees,
die sich den Sternenhimmel an die Hosen nähn,
die ihre Beine in Himmelstuch wickeln,
und Ganges, du,
mit deinen dunklen Menschen – den Geist-Bäumen,
und die Donau, wo weiß im Weiß
Weißhemdige stehn überm Wasser,
und der Sambesi, wo die Menschen schwärzer sind als der schwärzeste Stiefel,
und der stürmische Ob, wo sie den Götzen geißeln
und mit den Augen zur Wand stellen,
wenn Fettes gegessen wird,
und die Themse mit ihrem Grauspleen.
Das Geschlecht der Menschen ist dieses Buches Leser.
Auf dem Umschlag, geschrieben
von des Schöpfers Hand:
mein Name, in hellblauen Lettern.
Jaja, du bist nicht achtsam beim Lesen –
sieh näher hin, schärfer,
zerstreut, das bist du, du liest mit Tagedieb-Augen.
Gleichwie
Lektionen in Gottes Gesetz
sind diese Gebirgsketten, diese
riesigen Meere.
Dies Eine Buch:
bald liest du’s, bald.
In diesen Seiten schnellt der Wal,
der Adler umsegelt das Eckblatt und kommt
niedergeschwebt auf die Wellen des Meers, auf die Brüste der Meere,
um auszuruhn auf des Seeadlers Bettstatt.
Man wird sich noch lange damit vergnügen können, die kostbaren Mischungen zu probieren und die Spuren des Totemismus, der Seelenlehren der Inder, Ägypter und Griechen, der großen Religionen, der Zahlenmystiken, der alten Epen und Heldenlieder, der modernen Wissenschaften Darwins, Marx’ und Einsteins zu genießen, eins aber sollten wir in diesem Augenblick sagen: Chlebnikow hat in unserem Jahrhundert den entschlossensten Anlauf zu einer weltgeschichtlichen Daseinsweise unternommen und den Weg des Eroberers eingeschlagen, den Arthur Rimbaud wenige Jahrzehnte zuvor gewiesen hatte: „Das erste Studium des Menschen, der ein Dichter sein will“, schrieb der Franzose am 15. Mai 1871, „geht auf seine vollständige Erkenntnis des Eigenen aus. Er sucht seine Seele, mustert sie, stellt sie auf die Probe, lernt sie. Sobald er sie erkannt, muß er sie ausbauen / … / Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange, unermeßliche und durchdachte Entgrenzung sämtlicher Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns; er sucht selbst und erschöpft in sich alle Gifte, um nur ihre Quintessenzen zu behalten / … / Der Dichter ist wirklich einer, der das Feuer stiehlt. Er ist Beauftragter der Menschheit, selbst der Tiere; er muß seine Erfindungen fühlbar, griffbar, hörbar machen; wenn das, was er von da unten mitbringt, Form hat, gibt er ihm Form; wenn es unförmig ist, gibt er ihm Unförmigkeit.“
3
Die Kämpfe, die um einen Eroberer von dieser Entschlossenheit entbrennen, werden in der ersten Zeit nicht an der Oberfläche ausgetragen. Mit abergläubischer Furcht weicht die Kritik den unverblümten Fragen nach den Grundlagen der Poesie und den rigorosen Umbenennungen vertraut geglaubter Sachverhalte aus. Die Kündigung der Übereinkünfte toleriert sie bestenfalls als Tagträume, Spiele eines Kindes, Clownerie, erlesene Großsprecherei, Donquichotterie.
Obwohl von 1928 bis 1933 zwei Chlebnikow-Ausgabeu erschienen – eine fünfbändige Werkausgabe von Nikolai Stepanow betreut, mit Tynjanows Vorwort – in Leningrad (Auflage 2500–3200) und parallel die 24 Folgen Der unveröffentlichte Chlebnikow, von Juri Olescha, Artjom Wesjoly, Iwan Kljun, Igor Terentjew, Boris Pasternak, Walentin Katajew, Katanjan u.a. mit der Hand abgeschrieben und im Auftrag der Gruppe der Freunde Chlebnikows von Alexej Krutschonych herausgegeben (Auflage 100–150) – ein künstlerisches Ereignis, das seinem literarischen Rang und philosophischen Anspruch nach alles Vergleichbare jener Zeit übertraf, hat Chlebnikow in den Vordergrunddebatten der ausgehenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre keine Rolle gespielt. Weder 1930 auf der Charkower Welt-Konferenz der proletarischen und revolutionären Schriftsteller noch 1932 auf dem Ersten Plenum des Organisationskomitees für den neuen sowjetischen Schriftstellerverband, noch 1934 auf dem Ersten Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller ist Chlebnikow eines Wortes gewürdigt worden. Dmitri Petrowskis Versuch, ihn auf dem Kongreß 1934 als den revolutionären Erneuerer der russischen Poesie ins Gespräch zu bringen, gar mit einem Paradox von Viktor Schklowski, und Nikolai Bucharin, der das Hauptreferat über die sowjetische Poesie gehalten hatte, ein Wort über den geliebten Lehrer abzulocken, blieb ohne Erfolg. Und wenn einer meint, diese Veranstaltungen seien zu sehr mit administrativen Fragen befaßt gewesen, als daß sie auf spezielle poetologische, Gegenstände hätten eingehen können, so muß ich den enttäuschen: Auch in der Sammlung Wie wir schreiben, in der 1930 achtzehn Schriftsteller auf 216 Seiten Auskunft über die „Technologie literarischer Meisterschaft“ gaben, war Chlebnikow nur ein einziges Mal aufgetaucht.
War er tatsächlich schon in die Hände der Philologen gefallen, wie Leo Trotzki das für einzig angemessen gehalten hatte? Ich würde sagen, leider noch nicht. Heute weiß jeder, daß Chlebnikow nichts Besseres hätte widerfahren können. Denn der erste Philologe, der sich des Dichters wirklich annahm, war Roman Jakobson, dessen siebzigseitiges Buch vom Mai 1919 Die neueste russische Poesie am Beginn einer souveränen Chlebnikow-Lektüre stand, wie sie dann über Vinokur, Tynjanow, Brik, Trenin, Chardshiew, Eichenbaum und Gofman bis zu den heutigen sowjetischen Semiotikern getrieben wurde.
Doch zunächst blieb Jakobson die Ausnahme. Ehe nämlich im Vor- und Umfeld des seit 1933 von Nikolai Chardshiew vorbereiteten und 1940 erschienenen Bandes der Unveröffentlichten Werke Chlebnikows die philologischen Bemühungen (besonders auch um die authentische Textgestalt) wiederaufgenommen wurden, kam es zu einer höchst bedenklichen Verschiebung in der Sicht auf den Dichter. Erörtert wurde nicht mehr, auf welch besondere Weise Chlebnikow den Vers zur Welt gemacht hatte, sondern ob einige Wünsche, die er an die technischen Revolutionen geknüpft hatte, in Erfüllung gegangen seien. Je skeptischer sich seine Gegner zeigten, desto hitziger wurden einige seiner Freunde. 1936, kurz nach dem fünfzigsten Geburtstag des Dichters, war der Höhepunkt erreicht.
Gegenüber standen sich Nikolai Assejew und Alexej Seliwanowski. Ein Dichter, der einst als der nächste Schüler Chlebnikows gegolten hatte, und ein Kritiker, der als ehemals führender Vertreter der 1932 aufgelösten Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller (RAPP) eine Geschichte der sowjetischen Poesie in Angriff genommen hatte. Assejew hatte schon zum zehnten Todestag 1932 gemeinsam mit Alexej Krutschonych in einem Artikel für die Literaturzeitung zu zeigen versucht, daß Chlebnikow jetzt „Besitz, breiter Leserkreise“ sei und seine „Utopie zum Alltag“ werde. Nun lag dieses Konzept seinem großen Aufsatz mit dem verräterischen Titel „Welimir“ zugrunde, der in der Balzac-Nummer der Zeitschrift von Michail Lifschitz und Georg Lukács Der Literaturkritiker 1936 erschien: „Sonderbar und unnütz“, schrieb Assejew, „war er in der Weise wie Mitschurin und Ziolkowski mit ihren ,phantastischen‘ Träumen von den interplanetaren Flügen und den in Sibirien gedeihenden Mandarinen.“
In seiner Antwort „Die Segnungen bürgerlicher Kultur“, die zur Zeit des Minsker Lyrik-Plenums des Sowjetischen Schriftstellerverbandes gedruckt wurde, blieb Seliwanowski seinem Herausforderer nichts schuldig. Nur gut, hieß es da einleitend, daß die Architekten den Hirngespinsten einer Glasarchitektur, wie sie Assejew lang aus Chlebnikows Text „Wir und die Häuser“ vorgebracht hatte, nicht gefolgt seien; die Arbeiter von Gorlowka und Makejewka würden sich bedanken. Wer so etwas verteidige, rufe auf zu „formalistischem Konstruktivismus, expressionistisch-jazziger Musik, ,linker‘ kubistisch-rationalistischer Malerei“. Warnende Beispiele seien der Komponist Dmitri Schostakowitsch und der Maler Artur Fonwisin. Das sei auch der Grund, warum „der Meyerhold von heute sich nicht vom ,Meyerholdismus‘ trenne, dessen Wiederkehr ebenso ästhetisch reaktionär“ wäre wie eine „Rückkehr der sowjetischen Poesie zu Chlebnikow“.
Die Verkehrung war geglückt. Chlebnikows visionäre Weltaneignung, sein permanentes Laboratorium wurde als Gesellschafts-, mindestens aber als Kunst-Programm verkannt, hier gepriesen, da verteufelt. Ausgerechnet Chlebnikow mußte das passieren, der seine verdutzten Hörer einst mit diesen Offenbarungen hatte „auf verfeinerte Weise foltern“ können:
Den Marxisten habe ich mitgeteilt, ich sei Marx im Quadrat, und denen, die Mohammed bevorzugen, ich sei die Fortsetzung der Lehre Mohammeds, der verstummt ist und das Wort durch die Zahl ersetzt hat / … / Das ist der Grund, warum alle diejenigen, deren Ehrgeiz nicht weiter reicht als bis zum Empfang von Stiefeln als Belohnung für gutes Betragen und loyales Denken, auseinandergestoben sind und erschrocken auf mich blicken.
Mit der Verkennung der Vision als Programm hatte man sich, versessen auf eine sozialpädagogische Literatur, um die eigentliche soziale Leistung der Poesie Chlebnikows gebracht – den Eigenwert und die innere Logik des Kunstwerks. Kein anderer als ein Philologe hatte das im gleichen Jahr genau formuliert – Roman Jakobson. In seinen „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“ kommt er auf die Beziehungen zwischen dem Lyriker Pasternak und dem Epiker Chlebnikow zu sprechen und schreibt:
Pasternak gesteht, daß Chlebnikows Errungenschaften für ihn in bedeutendem Maße auch heute unzugänglich seien, und erklärt zu seiner Rechtfertigung: „Die Dichtung meiner Auffassung verläuft immerhin in der Geschichte und in der Zusammenarbeit mit dem wirklichen Leben.“ Dieser Vorwurf, er habe sich vom wirklichen Leben losgerissen, wäre sicher für Chlebnikow eine Überraschung gewesen: hatte er doch sein Schaffen als Bejahung der Wirklichkeit betrachtet, was der verneinenden Literatur der vorhergehenden Generationen fremd war. Chlebnikows Zeichenwelt ist derart voll verwirklicht, daß ihm jedes Zeichen, jedes geschaffene Wort mit einer vollen selbständigen Realität ausgestattet ist und die Frage nach seinem Bezug zu Irgendeinem außenliegenden Gegenstand, ja die Frage der Existenz eines solchen Gegenstandes wird vollkommen überflüssig.
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In Wirklichkeit eröffnete Chlebnikows Montage eines eurasischen Lebenslaufs die Aussicht auf einen Diskurs, dessen universale Verfügbarkeit jedes milieukritische oder sozialpädagogische Zweckdenken beschämen mußte. Spielend beherrschte er die Zeitverschiebungen und Ungleichzeitigkeiten historischer Prozesse und konnte in leichtem Gesprächston – ein verschmitzter Causeur – fröhlich sein Kontinentalleben als die Landschaft seiner Seele bauen.
Genau das war die frohe Botschaft: Die unerhörten, unübersichtlichen Umwälzungen in den Jahrtausenden auf sich beziehend hatte Chlebnikow Formen entdeckt oder wiedergefunden, die eine unvergleichlich tiefere Betroffenheit durch viele Epochen erzeugten, als jener „Epochenaffekt“, den sich mancher bei russischen und französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts einfach ausgeliehen hatte. Diese tiefere Betroffenheit war nicht zur Sprache zu bringen, wenn man seine Herkunft leugnete, seine Wurzeln ausriß, das Gelernte vergaß, wie es eine utilitaristische Ästhetik um 1930 empfahl, die nur mit einzelnen Momenten einer kurzen Industrialisierungsphase rechnete. Gegen den wahnwitzigen, die Kreativität tödlich treffenden Umbau des Künstlers war mit Chlebnikow der exzessive Ausbau seiner Seele zu setzen – Versuchung, Probe, Traum, Erinnerung bis in die Mythen, „Entgrenzung aller Sinne“. Der Zorn gegen Tolstoi, Turgenjew oder Tschechow galt dabei nie den Meistern selber – denn die hatten ihrerseits nichts anderes getan –, sondern immer nur ihren Epigonen und Kanonisatoren.
Diese Chlebnikow-Orientierung erfolgte freilich so sehr im Verborgenen, daß selbst Dichtungen, die genetisch deutlich auf den Eroberer zurückgingen, nicht mehr mit ihm in Zusammenhang gebracht wurden. Auch waren die Bücher einander so unähnlich, daß niemand sie auf einem Wege sah. Als erste seien drei genannt, die Chlebnikows eurasische Wunschbiografie der Russen aufnahmen. Ich meine Juri Tynjanows Gribojedow-Roman Der Tod des Wesir-Muchtar (1929), Sergej Tretjakows Bio-Interview „Deng Schi, Chua“ (1930) und Artjom Wesjolys Jermak-Roman Tanze, Wolga (1932). Der russisch-persische Frieden von 1828, Rußland und die chinesische Revolution zwischen 1911 und 1927 und die Eroberung Sibiriens Ende des 16. Jahrhunderts. Diplomat, Revolutionär, Eroberer. Daß alle drei ihr russisch-asiatisches Grenzgebiet nicht als ein europafernes Exotikum behandelten, sondern, wie Tretjakow das nach den Befragungen seines Gewährsmanns Deng mitteilte, mit der Kenntnis eines „Untersuchungsrichters, Vertrauensmanns, Interviewers, Gesprächspartners und Psychoanalytikers“, ist selbstverständlich. Ausschlaggebend wurde etwas anderes: die tief verborgene chlebnikowsche Anverwandlung des Lebens der Schriftsteller an ihre so dokumentarisch makellos erzählten Figuren. Tretjakow sprach sogar von einem autobiografischen „Oberton über den Zeilen“ dieses chinesischen Lebens.
Wurden hier die eurasischen Vorgeschichten moderner Lebensläufe erforscht, so fixierte eine zweite Gruppe von Büchern diese Lebensläufe unmittelbar. Um den Chlebnikow-Bezug deutlich zu machen, muß ich an einen beschwörenden Rat erinnern, den viele aus dem Munde des Dichters vernahmen. In Briefen von 1914 und zuletzt im Vorwort zur fehlgeschlagenen Ausgabe seiner Dichtungen, eingangs schon zitiert, beklagte er die „geistige Armut an Wissen über den inneren Himmel“ des einzelnen:
Ich beschwöre die Künstler der Zukunft, genau über ihren Geist Tagebuch zu führen, sich wie den Himmel zu betrachten und genaue Aufzeichnungen über den Auf- und Untergang der Sterne des eigenen Geistes anzulegen. In diesem Bereich besitzt die Menschheit nur das eine Tagebuch der Maria Baschkirzewa – mehr nicht.
Diese Auszüge aus dem 6.000 Seiten starken Tagebuch einer früh verstorbenen Malerin, in, dem sie zwölf Jahre lang (1873–1884) all ihre Begierden und Enttäuschungen, allen Jubel und allen Jammer, alle Trivialitäten ihres Lebens aufgezeichnet hatte – wie sie im vorsorglich hinterlassenen Vorwort schrieb, durchaus für die Nachwelt zur Lektüre, und sei es „für Naturforscher“ – bewegte um die Jahrhundertwende die Gemüter und Chlebnikow glaubte, daraus eine genau bestimmbare Folge von „Ereignis und Gegenereignis“ im Leben eines Menschen herauslesen zu können. Sein eigenes Tagebuch führte und analysierte er auf diese Weise. Es erschien aus dem Nachlaß 1929 als elfte Folge des Unveröffentlichten Chlebnikow.
Der Beschwörung Chlebnikows, genau über seinen „Geist Tagebuch zu führen“. verdankt die sowjetische Literatur einige ihrer überraschendsten Bücher: Juri Oleschas Kein Tag ohne Zeile, Juri Tynjanows Erzählungen, die keine Erzählungen sein wollten, Michail Sostschenkos Schlüssel des Glücks. Olescha notierte am 5. Mai 1930, ein halbes Jahr nach seiner leidenschaftlichen Widmung für Chlebnikow, in sein Tagebuch:
Man muß ehrlich Tag für Tag den wahren Inhalt des Erlebten ohne Philosophiererei aufschreiben, wenn es gelingt – auch mit Philosophiererei. Alle sollen Tagebücher schreiben: Angestellte, Arbeiter, Schriftsteller, Ungebildete, Männer, Frauen, Kinder – ein Schatz für die Zukunft!
Tynjanow begann sein Buch etwa um die gleiche Zeit, als er die „fünfunddreißig überschritten“ hatte, ein Buch der Selbstbeobachtung im Moment der Krankheit – Herkunft, die Stadt seiner Kindheit, Lektüre, die Bedrohungen des Augenblicks, Auskünfte aus der Geschichte. Auch Sostschenko begann sein Buch der seelischen Selbstheilung kurz nach 1930, ein analytisches Erinnern, das aus der Ungewißheit über frühe Erlebnisse befreite.
Zu den Büchern, die um 1930 die verborgene Chlebnikow-Orientierung aufnahmen, gehören aber auch zwei Romane, deren Verfasser den neuen Standard sowjetischer Literatur seit den dreißiger Jahren entscheidend mitbestimmten: Andrej Platonows Kollektivierungsroman Die Baugrube, Dezember 1929 bis April 1930 geschrieben, und Michail Bulgakows Meister und Margerita, das 1928–1929 in einer frühen Version entstand und noch „Der Konsultant mit dem Pferdefuß“ hieß. Die Baugrube bezeichnet den Übergang zu Platonows eurasischen Geschichten der dreißiger Jahre. Bulgakows Arbeit an Meister und Margerita bezeichnet seinen Weg zur epischen Konfrontation der Zeitalter.
Das im einzelnen zu besprechen, muß freilich weiteren Versuchen vorbehalten bleiben. Denn nun wäre es an der Zeit, Chlebnikows Sprachauffassung zu zeigen und den Zusammenhang seiner „neuen Sehweise“ mit Theater und Malerei. Das aber ist unmöglich, ehe er nicht als der „König der Zeit“ vor uns erschien, der einen großen Teil seiner fünfzehn schöpferischen Jahre den Berechnungen des Schicksals widmete, was kein Spleen war, sondern die Mitte seiner Dichtungen. Was es mit dem russischen Futurismus bzw. Postfuturismus und mit beider karnevalistischen Zügen auf sich hat, wird danach besser zu verstehen sein. Auch hoffe ich ein paar neue Vermutungen über das „Idiotische“ und das „Ritterliche“ bei Chlebnikow vorzutragen. Einstweilen aber wollen wir ihm in jenes redegesättigte Schweigen folgen, die andere Art des universalen Diskurses, die Chlebnikow nicht weniger gut beherrschte, wovon der Zeichner Juri Annenkow, bei dem der Dichter gelegentlich wohnte, ein vortreffliches Zeugnis hinterließ:
Manchmal verbrachten wir bei mir in Petersburg oder Kuokkala lange schlaflose Nächte und sagten kein einziges Wort. In seinem Sessel aufgerichtet wie ein Reiher blickte Chlebnikow mich unverwandt an, ich antwortete ihm ebenso. Es war etwas Hypnotisches in diesem gespannten Schweigen und in den sonderbar ausdrucksvollen Augen meines Gesprächspartners. Ich erinnere mich nicht, ob er rauchte oder nicht. Wahrscheinlich rauchte er: Schweigend führten wir unser Gespräch, vor allem über Kunst, manchmal aber auch weiter, bis zur Politik. Einmal, als ich gesehen hatte, daß Chlebnikow die Augen geschlossen hielt, stand ich leise auf, um das Zimmer zu verlassen, ohne ihn zu wecken. „Unterbrechen Sie mich nicht“, sagte da Chlebnikow mit geschlossenen Augen „reden wir noch ein bißchen weiter. Bitte!“
Fritz Mierau, Sinn und Form, Heft 4, Juli/August 1981
Chlebnikow wurde von Wassilij Kamenskij mit Matjuschin und Guro bekanntgemacht und frequentierte von dieser Zeit an zunächst die Wohnung in der Lizejskaja-Straße, später auch das hölzerne Häuschen in der Pessotschnaja-Straße; es sollte bald zur Hochburg des russischen Kubofuturismus werden. Hier fanden die Sitzungen des Literatenvereins Hyläa, dessen Mitglied Chlebnikow war, hier begegnete er oft Majakowskij, den Brüdern Burljuk, Krutschonych, Filonow, Rosanowa und Malewitsch.
Im März 1913 trat Chlebnikow und mit ihm die gesamte Vereinigung Hyläa dem Verein Sojus Molodjoschi (Bund der Jugend)1 bei, und seine Beziehungen zu den Künstlern wurden noch enger. Zur selben Zeit wurde Malewitsch in den Bund aufgenommen. Der Zusammenschluß des Bundes der Jugend mit Hyläa trug wesentlich zur Aktivierung des ersteren bei. Auf einen Vorstoß der Hyläaner geht der Entschluß des Bundes zurück, sich nun auch der Inszenierung von Theaterstücken zu widmen. Krutschonych erinnert sich:
Angesichts der allgegenwärtigen Vormachtstellung der Theatersenioren einerseits und des gewaltigen Erfolges unserer Vortragsabende andererseits kam der Jugendbund zu dem Entschluß, die Sache auszubauen und der Welt das erste futuristische Theater zu präsentieren. Im Sommer 1913 betraute man mich und Majakowskij mit der Aufgabe, hierzu geeignete Stücke zu schreiben. Bis zum Herbst mußten sie fertig sein.2
Im Frühjahr 1913 mietete Matjuschin zwei Datschas an der Karelischen Landenge, zwei Kilometer von der Bahnstation Uusikirkko (heute: Kanneljarwi) entfernt. Hier, inmitten einer Seenlandschaft mit finnischen Kiefern, fand der „Erste allrussische Kongreß der Zukunftserzähler“ (russ. bajači buduš čego) statt (18.–19. Juli); außer dem Gastgeber nahmen an ihm Malewitsch und Krutschonych teil. Man erwartete auch Chlebnikow aus Astrachan. Er konnte jedoch nicht kommen, weil er beim Baden versehentlich das für die Reise zurückgelegte Geld im Meer verloren hatte.
Die Teilnehmer dieses Kongresses veröffentlichten ein Manifest, in dem sie ihren Willen kundtaten, „die Grundfeste der künstlerischen Schwachbrüstigkeit“ – d.h. das herkömmliche Theater stürmen zu wollen, um es „von Grund auf zu erneuern“. Hierfür beschloß man die Gründung eines neuen Theaters unter den Namen Budetljanin (etwa: Zukunftsmensch), in dem Der Sieg über die Sonne (Oper von Krutschonych), Majakowskijs Eisenbahn sowie Chlebnikows Weihnachtsmärchen inszeniert werden sollten.3
l. Sieg über die Sonne
Die Arbeit an der Oper nahm sogleich ihren Lauf. Krutschonych schrieb das Libretto, Matjuschin komponierte die Musik dazu, Malewitsch entwarf die Kostüme und Dekorationen. In Kunstfragen herrschte unter ihnen volles Einvernehmen:
Wir arbeiteten zusammen, Krutschonych, Malewitsch und ich. Und jeder von uns vermochte das durch die anderen Begonnene durch sein Schaffen zu verdeutlichen. Die Oper wuchs durch die Bemühungen unseres ganzen Teams, und zwar durch Wort, Musik sowie durch das künstlerische Raumbild.4
Die Begegnung mit Chlebnikows Texten und vor allem mit Krutschonychs Opernlibretto) stellte für Malewitsch ein entscheidendes Ereignis in seiner künstlerischen Entwicklung dar. Diese Oper wurde als ein ,transrationales‘ Werk entworfen, als Ausdruck des Alogismus in Wort, Bild und Musik. Mit seiner ,transrationalen‘ Sprache übte Krutschonych auf Matjuschin und Malewitsch großen Einfluß aus: „Von den Dichtern“, schrieb Matjuschin, „beeindruckte mich durch sein Schaffen niemand so gründlich bzw. direkt wie Krutschonych. Seine Ideen, in wortschöpferische Formen gekleidet, scheinen völlig unverständlich, doch Malewitsch und ich, die wir mit ihm zusammenarbeiteten, haben vieles begriffen.“5
Das Libretto zum Sieg über die Sonne ging von den Positionen des Transrationalen (russ. zaum’) aus, das Krutschonych in einer Reihe von Manifesten sowie im Artikel „Neue Wege des Wortes“ (veröffentlicht während seiner Arbeit an der Oper Der Sieg über die Sonne) theoretisch zu begründen versuchte.
Er schreibt:
Das menschliche Gefühl des Erlebens läßt sich in Worte, d.h. in versteinerte Begriffe, nicht fassen. Die Qualen des Wortes stellen eine gnoseologische Einsamkeit dar. Daraus folgt das Streben nach einer metalogischen freien Sprache (vgl. hierzu meine „Deklaration des Wortes“).6 Eine solche Art des Ausdrucks gebraucht der Mensch in besonders wichtigen Augenblicken.7
Die transrationale Ausdrucksweise war nach Krutschonych und seinen Gleichgesinnten dazu berufen, „die veraltete Fortbewegung des Gedankens nach dem Gesetz der Kausalität, den zahnlosen gesunden Menschenverstand, zu vernichten.“8
Wie Krutschonych unterstrich, ist das Transrationale der wahre Ausdruck der neuen Vernunft, die sich auf die „höhere Intuition“ stützt. In den Entwürfen zur Oper Der Sieg über die Sonne zeigen sich die von Malewitsch selbst noch unbewußt verwendeten ersten Elemente des Suprematismus. Zwei Jahre später erinnert er sich an seine äußere Gestaltung dieser Oper in einem Brief an Matjuschin:
Was damals unbewußt geleistet wurde, schenkt nun reiche und ungewöhnliche Früchte.9
Der Einfluß Chlebnikows, vor allem aber das Transrationale von Krutschonych, war jener Anstoß, der die Gegenstandslosigkeit des Suprematismus ins Leben rief. Später wird Malewitsch ein System der ,Zusatzelemente‘ aufbauen und den Suprematismus mit akademischen. Beweismitteln aus dem Kubismus abzuleiten versuchen, doch die Begleitumstände und der Künstler selber bezeugen etwas anderes.
In den zwanziger Jahren kam es zu einem heftigen Bruch zwischen Malewitsch und Tatlin, dem Malewitsch Materialismus und einen ,Kult des Eisens‘ vorwarf. Malewitsch schildert auch, was ihm geholfen hat, den von Tatlin eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen:
Auch ich wäre um Haaresbreite zugrundegegangen, auch auf mich lauerte dasselbe Los, doch da begegnete ich dem Dichter Krutschonych, der das Poem Sieg über die Sonne verfaßt hatte (das war 1913); ich machte gegenüber Tatlin eine Kehrtwendung sank auf eine Nullposition herab und begann, Unnötiges zu produzieren. Bezeugen können diesen meinen Zustand Punin, Schewerschejew, Schkolnik, Matjuschin und andere.10 N. Radlows“, 1923. Institut für Russische Literatur und Kunst, Handschriftenabt. (künftig: HA IRLI), F. 172, d. 595, 1.4
Bei einem Vergleich der beiden futuristischen Dichter Chlebnikow und Krutschonych hatte Malewitsch für Letzteren mehr übrig – und zwar wegen dessen transrationalen Versuchs, das Unausdrückliche in Worte zu fassen. Dazu hielt er fest:
Welimir Chlebnikow ist ein Astronom der menschlichen Ereignisse, jedoch kein Alpha des Futurismusgestirns, kein Alpha des Transrationalen, das Alpha des Futurismus ist Marinetti. Das Alpha des Transrationalen ist Krutschonych, der beispielsweise vom Wort budet (es wird sein) den Begriff ,Budetljane‘ (die Futuristen) ableitete, analog zur Entwicklung ,krest‘ (das Kreuz) – ,krest’jane‘ (Bauern / Christenvolk).11
Dieselben Qualitäten des unausdrücklichen Transrationalen wußten bei Krutschonych auch Matjuschin und Jelena Guro zu schätzen. 1912 notierte Guro in ihrem Tagebuch:
Im ,Herbsttraum‘12 ist nicht von dem die Rede, was geschrieben steht, sondern von einem gewissen immensen, strahlenden Gehalt, der sich unter Worten und Stücken der Berichterstattung verbirgt.
Burljuk:
Nicht Worte, sondern Wortkombinationen schenken mir eine Aussage. Aber auch die Kombinationen beinhalten nicht alles, obgleich aus einer Begegnung von Worten unaussprechliche Elemente geboren werden können. Zuweilen schaut auch der verborgene Gehalt hervor, wie bei Krutschonych… Er kommt nicht von Chlebnikow. Dieser vermag einem Wortstamm grammatisch ganze Wortkolumnen zu entlocken. Und dennoch werden sie niemals jenen geheimen Gehalt besitzen, der nicht mittels Grammatik, sondern durch das Innenleben eines Krutschonych hervorgerufen wird – und das macht letzteren so wertvoll und teuer. So eine Erscheinung habe ich bisher noch bei keinem – bis auf Mjassojedow – erlebt.13
2. Illustrationen zu Chlebnikow
Am 15. August 1913 erschien der Sammelband Die Drei (russ. Troe) mit Gedichten und Prosawerken von Chlebnikow, Krutschonych und Jelena Guro. Erstmals trat hier Malewitsch als künstlerischer Gestalter eines Buches auf, an dem Chlebnikow mitbeteiligt war.
Der Bucheinband überzeugt durch monumentale Ausdruckskraft. Im Mittelpunkt sieht man die schwerfällige Figur eines weggehenden Menschen. Mit ebensolcher Energie ist auch der Name des Sammelbandes „gezeichnet“. Guro hatte das Buch für den April geplant, doch es konnte erst nach ihrem Tode erscheinen. Malewitsch ließ Matjuschin zu Beginn seiner Arbeit am Buch wissen:
Sie schreiben vom Buch Die Drei. Ich bin sehr, sehr froh darüber, daß auch ich zur Erinnerung an die von uns geschiedene Kollegin beitragen kann.14
In seinem nächsten Brief schreibt er:
Sie schickten mir Angaben über das Buchformat und den Entwurf des Titelblattes mit den Namen Chlebnikow als erstes, danach Krutschonych und Jelena Guro. Da das Buch ihrem Andenken gewidmet sein soll, bitte ich um Erlaubnis, ihren Namen vorneweg setzen zu dürfen – so ist es besser und so sollte es sein.15
Später fand er aber eine andere Lösung: den Namen der verstorbenen Jelena Guro trennte er durch ein gigantisches Komma von den Namen ihrer Co-Autoren.
1912 unternahmen die durch gemeinsame künstlerische Bestrebungen geeinten Maler und Dichter im Bereich der Buchkunst ein erstaunliches Experiment, dessen Ergebnis eine Synthese aus Poesie und bildlicher Darstellung war. Gewöhnlich besteht ein Buch aus zwei Komponenten: aus gesetztem Text und Abbildungen in der einen oder anderen Reproduktionstechnik. Die durch die Poesie vorgegebenen Bilder werden durch zeichnerische Mittel ergänzt bzw. weiterentwickelt. Das Ganze ergibt zwei Bilderreihen, die miteinander mehr oder weniger verbunden sind. Die Zeichnungen lassen sich aus dem Buch herausnehmen, was der bildhaften Sinnstruktur des poetischen Werkes keinen Abbruch tut.
Die lithographierten Sammelbände der Futuristen schafften die parallele Bildhaftigkeit von Vers und Illustration ab, indem sie eine Synthese dieser beiden Elemente hervorbrachten, ein einheitliches Bild, mit zugleich poetischem und darstellendem Charakter. So entstand eine neue Qualität, eine neue Art bildhaften Ausdrucks. Aus diesen Büchern lassen sich die Zeichnungen nicht mehr ,herausnehmen‘, da sie die Verse nicht illustrieren, sondern fortführen; sie dringen in deren poetisches Gewebe ein und führen zur Entstehung eines ,graphisch-poetischen‘ Bildes. Zu den Begründern dieser Publikationen gehörten Krutschonych, Chlebnikow, Majakowskij sowie die Maler Larionow und Gontscharowa.
Weshalb wählten die Futuristen für ihre Publikationen das lithographische Verfahren? Hierfür lassen sich zweierlei Begründungen anführen. Seit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg wurden Text und Abbildungen getrennt gedruckt, häufig mit unterschiedlichen Techniken. Damit verlor das Buch die vormalige Einheit etwa der ganz in Holz geschnittenen Publikationen. Die russischen Künstler versuchten nun, diese Einheit von Material und Faktur dem Buch zurückzugeben. Die Steindrucktechnik ließ dies durchaus zu.
Wichtiger war jedoch etwas anderes. Es lag den Dichtern und Malern daran, „die stumme Stimme der Handschrift“16 und ihre lebendige Vibration beizubehalten. Hierzu Chlebnikow:
Die Handschrift des Schriftstellers stimmt die Seele des Lesers auf dieselbe Schwingungszahl ein.17
In ihren Artikeln und Manifesten schneiden Chlebnikow, Krutschonych, N. Burljuk und Kulbin eine ganze Reihe wichtiger und wenig erforschter Fragen an. Sie befassen sich mit Aspekten des Lauts und den Möglichkeiten seines graphischen Ausdrucks, mit der ,Graphik‘ des gedruckten bzw. des handgeschriebenen Wortes als einem zusätzlichen Ausdrucks mittel, mit der Frage der simultanen Wirkung von Sinn, Klang und graphischer Darstellung eines Wortes in der Poesie. „Eine Voraussetzung unserer Einstellung zum Wort als einem lebendigen Organismus“, so Nikolaj Burljuk, „ist der Grundsatz, daß das poetische Wort sinnlich ist. Es verändert seine Qualitäten je nachdem, ob es handgeschrieben, gedruckt oder nur gedacht ist. Es wirkt auf alle unsere Sinne ein.“18
Der Letterndruck, bei dem die Buchstaben „in Reih und Glied stehen, erniedrigt, zurechtgestutzt, alle gleich farblos und grau“,19 raubte dem poetischen Wort seine graphische Individualität. In seiner Erläuterung der zusätzlichen Ausdruckskraft des handgeschriebenen Buches, hob Chlebnikow zwei Grundsätze hervor:
Erstens. Beim Schreiben schlägt sich die Stimmung des Verfassers auf die Handschrift nieder. Zweitens. Die durch die jeweilige Stimmung veränderte Handschrift vermittelt diese Stimmung ungeachtet der geschriebenen Worte an den Leser weiter.20
Chlebnikows Schlußfolgerung lautet: Der Verfasser muß sein Buch selber schreiben21 oder aber „dieses sein Kind nicht einem Setzer, sondern einem Künstler anvertrauen.“22 Chlebnikow rief sogar dazu auf, einen besonderen Berufszweig – den des „Künstlers der Handschrift“ – einzuführen.
Mirskonza (wörtl.: Welt-vom-Ende), ein unter Beteiligung verschiedener Künstler herausgegebene Sammelband von Chlebnikow und Krutschonych illustriert die zitierten Thesen Chlebnikows auf besonders eindrucksvolle Weise. Von einer Seite zur anderen ändert sich das Bild der Handschrift, ihre Rhythmik und ,Graphik‘: einmal ruhig-rund, einmal eckig, brüchig, nervös, wieder dann gleichsam schwerelos dahinfliegend oder aber gewichtig die Worte prägend. Hier drängen sich die Zeilen und füllen das ganze Blatt, dort sind sie frei über die Seite verteilt und lassen eine harmonische Beziehung zwischen Schwarz und Weiß entstehen. Die mit Texten ausgefüllten Seiten werden durch Illustrationen aufgelockert; der handgeschriebene Text wird stellenweise durch Zeichnungen ergänzt, die ihm manchmal eingefügt, manchmal am Rand angebracht sind. Hierbei ergibt sich jedesmal eine neue Harmonie, eine neue plastische Gliederung der Gesamtseite. Als Ganzes baut der Sammelband auf einer Abfolge von Kontrasten auf, die die Aufmerksamkeit des Lesers nicht erlahmen lassen.
An der Arbeit an den lithographierten Sammelbänden nahm auch Malewitsch teil. Für die zweite Ausgabe des Buches von Krutschonych und Chlebnikow Höllenspiel (russ. Igra v adu) schuf er den Einband und drei Illustrationen. Seine Lithographien sind auch in den Sammelbänden Slovo kak takovoe (Das Wort als solches) und Rjav’! Perčatki („Wau! Handschuhe“), die unter Beteiligung von Chlebnikow erstellt wurden, als eingeklebte Seiten enthalten. Diese Arbeiten spiegeln weniger die sujetbezogenen Kollisionen des Verfassers wider, sie dienen eher der ,Illustrierung‘ seiner künstlerischen Methode. Es handelt sich um eine kubofuturistische Begleitmusik zum Manifest Chlebnikows und Krutschonychs, um eine alogische Begleitung der Verse des Dichters.
Krutschonych:
Die transrationale Sprache reicht der transrationalen Malerei die Hand.23
3. Der Mikrokosmos
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte das Menschenbild der alten Gnostiker, ihre Vorstellung von der geistigen Welt des Menschen als einem Weltall bzw. als einem Mikrokosmos wieder auf. Entsprechende Überlegungen äußern Wissenschaftler, Philosophen, Dichter und Maler. Man darf mit Fug und Recht sagen, daß die Arbeiten Chlebnikows ganz vom Pathos dieser Idee durchdrungen sind. Auf vielen zeitgenössischen Bildern findet diese Auffassung ihren praktischen Ausdruck, Malewitsch jedoch war einer der wenigen Künstler, die sie auch theoretisch darlegten.
Der menschliche Schädel stellt für eine kosmische Unendlichkeit die Bewegung von Vorstellungen dar, er ist dem Weltall gleich, denn er vermag alles zu fassen, was er im Kosmos sieht.24
In einem unveröffentlichten Brief an Ettinger schreibt er:
Zahlreiche Menschen, viele Weise erheben ihren Blick zu den fernen Gestirnen und blicken angestrengt durch Teleskope, um sie zu erforschen. Zugleich vergessen sie völlig, daß sie selbst ja auch Sterne darstellen, die es zu erforschen gilt. Ich selbst bin ein solcher Stern, der sich so weit im Unendlichen befindet, daß kein Teleskop ihn zu erreichen vermag.25
Man könnte viele derartige Stellen anführen, doch darum geht es gar nicht. Wichtig ist vielmehr zu prüfen, wie diese Einstellung sich in der Praxis des Malers und Dichters niederschlug.
Mit seinem Körper gehört der Mensch der Erde an, geistig aber ähnelt er dem Kosmos. Die geistige Bewegung in der Innenwelt des Menschen läßt subjektive Kategorien von Raum und Zeit entstehen.
Eine Begegnung dieser Kategorien mit der Realität, wie sie sich im Schaffen eines Künstlers vollzieht, verwandelt die Realität in ein Kunstwerk – in einen materiellen Gegenstand (Gedicht, Bild, Skulptur), dessen Wesen in die Welt des Geistig-Moralischen gehört. So entsteht aus der Auffassung von der geistigen Welt als Mikrokosmos ein neues Weltbild bzw. ein neues Bewußtsein, das man als ,kosmisch‘ bezeichnen darf. Und es führt das 20. Jahrhundert zu radikalen Veränderungen in der Kunst.
4. Der Kampf gegen die Schwerkraft
Die Vorstellung vom Kampf gegen die Schwerkraft durchdringt das gesamte Schaffen Chlebnikows, Malewitschs und einiger anderer Dichter und Maler des angehenden 20. Jahrhunderts. Krutschonych schrieb 1913:
Wir haben gelernt, die Welt von hinten zu untersuchen… Wir können das Gewicht von Gegenständen verändern (diese ewige irdische Schwerkraft), wir sehen schwebende Gebäude und das Gewicht von Klängen.26
In der Oper Sieg über die Sonne spricht eine der Personen den feierlichen Text:
Befreit von der drückenden Last der Schwerkraft dieser Welt, können wir nun unsere Habseligkeiten nach Gutdünken verteilen, ganz als würde ein reiches Königreich von uns unter die Lupe genommen.27
Die theoretischen Aufzeichnungen von Petrow-Wodkin28 zeugen von einem immensen Interesse an diesen Problemen:
In dem Maße, wie die grandiose Größe dieser Welt weiterwächst, findet auch ein Mitwachsen des Menschen statt. Der Kampf gegen das Gesetz der Schwerkraft. Die Schwerkraft besiegen bedeutet: mit seinem ganzen Organismus planetare Ausmaße empfinden.29
Im ,wankenden‘ Raum der Bilder von Petrow-Wodkin sehen wir Gegenstände und menschliche Gestalten, die die Schwerkraft verloren haben und gleichsam bereit sind, sich von der irdischen Sphäre loszureißen.
In der Geschichte der ästhetischen Lehren war es der russische Philosoph Fjodorow,30 der den Gedanken vom Prozeß des künstlerischen Schaffens als einer Überwindung der Schwerkraft äußerte. Diese Auffassung von der Kunst resultierte aus seinem allgemeinen Weltbild, in dem den Kräften des „Falls“ (Entropie) andere Kräfte des „Sichaufrichtens“ gegenüberstehen. Aus diesem Blickwinkel betrachtete Fjodorow den Menschen selber und die Ergebnisse seines Schaffens sowohl in materiellen, als auch in geistigen Bereichen:
Schon die aufrechte Positur des Menschen richtet sich gegen den Fall. Alle vom Menschen errichteten Bauwerke, die ganze Architektur und Bildhauerei sind Ausdruck desselben Sichaufrichtens, eines gedanklichen und materiellen Aufstiegs.31
Nicht allein das Wesen der architektonischen Kunst, sondern auch stilistische Besonderheiten sieht er in den Methoden des Widerstandes gegen die Schwerkraft:
Das Verhältnis der Stützen zu den durch sie gestützten Teilen bzw. die Art, in der der Widerstand gegen den Fall von Körpern verwirklicht wird, schenkt uns die ganze Vielfalt der Stile und dient zu ihrer Charakteristik.32
Bisher hat sich noch kein Forscher mit der Frage befaßt, in welchem Maße die Ansichten Fjodorows sich bei Künstlern des anbrechenden 20. Jahrhunderts niedergeschlagen haben. Daß sie aber diesen Philosophen kannten, bezeugen u.a. das Schicksal des Malers Tschekrygin, der sieb von den Ideen Fjodorows hingerissen fühlte, und Zitate aus Fjodorows Werken in den Artikeln von N. Burljuk.
Welimir Chlebnikow suchte die unterschwelligen Beziehungen zwischen Sprache und Schwerkraft zu erforschen. Er schrieb:
In Wörtern wie ,tak‘ (so) oder ,tot‘ (jener) lebt eine eiserne Unbeweglichkeit schwerer Gegenstände, man fühlt hier förmlich die eisenbeschlagenen Ecken, die derartig von der Erde angezogen werden, daß kein Beben sie rührt; der zweifelnde Interrogativpartikel ,li‘ (ob) dagegen scheint ein Emporfliegen auf des Windes Schwingen in sich zu bergen. Es scheint so zu sein, daß das Wissen durch die Schwerkraft repräsentiert wird, und eine Befreiung von diesen Kräften heißt eben ,li‘, ein gehorsames Angekettetsein an sie jedoch wird durch ,tak‘ wiedergegeben. Diese Beziehung zwischen Kräften des Erkennens und der Schwerkraft ist höchst bemerkenswert. Es scheint in der Tat so zu sein, daß das Prinzip der Sprache über die Schwerkraft mehr weiß als wir.
Im weiteren spricht Chlebnikow von einem „verschwörerischen“ Vogelflug; der Vogel ist für ihn die Verkörperung der Partikel ,li‘ (ob), ein an der Schwerkraft geäußerter Zweifel.33
Einer der Hauptgedanken in Malewitschs Buch Bog ne skinut (Gott wurde nicht gestürzt) liegt in der Verteilung des Gewichts in ein System der Gewichtslosigkeit, in der Schaffung plastischer Strukturen, in denen die Schwerkraft, d.h. eine Abhängigkeit der Form von den Bedingungen und der Logik irdischer Beziehungen schlichtweg fehlt. „Gott empfand Gewicht in sich“, schrieb der Künstler, – „und zerstäubte es im System, woraufhin das Gewicht leicht wurde (…) und den Menschen in ein gewichtsloses System hineinversetzte, und der Mensch, ohne ein Gewicht zu spüren, lebte gleich einem Lokführer, der das Gewicht seiner Lokomotive in der Bewegung nicht spürt; sobald er aber einen Teil aus dem System herausnimmt, wird sich ihr Gewicht auf ihn legen und ihn erdrücken. So war die Übertretung Adams ein Hinaustreten aus dem System, und das Gewicht des Systems stürzte auf ihn. Und daher müht sich die gesamte Menschheit im Schweiße und in Schmerzen ab, um sich von dem drückenden Gewicht des Systems zu befreien, und versucht das Gewicht im System der Gewichtslosigkeit zu verteilen.“34
Das auf den Menschen herabgestürzte Gewicht – das sind die Kräfte der irdischen, der gegenständlichen Logik, die das menschliche Bewußtsein eingrenzen und es gleichsam ,erden‘. Im Gegensatz hierzu vermag ein Kunstwerk, das durch ein ,kosmisches‘ Bewußtsein des Künstlers geschaffen wurde, die Ketten der Schwerkraft zu zerreißen; als selbständige Welt, als ein Mikrokosmos paßt es sich ein in das universelle System der Weltharmonie. Zum Partner des Künstlers wird nun das Weltall. Aus dieser Partnerschaft entstand auch der Suprematismus von Malewitsch. „Die Schlüssel des Suprematismus“, schrieb er, „führen mich zum Entdecken des noch Unerkannten. Meine neue Malerei gehört nicht ausschließlich dieser Erde. Der Planet Erde wird gleich einem von Motten zerfressenen Haus aufgegeben. Und in der Tat ist dem Bewußtsein des Menschen ein Streben in den Raum, ein zentrifugales Streben nach einem Sichlösen von der Erdkugel eigen.“35
Am 17. Dezember 1915 wurde im Salon von N. Dobytschina in Petersburg Die letzte futuristische Bilderausstellung 0,10 eröffnet. Hier zeigte Malewitsch erstmals seine futuristischen Gemälde. Sie waren ungegenständlich, doch ihre plastischen Strukturen bauten auf präzise ausgeloteten gesetzmäßigen Verhältnissen.
Ungeachtet der Entdeckungen eines Galilei, Kopernikus oder Giordano Bruno war der Kosmos für die Künstler (in emotionaler und praktischer Hinsicht, d.h. für ihre Arbeit) etwas Geozentrisches geblieben, ihre Vorstellungskraft war nach wie vor an die Erdschwerkraft gebunden; etwas Unverrückbar-Offensichtliches blieb für sie noch immer das Vorhandensein der Perspektive, des Horizonts, der Begriffe ,oben‘ und ,unten‘.
Malewitsch betrachtete die Erde nun gleichsam aus dem Weltall heraus (genauer gesagt: Das ,kosmische‘ Bewußtsein lieferte die notwenige Voraussetzung für diese Sehweise) – und im Nu waren die unerschütterlichen Kanones über den Haufen geworfen: es verschwand die Vorstellung von ,oben‘ und ,unten‘, von ,rechts‘ und ,links‘ – alle Richtungen sind wie im Weltall gleichberechtigt. Dies wiederum bedeutet in der Organisation der Struktur eines Werkes einen derartigen Grad von ,Autonomie‘, bei dem jede Verbindung zu den von der Schwerkraft diktierten Richtungen unterbrochen wird. Es entsteht eine eigenständige in sich geschlossene Welt, die über ein eigenes Schwerkraft- und Zusammengehörigkeitsfeld verfügt, gleichzeitig aber von der universalen Weltharmonie als etwas Gleichberechtigtes akzeptiert wird. Die ungegenständlichen Gemälde von Malewitsch brechen keineswegs mit dem Naturprinzip. Nicht umsonst bezeichnet der Maler seine suprematistischen Arbeiten als einen „neuen malerischen Realismus“. Freilich findet ihr ,Naturcharakter‘ in einer anderen, einer planetar-kosmischen Ebene seinen Ausdruck.
Aufmerksam verfolgte Chlebnikow das Schaffen Malewitschs. Die gewichtslosen Strukturen der ungegenständlichen Arbeiten dieses Künstlers waren ihm nahe. In den Zeilen der Palindrome (russ. perevertni) Chlebnikows ist – ähnlich wie im Bilderraum von Malewitsch – die Richtung aufgehoben, sie lassen sich von rechts nach links und umgekehrt lesen. Sein erstes Palindrom schrieb Chlebnikow 1912:
KUKSI KUM MUK I SKUK
Koni, topot, inok
No ne reč, a čeren on.
Idem molod, dolom medi.
Čin zvan mečem navznič’.
Golod, čem meč dolog ?
Pal, a norov chud i duch vorona lap.
A čto ? Ja lov ? Volja otča !
Jad, jad, djadja !
Idi, idi !
Moroz v uzel, lezu vzorom.
Solov zov, voz volos.
Koleso. Žalko poklaž. Oselok.
Sani plot i voz, zov i tolp i nas.
Gord doch, chod drog.
I ležu. Uželi ?
Zol, gol log loz.
I k vam i trem c cmerti mavki.36
Chlebnikow besuchte die Ausstellung 0,10 und fühlte sich von den ungegenständlichen Bildern des Malers sogleich angezogen. Im Frühjahr 1916, vermutlich im März, besuchte der Dichter die Moskauer Werkstatt von Malewitsch, wobei er sich insbesondere für dessen suprematistische Zeichnungen interessierte.
Chlebnikow war da, nahm einige Zeichnungen mit, um ihre Relationen auszumessen, und fand die Zahl 317 und (ich glaube) 365 heraus. Ich glaube, das sind jene Zahlen, auf denen er seine Gesetze der unterschiedlichen Ursachen begründet.
Und Malewitsch fügt hinzu:
Die von Chlebnikow eruierten Zahlen können darauf hinweisen, daß im ,Supremus‘ etwas Größeres liegt, etwas, das ein direktes Gesetz hat, möglicherweise sogar eben jenes – das Gesetz der kosmischen Schöpfung. Daß jene Kraft, jene allgemeine Harmonie der schöpferischen Gesetze, die alles leitet, auch durch mich hindurchgeht, mich umfängt, und daß alles, was bisher gewesen ist, nicht das richtige war.37
Für Malewitsch, der gegen die gesamte russische Avantgarde polemisierte, hatte nur die Meinung Chlebnikows Gewicht. Und diese Einstellung sollte er bis an sein Lebensende behalten. Mit Interesse erblickte Chlebnikow in den neuen Arbeiten von Malewitsch das Wesentliche, nämlich deren ,planetarische Autonomie‘, bei der jedes Werk ein Ebenbild des Alls ist und von daher denselben Zahlenrelationen unterworfen ist.
Drei Jahre später wendet sich der Dichter erneut den Zeichnungen von Malewitsch zu. Seine theoretische Skizze „Der Kopf des Alls, die Zeit im Raum“ (1919) entstand im Ergebnis einer Analyse der „Schattenskizzen“, d.h. der Zeichnungen von Malewitsch. Chlebnikow spricht von der Einheit der Makro- und der Mikrowelt; im Fundament dieser Einheit liegt die Kategorie der Zeit. Er vergleicht die Oberfläche der Erde mit jener eines roten Blutkörperchens, dieses „Bürgers der Galaktik des Menschen“, und vermerkt:
Ein Vertrag wurde zwischen dem Bürger des Himmels und dem Bürger des Körpers geschlossen; hier ist er: Die Oberfläche des irdischen Sterns, geteilt durch die Oberfläche des Sternchens der Blutkugel, ist gleich 365 hoch zehn (36510) – eine wunderbare Symphonie zweier Welten, das Recht des Menschen, der Erste auf dieser Erde zu sein.
Weiter fügt er hinzu:
Die tote und die lebende Galaxie gaben hier beide wie zwei gleichberechtigte juristische Personen ihre Unterschriften.
Aus diesem Blickwinkel führt Chlebnikow bei den Zeichnungen von Malewitsch, diesen autonomen „graphischen Welten“, immer wieder seine „Zählungen“ durch und findet stets aufs neue seine fundamentale Zahl 365 („das Schattenjahr“). Den aus zwei Thesen bestehenden Text Chlebnikows schließen seine Schlußfolgerungen aus der Bilderanalyse:
In einigen Schattenskizzen von Malewitsch, in seinen Drusen der schwarzen Flächen und Kugeln entdeckte ich, daß das Verhältnis der größten Flächenschattiertheit zum kleinsten schwarzen Kreis 365 ausmacht. Folglich existiert in diesen Flächensammlungen ein Schattenjahr und ein Schattentag. Im Bereich der Malerei sah ich wieder die Zeit, wie sie dem Raum Befehle erteilt. Im Bewußtsein dieses Künstlers führen Weiß und Schwarz zuweilen wahre Kämpfe gegeneinander, zuweilen verschwinden sie auch ganz und überlassen das Feld der reinen Größe.38
Diese knappen Zeilen bleiben bis heute der Schlüssel zum Verständnis der ungegenständlichen Werke von Malewitsch.
5. Alogismus
Schon 1904 äußerte Chlebnikow wichtige Denkansätze zum intuitiven Eindringen in die Welt der Erscheinungen; mit ihrer Hilfe lassen sich Eigenschaften des ,kosmischen‘ Bewußtseins klären, die in der Kunst als ,metalogische Sprache‘ bzw. Alogismus erscheinen. Wir bringen einen kurzen Auszug aus Chlebnikows Ausführungen:
Ebenso wie man durch unentwegtes Verändern eines Kreises schließlich ein Dreieck gewinnen kann, das Dreieck wiederum unentwegt in ein Achteck verwandeln kann, wie sich im dreidimensionalen Raum aus einer Kugel durch stetes Verändern ein Ei, ein Apfel, ein Horn, ein Faß usw. gewinnen lassen, so gibt es auch einige gewisse Größen, mit deren Veränderung unterschiedliche Sinne – etwa das Hören, das Sehen oder der Tastsinn – ineinander übergehen können. So existieren Größen, bei deren Veränderung das Blau einer Kornblume, sich stets verändernd, durch für uns Menschen unbekannte Bereiche des Trennens hindurchwandelt und sich letztlich in einen Kuckucksruf oder ein Kinderweinen verwandeln kann.39
„Das Blau einer Kornblume“ und „der Kuckucksruf“. Hier scheint jeglicher Zusammenhang zu fehlen, bzw. unsere gewohnte ,euklidische‘ Logik vermag ihn nicht zu erkennen. Doch mit Hilfe seiner Intuition dringt der Künstler in den ,Bereich der Trennung‘ ein und fängt diese Wechselbeziehung ein: Das, was mit einer Farbe begann, endet mit einem Ton. Den heroischen ,Durchbruch zur Intuition‘ erleben wir nicht allein bei Chlebnikow oder Malewitsch. Ebenso deutlich fühlbar ist er auch im Schaffen von Jelena Guro, A. Krutschonych, P. Filonow, M. Matjuschin und später auch bei den Dichtern Tufanow und Terentjew sowie in der Poesie der ,Oberiuty‘40 (A. Wwedenskij, D. Charms, N. Sabolockij u.a.m.).
1912–1914 schuf Malewitsch einen Bilderzyklus, den er ,transrationalen Realismus‘ bzw. ,Alogismus‘ nannte. Hierzu gehören Das Portrait von Kljun, Gesicht eines Bauernmädchens, Ein Engländer in Moskau, Der Flieger u.a.m. Kuh und Geige (1913) bildete das früheste ,Manifest‘ des Alogismus. Auf die Rückseite des Bildes schrieb Malewitsch:
Ein alogisches Aneinanderreihen der beiden Formen – die Geige und die Kuh – als ein Kampfmoment gegen den Logismus, gegen die Natürlichkeit, den kleinbürgerlichen Sinn und Vorurteile. K. Malewitsch. 1911.41
In dem Bild sind alle herkömmlichen Beziehungen, Verhältnisse und Proportionen verschoben. Doch das vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus absurde Vereinigen einer Kuh mit einer Geige verkündete eine allgemeine Verbindung zwischen den Erscheinungen dieser Welt. ,Über-Sinn‘ ist nach Malewitsch keineswegs ,Wahn-Sinn‘, hier gibt es durchaus eine Logik höherer Ordnung. So schrieb er 1913 an Matjuschin:
Wir sind so weit gekommen, den Verstand zu verwerfen, doch haben wir den Verstand deshalb verworfen, weil in uns mittlerweile ein anderer geboren wurde, den man im Vergleich zu dem von uns verworfenen den über-sinnlichen nennen kann, der freilich auch ein Gesetz, seine Konstruktion und seinen Sinn besitzt, und erst nachdem wir diesen erkannt haben, werden unsere Werke auf dem wahrhaft neuen, transrationalen Gesetz begründet sein.42
Die Logik des normalen Verstandes wirkte zur vollen Zufriedenheit in der gewohnten Welt des euklidischen Raumes; in jener Welt aber, in der es das Einsteinsche Zeitparadoxon gibt, da, wo der Abstand zwischen zwei Punkten auf der Kurve kürzer ausfällt als auf der Geraden, dort zeigt sie sie sich der neueröffneten Realität als inadäquat. Die der Malerei von Malewitsch und Filonow bzw. der Poesie von Chlebnikow und Krutschonych immanente Welt des Alogismus war keineswegs eine Laune des Poeten oder die Willkür des Malers: hier manifestierte sich ein intuitiver Durchbruch in den paradoxalen Kosmos, in dem der gesunde Menschenverstand nur zu oft widerlegt wird.
In der künstlerischen Avantgarde des angehenden 20. Jahrhunderts wurde der Alogismus bzw. das ,Übersinnlich-Transrationale‘ zu einer vornehmlich russischen Methode der Welterkenntnis. Der Kubismus kannte diese Methode nicht. Das Hinzufügen einer ,Kuh‘ zu einer ,Geige‘ von Picasso – solch ein Schritt war dem französischen, zu Nüchternheit und canesianisch-logischer Klarheit hingezogenen Geist fremd.
Der transrational-übersinnliche Ansatz der russischen Maler und Dichter unterscheidet sich ebenso scharf von den Positionen der italienischen Futuristen. Malewitsch schätzte zwar Marinetti als „das Alpha des Futurismus“ hoch ein, dennoch weist er auf Unterschiede zwischen seiner und der Position dieses italienischen Futuristen hin: Nach seinem Dafürhalten ist jene materialistisch. Der russische Maler schrieb 1923:
Unsere Kindheit und Jugendjahre verbrachten Marinetti und ich auf den Gipfeln des Ätna, unsere einzigen Gesprächspartner waren Dämonen, die durch den Kamin des Ätna aufstiegen. Damals waren wir Mystiker, doch die Dämonen versuchten uns unentwegt mit der materialistischen Wissenschaft und suchten uns zu beweisen, daß auch die Kunst materialistisch sein müsse. Ich erwies mich allerdings als etwas schwerfällig, doch Marinetti eignete sich diesen Begriff sogleich an und ergoß sich in einem Manifest, das die rauchenden Schlote der Fabriken und deren gesamte Produktion besingt.43
Im Januar 1914 kam Marinetti nach Rußland. Er besuchte Moskau und – auf Einladung Kulbins – auch Petersburg. Ganze Nächte verbrachte er im Lokal Brodjačaja sobaka (Streunender Hund); die Bohème-Atmosphäre dieser Künstlerkneipe in einem Kellergeschoß war ganz nach seinem Geschmack, und mit viel Temperament las er dort seine lautmalerischen Verse, die keiner Übersetzung bedurften. Matjuschin erinnerte sich:
Marinetti machte auf mich den Eindruck eines begabten Mannes, der kunstvoll das Wort beherrscht. Gekonnt imitierte er das Surren der Propeller, die Explosionen, den Trommelwirbel – womit er gleichsam den kommenden europäischen Krieg manifestierte. Insgesamt jedoch erschien es mir und nicht allein mir, sondern unserer gesamten Gruppe – als trickreiche Taschenspielerei.44
Das Programm des italienischen Futurismus war zum Zeitpunkt der Rußlandreise Marinettis für die führenden russischen ,Budetljane‘ gleichsam Schnee von gestern. Die russische Kunst war gerade dabei, aus dem ,Kubofuturismus‘ auszubrechen. Die Begeisterung für das ,Propellerdröhnen‘, der Kult der Maschine und des Urbanen – dies alles war eine bereits zurückgelegte Wegstrecke, wenn auch nicht für alle, so doch für jene wenigen Künstler, die in der Kunst neue Wege entdeckten. Ein beredtes Beispiel: Der Eindruck der Dynamik wird bei den italienischen Künstlern dank der Akzentuierung der Bewegung erzeugt; daher haben „galoppierende Pferde nicht vier, sondern zwanzig Beine.“45
Im Suprematismus von Malewitsch entsteht der Eindruck des Dynamismus infolge des Ausdrucks von Ruhe:
Es ist erstaunlich: je ruhiger das Aussehen einer Fläche auf der Leinwand, desto stärker kommt der Stromstoß der Dynamik der Bewegung selber.46
Unterschiede gab es auch hinsichtlich vieler anderer Positionen.
Der italienische Futurismus verwarf die vergangene nationale Kultur. Die russischen Maler dagegen stützten sich auf die nationale künstlerische Tradition (Ikone, Lubok, Aushängeschild). Der Futurismus verkörperte die Urbanisation und Dominanz der Maschine im Leben. Die russischen ,Budetljane‘ gaben indes nahezu selbstgefertigte handgeschriebene Bücher heraus.
Der italienische Futurismus war aggressiv und militaristisch (Marinetti: Krieg ist die „Hygiene der Welt“). Die russischen ,Budetljane‘ verwarfen Krieg und Gewalt: Krutschonych schrieb:
In der Kunst kann es Uneinigkeit (Dissonanzen) geben, es darf aber nicht zu Grobheiten, Zynismus und Frechheit kommen (was die italienischen Futuristen predigen) – denn man darf Krieg und Keilerei nicht mit künstlerischem Schaffen verwechseln.47
Ebenso war auch Malewitschs Einstellung zum Krieg:
Wie wird doch der Krieg vom Menschen mißverstanden! Auch hier liegt der Fehler in der Richtung der zerstörerischen Kraft vor: Anstatt einer Zerstörung der Formen der alten Kultur zerstören sie ihren eigenen Leib.48
Majakowskij erinnert sieb an die Kriegsjahre:
Der Schrecken des Krieges baute sich unmittelbar vor uns auf. Der Krieg ist ekelhaft.49
Herrschaft, Gewaltanwendung, Vernichtung waren auch für Chlebnikow völlig fremd. Er formulierte seine Einstellung im Gedicht „Otkaz“.
DIE WEIGERUNG
Für mich ist es viel angenehmer,
Die Sterne zu betrachten,
Als ein Todesurteil zu unterzeichnen.
Für mich ist es viel angenehmer,
Den Stimmen der Blumen zu lauschen,
Die da flüstern „das ist er!“ –
Ihr Köpfchen neigend,
Wenn ich durch den Garten gehe,
Als die dunklen Gewehre des Wachpersonals zu sehen,
Das jeden tötet, der
Mich töten will.
Und deshalb werde ich nie,
Nein, niemals werde ich ein Regent sein.50
Kulbin, der Marinetti nach Petersburg eingeladen hatte, geriet in eine sehr unangenehme Lage. Er fühlte sich für die Gastfreundschaft verantwortlich und die wütende Opposition, die dem italienischen Futuristen seitens der russischen ,Budetljane‘ entgegenschlug, berührte ihn schmerzlich.
Der Konflikt, der Kulbin nicht wenig betrübte, brach bei einem Vortrag von Marinetti im Haus der Kalaschnikow-Börse aus. Marinetti stand schon am Rednerpult, als ein blasser Welimir Chlebnikow ganz außer Atem hereingestürzt kam. Er drückte ein Paket frisch gedruckter Flugblätter an seine Brust. Die Hälfte davon gab er Benedikt Liwschitz, die andere Hälfte begann er in den Zuhörerreihen zu verteilen. Der Aufruf, in dem die Unabhängigkeit des russischen Futurismus vom italienischen beschworen wurde, endete mit den Worten:
Fremdling, vergiß das Land nicht, in das du kamst!
Spitzengewebe der Unterwürfigkeit
auf den Hammeln der Gastfreundschaft.
Liwschitz erinnert sich:
Ich hatte noch keine zehn Exemplare verteilt, als Kulbin an mich heransprang. Mit einer Behendigkeit, die man von einem ältere Mann nicht erwarten würde, riß er mir das ganze Paket aus den Händen, und, seine Beute wütend in Fetzen zerreißend, stürzte er sich in Richtung auf Chlebnikow, der bereits in den hinteren Reihen operierte. Zum erstenmal im Leben sah ich Kulbin so wutentbrannt: er war außer sich und wollte, wie es schien, allein mit seinen Blicken mich und Chlebnikow schier verglühen lassen.51
Inmitten der Unähnlichkeiten und Gegensätzlichkeiten war die Verschiedenheit der logischen Strukturen, der Methoden intellektueller Welterfassung ausschlaggebend. In aller Schärfe zeigte sich dies in der Gegensätzlichkeit der ,befreiten Worte‘ Marinettis und des ,Zaum’‘der russischen Futuristen.
Bei einem bei Kulbin veranstalteten Abend lernte Marinetti den Begriff ,Zaum’‘ bzw. ,Alogismus‘ kennen, wie ihn die russischen futuristischen Dichter und Maler als richtungsweisendes künstlerisches Prinzip propagierten. Nach einer von Liwschitz gegebenen Erläuterung des Begriffs ,Zaum’‘ rief Marinetti:
Aber das sind doch meine befreiten Worte!
Marinettis „Technisches Manifest der Futuristischen Literatur“ und dessen „Supplement“ (beide 1912) verschaffen Einblick in das, was Marinetti unter seinen ,befreiten Worten‘ verstand. Hierzu gehörten:
– Zerstörung der Syntax
– Verben im Infinitiv
– Abschaffung der Adjektive und Adverbien
– Abschaffung der Zeichensetzung.
Marinetti selbst fand eine präzise Definition für seine ,befreiten Worte‘: ,Telegrammstil‘. Es handelt sich um dieselbe Sprache bzw. dieselbe Denkweise, aber ,begradigt‘ und ,technisch vereinfacht‘:
Liebe zur Schnelligkeit, zu Abkürzungen, zum Resümee und zur Synthese.52
Hier liegt nicht eine neue Art des Begreifens der Welt vor, sondern das Prinzip der Ökonomie innerhalb der alten Denkweise. Es ist keine Absage an die seit den Griechen und Römern tradierte Logik, sondern lediglich ihr ,Supplement‘. „Ein in den Himmel emporgeworfener Stein fällt stets wieder auf die Erde zurück“ – dies ist die Logik der griechischen Welt. In Marinettis ,befreiten Worten‘ ist das Geozentrische dieser ,Logik der Schwerkraft‘ erhalten.
Der ,Zaum’‘der futuristischen Dichter und Maler in Rußland meinte etwas gänzlich anderes – keine linguistische Kategorie, sondern die Manifestation einer neuen Vernunft, befreit von der Logik des ,gesunden Menschenverstands‘, von der irdischen Schwerkraft, deren schweres Siegel auf dem menschlichen Denken lastet. Der von den russischen ,Budetljane‘ ,in den Himmel geschleuderte Stein‘ kehrte nicht mehr zur Erde zurück.
Zum Abschluß dieses Vergleichs halten wir fest, daß Marinetti irrte, als er im russischen ,Zaum’‘ seine ,befreiten Worte‘ zu erkennen glaubte. Es handelt es sich hier um ganz verschiedene, ja gegensätzliche Erscheinungen. Seine ,befreiten Worte‘ stellen eine technische Vereinfachung der sprachlichen Kommunikation dar, die die Logik bzw. die Grundlagen des Denkens nicht berührt. Wir finden hier das Prinzip der Ökonomie in der Linguistik, das der Theorie der Zeichensysteme vorausgriff. Bestenfalls kann es zum Computer führen (was es auch tat). Was jedoch dem Computer unzugänglich bleibt, das Unvorhersehbare, das was nicht berechnet und nicht formalisiert werden kann, das alles bleibt der ,Zaum’‘-Sprache vorbehalten.
6. ,Planeten für Erdbewohner‘
Der Gedanke eines ,aufrührerischen‘ Sichloslösens von der Erdkugel, eines Abwerfens von Schwere und Gewicht, ihrer Verteilung im System der Gewichtslosigkeit führt Dichter und Maler gleichzeitig (1920–1922) zu futurologischen Schlüssen über den Austritt der Menschheit in den erdnahen Raum und den Kosmos. Hier handelte es sich keineswegs um wissenschaftliche Forschungsergebnisse wie bei Ciolkowskij oder um die Frucht einer Phantasie, auf den Spuren der Wissenschaft. Malewitsch und Chlebnikow gelangten zu ihren futurologischen Projekten dank eigener, in ihrem persönlichen künstlerischen Schaffen entstandener Ideen, die weder der Wissenschaft noch den Science-Fiction-Schriftstellern entliehen waren. Es gab und gibt natürlich Künstler, die wissenschaftliche Ideen popularisierend aufgreifen. So entstand beispielsweise der ,kosmische‘ Zyklus von Sonja Delaunay; er entstand sozusagen post factum, nach den ersten Raumflügen. Bei Malewitsch und Chlebnikow liegen die Dinge anders.
Der Gedanke an interplanetare Flüge kam Malewitsch am Vorabend der Revolution und nahm in seiner Witebsker Zeit (1919–1922), als sich der Schritt des Suprematismus in den Bereich der Raumkonstruktion vollzogen hatte, Gestalt an. Die Malerei Malewitschs hatte nach seinen Worten „die Verflechtung der Wege des Himmels und der Erde beschritten.“53 Schon 1913 schreibt er von Zeiten, da „Großstädte und Studios moderner Maler an riesigen Zeppelinen aufgehängt sein werden“.54
In seinem 1920 in Witebsk erschienenen Buch Der Suprematismus. 34 Zeichnungen legt Malewitsch die praktischen Schlußfolgerungen aus dem plastischen System des Suprematismus dar: „Bei meinen Forschungen stellte ich fest, daß im Suprematismus der Gedanke an eine neue Maschine, d.h. an einen neuen rad-, dampf- und benzinlosen Organismusmotor verborgen liegt. Dies geschieht „nicht durch Motoren und nicht durch ein Überwinden des Raumes durch die zerreißende Methode einer ungeschlachten Maschine von rein katastrophaler Konstruktion, sondern durch ein gleitendes Einschließen der Form in die naturgegebene Aktion“, durch „magnetische Wechselbeziehungen der Formen“.55
Was soll nun Malewitschs ,dampf- und benzinlosen‘ Apparat antreiben? Aus dem Text läßt sich folgern, daß zur Quelle der Bewegung die ,magnetischen Wechselbeziehungen der Formen‘ werden, d.h. jene Anziehungskräfte der Gravitation, die im künstlerischen Schaffensprozeß überwunden werden. In der Vollendung der präzise gefundenen suprematistischen Form liegt die Möglichkeit der Bewegung als stetes Einstimmen bzw. als ein Erneuern der verlorenen Gleichgewichtsharmonie.
Im weiteren entwickelt Malewitsch ein ganzes Programm von Weltraumflügen, das auf erstaunliche Weise dem vorausgreift, was sich heute vor unseren Augen abspielt (mit Ausnahme des Bewegungsprinzips).
Sogar der Ausdruck ,Erdtrabant‘ (sputnik zemli) für einen menschenbesetzten Apparat in der Erdumlaufbahn wurde von Malewitsch geprägt. Er schreibt dazu:
Zwischen Erde und Mond kann ein neuer suprematistischer (…) Trabant konstruiert werden, der sich auf einer Umlaufbahn fortbewegen wird. Bei der Untersuchung der suprematistischen Form in der Bewegung kommen wir zu dem Schluß, daß die geradlinige Bewegung in Richtung auf irgendeinen Planeten nicht anders überwunden werden kann als durch die ringförmige Bewegung zwischengeschalteter suprematistischer Trabanten, die von Satellit zu Satellit eine gerade Linie von Ringen bilden.56
Später werden von ihm Pläne fliegender Städte, sogenannter „Planeten für Erdbewohner“ ausgearbeitet. Heute hat sich das von Malewitsch 1920 als Schlußfolgerung aus den Prinzipien des Suprematismus gemalte Bild vom Schritt der Menschheit ins Weltall voll und ganz bestätigt. Dies läßt seine andere Schlußfolgerung aus derselben Quelle – bezüglich des Bewegungsprinzips – ebenfalls einer ernsthaften Betrachtung wert erscheinen.
In jenen Jahren kommt auch Chlebnikow aus seiner eigenen poetischen Erfahrung heraus zu ähnlichen Schlußfolgerungen. In seinem Fragment „Felsen aus der Zukunft“, von 1921–1922 entwickelt er Ideen einer Architektur der Zukunft, die das Gesetz der Schwerkraft der Erde überwunden hat und in den umliegenden Raum eindringt. „Auf dem Pfad des fehlenden Gewichts“, schreibt Chlebnikow, „gehen Menschen wie über eine unsichtbare Brücke. Zu beiden Seiten liegt die abgrundtiefe Schlucht des Falls: Eine schwarze Erdlinie weist den Weg. Gleich einer übers Meer schwimmenden Schlange, die ihren Kopf hoch erhoben hält, segelt durch die Luft die Brust voran ein Gebäude, das wie ein umgekehrtes L aussieht. Eine fliegende Gebäudeschlange. Sie wächst gleich einem Eisberg im Nordmeer. Eine gerade gläserne Klippe eines Straßenzugs von Bauernkaten, rechtwinklig in der Luft stehend, windgekleidet – der Schwan dieser Zeiten.“57
Wie wir sehen, kreuzten sich die künstlerischen Wege des Poeten und des Malers in vielen Momenten immer aufs neue. Dies war kein wechselseitiger Einfluß oder eine gegenseitige Abhängigkeit. Vielmehr wurzelten ihre künstlerischen, theoretischen und futurologischen Begegnungen in einer verwandtschaftlichen Nähe ihrer Schaffensquellen.
7. Der Kampf gegen Gott
Nach Jahrzehnten des Positivismus beginnt in der russischen Kultur um die Jahrhundertwende eine Zeit mannigfaltiger geistiger Suche: wir erleben eine Rückkehr zur religiösen Tradition der Orthodoxen Kirche (Wladimir Solowjow, Pawel Florenskij, Sergej Bulgakow), daneben verschiedene Formen der Theosophie und Anthroposophie (Jelena Blawatskaja, Andrej Belyj, Nikolaj Rerich, Wassilij Kandinsky), Variationen orientalischer Lehren, deren Wurzeln nach Tibet und Indien führen (Uspenskij, Gurdschijew), Gotterbauertum, Gottessuche u.a.m.
Auch Chlebnikow und Malewitsch blieben von dieser Suche nicht unberührt. Es fällt schwer, ihre Position deutlich zu umreißen. Am ehesten war es wohl ein Kampf gegen Gott, bei dem Gott als Schöpfer durch den schöpferischen Menschen, der die Welt nach seinen Ansichten und Visionen umbaut, ersetzt wurde. Beide, der Dichter wie der Maler, verliehen dem Menschen als Schöpfer, vor allem als Künstler, die Funktionen eines Demiurgen. Malewitsch leugnete Gott nicht, sondern kämpfte mit ihm wie Jakob; in Chlebnikows Kampf mit Gott ist ein atheistischer Zug unverkennbar. Es erscheint hier angebracht, die jeweiligen Positionen des Dichters bzw. des Malers durch mehrere Zeugnisse zu belegen. Sie sind gerade für Malewitsch von besonderer Bedeutung, denn ohne sie läßt sich das Wesen seines Schaffens nicht begreifen.
Am 3. April 1922 verfaßte Chlebnikow einige auf den ersten Blick vollkommen rätselhafte Zeilen:
Doch der größte Stern am Himmel der Ereignisse, der innerhalb dieser Zeit aufgestiegen war, das ist der „vierdimensionale Glaube“, eine Skulptur aus Schichtkäse, gearbeitet von Mituritsch.58
Des Rätsels Lösung kam von Mituritsch selbst: am 3. April feierte die Familie Mituritsch ein ,budetljanisch-futuristisches‘ Osterfest, zu dem auch Chlebnikow eingeladen war. Die ,Skulptur aus Schichtkäse‘ entpuppt sich damit als die russische Osterspeise ,Pas’cha‘ (aus Quark).
Erhalten geblieben ist auch die hölzerne Pyramidalform für diese Osterspeise (russ. „pasočnica“), in deren drei Seiten Mituritsch Symbole des Buddhismus, des Christentums und des Islam geschnitzt hatte, in die vierte Seite aber mehrere Zweier und Dreier inmitten von Zweigen, ein programmatisches Symbol des futuristischen ,vierdimensionalen Glaubens‘, den er mit den Weltreligionen gleichsetzte.
Zwei Jahre zuvor entstand Chlebnikows Programmgedicht „Edinaja kniga“ (Das Einheitsbuch). Daraus ein Auszug (Hervorhebungen von Jewgenij Kowtun):
Ich sah, daß die schwarzen Veda-Bücher,
Der Koran und das Evangelium
Und in seidenbespannten Brettern
Die heiligen Bücher der Mongolen,
Aus dem Staub der Steppen,
Aus wohlduftenden Mist-Brennfladen,
Wie es bei Sonnenaufgang die Kalmückenfrauen machen, –
Ein Feuer entzündeten
Und sich selbst darauflegten.
Weiße Witwen verbargen sich in einer Rauchwolke,
Um die Ankunft
Des einen Buches
zu beschleunigen (…)
Und auf dem Titelblatt – die Aufschrift des Schöpfers,
Mein Name, in blauen Lettern.59
Die Weltreligionen lassen sich freiwillig, ja bereitwillig verbrennen, um das Kommen des „Einen Buche“‘, auf dessen Einband der Name Chlebnikows steht, zu beschleunigen.
In seiner Grammatika idiostilja (Grammatik des Idiostils) bringt V.P. Grigorjew wichtige persönliche Aufzeichnungen des Dichters, die den atheistischen Charakter seines Gottkämpfertums belegen:
Die Welt ist eine natürliche Reihe von Zahlen und der Schatten dieser Reihe. Ein Maß (mera) das den Glauben (vera) besiegt hat (…) Der Glaube an Gott als Übermaß wird vom Glauben als dem Übermaß abgelöst werden (…) Wir sind die ,bogomery‘-,Gottmesser‘.60
Unter den frühen Arbeiten von Malewitsch existiert ein in der Forschung nicht bekanntes Triptychon aus dem Jahre 1907: es sind in Temperafarbe ausgeführte Skizzen zur Freskenmalerei. Im zentralen Mittelteil sehen wir ein Portrait des jungen Malewitsch, umgeben von nimbusbesetzten Figuren, die sich vor ihm verneigen. Hinter dieser Selbstvergöttlichung, diesem Ersetzen Gottes durch einen schöpferischen Übermenschen, verbarg sich eine bestimmte Betrachtung der Welt als einer nicht gelungenen, unvollkommenen Schöpfung, die es umzugestalten gilt. Malewitsch stand mit dieser Ansicht nicht allein da. 1906 fand in Moskau eine Ausstellung der „Leonardo-da-Vinci-Gesellschaft“ statt. Im Vorwort zum Ausstellungskatalog schrieb der Dichter Viktor Hoffmann:
Doch die Kunst ist nicht nur der Welt ebenbürtig – nein, sie ist herrlicher als die Welt. Die Welt ist mißlungen, und Gott selbst in Teufelsgestalt pfeift gellend beim Zusammenbruch seiner Schöpfung. Durch die Kunst verbessern wir die Welt, wir schaffen eine andere, eine vollendete Welt. Und hierin liegt unser höchster Kampf gegen Gott.61
Unter diese Worte hätte auch Malewitsch seine Unterschrift gesetzt. Sein ganzes künstlerisches Schaffen, insbesondere seine suprematistische und postsuprematistische Periode stellten aus seiner Sicht eine ,Korrektur‘ zu den biblischen Schöpfungstagen dar. Im gleichen Jahr, als Chlebnikows Gedicht „Das Eine Buch“ entstanden war, verfaßte Malewitsch sein Buch Gott ist nicht gestürzt worden. Kunst. Kirche. Fabrik, das 1922 in Witebsk veröffentlicht wurde. Hier offenbarte er diese ,Korrekturen‘, indem er seine eigene Version der Weltschöpfung aufzeichnete.
Bekanntlich hat Gott in der von Ihm erschaffenen Welt für Adam und Eva nur eine Beschränkung, ein Ge- bzw. Verbot aufgestellt – nämlich in bezug auf den Apfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Er wollte jedoch keinen erzwungenen Gehorsam und beließ den ersten Menschen die Möglichkeit der Wahl, die Handlungsfreiheit und den freien Willen. Gerade hier sah Malewitsch einen Fehler der Schöpfung. „Hätte Gott das System vollendet erschaffen, dann hätte Adam nicht gesündigt“, vermerkt er.
Der ganze Fehler liegt darin, daß dem System eine Art Grenze gegeben war. Ein System ohne Begrenzung aber kennt keine Mängel.62
Und Malewitsch definiert:
Die Vollendung des Systems entsteht dadurch, das jede Einheit ohne Druck zu verspüren, ihre freie Bewegung erhält, und dennoch nicht aus dem System auszubrechen vermag.63
An einem solchen System, einer Art ,suprematistischem All‘, baute Malewitsch sein Leben lang. Kurz vor seinem Tod sagte er nach den Worten einer seiner Schülerinnen:
Werde ich die Welt je als suprematistische Welt erleben?
In dieser Welt herrscht strenger Determinismus, nicht ein Element vermag aus dem System auszubrechen.
Auch der Kosmos Chlebnikows war genügend streng determiniert, dem Diktat der Zahl und des Maßes unterworfen. Immerhin gab Chlebnikow die Möglichkeit des Zufalls, des Fehlers, der Wahrscheinlichkeit zu. So schreibt er vom Druckfehler, der „die Freiheit von der äußeren Welt schenkt“,64 von dem „reizenden Verstoß“ im Vers, bei dem „die Decke des Versmaßes vom hereinstürmenden Wind angehoben wird und uns ein lebendiges Gesicht anblickt“65 Auch die Zahlenverhältnisse, die das Gewebe der Werke Chlebnikows durchdringen, setzte er nicht absolut.
Ab 1914 entwickelt Malewitsch das grandiose Bild einer suprematistischen Welt, die allmählich alle Bereiche der Wirklichkeit umfaßt.
Anfangs waren es ungegenständliche bzw. gegenstandslose Bilder, danach nimmt sich der Suprematismus die Raumperspektive vor: der Künstler schafft sog. Architektone als Urbilder der Zukunftsarchitektur. Die ,Planeten für Erdbewohner‘ verlassen die Erde, suprematistische Satelliten dringen in den Weltraum vor. Die gegenständliche Welt, die den Menschen umgibt, wird auf einer neuen Grundlage ummodelliert, das suprematistische Design durchdringt sämtliche Bereiche des menschlichen Wirkens: die Polygraphie, die angewandte Kunst, die Kleidung. Es gilt nur noch, diese strenge, vollendete, in reinen Farben leuchtende Welt zu bevölkern. Und da geschieht das wohl Unvorhergesehene.
Jene Stufe der Verallgemeinerung, die wir in den Gestalten des zweiten bäuerlichen Zyklus sehen, verlangt nicht nach einem Gesicht. Das Gesicht ist ein überflüssiges Detail, welches die plastische Vollendung der Gestalten zerstören würde. Doch der Grund, weshalb die Gesichter fehlen, liegt nicht in der Plastik. Die Plastik selber wird hier von der philosophisch-weltanschaulichen Position, von einem geistig-moralischen Prinzip bestimmt.
Zweifellos stützen sich Malewitschs bäuerliche Zyklen, sowohl der frühere, vorrevolutionäre als auch der spätere, auf die Tradition der russischen Ikonenmalerei, doch liegt hier ein wesentlicher Unterschied vor: Der Ikonenmaler gibt nicht ein Gesicht, sondern ein Antlitz, ein Urbild wieder, d.h. eine erleuchtete, wesenorientierte, sozusagen eine überpersönliche Darstellung des menschlichen Gesichts. Die dem Menschen eigene ontologische Freiheit hat in der Ikone sein Antlitz und seine Individualität bewahrt. Malewitsch bringt zuwenig Gesicht, um ein Antlitz schaffen zu können, und zugleich zuviel Antlitz, als daß ein Gesicht entstünde. In der von ihm erschaffenen streng determinierten Welt kann es keinen Sündenfall geben, da kein einziges Element, darunter auch der Mensch, die Grenzen des Systems überschreiten kann; es fehlt aber auch die Willensfreiheit, ohne die es keine Persönlichkeit, keine Individualität geben kann. Es gibt keine Hölle, aber auch das Paradies ist ihm nicht gelungen.
Für eine Vollendung, in deren Fundament die Idee der Freiheit fehlt, muß ein hoher Preis gezahlt werden. Ich sprach bereits davon, daß Malewitsch wie der hl. Jakob mit Gott kämpfte, doch wurde er von Gott besiegt. Die Korrektur, die er an den Schöpfungstagen anbringen wollte, schlug fehl.
Ob Malewitsch das spürte? Nicht nur das; in seinem Schaffen lassen sich ganz bestimmte Veränderungen feststellen. Allmählich räumt er seine Stellungen als Gotteskämpfer. Seit den 20-er Jahren, gegen sein Lebensende hin zunehmend, entwickeln sich in seinen Werken Elemente der christlichen Symbolik, vor allem die Darstellung des Kreuzes. Er malt auch weiterhin Bauern mit weißen Gesichtern, doch zuweilen vollzieht er an ihnen eine Art Taufritus, indem er ihnen Kreuze – orthodoxe Kreuze – auf die Stirn, an Hände und Füße setzt, so, wie es beim richtigen Taufakt vollzogen wird.
8. Das letzte Gedicht
Im Archiv des Puschkinhauses (Moskauer Institut für Literaturwissenschaft) entdeckte ich das Manuskript von Chlebnikows Gedicht „Švjatce Boažij“ (Du Gottesheiliger), das erstmals 1924 in Chlebnikows Sammelband Stichi (Verse) veröffentlicht worden war. Chlebnikow war damals schon tot, doch die künstlerische Wechselwirkung zwischen ihm und Malewitsch lebte fort. Kurze Zeit nach dem Ableben des Dichters wurde das Manuskript an Malewitsch übergeben. Es ist mit folgender Randnotiz versehen:
Geben Sie an K. S. das letzte vor dem Tode verfaßte Gedicht Welimir Chlebnikows, geschrieben im Dorf, im Hause von Mituritsch. So etwas wird nur Kasimir Sewerinowitsch verstehen können.
Der Urheber dieser Randnotiz konnte bis heute nicht bestimmt werden. Tatsächlich wurde das Gedicht an Malewitsch weitergegeben, denn auf demselben Blatt steht der Vermerk:
Aus dem Nachlaß von K. Malewitsch – Staatliches Institut für Kunstgeschichte.
1936 wurde die Handschrift an das Archiv des Moskauer Puschkinhauses weitergegeben. Hier ist sein Wortlaut [Hervorhebungen von Jewgenij Kowtun]:
Du Gottesheiliger !
Du ehrwürdiger Greis mit schneeweißem Bart !
Sprich: Wer bist du ?
Bist du ein Mensch
Oder ein Dämon ?
Und wie ist dein Name ?
Auch die Hügel antworteten:
Bist du ein Mensch
Oder ein Dämon ?
Und wie ist dein Name ?
Er schwieg
Und trug nur ein w e i ß e s B u c h
Vor sich hin
Und spiegelte sich im t i e f b l a u e n W a s s e r.
Und die Aufschrift stand in alter G l a g o l i z a-S c h r i f t.
Und der Wind spielte mit seinem Bart
Und hinderte ihn voranzuschreiten
Und sein Buch zu tragen.
Im Buche aber stand geschrieben:
„Fürchtet euch vor dreibeinigen Rossen,
Fürchtet euch vor dreibeinigen Menschen.“
Du Greis Gottes !
Wozu ziehst du des Weges ?
Welchen Geschlechts, welchen Stammes bist du,
Und woher kommst du ?
Ich komme von dort, wo zwei die Pflugschar ziehen,
Ein dritter aber mit ihr pflügt,
Nur d r e i B a u e r n i m s c h w a r z e n F e l d !
Und eine Unmenge von schwarzen Raben.
Da kommt ein Hirte mit einer Peitsche
In ihren Knoten halten sich Teufelchen vor dem Regen versteckt,
Sie werden ihm helfen, die Kühe einzutreiben.66
Dieses letzte Gedicht in vielerlei Hinsicht rätselhaft. Es fällt aus allem heraus, was Chlebnikow je zuvor geschrieben hatte. Sowohl in lexikalisch-kontextualer Hinsicht („Du Greis Gottes“, „Du Gottesheiliger“) als auch von seinen Bildern her erinnert es an die Poesie der altrussischen Einsiedlerlegenden. In diesem Gedicht werden Klänge laut, die in früheren Gedichten Chlebnikows nie zu hören waren. Hier gibt es weder Kalmückensteppen, noch das orientalische Persien, noch das mysteriöse Land, wo ein Sangesi predigte. Der Dichter scheint in seine historische Heimat zurückgekehrt zu sein, und sein Gedicht wurzelt tief in der russischen, genauer gesagt, in der Nowgoroder Frühzeit.
Einen überaus wichtigen Hinweis verdanke ich zu diesem Thema dem Chlebnikow-Forscher R.V. Duganow, der die Quelle fand, auf die das Chlebnikow’sche Gedicht bezug nimmt. Es ist die Povest’ o žitii Michaila Klopskogo (Heiligenvita des hl. Michail Klopskij), ein Nowgoroder Literaturdenkmal, das um das Jahr 1470 verfaßt wurde und die lokale Überlieferung vom heiligen Gottesnarren Michail, der etwa 1410 bis 1450 im Klopskij-Dreieinigkeitskloster bei Nowgorod lebte, zum Inhalt hat. Wie der Forscher W.L. Janin nachwies, war der hl. Michail der Sohn von D.M. Wolynskij-Bobrok, einem Heerführer, der 1380 den Ausgang der Schlacht gegen die Tataren auf dem Schnepfenfeld entschied, und seiner Frau Anna Iwanowna, einer Tochter des Großfürsten Iwan Krasnyj („der Schöne‘) von Moskau und Schwester des Großfürsten Dmitrij Donskoj.
Hier sei ein Auszug aus dieser Heiligenvita, mit dem Titel „Die Ankunft des Michail. Erstes Wunder dieses Gottesnarren in Christo im Klopskij-Kloster am Ufer des Werjascha-Flusses“ (…) wiedergegeben:
Erstes Wunder. Und es kam der Vorabend der ehrwürdigen Geburt Johannes des Täufers. Als der Priester Makarij, nachdem er beim neunten Lied des Kanon die Kirche incensiert hatte, zu seiner Mönchszelle kam, stellte er fest, daß die Tür aufgesperrt war. Er trat ein und erblickte einen Greis auf dem Stuhl sitzen. Vor ihm brannte eine Kerze, der Greis aber schrieb ein Kapitel aus der Apostelgeschichte, in dem von der Seefahrt des Apostels Paulus die Rede ist. Aufgeregt und angsterfüllt eilte der Priester zurück in die Kirche und sprach zum Abt Feodossij und zu den übrigen Mönchen (…) Und der herbeigekommene Abt Feodossij sprach zu ihm: „Wer bist du, ein Mensch oder ein Dämon? Wie ist dein Name?“ Jener aber gab ihm dieselben Worte zur Antwort: „Bist du ein Mensch oder ein Dämon? Wie ist dein Name?“ Feodossij stellte ihm die Fragen zum zweiten und zum dritten Mal. Er aber antwortete dreimal auf die gleiche Weise. Daraufhin befahl der Abt Feodossij in der Diele die Decke abzureißen, bei der Mönchszelle aber die Tür herauszubrechen. Dann trat der Abt in die Zelle und begann dort mit Thymianweihrauch zu incensieren, wobei er auch den Greis beweihräucherte. Jener aber deckte sich vor dem Weihrauch zu und schlug das Kreuzzeichen dabei. Erneut fragte ihn der Abt Feodossij: „Wie bist du zu uns gekommen? Woher bist du? Was bist du für ein Mensch? Wie ist dein Name?“ Der Greis gab ihm aber wieder dieselben Worte zurück: „Wie bist du zu uns gekommen? Woher bist du? Wie ist dein Name?“ Und sie konnten ihm seinen Namen nicht entlocken. Daraufhin sprach Feodossij zu seinen weisen Mönchen: „Fürchtet euch nicht, Mönchsbrüder, Gott selbst hat uns diesen Mitbruder gesandt.“67
Das Dorf Santalowo, wo Chlebnikow starb, liegt etwa fünfzig Kilometer vom Klopskij-Kloster entfernt, in dem der heilige Asket Michail gelebt hatte. Und der Dichter muß sich auf seiner heimatlichen Nowgoroder Erde an diese Zeilen aus der Vita des Gottesnarren Michail erinnert haben, die als Kehrreim in sein Gedicht eingegangen sind:
Bist du ein Mensch
Oder ein Dämon?
Und wie ist dein Name?
Chlebnikows heiliger Greis hat, wie in der Vitavorlage, ein Buch, und auch er gibt wie jener keine Antwort auf die ihm gestellten Fragen. Wie Malewitsch sich in seinem künstlerischen Schaffen auf die Ikonentradition stützte, so wandte sich der Dichter Chlebnikow den literarischen Gestalten des Heiligen Rußland zu.
Freilich gibt es in diesem Gedicht auch Zeilen, die mit der gegenwärtigen Wirklichkeit aufs engste verbunden sind. Mituritsch hatte seinen Freund Chlebnikow aufs Land gebracht, um ihn vor dem Hungertod zu retten – aber auch hier trafen sie auf Hunger und bittere Armut. Im ländlichen Krankenhaus im Dorf Krestzy, in das man Chlebnikow brachte, mangelte es an Medikamenten und Lebensmitteln. Bei der vom Leningrader Geschichtsmuseum veranstalteten Chlebnikow-Konferenz verlas die Forscherin I.N. Punina einen verzweifelten Brief von Mituritsch, in dem er um Hilfe für den kranken Dichter fleht. Deshalb sind Chlebnikows Verszeilen: „Ich komme von dort, wo zwei die Pflugschar ziehen, Ein dritter aber mit ihr pflügt“ keineswegs nur als ein volkstümelndes Rätsel oder als literarische Metapher aufzufassen; vielmehr handelt es sich hier um ein reelles Bild, das der Dichter im Frühjahr 1922 beobachtet haben konnte.
Dieses letzte Gedicht Chlebnikows steht in einer erstaunlichen Beziehung zu den späten Bildern des bäuerlich-ländlichen Zyklus von Malewitsch. Auch hier finden wir das Motiv des Bauern. Drei Bauern auf dem Acker ist eine Komposition, die bei Malewitsch mehr als einmal vorkommt. Besonders viele Übereinstimmungen lassen sich zu einem der letzten und weniger bekannten Bildern (Rennender Bauer) feststellen. Es entstand 1933–1934 und befindet sich gegenwärtig im Pariser Centre Pompidou. Das Bild ,ertönt‘ in demselben aufgeregten Schlüssel, wie auch die Verse von Chlebnikow. Es ist auch ebenso rätselhaft. Wir finden hier sowohl den „Greis mit dem schneeweißen Bart“ als auch das Kreuzzeichen, „einer alten Glagoliza-Schrift ähnlich“. Selbst Malewitschs Farbkompositionen tauchen bei Chlebnikow auf: das weiße Buch, das blaue Wasser, der schwarze Acker. Diese drei Farben stellen die malerischen Dominanten des gesamten bäuerlichen Zyklus von Malewitsch dar.
Chlebnikows letzte Verse lassen sich als eine Art in Malewitschs Zukunftsvision umgekipptes künstlerisches Programm auffassen. Offenbar beeindruckten sie ihn tief, er erblickte darin etwas eigenes, ihm Nahestehendes. Ihre Gestalten, ihre Bilder, ihre emotionale Färbung, ihre moralisch-philosophischen Aspekte schienen dem Maler, dessen geistiger Weg dem des Dichters Chlebnikow sehr ähnlich war, etwas Vertrautes zu bieten. Malewitsch liefert keine Illustrationen zu Chlebnikow, er setzt ihn vielmehr fort. Das letzte Chlebnikowsche Gedicht könnte als das erste ,Bild‘ des bäuerlichen Zyklus von Malewitsch definiert werden.
Jewgenij F. Kowtum, aus Jewgenij F. Kowtum: Sangesi. Chlebnikow und seine Maler, Edition Stemmle, 1993
Horst Bienek: Schamanismus der Sprache. Zu Chlebnikovs Neu-Entdeckung, Merkur, Heft 293, September 1972
Peter Stobbe: Utopisches Denken bei V. Chlebnikov in der Bayerischen StaatsBibliothek
Johannes Holthusen, Johanna Renata Döring-Smirnov, Walter Koschmal und Peter Stobbe (Hrsg.): Velimir Chlebnikov 1885–1985 bei library.oapen.org
Welimir Chlebnikow und seine poetische Wolga
VELEMIR CHLEBNIKOV
Wie sehr muß einer Pferde lieben,
um nicht in den Wagen zu steigen.
Durch die Steppe – geradewegs zu Fuß.
Der Wind, mit ausgestreckter Hand, befiehlt:
flieh –
vor den stillosen Städten,
vor Narben des Abscheus, und billig heiligen Reliquien,
vor Revolvern, vor ,padekatrina‘, jeder
hat seinen Futtersack am Hals, ich, du, und auch er.
Der Wind sät:
und das Wort keimt auf, blüht, und trägt Früchte.
Wir essen die Frucht, die Knochen vergraben wir
vorsorglich in der Erde,
doch der Sand trägt sich ab –
durch Exekutionen und Fantome; durch Prozessionen
Sandsäulen und Latten dringt der Geruch
vom Kummet, von Aasgeiergekrächz,
von Brunnen, von blühenden Magnolien; Regen
fiel, wir wurden naß, und siehe: wir halten aus,
halten aus.
Brot? Im Futtersack Gedichte
in Haufen, Blöcken, Ziegeln. Und Staub –
zum Kiffen.
So scharf der Weg, und barfuß läuft der Fluß.
Uns dürstet und brennt der Mund, die Steppe brennt.
Tau frühmorgens blankgespannt –
wie winzig jeder Wunsch.
In der Weltenfamilie ist der Dichter ein Waise.
Ihn lieben Gras, Pferde und Blitze.
Wortgedränge wie auf dem Bahnhof. Millionenfach.
Ab und an
rasen einsame Windzüge
durch die Steppe und schreien hinaus
ihr Lied, das unsrige.
Singen hinaus, blühen hinaus
und so weiter.
Juris Kunnoss
Welimir Chlebnikows sprache privat gelesen von Valeri Scherstjanoi beim KULTURNETZ 6. KULTURFEST – DAS WORT AUF DER ZUNGE, EIN POETISCHES GASTMAHL am 3.12.2010 in Kassel.
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