Auf dem Planeten der Weltlyrik bildet die „welsche“ (französischsprachige) Schweiz nach wie vor eine Leerstelle, die auch von ihren bekanntesten Repräsentanten im 20. Jahrhundert – Blaise Cendrars, Gustave Roud, Philippe Jaccottet – nicht wirklich ausgefüllt wird, weil gerade diese Autoren zumeist der Literatur Frankreichs zugeordnet werden: Jaccottet wie Cendrars haben dort ihre zweite Heimat gefunden und sind erst „via Paris“ auch in Deutschland rezipiert worden, wo man sie eher für Franzosen denn für Schweizer hält. Roud und mit ihm viele andere, auch jüngere Dichter kennt man bestenfalls in der heimatlichen Romandie, derweil sie in der deutschen Schweiz und vollends in Deutschland noch zu entdecken sind.
Mit einigen wenigen Gedichten, ausgewählt und übersetzt von Felix Philipp Ingold, soll hier erstmals auf drei „welsche“ Autoren aufmerksam gemacht werden, von denen es in deutscher Sprache bisher kaum etwas zu lesen gab.
Charles Racine (1927–1995), geboren im jurassischen Moutier, verbrachte den Grossteil seines Lebens in Paris und Zürich, verdiente seinen Unterhalt mit Gelegenheitsarbeiten, schrieb viel (ausschliesslich Lyrik und Prosagedichte), publizierte wenig, gilt noch heute als Geheimtip. Neuerdings liegt von Racine eine Gedichtauswahl vor unterm Titel Légende posthume (Postume Legende), Editions Grèges, o. O. 2013.
DER VAGABUND. DIE ZEIT
Ohne den Verstand, den Gott mir geraubt hat, irre ich umher,
umhüllt von einem Mantel, der mich enthüllt, mir die Ferne
entdeckt, was ich nicht erreichen kann, was ich
nicht erlangen kann. Die Ferne, den Mantel.
Da braucht’s, um zu gesunden, das Heilmittel Tod.
O Weihnacht ist vorbei. O meiner Geburt bin ich
entronnen. O ich bin reich ob meines Verlusts.
O ich kann sterben, ohne jemand anderm die Hoffnung zu nehmen!
GEDICHTE
*
wenn der Dichter
sein Zeichen unterschreibt
fällt er zurück
aus seinem Tod
Brunnen ohne Grund
den das Wasser einholt
*
von der bezwingenden Kathedrale
den Fliesen erhebt sich ein Lichtwerk
auf dem Leib zu spüren eine Stimme
ich allein kann mich hören
diese Stimme durchmisst das Gewölbe
und stellt sich vor mir auf
*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafür Jean Daive
Ich verbrenne Schiffe die
auch auf hoher See niemals das Licht der Welt erblickten
Das Lid ist kalt die hohe See ist da
auf der Hand die ich der Ehre
reiche immerhin lächle ich artig
*
Es hätte weniger Blechbläser gebraucht
Die Länder sind gestorben defilierend zu Fanfaren
o die Länder die sich niedermachen beim Vorbeimarsch der Fanfaren
erliegen der eingestürzten Sprache
– Vorbeimarsch der Fanfaren –
*
Die Holzschuhe nehmen den Marsch auf
der den Tanz des Waldes wiederholt
*
Diese Seite entfranst die Gewässer
beim Verschwinden bebildert sie sich
*
Ich bin der Aristokrat
keine Bewegung entgeht
den Saiten die die Hand begleiten
keine Regung der Finger
entgeht diesen Saiten
Laute mit eingeschnitztem Blattwerk
du entschlüsselst
die Weisen der Dichter
du liest sie die Weisen die sie selbst
nicht entschlüsseln können
nicht lesen können
denn es gibt nichts zu lesen
für die Dichter
*
wo bist du Narr – Nichts –
aaaaufs Blatt gehievt
aaaaaaund der Strand ganz am Ende
aaaaaaaaawo die Badenden verschwinden
Texte aus Réactions (Zürich 1963); La Traverse, 2 (Paris 1969); Le Nouveau Commerce, 15/16 (Paris 1970)
DEN ORT MIT EINNEHMEN DESSEN LEIB AUSGEGRENZT IST
*
Als Schatten richte ich mich
im Schatten ein ich warte
Daumen und Zeigefinger
im Schatten
die Feder im Schatten
zwischen Daumen und Zeigefinger
zeichnet im Schatten
1956
*
Festgemacht an seinem Leib
ruf ich mein Leben anderswohin
derweil sein Schweiss
(im Schweiss seiner Gegenwart)
mir die Zähne entkeimen will
Der letzte Grund
verrinnt längs meines fertigen Gehsteigs
Man hat es mit dem Irren eingesperrt
1956
*
Es ist gefallen aus Leben aus Tod beide weiss
ihr sollt nicht mehr vorgehn
es ist gefallen das Kind
zur Dämmerstunde des Rinnsals
Peitschen sollt ihr bei lebendigem Leib
den Gott und mit sanftem Streich
Leute geht weiter! Werft das Veilchen
auf die frühe Dämmerstunde
Das Paradox als Vollzug des Henkerberufs
das Kind wird hingerichtet auf den Brettern der Wiege
Werft das Veilchen
Eine Pause Die vom Rinnsal Eingeschlossenen
Der Wasservorhang
In einem Winkel trinkt das Kind Kaffee
es hat den Zeitungsverkäufer gefressen
Zur frühen Dämmerstunde die Mutter
lohnt nicht
ich pflücke selbst
Die Hand zur frühen Dämmerstunde
brüllt mehr Leben als dass sie die morgendliche
Verrichtung gegen sich aufbringt
1956
*
Balanche
dem ersten Besten
können Sie die Chance
verkünden
dass als Revanche
des Tods
das hallende Auge
uns kommen sieht
mit leeren Händen
Balanche
Sehen Sie
sie sind die Flut
dieser fortan toten
Gewässer verkauft
an andere Vasallen
Mein Strick den ich nicht lasse
Auch seh ich mich dran aufgehängt
Doch ist dieser Strick manchmal so lasch
dass ich wie ein Gehenkter
im Ungemach des Lebens scharre
Balanche
1956
*
Ich verbrenne Schiffe
die ‒ obwohl auf offener See ‒ noch nie den Tag gesehen haben
Das Lid ist kalt das Offene ist da
auf der Hand die ich der Ehre
reiche dennoch lächle ich freundlich
1955
*
der Prügel in Wirklichkeit
gebrochen im kaum fruchtbaren Wasser
betrachtet von leidlich
trügerischen Augen
wo Schiffe flitzen
schön in ihrer Ähnlichkeit
die ächzen welch herrliche Unverschämtheit
Ich nehme die Intelligenz
‒ als Auszeit
ich nehme zu meinem Vergnügen
die 400 Pferde deines Genies in Augenschein
Zivilliste
1957
Quelle: Charles Racine, Légende posthume (Œuvres, vol. 1). Éditions Grèges, o. O. , 2013.
(Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold)
Während vieler Jahrzehnte hat der 1930 in Tavannes (Berner Jura) geborene Lyriker und Essayist Pierre Chappuis als beamteter Lehrer seinen Lebensunterhalt verdient ‒ die Entscheidung, das literarische Schaffen mit einem bürgerlichen Beruf abzusichern und es damit von ökonomischem Druck freizuhalten, teilte er nicht nur mit manchen andern Schweizer Autoren, sondern auch mit dem französischen „Dichterfürsten“ Stéphane Mallarmé, der zu seinen prägenden Vorbildern gehörte.
Chappuis war knapp 40 Jahre alt, als er 1969 sein erstes Gedichtbuch vorlegte, und es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, bis er in der Person von José Corti einen adäquaten Verleger fand: Cortis berühmte Pariser „Librairie“ wurde zur verlässlichen Anlaufstelle für mehr als ein Dutzend Lyrik- und Prosabände, die bis in die jüngste Gegenwart mit staunenswerter Regelmässigkeit und in stets gleichbleibender ‒ höchster ‒ Qualität erschienen sind.
Biographisch gibt es von Pierre Chappuis kaum etwas zu berichten. Weder hat er sich in der weiten Welt umgetan, noch sich am Literaturbetrieb oder an politischen Debatten beteiligt. Dass er den Grossteil seines Lebens im provinziellen Schuldienst verbracht hat, macht ihn aber keineswegs zu einem wirklichkeitsfernen Stubenhocker und Schöngeist. Die kleine karge Welt, die er in langen Wanderungen auf abseitigen Pfaden erschloss und mit allen Sinnen auslotete, war ihm gross genug, und sie vergrösserte sich noch dadurch, dass er sie mit immer wieder anderer Optik wahrnahm – im winzigsten Detail, im umgreifenden Panorama, in wechselnder Ausleuchtung und Perspektive. Dieser unscheinbare, von Steinen und Bäumen besetzte, von Insekten und Vögeln bevölkerte, von wechselnden Farben und Geräuschen durchwirkte Mikrokosmos bot ihm ausreichend Anlass für Abenteuer der sublimen Art – für die intensive „Lektüre“ der Natur ebenso wie für deren Übertragung in die Schrift.
Man könnte Chappuis’ Sprachkunst mit dem präzisen und dabei höchst erfindunsgreichen Handwerk jurassischer Uhrmacher vergleichen. Jedes Rädchen und Schräubchen beziehungsweise jedes Wort, jede rhetorische Figur, jede Assonanz, jedes Interpunktionszeichen – alle Bau- und Funktionselemente des Dichtwerks sind sorgsam ausgearbeitet und variantenreich aufeinander bezogen. Grammatik, Syntax, Phonetik werden hier in gleichem Mass zum Gegenstand der Poesie wie die schlichte Dingwelt, die der Autor vorzugsweise exploriert ‒ heimatliche Landschaften mit Auen, Hügeln, Bächen, Wäldern im Wandel der Tages- und Jahreszeiten.
Pierre Chappuis selbst hat sein dichterisches Tun in einem seiner späten poetologischen Notate mit der strengen Arbeit eines Malers „vor dem Motiv“ verglichen:
Die Natur entziffern, so wie man es von Cézanne hat sagen können: Ein Verfahren – die Mühe – schichtweiser Demontage und Rekonstruktion, in jedem Augenblick beherrscht von innerer Spannung. Von Fleck zu Fleck gewinnen wir Anteil am Dialog der Farbe, und nicht weniger auch durch die Leerstellen, welche die blosse Leinwand sehen lassen und jenseits der Vereinzelung ein unerfüllbares Ganzes heraufrufen.
Mit seinen schmalen Lyrikbüchern, die sich insgesamt als ein imposantes Lebenswerk präsentieren, hat Pierre Chappuis auf meisterliche Weise dazu beigetragen, das „unerfüllbare Ganze“ im Gedicht fassbar zu machen. Im deutschen Sprachraum ist sein Schaffen, das am ehesten mit dem Werk eines René Char oder Philippe Jaccottet zu vergleichen ist, bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Nur wenige, verstreut publizierte Texte liegen in Übersetzung vor. Mit dem Band Soweit die Stimme reicht (A portée de la voix, 2002) liegt von Chappuis nun die erste deutschsprachige Buchausgabe vor.
Felix Philipp Ingold, 20.6.2016
GEDICHTE
*
Schwaches Klingeln
im Raureif, wie Glöckchen.
Der Blick:
lichtvoll immer näher
seine Hakenschläge.
Leises,
leichtes Knacken
bei jedem Tritt.
aaaaaaaaaaaaaa(Morgen)
*
Vergeblich
prägst du den Wasserflächen
deinen Flug ein.
Doppelter Vogel
auf der Jagd nach dir selbst.
aaaaaaaaaaaaaa (flüchtig)
*
Alles grau,
Flugbahnen und Gepiepse grau.
Geschrei.
Beiläufige Besenwische
überallhin
um die Asche vom März zu verwehn.
aaaaaaaaaaaaaa (Wolkeneffekt)
*
Aufgesänge, Abgesänge
über unsre Köpfe hin geschmettert.
Wo, Latten, ist euer Halt?
Wie ein Gerüst die Musik
stets in Renovation.
aaaaaaaaaaaaaa (im Sinn Paul Klees)
*
Die Nacht ist da und doch
sind sie noch am Werk,
die Quengligen, die Grämlichen.
Strich um Strich
schaben sie den Schatten
mit schartiger Pflugschar.
aaaaaaaaaaaaaa (Krähen im Dämmer)
*
Die ganze Nacht
blieb das Notizbuch im schwarzen Ledereinband
bei einer weissen Seite
geöffnet.
Am Morgen der Schnee.
aaaaaaaaaaaaaa (Hiatus)
(Übersetzt von Felix Philipp Ingold aus: Pierre Chappuis, Pleines marges, Paris 1997)
In Hörweite
[So weit die Stimme reicht]
Flatternder Vogel
aaaaaTiefe Schnitte mit flatternden Flügeln in abgründiger Engnis, so als ob eine Hand, aus der Finsternis ‒ aber in die Leere ‒ ragend, grob mit einer Schere schnitte.
aaaaaDas schöne Durcheinander von fallenden Wassern, Wirbeln, Strudeln, Falten und Würfen, von gischtigen Garben, die er unbeirrt durchquert!
aaaaaOb er von dieser zur nächsten Nacht auf ein Ufer trifft? Dann jedenfalls ohne sich eine Vorgabe aufzuerlegen noch eine äusserste Grenze zu setzen. Hat er das Wasser auch gestreift, er schwärzt es nicht, Bote des Vergessens.
Den Blick erneuern
aaaaaErste Einfärbung des Frühlichts, intim, hauchzart. Erste Kosungen, erwartet, versprochen.
aaaaaJäh die Helle.
aaaaaSchilf, tags als Vogelgehege.
Oder Lorbeer
aaaaaIst es, winterlich, der Berg (seine Färbung: wie sie schmeckt im Mund, unaufdringlich, oder Lorbeer), der sich, leichter geworden, allmählich erhebt?
aaaaaOder die erste Morgenröte.
aaaaaVerschwimmt schon beim Abzug des Traums.
Ohne Fahrspuren
aaaaaWomit auf einen unsichtbaren Stein treffen, auf eine Baumwurzel unterm stummen Schnee, der als Täufer den Weg ebnet, ihn weithin ausdehnt, unmerklich das Unterholz, entlastet des Nachts, vom Erdboden hebt.
Heiter, hochfliegend
aaaaaDurchdringend bis hierher, eingedrungen schon durch die Schwaden des Nebels (Versprechen, Riss), und alles, plötzlich, hat mehr Klarheit, mehr Raum, mehr Weite.
aaaaaWeiter oben, eingegangen in die Tageshelle: mein eigen ‒ der noch unbewohnte Winter (ein kahles Gemach) und die Ausdehnung, die man mit einer Geste hätte entfalten können.
aaaaaAuf dem frischen Schnee hüpft, frische Frische, die Stimme eines Kinds, das ausserhalb meiner Sichtweite geblieben ist.
aaaaaHeiter, hochfliegend von nirgendwo, neigt sie sich nun (reine morgendliche Neigung), der Buchtung der Schlucht folgend, die langsam dem Schatten entsteigt.
(Übersetzt von Felix Philipp Ingold aus: Pierre Chappuis: A portée de la voix, 2002)
Notate
Schreiben (2)
Was immer sein Gegenstand sei – trifft das Wort dort zu, wo es um ein dunkles, kaum zu bestimmendes Anliegen geht? ‒, das Schreiben, die Berufung zum Schreiben verpflichtet zur Konzentration auf sich selbst, zu anhaltender Aufmerksamkeit, nicht eigentlich für sich, vielmehr für das, was in einem selbst vor sich geht, stockt, aufwühlt. Von daher diese Sensibilität für die Dinge (gewisse, bevorzugte), für das Gelebte, für die Wörter und all die Anklänge, die von ihnen ausgehen, auch das Vermögen, körperlich (aber nicht nur, sondern ganz und gar) geniessen und leiden zu können, gleichermassen dem Schmerz und dem Vergnügen zugewandt – falls nicht überhaupt alles an diesem Punkt beginnt.
Direkter Zugriff
Nicht der Gedanke ist’s, der im Mund gemacht wird (Tzara), es ist die Poesie, dem Gedanken zum Trotz. Nichts zu erwarten ansonsten, dennoch hat der Geist seinen Anteil daran, wird ihn stets haben.
aaaaaWie notwendig sie anderweitig sein mag, die Reflexion steht der Poesie entgegen, deren Sinn und Tragweite, der Bestimmung und Bewerkstelligung sie zu erfassen vorgibt.
aaaaUm direkten Zugriff auf das zu haben, woraus es erwachsen ist, benötigt das Gedicht lediglich das Geviert der weissen Seite.
Ungeschriebener Satz
Ein platter, gleichförmiger Satz mit kaum rhythmisiertem, kaum merklichem Pochen; einzig durch seine dem Sinn vorausgehende Bewegung geeignet, das schwerelose Grau dieses Morgens zu sagen, eben diesen Moment jetzt, da Wasser und Himmel eins sind, wie ein geschlossenes Lid, das die Tageshelle durchscheinen lässt; und zudem, wenn jeder Windzug verweht ist, auf genau den Gleichgewichtspunkt der zwischen der Frische der Nacht und der aufkommenden Mittagsglut gespannten Luft verweisend, begleitet vom Gefühl, geerdet zu sein. Wird ungeschrieben bleiben.
aaaaaSeine Gewandtheit bestimmt den Bezug zu allem, was sich ihm darbietet. Nicht von mir ausgegangen, vielmehr durch mich hindurchgegangen, um mich mitzunehmen in die Strömung des Bach, die nun die seine ist, bald träge, bald munter, hier mit gleitenden Schritten, mit zurückgelegtem Kopf, mit einem Grübchen nah dem Mundwinkel, dort wie von Gelächter geschüttelt; plötzlich dann tief und ernst.
aaaaaUnd anderwärts seine Gipfel reckend, seine eisigen Sporen und Zacken – „Monumente des Deliriums“ für unsereinen ‒, Sicherheit heischend, Aufmerksamkeit, Unbeirrbarkeit bei einem schwierigen Durchstieg zum andern, weit oben, um danach in der Ebene zu Sanftheit und Gelassenheit zurückzufinden.
aaaaaSeine Unmöglichkeit. Woraus weit mehr Energie zu schöpfen ist denn Ernüchterung oder Unbehagen; eine gleichermassen entfaltete und verhaltene Energie. Wie bei der Zeder, vor der ich häufig Halt mache. Vielfältige Verzweigungen, Ableitungen, Ergänzungen und Erweiterungen bieten sich dar: All diese verqueren, dennoch von gewissen Leitlinien bestimmten Stämme mussten wechselseitig Abstand halten, bevor sie in die Vertikale wuchsen; ohne Zwängerei, ohne das eigenwillige Schweifen des Blicks einzuschränken, schmiegen sich Schatten und Licht ineinander, stellen sich Fallen, machen sich das Terrain streitig.
*
Wozu, beim Nachdenken unterm Vorwand, das Unmachbare anzuprangern, trügerisch, dabei unschicklich ein paar Versatzstücke zusammenbringen wollen (im Gegensatz zu dem, was der Dichter für René Char ist)? Aus Enttäuschung darüber, dass daraus nichts wird, könnte ich Rache nehmen, indem ich Literatur mache.
aaaaaSchreiben, stets an der Schwelle zur Lüge oder zur Aufschneiderei, einzig am Leitfaden dieses arabischen Sprichworts (bei Mohammed Dib entliehen): „Wenn dein Sang nicht schöner als das Schweigen ist, dann schweig!“
(Übersetzt von Felix Philipp Ingold aus: Pierre Chappuis: La rumeur de toutes choses, 2007)
Pierre Chappuis
STURZFLUT, DIESE FÜLLE
Der hohe Fels, der mitten aus der Sturzflut ragt, beengt in keiner Weise die Strömung.
Allein steht der Brocken da, reglos. Angelangt einst als Zufallsfolge irgendeiner Katastrophe.
Ob er gewankt hat, gestossen wurde? Nur dann und wann übersteigt ihn das Wasser.
Worüber könnte er sich erheben?
Ist er doch weder Wegmarke noch Gedenkstein.
aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold
(aus Dans la lumière sourde de ce jardin, José Corti Éditeur, Paris 2016)
– Pierre Chappuis als Dichter des Übergänglichen. –
Auf der Backlist seines Pariser Hausverlags, José Corti Éditeur, ist der welschschweizerische Dichter Pierre Chappuis mit mehr als einem Dutzend Einzeltiteln vertreten. Er steht dort in einer Reihe mit führenden internationalen Autoren wie John Ashbery, Paul Celan, René Char, Roberto Juarroz oder Andrea Zanzotto, die ihn an Bekanntheit und Anerkennung wohl übertreffen, denen er aber an künstlerischem Rang durchaus gleichkommt.
Dass und wie der heute 86jährige Chappuis diesen Rang behauptet, belegt nun auch seine jüngste Veröffentlichung, eine bescheidene, ja unansehnliche Broschüre, die unter dem Titel Dans la lumière sourde de ce jardin (Im dumpfen Licht dieses Gartens) eine Handvoll neuer Gedichte und darüber hinaus viel weissen Leerraum enthält. Was sich so leicht darbietet, ist ein gewichtiges Alterswerk von staunenswerter Form- und Ausdruckskraft, streng strukturiert in seiner Gesamtheit (je drei Gedichte in vier Sektionen, dazu ein Auftakt und ein Finale in lyrischer Prosa), präzise ausgearbeitet in jedem Detail und auf allen Textebenen – von der Typographie über die hochkomplexe Syntax bis zur Metaphorik.
Chappuis gelingt es nach wie vor, mit höchster Konzentration und Luzidität Gedichte zu erwirken, denen bei aller Kunstfertigkeit nichts Gekünsteltes anhaftet, die vielmehr die Vorstellung aufkommen lassen, sie seien „einfach so“ entstanden, nicht eigens „gemacht“, eher naturhaft „gewachsen“ – bald wie vielfach verzweigtes Strauchwerk, bald wie kompakte Stalaktiten. Darin besteht das ausserordentliche Können dieses Autors und auch die Unverwechselbarkeit seiner poetischen Rhetorik – dass die Natur so einfühlsam zur Sprache gebracht wird, als hätte sie selbst das „Wort“ ergriffen, um ihre Ödnis und Pracht, ihre Grausamkeit und Sanftmut, ihre Beharrlichkeit und ihren Wandel sprachlich darzutun.
In der Dichtersprache gewinnt dieses Als-ob seinen eigenen Wirklichkeitsstatus: Geräusche und Düfte und Farben gehen wortwörtlich in ihr auf und mutieren zu dem, was sie bedeuten. In glücklichen Momenten des Lesens oder Vorlesens werden das Glucksen eines Rinnsals, das abendliche Schimmern eines Schneefelds, das Wandern eines Schattens tatsächlich wahrnehmbar. Die Wahrnehmung ist dannzumal, hier und jetzt, nichts weniger als die ganze – eben die „dichterische“ ‒ Wahrheit.
Pierre Chappuis, sprachmächtig und sprachskeptisch zugleich, hat sich eine negative Poetik zueigen gemacht, ausgehend davon, dass die Dingwelt und deren Wahrnehmung nicht adäquat zu benennen, schon gar nicht zu beschreiben seien; dass jeder diesbezügliche Versuch seinen Gegenstand verfehle, verfremde, ihn letztlich verrate; dass also menschliche Rede – die Rede des Dichters nicht ausgenommen – bestenfalls „ein Stenogramm sein könne, ausgerichtet mit ganzer Energie auf das, wodurch sie negiert wird“. Das Ding negiert demnach das Wort, das ihm nie wirklich „entsprechen“, nie „gerecht“ werden kann; das Wort wiederum negiert das Ding, indem es sich an dessen Stelle setzt, es mithin repräsentiert, ohne es tatsächlich präsent zu machen. Der zu besprechende Gegenstand widersetzt sich demnach seiner wie immer gearteten Besprechung, das Ding bleibt dem Wort unerreichbar, einzig das Schweigen wird ihm gerecht und belässt es in seiner schlichten Realpräsenz. Man schreibe, so hat Chappuis einst notiert, „stets an der Schwelle zur Lüge oder zur Aufschneiderei, einzig am Leitfaden dieses arabischen Sprichworts (bei Mohammed Dib entliehen): Wenn dein Sang nicht schöner als das Schweigen ist, dann schweig!“
Einerseits also: Die Schönheit des sprachlichen Ausdrucks zur Kompensation sprachlichen Ungenügens; andererseits: Das Schweigen als wahrhaftige, wiewohl stumme Rede, die ihren Gegenstand überhaupt erst als solchen hervortreten lässt, unverstellt, unverfälscht. Pierre Chappuis hat dieses Paradox verschiedentlich als naturhafte Szenerie sinnbildlich festgehalten: Ein reissender – oder auch bloss ein plätschernder ‒ Bach (die Sprache) umspült in immer wieder neuer Annäherung einen Fels (als aussersprachliches Objekt), ohne ihn erfassen, festhalten, beglaubigen zu können. Doch eben diese Uneinnehmbarkeit ist auch der Grund dafür, dass das Wasser in ständig sich ändernden Wirbeln, Strömungen und Katarakten den unbezwingbaren Fels – das zu benennende Ding – umspielt. Das Gedicht erwächst also stets aus einem Mangel, und gleichzeitig bezeugt es diesen Mangel, nach Chappuis’ eigener Aussage, als „eine Leere, auf die es, ohne sie jemals ausfüllen zu können, unentwegt verweist“. ‒ Das, was das Gedicht nicht zu leisten vermag, wäre demzufolge sein eigentlicher Gegenstand und, darüber hinaus, seine Rechtfertigung ‒ es spricht (gleichsam) der defizitären Rede zum Trotz.
Die Dingwelt solcherart zu umspielen, sie im Medium der Dichtersprache zumindest andeutungsweise zu vergegenwärtigen, ist das Anliegen und ist auch der Anspruch von Chappuis’ Wortkunst. Diese bleibt im Wesentlichen auf das Naturgedicht beschränkt, doch das althergebrachte Genre wird hier auf vielfältige, unverwechselbare Weise instrumentiert. Dem Wittgenstein’sche Diktum, wonach über das, „was sich nicht sagen lässt“, zu schweigen sei, setzt der Dichter seinen Willen (und sein Können) entgegen, um eben dies ‒ das Unsagbare ‒ zur Sprache zu bringen. Dabei ist ihm klar, dass das Vorhaben nur ausnahmsweise und nie zur Gänze gelingen kann. Die subtile Sturheit, mit der sich einst Paul Cézanne seine Objekte – Felsen, Bäume, Gebäude ‒ malerisch erschlossen hat, ist charakteristisch auch für Chappuis’ dichterisches Schaffen, das nach dessen eigenem Bekunden (in La rumeur de toute chose, 2007) primär am Ding und erst in zweiter Linie am Wort orientiert ist:
Die Dichtung („das Wohnen des Dichters“) oder nichts: Worte, an die aufrichtig zu glauben in der täuschenden Perspektive der Jugend durchaus möglich war, bis dann ihre allmähliche Abnutzung dazu führte, dass man sich mehr und mehr den Dingen zuwandte (so als hätte es dafür eine absolute Notwendigkeit gegeben?), um sich womöglich, in letztem Verzicht, allein mit Brot zufrieden zu geben.
So kann sich der „fruchtbare Mangel“ ergeben, von dem auch im neusten Band wieder die Rede ist.
Das schmale Buch bietet eine diskrete Synthetisierung all der Themen, Motive und Verfahren, die der Autor im Verlauf vieler Jahrzehnte immer wieder eingesetzt und dabei laufend differenziert und fortentwickelt hat. Die Natur hat bei Chappuis kein idyllisches und auch kein dramatisches oder exotisches Gepräge, sie bietet sich zumeist in vordergründiger Unscheinbarkeit dar, mit Feldern und Wäldern, Gewässern und Hügeln, Felsen und Pfaden, eine in sich ruhende, weitgehend unbeschadete Welt, die freilich durch jäh klaffende Abgründe oder durch zivilisatorischen Lärm aus der Ferne – Autobahn, Eisenbahn, Fabrik – bisweilen auch bedrohliche Komponenten erkennen lässt. Doch nicht dem Entweder-oder gilt das Interesse des Dichters, nicht dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Erde und Himmel, Ufer und Strom, Tag und Nacht, vielmehr fasziniert ihn das Dazwischen – Zwischenräume, Zwischenzeiten, Zustände der Schmelze oder der Erstarrung, die abendliche oder morgendliche Dämmernis, der Wandel von Wolken und Schatten in ihrem Aufkommen und Vergehen, kurzum: das Sowohl-als-auch des Gegensätzlichen, wie es sich in Phasen der Übergänglichkeit vollendet, sei’s als stetiger, sei’s als sprunghafter Prozess.
Pierre Chappuis versucht solch naturhafte Übergänglichkeiten – Nieselregen, Dunst, Gegenlicht, schattenlose Trübnis („grisaille“), stockende Luft, das Rauschen von Wasser oder von wehendem Laub – so präzise wie möglich in Worte zu fassen, sie aber nicht bloss, wie realistisch auch immer, darzustellen, sondern sie in der Struktur der Verse und Strophen nachzuvollziehen: syntaktisch, rhythmisch, lautmalerisch. Es geht dabei weder um die Dinge noch um die Worte als solche, es geht vielmehr um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Dingen und Dingen, Worten und Dingen, Worten und Worten. Das Phänomen der Übergänglichkeit bringt Chappuis auf formaler Ebene unter anderm dadurch zur Geltung, dass er die meisten seiner Texte zwischen freien Versen und poetischer Prosa so diskret oszillieren lässt, dass ein Unterschied kaum noch auszumachen ist.
„Auf geheimnisvolle Weise verlangt die Dichtung danach, von einem innern Ohr in ihren feinsten Übergänglichkeiten wahrgenommen und gleichzeitig, im Bestreben, sich zu verkörpern, gesprochen zu werden“, heisst es an einer Stelle (in Le biais des mots, 1999):
In diesem Dazwischen entfaltet sie sich.
– Dazu, als ein Beispiel für viele, ein minimalistisches Prosagedicht aus dem Band A portée de la voix (2002):
Morgen: geringstes Zündeln. ‒ Der Tag (Zärtlichkeit vor jeglicher Wiederbelaubung), die Montgolfière des Tages, noch kaum ein Rosa, hält sich reglos in der Frische. ‒ Ungebunden, an nichts sich haltend, schwebend (nicht mehr den Boden berührend, oder so, als ob), wie über unsern Köpfen die Triller unsichtbarer Vögel.
Das Gedicht evoziert nicht nur das wundersame Schweben von Formen, Farben, Klängen zum Tagesbeginn – es selbst bietet sich dar als ein reglos zwischen Laut und Bedeutung schwebendes Wortgebilde.
Pierre Chappuis, 1930 geboren im zweisprachigen Twann/Tavannes am Bielersee, hat während Jahrzehnten in Neuchâtel (wo er noch heute ansässig ist) als Lehrer für französische Sprache und Literatur gewirkt. Als Dichter ist er erst ab 1969 in Erscheinung getreten, hat zunächst ohne merkliche Resonanz in verschiedenen westschweizerischen Kleinverlagen und Zeitschriften publiziert, bis er um 1990 bei José Corti in Paris zum Hausautor avancierte. Seither hat er dort in regelmässigem Wechsel seine schmalen Lyrik- und Essaybände vorgelegt, die inzwischen, weit über die Schweiz hinaus, zu den grossen Errungenschaften zeitgenössischer Poesie und Poetik zu zählen sind.
Felix Philipp Ingold, der zuletzt mit Ausgespielt (Moloko Press, 2015) ein multimediales Poesieprojekt vorgelegt hat, bereitet z.Z. eine zweisprachige Textauswahl mit Gedichten und Notaten von Pierre Chappuis vor.
Felix Philipp Ingold, 2016
Bernard Dov Hercenberg, geboren 1949 in Paris, heute in Jerusalem lebend, ist nicht eigentlich ein „Schweizer“ Dichter, kehrt aber seit seinem dreizehnten Altersjahr regelmässig in der Schweiz ein – genauer: im französischsprachigen Wallis ‒, um hier in der Landwirtschaft zu arbeiten. Hercenberg ist professioneller Philosoph und Kunsthistoriker. Der schmale Lyrikband La grange et le sanctuaire (Die Scheune und das Heiligtum), dem die beiden nachfolgenden Gedichte entnommen sind, erschien 2001 bei Editions Empreintes im fribourgischen Moudon.
ABEND
Der Abend weitet sich
und der Baum wird eins mit der Weltnacht
die als Saft und Faserwerk und Last
aufgeht im Baum und ihn in ihren Schatten hüllt.
Was wächst fliesst aus
in die glückliche Luft dieses Daseins.
Allein bleibt der Raum der die Erde umgreift.
Endlos erstreckt er sich
und nimmt von unserm Planeten
was an Laub und Früchten kommt.
ZWEIG
Ein Zweig abgestorben
in der Trennung die das Herz
blosslegt fällt auf die Erde.
Er wuchs und wurde dicht und licht
blieb eingespannt in seine steifen
Fasern war trunken in seinem Halt.
Bis er brach.
Sein einsames Ragen
gibt dem Horizont kein Zeichen mehr.
Die Erde hat ihn wieder
der abliess vom Stamm.
(Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold)
Anne Rothschild, geboren 1943 in New York, ist schweizerisch-belgische Doppelbürgerin. Nach ihrem Universitätsstudium (Literatur- und Kunstwissenschaft) absolvierte sie die Ecole des Beaux-Arts in Genf, um danach als Graphikerin und Bildhauerin zu arbeiten. Längere Aufenthalte in Israel und China. Seit 1979 hat Anne Rothschild rund ein Dutzend Bücher vorgelegt, mehrheitlich Lyrik, die sie gern auch illustriert oder von befreundeten Künstlern illustrieren lässt. Zuletzt erschienen: Tout commence la nuit (Alles beginnt nächtens, 2008) und L’enfance égarée (Die verleitete Kindheit, 2013). Die hier erstmals übersetzten Gedichte sind dem Band Les arbres voyageurs (Editions Empreintes, Lausanne 1995) entnommen.
GEDICHTE
*
Die Wasser waren in den Wassern
bis zur Entfaltung
von Amber und Schatten
der Baum treibt Früchte
die ihren Samen in sich tragen
ein andrer Name erhebt sich prägt sich ein
dröhnt im Flirren der Sphären
*
Reise der Lippen
Riss gespreizt der Raum eines Kusses
die Leere der Vokale trennt das Dunkel
quert die Hüllen
einer Nacht die Welten trägt
die Wasser wenden sich
Mondgeflecht
Schaumklöppelei
*
Faltung der Lippen
die in ihrem Schlitz das Geheimnis
der Lettern bergen
jedes Blatt ein Häutchen dargeboten
dem Tag zur Vergewaltigung
*
Was ist das bloss für eine Abwesenheit
die unter meiner unentwegten Kosung
ihre Falten wirft …
*
Wenn das Begehren zur Klammer wird
ungewisse Wogen verworfen
von einem Meer in Arbeit
Körperhöhle
Text als löchrige
Verwerfung durch die
alles sich leert und sich drängt
*
Lippen die Seide der Lettern
die Erwartung im Innersten sämtlicher Fasern
die Erde ist das was du schenkst
und dieser Fleck von Weisse
wo die Dämmerung anströmt
*
Sogleich verhüllt sich das Gebet
gewebt aus dem Verbund der Farben
der Atem hebt sich um ertränkt zu werden
brandend unter den entflammten Flügeln
jedes Ding ruht
Schicht auf Schicht
bis alle Rosenglut
zur Krone wird
*
Vereinzelte Dünen in einer befriedeten Wüste
Krähen kreisen
und kreisen
um das Schwert zu entbinden
*
Dem ganzen Licht zum Trotz
steht manchmal soviel Schwärze
in den Tüchern des Jasmins
diese Regenschauer die das Eisen heimsuchen
wecken auf der gefleckten Hand
den Rost eines knittrigen Blütenblatts.
*
Nun
da der Flügel des Raben den Abgrund
verschattet
drängt die Entscheidung mit dem Geschlecht
hell schimmern Wolle und Seide
wie eine geblendete Karawane
die man nicht mehr erwartet hat
*
Wenn die Stimme den Leib umfängt
gebündeltes Holz von den Brüsten geschwellt
der Text schiebt sich über den Text
und diese Spanne Mitte Rad
beschleunigt eine unermüdliche Spirale
der Speichel verschmilzt mit der Tinte
der Samen mit den Zeichen
diesen leichten Schleppern
auf dem Liebesmeer
*
Schön von all ihren Hoffnungen
eingelassen die Gestalt in den Stein
wohin Lanzen Türme Dome gleichermassen streben
verströmt fliesst und verschüttet sich
der zarte Tau
in die Falten eines Bauchs
umfangen von Myrrhe und Myrte.
*
Du wirst zurückfinden zur Arche
Die zu diesen uterinen Klöppeleien
Runzeln des Papiers unsichtbare Fransen
wo ein Geburtslied nistet …
(aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold)
France-Line Genêts (eigentl. Bourquin), geboren 1962 in Biel/Bienne an der französisch-deutschen Sprachgrenze, arbeitet heute als Dekorateurin und Schmuckdesignerin im jurassischen Saint-Imier. Studium der Kunstgeschichte in Neuchâtel, Arbeitsaufenthalte in Paris. Legte in den 1980er und 1990er Jahren ein halbes Dutzend Lyrikbücher vor, zuletzt L’heure fauve (Editions Empreintes, Lausanne 1999); diesem Band sind die hier erstmals übersetzten Gedichte entnommen.
Überm Blau
ein Sonnenloch
deine Hände aufgefächert
und plötzlich
hat der Schatten
Nachklänge aus China
*
Nicht mehr
als eine Stimme
mit der meinen verschnürt
heitere
Früh
in meinem Gedächtnis
wie ein Wind im April
*
Die Luft
zerschlissen
in ihrer Berührung mit der Flechtenkruste
Die Erde
wie die warmen Konturen
deines Atems
auf meinen Fingern
Die Luft und die Erde
die mich stossen
aaaaamich zurückstossen
aaaaamich an dich schmiegen
*
Schatten
schwarzer Geliebter
der an den Beugen
meines Körpers döst
der auftaucht der klimmt und Form gibt
schwere
Mutter
mysteriös
die Konturen meines Bauchs
Der Schatten
deiner Hand
wie eine ängstliche Schlange
*
Harte Hüften
geplättete Handballen
deine Kraft
in meinen Adern
unter Spinnenküssen
deine Kraft
die in mich dringt
mich zum Gebären bringt
*
Sehen
durch deine Augen
meinen Schiffbruch
meine Fahrt
in dir
*
Wenn ich die Frucht bin
dein Mund
Frühling im feuchten
frischen
Unterholz
dein Mund
der meine Haut schlürft
mein Fruchtfleisch
wenn ich auf deinen geschwollenen Lippen
der Geschmack bin
*
Dein Geruch
Kiefer
Schiefer
was mir den Herbst bringt
was mich ums Herz bringt
Auf meiner Haut
dein Geruch
wie ein Apfel
*
Überall
in der Luft die kein Gewicht mehr hat
plötzlich
kein Gericht mehr hat
im Wind der keine Flüge
aaaaaaaaaaaakeine Züge mehr hat
deine Abwesenheit
wie ein Exil
(aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold)
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