– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Holunderblüte“ aus Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band 1: Die Gedichte. –
JOHANNES BOBROWSKI
Holunderblüte
Es kommt
Babel, Isaak.
Er sagt: Bei dem Pogrom,
als ich Kind war,
meiner Taube
riß man den Kopf ab.
Häuser in hölzerner Straße,
mit Zäunen, darüber Holunder.
Weiß gescheuert die Schwelle,
die kleine Treppe hinab –
Damals, weißt du,
die Blutspur.
Leute, ihr redet: Vergessen –
Es kommen die jungen Menschen,
ihr Lachen wie Büsche Holunders.
Leute, es möcht der Holunder
sterben
an eurer Vergeßlichkeit.
Schon Homer und Pindar bestimmten ihre Verse dazu Taten im Wort zu bewahren. Was für ein bedrückender Unterschied: Autoren unserer Zeit sind genötigt, Untaten beim Namen zu nennen, damit sie nicht dem Vergessen – und damit der Wiederholbarkeit – anheimfallen. Bobrowski erinnert an den russischen Erzähler Isaak Babel, der in seiner „Geschichte meines Taubenschlags“ von dem Judenpogrom in Odessa im Jahre 1905 berichtet, bei dem der Elfjährige den Großvater und seine lang ersehnte, eben erstandene Taube verlor. Seiner Miniaturtechnik gemäß erzählt Babel lakonisch, ohne zu klagen oder anzuklagen, doch der Leser der „Geschichte“ ist verstört, denn es ist ein an den Rollstuhl gefesselter Kranker, der das Tier tötet, ein armer Teufel, der sich an einem anderen Armen vergeht. Bobrowski spart dies aus. An einem Kinderschicksal und in kindlicher Syntax verdeutlicht er Neid und Haß, Unrecht und Leid – an einem konkreten Vorgang, da abstrakte Statistiken wenig besagen. Er wählt bewußt ein mit uralter Bedeutung angefülltes Detail, denn die Taube verbildlicht nach 1. Mose 8,11 den Frieden und nach Matthäus 3,16 den Geist, die beide mitgeopfert werden.
Auch der zweite Abschnitt gilt der genauen, schaubaren Erinnerung, diesmal an ein dörfliches Idyll, dem alles Gewalttätige fremd zu sein scheint und das dennoch zum Schauplatz für Rassenwahn und Verbrechen wird. Der Leser, vertraulich angesprochen, erfährt nichts vom Täter und wenig vom namenlosen Opfer, aber als Mitwisser einbezogen – „Damals, weißt du“ –, kennt er die „Blutspur“, die die Geschichte unseres Jahrhunderts durchzieht.
Die geläufigen Erwartungen an ein zeitgenössisches Gedicht – als hermetisch-esoterisches Selbstgespräch – wehren die Schlußverse brüsk ab. Bobrowski, der nach der Rückkehr aus russischer Gefangenschaft in Vers und Prosa unvergleichlich viel für die Aussöhnung mit den Völkern des Ostens getan hat, tritt in direkter Anrede hervor:
Leute, ihr redet: Vergessen –.
Das „Gerede“ plädiert für das Vergessen, dem es zugleich zuarbeitet; die „Leute“ sprechen vom Vergessen und um zu vergessen. Die bitteren Folgen: Die Verdrängung der Älteren bedingt das Unwissen der Jungen.
Die Toten mahnen, doch die Vergeßlichkeit der Lebenden bringt sie um den einzigen Schimmer von Sinn, den ihr Opfer hat. Daran „möcht“, darüber könnte der Holunder verdorren, dessen alte Bedeutungen für den Volksglauben das Gedicht zurückruft. Mit ihm, der zur Sommersonnwende in Blüte steht, verbindet sich Liebeszauber; er ist zudem Schutzbaum, in dessen Schatten Kleists Käthchen ihr Inneres preisgibt; als unvergänglicher Lebensbaum steht er mit dem Tod in untergründiger Verbindung. Der Holunder „möchte“ absterben, wenn sich Menschen der aus Leid und Schuld gebildeten Vergangenheit entziehen. Das Gedicht besteht auf Erinnerung, die den verliebten Jungen ihr Lachen beließe, doch diesem mit der Unwissenheit von seiner Oberflächlichkeit nähme.
Nietzsche statuierte, Handeln sei ohne Vergessen nicht möglich. Bobrowski widerspricht zornig aufgrund seiner und unserer Erfahrung: Das Leben benötigt – so die Logik seiner Bildlichkeit – das Erinnern zum Überleben. Was das Gedicht einklagt, leistet es selbst vielfältig: Indem es Babels trauriger Erinnerung Raum gibt, dient es auch dem Gedenken an diesen Prosaisten, der sich der Revolution anschloß, mit Budjonnys Reiterarmee zog, im Volkskommissariat für Bildung tätig war und dennoch im März 1941 im Lager umkam.
Durch die Blutspur eines anonymen Opfers erinnert das Gedicht an alle, die im Zeitalter der Ideologien litten. Es erinnert die Alten an das getane, die Jungen an das latente Böse in uns, das in Ausnahmesituationen ausbricht; es erinnert schließlich an Bobrowski und dessen lyrische Versuche, „zu tilgen und zu sühnen“. Im September 1960 geschrieben, ist das Gedicht heute gültig wie damals.
Werner Keller, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991
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