Wer kennt Robert Kelly? Zwei erstübersetzte Gedichte, dazu ein knappes Geleitwort von Felix Philipp Ingold

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

Wer kennt Robert Kelly? Im deutschen Sprachbereich ist der US-amerikanische Autor (geb. 1935 in Brooklyn, NY) selbst unter Kritikern und Autoren ein Geheimtipp geblieben, obwohl mehrere seiner Bücher – Poesie wie Prosa ‒ in Übersetzung vorliegen. Der Dichter Schuldt, die Dichterin Birgit Kempker, die Malerin Brigitte Mahlknecht, der Erzähler und Essayist Wolfgang Schlüter haben sich ebenso intensiv wie kompetent um seine Rezeption verdient gemacht, ohne allerdings für sein Werk nachhaltiges Interesse zu gewinnen.
Kellys allzu geringer Bekanntheitsgrad hierzulande kontrastiert in krasser, geradezu grotesker Weise mit der ungewöhnlichen Präsenz, über die er in den USA als Buchautor, Literaturdozent und engagierter Blogger verfügt (vgl. Robert Kelly’s home page, with much work online). Mehr als fünfzig Lyrikbände, rund ein Dutzend Prosabücher, dazu Anthologien und andere Sammelwerke hat er seit 1961 veröffentlicht. Vorzugsweise publiziert er bei Black Sparrow Press, einem exzellenten Literaturverlag in Santa Barbara, der nicht nur das gute, sondern auch das schöne Buch pflegt ‒ mit ausgewähltem Papier, vorzüglicher Gestaltung, sorgfältiger Drucklegung und entsprechend geringer Auflage. Frühe dichterische Impulse erhielt Kelly aus der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne – von Coleridge über Baudelaire bis hin zu Guillaume Apollinaire; später kamen Ezra Pound, Charles Olson, Robert Duncan, Louis Zukofsky hinzu – bis Kelly selbst zum Meister und Vorbild wurde.
Die beiden hier erstmals auf Deutsch eingerückten Gedichte entstammen dem Band Under Words (1983), den Robert Kelly unter dem unmittelbaren Eindruck von Ferdinand de Saussures Anagrammstudien, die Jean Starobinski im Rahmen einer Archivrecherche (Les mots sous les mots, 1971) auszugsweise vorgelegt hatte. Eins der Gedichte, „Une semaine de silence“, verfasste er in französischer Sprache, das andere, „The head of Orpheus“, gehört in den Kontext seiner weitreichenden Studien über den mythischen Sänger, dessen Dichtung ewige Jugend versprach und dem kraft der Sprache beinah die Rückgewinnung Eurydikes, seiner verstorbenen Frau, aus dem Totenreich gelungen wäre, hätte er sich nicht – Liebe vor Kunst! ‒ zu früh nach ihr umgedreht. Von den rächerischen Maenaden wurde Orpheus nach seiner Rückkehr in Stücke gerissen; seinen Kopf übergab man dem Meer. An diese Episode knüpft das Gedicht an.

Felix Philipp Ingold

 

Robert Kelly

DER KOPF DES ORPHEUS

Wenn Orpheus unter bäumen sich erging
war jedes blatt Eurydike für ihn

wenn Orpheus in den quell hinuntersah
war ihm das firmament der hölle nah

wenn Orpheus nach der leier griff und sang
sah er den scheiterhaufen dort am hang

wo die Maenaden sein zerfetztes fleisch
zusammenrafften mit gekreisch

„Was er auch tat war fehl am platz:
die theorie die liebe und sein liederschatz“

als dann sein kopf zum vorschein kam
da küssten sie ihn auf den mund im wahn

„Nur lügen gingen über diese lippen in die welt
doch eben sie sind’s was uns jung erhält –

ach blieben sie nun ewig feucht“ Und schon
sah Orpheus seinen kopf im meeresstrom.

aus dem Englischen von Felix Philipp Ingold

 

EINE WOCHE DER STILLE

I

über den fluss eine sache

und auf der scheibe des monds
eine sache und
unterm gehänge der eiben unterm wind
eine sache und
unterm meer eine sache
und das alles die gleiche sache

doch unsre schritte treten auf eine andre –
und wie ein verliebter junge
sich anzieht sobald er die sonne
wie einen blutigen text wahrnimmt
den er zu entziffern hat

um eines schönen tags nackt zu sein

so zerschleissen wir
wortlos den erdgrund
und wir suchen nicht die andre

sondern bloss die gleiche sache

 

II

Seele wo strassen rinnen
habt durst für mich

seele wo nachtigallen schweigen
in weisser extase vom nichtssagen

habt durst für mich
und wenn der abend den irrigen tag durchstreicht

habt durst für mein schweigen

 

III

einfacher eine sprache sprechen
die das herz nicht vernimmt

die gewohnheit alles zu verstehn
lehrt von rechts nach links zu schreiben

und ein neuer baum der schreitet

 

IV

ich wohne nur mit dir
unsre leiber unterwerfen sich dem gesetz
der leiber – dass eine sache
sich entfernt von einer andern ein abstand
und dieser raum ist ein blinder mund –

doch ich wohne nur
mit dir immer mit dir
und die bleibe
hebt sich ab von den feinen linien einer zeichnung
und die fensterscheiben sind augen
wir sehn einander

bett, fast schon tag

 

V

Fingernagel:

Sprich nicht
von unvorhergesehenem geschick

ich esse das Einstmals aus haut

und unter meinen träumen
erheben sich und wagen zu wachsen
die ganzen leiber (ausgeburt
meines streichelns)

bis zu dem augenblick da ich mich vergesse

arsch    hüften    rücken    dauern an
ich bin eine klinge    eine mitternacht    ein passant.

aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold 

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