Werner Söllner: Knochenmusik

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Werner Söllner: Knochenmusik

Söllner-Knochenmusik

MEINE HAUT
ist tätowiert von
innen.

Mit Bildern und Sätzen
von früher. Irgendwo, fast in
der Mitte, etwas, das
weh tut. Ich sollte weniger
rauchen.

Fast mein Innerstes,
Liebste, ist nach außen
gekehrt. Du sitzt in der U-Bahn
und liest meine Haut
in der Zeitung. Sie gehört mir
nicht mehr.

Das System bleibt
geschlossen. Nur Geschriebenes
ist Geschichte, nur
das Fremde.

 

 

 

Siebenundvierzig Gedichte

Das Leben hat den Dichter Werner Söllner durch ziemlich viele Stacheldrahtverhaue gezogen, politische und persönliche, wobei sich das nicht immer trennen ließ. Er ist darüber aber kein Tragiker geworden und schon gar kein Pathetiker. Im Gegenteil, es gelingt ihm sogar, jede poetische Kostümierung zu vermeiden. Er veranstaltet kein Wörtergetänzel und keine Verrätselungsshow, er hängt sich keine Toga um und stellt sich nicht auf Kothurne. Er notiert, was nötig ist, für uns, für seine Leser. Manchmal denke ich, er selber bräuchte sie gar nicht für sich, diese Lebensrandnotizen, aber er verschenkt sie, nicht oft, nicht viele, seit vielen Jahren. Am Rand steht der Dichter und beobachtet, läßt geschehen, weil nichts zu ändern ist.

und welche Rolle wir spielen
in Wirklichkeit, hat kein Gewicht:
Ich, das an den andern, den vielen
anderen Rollen zerbricht.

Vom Rand her und an den Rand geraten, von dem man nur noch fallen kann – das immer wieder durchzuleben gerinnt zu Textpartikeln, lakonisch, trocken, distanziert. Wahrscheinlich wartet er, bis sein Material hart genug geworden ist, um es zu bearbeiten. Bei Söllner empfinde ich Sprache oft dinglich, wie eine Art Stein.
Seine Kunst hat er immer wieder Dichterkollegen zur Verfügung gestellt, als einer jener Übersetzer, die so gern kongenial genannt werden. Das ist er, weil er seine Qualitäten durchaus kennt und sich deswegen über die anderer freuen kann. Ich habe ihn nie konkurrent erlebt, höchstens milde erstaunt über manche poetische Lärmentwicklungen.
Was ist das Geheimnis, was ist es, das ein Gedicht ausmacht?

Für den einen
ist es ein Abgrund; wenn er
hineinschaut, stürzt er
zu Tode, Für den andern ist es
eine Brücke über den Abgrund.

Manchmal habe ich befürchtet, daß er verstummen würde, nicht wegen solcher Kindereien wie Blockaden oder Leereseitenphobie, sondern wegen der Gewißheit, die allen großen Skeptikern eigen ist – welche Wörter auch immer man macht, und wenn es noch so schöne und wahre sind, alle bleiben vergeblich.
Gedichte zu schreiben, hat Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt, sei eigentlich keine Tätigkeit für einen erwachsenen Menschen. Das war, wie so oft bei ihm, eine in Provokation verpackte Wahrheit. Denn sie sind ja allesamt nicht leicht zu ertragen, die Dichterattitüden, die seit der Romantik überlebt haben, das Verkünderische, das Kostbare, das Exaltierte, das Rauhbeinige, das Ungezogene, das Skandalöse, das Weinerliche, das Ordinäre, das Weltrettende, das Einfürallemale, das Kindliche, das Als-ob-Weise – es gibt noch viel mehr Rollen, Söllner kann sie alle nicht spielen. Ich habe keine Ahnung, ob ihm nicht manchmal lieber gewesen wäre, er könnte.
Siebenundvierzig neue poetische Nachrichten, wenn man sie liest, erfährt man mehr über sich selber als über den, der sie geschrieben hat. Der Hund kommt vor und die Liebste, die Donau und Frankfurt, die Erinnerung, das fleißige Lieschen. Gar nicht viel Tod und Drama. Nur tief untendrunter ist beides verwahrt in diesen unglaublich alltäglichen Gedichten, die sich im Leserhirn, im Leserherzen festhaken.
Seinem Kollegen Christoph Meckel widmet er eine poetische Gebrauchsanweisung:

Mein Gedicht ist ein Nagel
in einer Mauer.

Daran hängt mein Gedicht,
ein Bild von der Mauer
mit einem Nagel darin.

Söllners Verse sind Häuser mit hellen Fenstern und vielen Kellerräumen, Verliese sind da, dunkle Fluchtorte, aber man ahnt sie nur.
Manchmal reimt er, das geschieht wie zufällig, und ich denke, wenn ihm der Reim nicht einfach entgegenfiele wie etwas, das sowieso reif ist – er würde nicht danach suchen, sondern es einfach bleibenlassen mit dem Reimen.
Bei all dem, was ich über seine Art zu arbeiten denke, muß man wissen: Es ist reine Spekulation. Wir haben in den Dutzenden von Jahren, die wir uns kennen, so gut wie nie über das Wie gesprochen, dieses große Wie, das in Seminaren und Creative-Writing-Kursen, auf Universitäten, Volkshochschulen und in sonstigen Hilfsorganisationen verhandelt wird. Schreiben war zwischen uns nie ein Thema, obwohl es in seinem Job im Literaturforum genau darum geht, wie man es erklärt, lehrt, beurteilt, unter Leute bringt, verbessert und nicht zuletzt finanziert.
Nach einer sehr öffentlichen Krise vor wenigen Jahren, deren Brandspuren man in seinen Gedichten finden kann und in deren stürmischem Verlauf ich viel gelernt habe über Schuld, Sühne und die verblüffend hohe Selbsteinschätzung vieler Zuschauer aus Kultur und Politik, die sich mit großer Lautstärke zu Richtern ausriefen, hat er erschöpft zu mir gesagt:
Aber ich schreibe wieder. Meine Misanthropie hatte damals den Punkt erreicht, daß ich dachte, man kann’s auch lassen. Kann sein, daß gar nicht mehr über das große Wie gesagt werden muß als: Aber ich schreibe wieder.

ging ich und pflanzte ein Bäumchen
ins Heute

Aber ich schreibe wieder. Notizen wie Nägel, Wegbeschreibungen, manchmal komisch, wenns eben komisch ist –

Hrdlickas marmorne Schwänzchen, drapiert
mit Kanapees, Prosecco und Bier –

manchmal todtraurig, immer aber verwundert darüber, daß es so ist, das Leben, und daß man es aushält, manchmal sogar gern.
Aber ich schreibe wieder, sagt der Dichter.
Was denn sonst.

Eva Demski, Nachwort

 

Vorzugsweise einfach

Werner Söllner ist auf den großen Bühnen nicht zu finden. Er ist ein Dichter des Unspektakulären, seine Poesie ist nicht geschwätzig, nicht abstrakt, nicht apodiktisch. Sie ist vorzugsweise einfach. Von dieser kunstvollen Einfachheit wird der Leser höflich in eine ahnungsvolle Arglosigkeit und zu den letzten Dingen geleitet. Und oft wird er vom lyrischen Ich Söllners mit den eigenen Paradoxa bekannt gemacht:

Was ich
Falsch gemacht habe, war, falsch,
Weil ich es richtig machen
Wollte.

Eine gute Portion Sarkasmus und eine Lebensperspektive fast ohne Hoffnung prägen diese sprachlich ausgefeilten und souverän komponierten Gedichte. Der nüchterne Ton führt nicht selten über Abgründe hinweg, in Ungewissheiten hinein, die einem die Sprache verschlagen. Doch der melancholische Grundzug erlaubt ihm immer wieder eine frivole Distanz zum eigenen Scheitern, die sich auch in übermütigen Zeilen freimachen kann.

Edition Faust, Ankündigung

 

Ein tiefes Staunen über das Dasein

Im Nullkommanichts in den Abgrund und gleich wieder herausgesaust – das ist der Anfang des fulminanten Gedichts, das dem ganzen Band seinen Titel gibt:

Im September an der Prinsengracht,
da wollte ich nicht mehr leben.
Da hab ich, Anne, an dich gedacht
und ging ins Rentrée einen heben.

Erst tiefschwarz und dann so alltäglich: pointiert sind Söllners Gedichte, und doch nie auf Effekt gebürstet – vielmehr zart und zerbrechlich, sie ziehen einen sofort in den Bann, dafür braucht es zwei Verse, manchmal nur einen.
Es sind späte Gedichte, Zeilen der Rück- und der Überschau, dies ist ihr gemeinsamer Nenner: Sie haben ein gelebtes Leben im Blick, mit wehmütiger Trauer und einem großen Staunen manchmal: über das, was war, und darüber, dass das Leben immer noch währt.
Der, der hier spricht, staunt, in seiner Haut zu sein, und fragt sich, was das überhaupt bedeutet: in einer Haut zu sein. Ist man denn immer Einer? Woraus setzt sich diese Einheit zusammen? Was hat man zu tun mit dem, der man früher war? Viele von Söllners Gedichten kreisen um das Rätsel der Identität.
Einen Halt bietet immer wieder die Liebe. Viele Gedichte sind Liebesgedichte – und doch fragt der, der sie schreibt, bang, wie weit sie reicht, reichen kann. Was ist Illusion, was Traum, wie kann Verständigung sein? Die Liebste ist „die Fremde von nebenan“, er selber „der Mann neben dir“: „In Wirklichkeit wusste ich nichts von dir.“ Und so ist denn, in tiefster Gemeinsamkeit, die Einsamkeit unüberwindbar. Auch hier ist der Grundton Melancholie.
Solcherart sind die Rätsel des Daseins. Und wie sie hier klar zutage treten, sich tief in den Leser hineingraben, um Wurzeln zu schlagen, den Blick zu verändern, ihn wegzulenken von den Oberflächlichkeiten des Alltags, hin zu dem, was uns Menschen wirklich ausmacht, das ist große, gewaltige, berührende Kunst. Berührend nicht zuletzt, weil sie bei aller Tiefe der Themen stets schlicht und bescheiden bleibt. Weil ihr jedes Pathos, ja jede dozierende Gelehrsamkeit zutiefst fremd ist: Denn der, der schreibt, bleibt stets ganz bei sich und erhebt keinen Anspruch darauf, zu wirken oder zu überzeugen. Soviel Zurückhaltung muss man erst einmal können!
Werner Söllner erzählt in diesen Gedichten von sich. Der Mensch hat ja nichts anderes als sich und seine Begebenheiten. Frankfurt kommt vor, seine Heimatstadt seit Jahrzehnten; die Liebste, immer wieder; ein Spaziergang mit einem Freund; der Hund. Man muss in diesem Fall nicht einmal ein lyrisches Ich zwischen Verfasser und Erzähler schieben, so grenzenlos einfach sind diese Verse, klar und schutzlos.
Und doch erfährt man wenig vom Dichter – und weiß hernach viel über sich selbst. Denn aus seinem Bei-sich-Sein gelangt Werner Söllner umstandslos ins Große und Allgemeingültige, staunend über die Vergänglichkeit von allem, oft bekümmert und lebenssatt – und dennoch sehnsüchtig.
So ist man nah bei ihm in diesen Versen, fast privat, und doch fern: Denn viel zu vornehm ist Söllner, als dass er einen je mit sich und seiner eigenen Geschichte behelligen würde, es sei denn, sie diente dem Nachdenken über die verschlungenen Wege des Lebens. Mitsamt einem – dezenten – Kopfschütteln darüber, wie gern die Menschen alles zu Schwarz oder Weiß machen, weil ihnen die unendlich vielen Graustufen der Wahrheit zu kompliziert und mühevoll sind.
Zu erwähnen wäre noch, dass Eva Demski diesem Gedichtband ein Nachwort spendiert hat, das Söllner voll und ganz gerecht wird – einfühlsam, lebendig und voller schöner Bilder und Gedanken. Gäbe es einen Preis für das Nachwort des Jahres, die Frankfurter Kollegin hätte ihn verdient.
Nichts ist kompliziert, nichts gekünstelt, und doch sind diese Gedichte voller Rätsel: und zwar, weil die Rätsel des Daseins aufscheinen, wenn man den Kosmos des Erlebens so reduziert aufs Wesentliche. Wenn man der Wahrheit so nahekommt.

Dierk Wolters, Frankfurter Neue Presse, 14.11.2015

Werner Söllners neuer Lyrikband:

Die paar gepackten Buchstaben

– Es ist still geworden um Werner Söllner seit seinem Geständnis 2009, Informationen an die Securitate weitergegeben zu haben. Und jetzt wird es wieder etwas lauter – in einem anderen Sinn: Sein neuer Gedichtband mit dem makaber-wohlklingenden Namen Knochenmusik ist eine Aufforderung zum Nachdenken über die Zeit, in der wir leben, und darüber, wie wir es tun. –

Schonungslos selbstironisch, schmerzhaft leicht und manchmal entwaffnend derb ist das lyrische Ich in Werner Söllners neuem Gedichtband. Er ist in der Edition Faust in Frankfurt am Main erschienen und stellt fast so etwas wie ein Vermächtnis dar. So beginnt das Buch mit dem Gedicht „Hinterlassenschaft“, in dem es um den Verlust des Vaters geht. Sein Dahinscheiden materialisiert sich in den paar Sachen, die von ihm übrig geblieben sind, nur sein Herz geht über in den Sohn. Schmerzvoll ist auch das nächstfolgende Gedicht „Mutters Mund“, in dem das lyrische Ich sich als wohlfeiles Wort denunziert und als „Ein alter / Sack voll Rotz und Wasser, wartend“, entlarvt. Der Tod wird dabei vom Leben umarmt und mutiert zum Kind, in den Armen des Sohnes.
Es sind wundervolle Gedichte in diesem Buch, nachdenkliche, gereimte; Gedichte mit wohlgesetzten Wörtern, bedacht und voller Galgenhumor. Gedichte eines lyrischen Ichs, das bei klarem Verstand die Gräuel dieser Welt dennoch irgendwie in Worte fassen kann. Da schreibt jemand, der das Heuchlerische auf der Insel der Gerechten, des Friedens und des Wohlstands, auf der wir leben, anprangert. Dort, wo wir den Krieg, die Armut und die Obdachlosigkeit zwar vermerken, aber ignorieren:

Nichts ist hier zu hören
vom Krieg, unsere Insel ist groß
genug für die Schreie
der Verwundeten

Doch glaubt sich dieser beobachtende „gleichgültig kaffeetrinkende Gott“ keinen Deut besser.
Da ist ein Ich „das an den anderen, den vielen / anderen Rollen zerbricht“ und mit sich selber ins Gericht geht. Jemand, der, wenn er sich selber begegnet, spöttisch lacht, der Irrtümer eingesteht und darüber nachdenkt, ohne sie im Einzelnen zu benennen:

Weißt du, alles, was ich
falsch gemacht habe, war falsch,
weil ich es richtig machen
wollte

Jemand, der sich im Wort fremd fühlt: „Ich dachte an das Wort / ich von außen“, und dennoch Vertrauen hat ins Wort:

Bring mir doch
bitte ein Glas mit, ein Glas
Wasser. Oder ein Wort, vielleicht
noch ein Wort

Da ist jemand, der die altersfleckige dünne Haut an sich bemerkt, und dass wir nur Gäste sind im gemieteten Paradies, der die Knochenmusik überm grauen Wasser hört , der halb Wasser atmet, halb Stein trinkt, der in der Liebe sowohl Rettung als auch Unheil sieht, mit anderen Worten jemand, der sich selber fremd geworden und dessen Herz kahlgeschoren ist.
In „Zweite Natur“ zieht das lyrische Ich eine sachliche Bilanz:

Im gemieteten Paradies nenn ich
nichts Nennenswertes mein eigen,
(…)
nur die paar gepackten
Buchstaben, auf denen ich sitze

Dann kommt dennoch von irgendwoher eine Stimme und sagt:

Es ist Zeit, …, erfinde.

Und so fügen sich die Wörter zusammen, stehen nebeneinander, greifen ineinander wie bei einer kunstvollen Maschinerie, in „Monsieur Malheur“ und verzaubern mit einer verstörenden Leichtigkeit: „Den Schlag ins Genick, / der uns ein bisschen verfehlt, / das Holz und den Strick / bis zum Anfang erzählt“, so dass man am Ende leider lachen muss. Und so pflanzt auch das lyrische Ich „ein Bäumchen ins Heute“, darin lässt es sich leben.
Eva Demski betont in ihrem schönen Nachwort, dass Werner Söllner nach seiner öffentlichen Krise jetzt wieder schreibt:

Was denn sonst

In ihrer Illusionslosigkeit lebensbejahend und spöttisch im Schmerz – Werner Söllners Knochenmusik lässt sich wärmstens empfehlen.

Edith Ottschofski, Siebenbürgische Zeitung, 4.1.2017

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Alexandru Bulucz: „Wer sehr in Eile ist darf verschwinden vor der Zeit.“
signaturen-magazin.de

Alexandru Bulucz: „X-rays are a light that penetrates the intimacy of both the art piece and the artist.“
signaturen-magazin.de

Martin Lüdke: Werner Söllner: Knochenmusik
faustkultur.de, 29.6.2016

Ursula Teicher-Maier: Vom Echo im Sprechen
fixpoetry.com, 20.2.2016

Christophe Fricker: Dichterbriefe
dasgedichtblog.de, 1.2.2016

 

Nagel & Gedicht

Deine Texte gefallen mir. Warum gefallen mir deine Text? Wann immer ich an Werner Söllner denke, sind es diese Sätze, die mir durch den Kopf schießen. Sie sind Nachhall und Anfang seiner geradezu epischen Monologe, mit denen er auf den Sommer- und Herbstseminaren des Jungen Literaturforums die Texte umstellte, im Selbstdialog einkreiste, aus der inneren Umklammerung der allzu frühen Selbstsicherheit befreite, kurz: mit denen er sich langsam und behutsam aus der Peripherie vor und ins Textzentrum hineintastete. Solche planetarischen Umkreisungen konnten lange dauern, sehr lange mitunter, aber dem Text konnte nichts passieren, dem Autor, der sich unweigerlich mit in die Tiefe gerissen sah, schon gar nicht. Im Gegenteil: Es geschah das überhaupt Beste, was einem Text und seinem Autor passieren kann, nämlich Kritik zu bekommen, und zwar nicht irgendwelche, sondern solche, die ihren Maßstab aus dem Text selbst entwickelt, immanent bleibt. Als ich im letzten Jahr Werner Söllners jüngsten Gedichtband Knochenmusik las, war es wieder da, dieses Selbstgespräch. Dieses Mal musste ich allerdings einhalten, absetzen, um dem in sich vertieften Gespräch zu folgen. Nicht zuletzt, weil da auf einmal ein Gedicht war, das mir seltsam bekannt vorkam, als wäre ich es gewesen, der das Gedicht geschrieben hatte, beziehungsweise als fände sich unter meinen Gedichten ein ganz ähnliches, ein Gedichtzwilling, unbekannterweise. Und da dieser Zwilling, also das Gedicht, obendrein noch eine Widmung trug, war nicht auszuschließen, dass vielleicht noch andere Gedichtgeschwisterchen da draußen waren, insgeheim darauf wartend, voneinander zu erfahren. „Mauer, Nagel, Bild“: mit Sicherheit nicht das stärkste Gedicht in dem Band. Eher eine „poetische Gebrauchsanweisung“, wie Eva Demski in ihrem Nachwort schreibt. Zumal hier nichts zu finden ist von der ansonsten bei Werner Söllner allgegenwärtigen Vertiefung in das „Selbstgespräch der Geschichte“, nichts von der bedrohlichen Latenz geschichtlicher Erfahrung. Von all dem hier nichts – oder besser gesagt: erst im Vollzug des Textes. Werner Söllner voran also, dann ein Gedicht von mir, das ich ihm am liebsten natürlich nun nachträglich widmen wollte:

Mauer, Nagel, Bild
Für Christoph Meckel

Mein Gedicht ist ein Nagel
in einer Mauer.

Daran hängt mein Gedicht,
ein Bild von der Mauer
mit einem Nagel darin.

*

FREGATTE & GEWITTER
für werner söllner

wo vormals das bild mit den
schiffen hing, goldener
rahmen, fregatte & gewitter
ist nur noch der nagel
in der wand zu sehen, der nicht
mit an bord, nicht unterging

In beiden Gedichten geht es augenscheinlich um einen Nagel, also eigentlich um einen Punkt, an dem am Ende sehr vieles hängt, eine Seeschlacht zum Beispiel, ein Unwetter, ein Gedicht, sehr viel jedenfalls, weil der Nagel hier nicht nur Gegenstand des Gedichts, sondern im Grunde das Gedicht selbst ist: Der Nagel im Gedicht und das Gedicht als Nagel. Im ersten Fall führt das zu einer unendlichen Vertiefung des Raums: Sooft man es versucht und von einem Bild ins andere springt, Nagel reiht sich an Nagel, da ist kein Grund, sodass das Gedicht am Ende im Modus der schlechten Unendlichkeit auf sich selbst als Gedicht und Anfang der in sich geschachtelten Spiegelungen zurückverweist. Im anderen Fall ist nicht der Raum, sondern die Zeit gemeint: Durch seine bloße Anwesenheit verweist der Nagel auf etwas in der Gegenwart Abwesendes, von dem er selbst einmal Teil gewesen, etwas, das in seiner Latenz immer noch spürbar ist, auf die Katastrophe im Anfang der Geschichte. Genauso wenig wie der Nagel am Ende aber untergeht und sich dem Unglück beugt, verschwindet er im Bild von der Mauer. Das Gedicht ist da, und wir, die das Gedicht lesen, sind mit ihm da. Sooft wir auch von ihm in den Strudel, aus dem alles herkommt, hineingerissen werden: Das Gedicht leuchtet uns als Punkt aus der Tiefe zurück.

Peter Neumann, aus Die Wiederholung, Nr. 4, 7/2017

 

ENDPUNKT IM GESPRÄCH
für Werner Söllner

Der Wirklichkeit steht nichts
als Wirklichkeit
im Weg.

Klaus Hensel

 

 

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