Weyma Lübbe: Zu 3 Gedichten von Christine Lavant

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Christine Lavants Gedicht „Zieh den Mondkork endlich aus der Nacht!…“ aus dem Gedichtband Spindel im Mond; „Her mit dem Kelch, ich trinke, was ich muß…“ aus dem Gedichtband Die Bettlerschale; „Ich möchte beten, Vater, du weißt es…“ aus dem Gedichtband Die Bettlerschale 

 

 

 

 

Fromm oder unfromm? Zur religiösen Lyrik Christine Lavants

Wenn die Fähigkeit des Menschen zur Anerkennung der Herrlichkeit Gottes sich umgekehrt proportional verhielte zum Ausmaß des menschlichen Elends – je geringer das Elend, desto herrlicher Gott – dann wäre Religiosität nur ein Maßstab dafür, wie gut es uns geht. Tatsächlich ist religiös gerade jene Fähigkeit, die auch inmitten des Elends an der Herrlichkeit Gottes festzuhalten und damit eine Perspektive einzunehmen erlaubt, die das Elend relativiert und es so mildert. Religiosität ist weder mit Glück noch mit Unglück korreliert, sondern mit der Fähigkeit, sich zu beidem auf zuträgliche Weise zu verhalten; – wie es aber bei jemandem mit dieser Fähigkeit bestellt ist, das trägt seinerseits zu seinem Glück oder Elend bei.
Ein Mensch wie Christine Lavant, der mit den traditionellen christlichen Antworten auf die schwierige existentielle Lage des Menschen aufgewachsen ist, drückt natürlich auch sein Ungenügen an diesen Antworten in ihren Kategorien aus, unter anderem unter Verwendung des Gottesbegriffs. Paradigma für dieses religiöse Verhalten ist die Warum-Frage Hiobs; sie ist, wie Robert Spaemann schreibt, „Klage vor Gott über Gott. Sie macht gegenüber Gott seinen Begriff geltend, sie besteht auf Sinn. Sie verlangt von Gott, daß er sei und daß er Gott sei… Von Gott verlangen, daß er sei und sich als Gott erweise, ist die tiefste Form der Anerkennung.“
Nun können wir uns leicht klar machen, daß eine Situation, in der die vom Kläger angerufene Instanz zugleich der von ihm Angeklagte ist, paradox und jedenfalls instabil ist: Die Klage muß in eine Deutung der paradoxen Situation einmünden. Wenn diese Deutung nicht das Innewerden der Gegenstandslosigkeit der Klage einschließt, d.h. wenn die göttliche Instanz nicht ihren Angeklagtenstatus verliert, dann verliert sie, in den Augen des Klägers, ihren Richterstatus – diese Situation aber ist ihrerseits nicht stabil, denn vor welcher Instanz soll man diese Deutung schließlich geltend machen, wenn nicht wiederum vor Gott? – Wir wollen einige Lavant-Gedichte daraufhin untersuchen, wie sich in ihnen das Verhältnis von Klage und Deutung, von Rede zu Gott und Rede über Gott, von Beten und Lästern auf eine in dieser Komplexität sicherlich nur der Dichtung, und nur einer Dichtung vom Range der Lavant’schen, möglichen Weise manifestiert.
Für das erste Gedichtbeispiel können wir uns auf eine Interpretation stützen, die Grete Lübbe-Grothues dazu bereits vorgelegt hat; in Anlehnung an diese Interpretation möchte ich lediglich hinsichtlich einiger Aspekte, die die Frage der Religiosität des Gedichts und der Dichterin betreffen, ausführlicher werden.

Zieh den Mondkork endlich aus der Nacht!
Viel zu lange lebt der Geist im Glase
und das Elend bildet eine Blase,
wer hat uns in diesen Krug gebracht?

Wem zum Heiltrunk sind wir angesetzt?
Wilde Kräuter, keines ganz geheuer,
soviel Gift verbraucht nur ein Bereuer −
Vater-unser, ich bin ganz entsetzt.

Bist du der, der solche Gärung braucht,
meinst du wirklich, dieser Trunk wird munden?
Du – ich fürchte – deine Leidensstunden
finden uns am Ende ausgeraucht.

Zieh den Mondkork früher aus der Nacht!
Vom Verlangen wird der Saft zu bitter.
Ach! – nur Sprünge hat jetzt das Gewitter
in die Wölbung unsres Krugs gebracht.

Gelbe Sprünge, die von oben sich
rasch verschließen. – Stieg in deine Nase
eine Ahnung von der Pest im Glase?
Gelt, du fürchtest – wir vergiften dich!

Zweifellos ist die Vorstellung eines Gottes, „der von der Ausdünstung seiner eigenen Schöpfung die Nase abwendet, der von außen den berstenden Krug zusammenpreßt“, alles andere als fromm. Aber inwiefern ist sie lästerlich? Was ist überhaupt Lästern? Unwürdig von Gott sprechen, freilich. Aber wir verstehen den Sinn dieser Handlung ja erst, wenn wir die Situation, das Motiv, die Haltung und Stimmung kennen, in der sie geschieht: Ob, beispielsweise, jemand sich einen Spaß macht mit seinem Namen, ob er sich als Aufklärer versteht oder ob er verzweifelt ist; ob er sich an Genossen im Unglauben, an Gläubige oder an Gott selbst wendet – das ändert ja jedesmal alles.
Unser Lästerbeispiel ist, wie wir sehen werden, dadurch gekennzeichnet, daß man zweierlei Kontext unterscheiden muß: die Situation, in der das Gedicht entsteht, und die Situation, in der, innerhalb des Gedichts, die Lästerworte entstehen. Das Gedicht beginnt nämlich nicht in derselben Haltung, in der es endet. Der Ausgangspunkt, die anfängliche Intention ist, hinsichtlich Lästerung, harmlos, gewohnheitsmäßig-fromm sogar in der Anrede „Vater-unser“. Zu Beginn erscheint das Gedicht als Klage über eine existentielle Situation des Elends und der Verlassenheit, die Ausdruck findet im Bild des verstöpselten Krugs, dessen Ingredienzien zur Gärung sich selbst überlassen sind.
Aber diese Metapher hat es in sich, wir wollen ihre Funktion genau untersuchen. Eine für unsere Interpretation sehr wichtige formale Eigenschaft hat Lübbe-Grothues anhand der ersten Zeile analysiert: Im Bild der Welt als Krug lassen sich bildspendende und bildempfangende Seite nicht eindeutig trennen. Der Nachthimmel empfängt vom Krug den Gefängnischarakter, der Krug empfängt von Nachthimmel, Mond und Gewitter die anschauliche Innenperspektive der Wölbung, des Korkens als Fixpunkt der Aufmerksamkeit, und der Sprünge. Lübbe-Grothues schreibt: „Die Bildebene ist die tragende Schicht… des ganzen weiteren Texts, in ihr wird differenziert, in ihr wird dargestellt, was geschieht. … Das Sprechen selbst gehört, mehr als der realen Nachtebene, der bildlichen Krugebene zu“ – der bildlichen Krugebene freilich, nachdem sie von der realen Nachtebene die kosmischen Dimensionen empfangen hat.
Der Mensch in seinem Elend und in seiner kosmischen Verlassenheit – ist die Metapher des verstöpselten Krugs, in dem es gärt und brodelt, dafür eigentlich ein gutes Bild? Wenn wir genau hinsehen, gilt ihre unerhörte Anschaulichkeit („und das Elend bildet eine Blase“) nicht eigentlich dem physischen oder psychischen Elend selbst: was hier anschaulich wird, ist das in seiner Unumkehrbarkeit und Unaufhaltsamkeit Bedrohliche und Unheilschwangere eines sich steigernden, über alle Grenzen hinausdrängenden, seinem anfänglichen Ziel dabei längst entwachsenen Prozesses.
Entsprechend wendet sich das Subjekt auch weniger in Not und um Hilfe, sondern aus Entsetzen und um Aufklärung an den „Vater“, der in diesem Kontext seltsam ortlos wirkt. Die Metapher erzwingt die Füllung ihrer Leerstelle, indessen die Frage, wer den Prozeß in Gang gesetzt hat, zunehmend nicht ineins nach dem Sinn, sondern nach demjenigen fragt, der damit unglaublicher- und ungeschickterweise einmal Sinn verband.
Die kosmische Dimension des Krugs macht die Frage nach dem Braumeister zur Frage nach dem Schöpfer, und so geschieht die lästernde Identifikation ganz von selbst: Nicht als provozierender Deutungsakt eines übelwollenden, unfrommen Subjekts erscheint das gottlose Gottesbild, sondern als sich dem darob erschrockenen Subjekt wider Willen aufdrängende Erkenntnis. Anstatt um so niederschmetternderer Hoffnungslosigkeit stellt sich Entrüstung ein und eine wilde Befriedigung über die brodelnden, sinn- und gottlosen Kräfte der Kreatur, die das Subjekt, bislang unschuldsvoll, hiermit sich aneignet. Von Gott eingeschlossen, schließt es nun seinerseits, in komplementär gestärktem Wir-Gefühl, Gott aus.
Halten wir also fest, daß der Deutungsakt, der die Lästerworte nach sich zieht und sie legitimiert, im Gedicht selbst nicht als solcher, sondern, der Logik der Metapher folgend, als entdeckte und entlarvte Tatsache auftritt. Dies bedeutet umgekehrt für das Gedicht als Ganzes, daß hier der Deutungsakt um so schärfer hervortritt: Die bereits der anfänglichen Klage zugrundegelegte Krugmetapher präjudiziert die Rolle Gottes, deshalb ist das Gedicht in keinem Augenblick ein echtes Gebet, das ja durch die Offenheit der Sinnfrage gekennzeichnet wäre.
Die Situation, aus der das Gedicht als Ganzes entsteht, ist nicht durch die Bitte um Sinn in existenzieller Not gekennzeichnet, sondern sie spottet der göttlichen Sinngebungsmöglichkeit. Immerhin: wenn, im Erleben der Dichterin, Gott nicht doch oben stünde, ließe sich kein auch noch so transitorisches Kraftgefühl daraus ziehen, ihn in dieser Weise herabzuholen. Solche Trotzgedichte der Lavant sind in dem Sinne unvollständig, als sie nicht enthalten, was ihnen notwendig und in vielen Gedichten auch tatsächlich korrespondiert: In dem Maße, in dem die religiöse Perspektive, die Offenheit Gott gegenüber sich wieder herstellt, erscheint die Lästerung als das, was sie auf die Dauer nur sein kann: nicht Antwort auf die existentielle Notsituation, sondern deren nach wie vor an Gott gerichteter Ausdruck.

Das nächste Beispiel gleichfalls ein trotziges Gedicht, zeichnet sich durch größere Intensität und Unmittelbarkeit aus, da es nichts fingiert: Hier dienen und folgen die Metaphern dem Gefühlsausdruck und nicht, wie vorhin, der Gefühlsausdruck der Logik der Metapher. Die größere Komplexität der Gefühlslage äußert sich in einer ungleich geringeren Kohärenz der Bilder, weshalb das Gedicht zunächst fast unverständlich ist.

Her mit dem Kelch, ich trinke, was ich muß,
und meine Rechte stützt sich auf die Linke,
da ist die Erde, der ich schnell noch winke,
auch sie erträgt von oben jeden Guß,
und ihre Steine halten doch zusammen.
Es ist nicht not, von Sternen abzustammen,
um aus dem Toben heil hervorzugehen.
Ich trink den Zorn und bohre meine Zehen
durchs linde Laub hinab zum scharfen Lauch.
Metallen lärmt im alten Haselstrauch
ein winterharter Vogel über mir.
Ich weiß, ich brenne, ohne je bei dir
auch nur in Form des Weihrauchs anzukommen.
Von allen Sinnen einer steigt benommen
durchs Herz der Hasel in die Vogelkehle,
und meine Rechte zittert in der Linken.
Ein wenig Gold scheint ins Metall zu sinken
und läutet flüchtig für die arme Seele,
als stünde eine Wandlung ihr bevor.
Vom Himmelsrand neigt sich das Halbmond-Ohr
und täuscht mir Betenden Erhörung vor.

„Her mit dem Kelch“ – das ist, in Umkehrung der Bitte Jesu, daß der Kelch an ihm vorübergehen möge, eine merkwürdige Gehorsamsgeste, weniger aus Ergebung und frommem Anheimstellen erwachsend als aus trotziger Vorwegnahme. In dieser Stimmung nimmt die Gebetsgeste des Händefaltens die in Zeile 2 beschriebene Form an (diese Deutung stützen später Zeile 16 und 21). Zeile 3 bis 7 benennen das bei Lavant häufig formulierte Gefühl der Verwandtschaft mit der Erde gegen den Himmel, eine Leidens- und vor allem Kräfte-Gemeinschaft des Unbewußt-Vitalen gegen das ferne Erhabene, die nicht ohne Sündenbewußtsein, aber auch nicht ohne Selbstbewußtsein ist.
Die von Zeile 8 bis 13 folgenden Zeilenpaare, syntaktisch getrennt und semantisch zunächst ganz unverbindbar, scheinen überhaupt nur durch die der Syntax entgegenlaufende Paarreimung zusammenzuhängen. Von dem Satz an, der mit Zeile 14 beginnt, taucht Bekanntes wieder auf: Hasel, Vogel, Rechte und Linke, Metall. Aber durch Zutaten von einer neuen semantischen Färbung wird alles verändert: statt des „alten Haselstrauch(s)“ „Herz der Hasel“, statt „winterharter Vogel“ „Vogelkehle“, statt „lärmt“ (das ich hinzunehmen kann) „läutet“; das Metall vergoldet sich, die Hände, vorher trotzig, zittern. – Von Zeile 17 an taucht, wie in Zeile 13 schon mit „Weihrauch“, der aber negiert ist, eine religiös-rituelle Ebene auf, eventuell schon mit „Gold“, jedenfalls mit „läutet“, „arme Seele“, „Wandlung“, „Himmel(srand)“, „Betenden“, „Erhörung“ – dies alles nicht negiert, aber in Verbindung mit die Positivität störenden Verben und Aussageweisen („scheint“, „läutet flüchtig“, „stünde“, „täuscht“).
Die Hauptschwierigkeit bieten offenbar die zusammenhanglosen Zeilenpaare von Zeile 8 bis 13: wir müssen uns hier zunächst mit formaleren, semantisch lockeren Verbindungen begnügen. Gehen wir das Gedicht einmal mit Blick auf die räumliche Struktur „oben/unten“ durch. Zeile 4 enthält „von oben“, wobei unten die Erde ist; im Verhältnis dazu bedeutet in Zeile 6 „von Sternen“ wieder „von oben“. In Zeile 8 geht es „hinab“, und zwar mit dem „ich“, ein ordentliches Wurzelfassen unten in der Erde. Zeile 11 siedelt den „winterharten Vogel“ „über mir“ an (das ist nicht unbedingt „oben“!). Das Zeilenpaar 12/13 enthält im Bild des Weihrauchs eine steigende Richtung, die allerdings als nur vorgestellte, wie gesagt, negiert wird.
Jetzt, in Zeite 14 – wir stellten oben fest, daß hier eine deutliche semantische „Wandlung“ (Zeile 19), geradezu von tot zu lebendig, stattfindet – kommt etwas Neues: eine steigende Bewegung, bis zur „Vogelkehle“, also von „unten“. Dem korrespondiert in Zeile 17 die ebenfalls neue sinkende Bewegung, auch hier bis zum Vogel (der „metallen“ lärmte), nun von „oben“. Genaugenommen ist die Bewegung von oben nach unten nicht neu, aber in Zeile 4 war es ein „Guß“; jetzt ist es „Gold“, was zu „sinken“ „scheint“, und diese sanfte Bewegung wiederholt sich in „neigt“ (Zeile 20).
Sehen wir zu, was sich aus diesen doch erstaunlich signifikanten Strukturen machen läßt. Wir waren mit unserer Interpretation bis zur Zeile 7 gekommen, im Anschluß an die es, sozusagen, losgeht mit dem trotzig vorweggenommenen Leidensschicksal – denn für ein solches steht ja der Kelch, der jetzt getrunken wird. Sein Inhalt ist Zorn, dieser also ein Erleiden: rückwirkend erscheinen die rauhen Reden und Gesten des Anfangs als Vorboten des der Demut ermangelnden Sündenstandes, den das Subjekt als sein Schicksal empfindet und den es vorwegnimmt, so daß ganz ununterscheidbar wird, inwiefern das Trotzen im Gebet schuldhaft und inwiefern es schicksalhaft ist. Jedenfalls geht das Subjekt (Zeilen 8/9) den Weg nach unten, der selbst im Gebet als einziger ihm offenzustehen scheint.
Wir müssen hier einen Absatz machen, denn jetzt kommt nichts mehr von Sprech- (Zeilen 1 bis 7) oder Tathandlungen (Zeilen 8/9) des Subjekts; etwas ganz Anderes, Fremdes, dazu Hartes und Kaltes geschieht „über“ ihm. Kann man diesem Schnitt, der die Perspektive des im Gebetsversuch zwischen Zorn und Gehorsam schwankenden Subjekts so drastisch beendet, überhaupt eine positive semantische Funktion zuschreiben, so scheint es mir diese zu sein: Das metallene Lärmen des Vogels im Strauch ist die bis zur völligen Unkenntlichkeit entfremdete und entstellte Form, in der die Gott ferne, aber doch an ihn sich richtende Botschaft des unterirdisch tobenden und brennenden Subjekts die Erde in Richtung Himmel verläßt. Das Zeilenpaar 12/13, das die Subjektperspektive wieder aufnimmt, reflektiert auf diese Unfähigkeit zum Gebet und Unerreichbarkeit Gottes und ist doch, indem es sich mit dieser Erkenntnis gerade an ihn selbst wendet, der einzige unmittelbar betende Satz des Gedichts.
Für den Rest des Gedichts – jenen Teil, in dem die „Wandlung“ sich vollzieht – bleibt das Subjekt passiv. Die die trotzige Gebärde der zweiten Zeile erschütternde und das Lied des Vogels erwärmende Veränderung ist, auch soweit die eigenen Kräfte dazu beitragen (Zeilen 14/15), eindeutig unwillkürlich und offenbar kontingent, da sie im Gedicht in keiner Weise vorbereitet wird.
In dem Maße, in dem das Gebet zu gelingen beginnt, spaltet sich das Ich in zwei Personen, deren eine die Wandlung und das Gebet vollzieht und darin erhört wird während die andere dieses in seiner Unerklärlichkeit nicht nachvollziehbare Geschehen ungläubig kommentiert. „… und täuscht mir Betenden Erhörung vor“ – das ist ein harter Satz, aber durchaus ambivalent, indem ja von einer wirklich Betenden die Rede ist und eine Veränderung auch tatsächlich stattgefunden hat. Aber inmitten der Sinnerfahrung bleibt es bei der Unfähigkeit des Subjekts, die religiöse Deutung anzuerkennen und sich damit die Sinnerfahrung verstehend anzueignen.
Vielleicht habe ich das Gedicht überinterpretiert, allerdings scheint mir eine schlichtere Deutung wegen der Heterogenität der Bilder kaum möglich zu sein. Schließlich kann es Lavant-Gedichten auch passieren, daß die der Dichterin sich aufdrängende Bilderfülle nicht den Grad an Konsistenz und Klarheit erreicht hat, der nötig ist, damit sich die gefühlsmäßige Wirkung einzelner Passagen in eine kohärente Deutung des Ganzen integrieren läßt.

Beim letzten Beispiel, das ich besprechen möchte, haben wir solche Probleme gewiß nicht: es ist ein fast bildloses, sogar ein argumentierendes Gedicht; es unterscheidet sich dementsprechend auch formal von den ersten beiden durch Reimlosigkeit und eine so große Unregelmäßigkeit der Hebungen und Senkungen, daß ein metrisches Schema sich gar nicht feststellen läßt.

Ich möchte beten, Vater, du weißt es.
Vorbei an des liebsten Menschen Stirne
trachte ich oft in deine Nähe.
Gib mir, bitte, nicht nach!
Winke mir nie und verhalte deine Stimme.
Denn du bist die Sicherheit selbst und das Wohltun.
Dich kann niemand verraten.
Verlassenheit und Kränkung fließt von dir ab,
du Gipfel aller Erfahrung.
Aber die Stirne, Vater, die liebe Menschenstirne
ist voll von dem Samen der Schwermut
und die Bleibe des Elends.
Deshalb, wenn ich bete, dann nimm deine Nähe zurück!
Entschlag dich mir gänzlich,
verdüstre mein trachtendes Hoffen,
sooft es vorbei will
am Orte der Leiden.

Dieses Gedicht scheint nun wirklich fromm zu sein: kein lästerndes Wort; vielmehr die bescheidene Bitte, beten zu dürfen, in der ersten Zeile; im folgenden die geradezu aufopfernde Anerkennung der Mitleidsansprüche des Nächsten, gipfelnd in den Schlußzeilen 15 bis 17; und wer hätte je schönere Preisworte gehört als „du bist die Sicherheit selbst und das Wohltun“, „du Gipfel aller Erfahrung“? Freilich ist diese Sicht des Gedichts völlig falsch; sie sieht über eine eigentümliche Ambivalenz hinweg, weil deren unfromme Seite sich an Einzelheiten nicht festmachen läßt. Tatsächlich enthält das Gedicht aber eine spezifisch Lavant’sche Unfrömmigkeit, die sich trotz der so einfachen, bescheidenen und auch keineswegs unehrlichen Gebetsworte in ihnen Ausdruck und Bedeutung verschafft – das möchte ich zu zeigen versuchen.
Achten wir zunächst einmal nur auf die argumentative Struktur des Gedichts, unter weitgehender Absehung vom Inhalt, dann sieht das so aus:

„Ich möchte“, „ich trachte“ (Zeilen 1 bis 3)
„Gib mir… nicht nach“, „Winke… nie“ (Zeilen 4 und 5)
„Denn du bist“ (Zeilen 6 bis 9)
„Aber… die Menschenstirne ist…“ (Zeilen 10 bis 12)
„Deshalb… Entschlag dich“, „verdüstre mein… sooft es… will“ (Zeilen 13 bis 17).

In der ersten Zeilengruppe äußert das Subjekt Bestrebungen, wobei die erste Form mehr bittenden, die zweite mehr feststellenden Charakter hat. Dann, in der zweiten Zeilengruppe, folgen Imperative, die der ersten Zeilengruppe widersprechen: eine ausdrückliche Bitte um Nichtgewährung. In den drei letzten Zeilengruppen folgt offenbar so etwas wie eine Begründung dieser Paradoxie: „Denn“ du bist, „aber“ wir sind, „deshalb“ – hier wird die Bitte, nun nicht mehr unvermittelt, sondern als logische Konsequenz aus zwei Sachverhalten erscheinend, wiederholt (Zeilen 13 bis 15) unter nochmaligem Bezug (Zeilen 16 und 17) auf die Bestrebungen der ersten Zeilengruppe.
Sehen wir uns nun die einzelnen Abschnitte genauer an, nachdem wir ihre Stellung im Ganzen ungefähr kennen. Die erste Zeile, für sich genommen, ist sicherlich fromm: sie bittet ums Betenkönnen. Obgleich der Satz syntaktisch nicht die (imperativische) Form einer Bitte hat, scheint es sich um einen aktuellen Wunsch zu handeln. Nicht so beim zweiten Satz, obwohl er dieselbe Bestrebung äußert, sich daher wie eine Bekräftigung der ersten Bitte liest („ich möchte beten“ – „(ich) trachte… in deine Nähe“): Von diesem Wunsch distanziert sich jetzt das Subjekt durch die zeitliche Modifikation „oft“ und vor allem durch Zeile 2, die dem Betenwollen einen unfrommen Charakter beigibt: am „liebsten Menschen“ „vorbei“ soll man ja nicht handeln.
In der zweiten Zeilengruppe wird die Distanz offensichtlich: die aktuelle Bitte lautet, nicht in Gottes Nähe gelangen, nicht beten zu wollen, jedenfalls nicht, wenn es auf die in Zeile 2 benannte unfromme Weise geschieht. Handelt es sich deshalb schon um eine fromme Bitte? „Winke mir nie und verhalte deine Stimme“ – dieses Verhalten Gott zu empfehlen als Reaktion auf eine unfromme Weise, ihn zu suchen, das ist doch eigentlich unlogisch: mit einer sündigen Tat, wenn sie denn eine ist, kommt man ja ohnehin nicht in seine Nähe; wieso soll er sich da verstecken? Die Bitte, Gott fern bleiben zu dürfen, kann doch kaum wirklich eine fromme Bitte sein.
Aber sehen wir zu, ob die Begründung, die ja folgt – offenbar um Gott die Sache plausibel zu machen – geeignet ist, Zweifel hinsichtlich der Frömmigkeit der Bitte zu zerstreuen. – „Denn du bist die Sicherheit selbst und das Wohltun“. „Aber… Vater, die liebe Menschenstirne ist voll von dem Samen der Schwermut“. – Das ist die im Gedicht gelieferte Begründung – nicht daß sie plausibel wäre: Daß der Mensch elend ist und Gott herrlich, das ließe eine Annäherung – Beten einerseits und Gewähren andererseits – doch gerade wünschenswert erscheinen.
Da es sich aber bei diesen Sätzen um eine Begründung für das Gegenteil handelt, bedeuten sie wohl eigentlich, daß die Herrlichkeit Gottes nicht das richtige Remedium für das Elend des Menschen ist. Herrlichkeit Gottes: ja, Bedeutsamkeit seiner Herrlichkeit für den Menschen: nein – das ist natürlich ein Zugriff auf die Herrlichkeit Gottes. Tatsächlich war er von Anfang an enthalten in der Art und Weise, in der die ersten Zeilen den Weg zu Gott als Weg am „liebsten Menschen“ „vorbei“ identifizierten.
Die Unfrömmigkeit, von der dieses Gedicht zeugt, ist die Unfähigkeit und Unwilligkeit, die göttliche Liebe als eine die versagte menschliche Liebe umgreifende anzuerkennen, an statt als ihren Gegenpol und mageren Ersatz. Dieses aber Gott selbst nahezubringen, plausibel zu machen und zur Anerkennung vorzuschlagen, wie dieses Gedicht es versucht, – das ergibt jene ganz unnachahmliche, in ihrer Komplexität kaum noch nachvollziehbare Mischung von Aufrichtigkeit und Verschlagenheit, Sünden- und Unschuldsbewußtsein, Verzweiflungssucht und Sinnsuche, Selbstwertgefühl und Rechtfertigungsbedürfnis, die das Lavant’sche Gottesverhältnis tatsächlich kennzeichnet.
In dieser seiner Komplexität ist es, wie ich sagte, wohl nur dichterisch festhaltbar, und das meine ich so: stellt man etwa Lavants mündlich, brieflich oder sonstwie schriftlich überlieferten nichtlyrischen Äußerungen zu diesem Thema zusammen, so ist das ganz uninteressant: ein Nebeneinander von frommen und unfrommen Äußerungen, angesichts deren man immer nur zu dem Ergebnis kommt, daß sie wohl beides war; mal fromm, mal unfromm; sowohl fromm als auch unfromm.
Die lyrische Äußerungsform hat hier ganze andere Möglichkeiten, da die eine, den Zeilenablauf umgreifende Ausdrucksintention, die wir dem Gedichtganzen unterstellen, bewirkt, daß alle sich herstellenden Bedeutungsbeziehungen, die prima facie ungereimten und paradoxen ebenso wie die einleuchtenden, für bedeutsam und sinnvoll gelten: Widersprüche zerstören hier nicht Sinn und Bedeutung, sondern generieren eine höhere Komplexität von Sinn und Bedeutung.
Das „sowohl als auch“, das nur eine Verlegenheitslösung ist, eine der Komplexität der Sache nicht angemessene, daher widersprüchliche Ausdrucksweise, hat im Gedicht keinen Ort: hier muß, erzwungen durch die intentionale Einheit des Ganzen, das Nebeneinander von Intentionen Struktur gewinnen und der Widerspruch durch Komplexitätssteigerung sich auflösen. – Betrachten wir unser letztes Gedichtbeispiel: so ein bescheidenes, schlichtes, sprachlich aufwandloses Gebilde, und dennoch eine derartige Komplexität der erschließbaren Bedeutung, generiert bloß durch die leisen intentionalen Ungereimtheiten der Argumentation – das ist ein Beispiel Lavant’scher Dichtkunst, das, meine ich, unseren Respekt für sie zu steigern geeignet ist.

Weyma Lübbe, aus: Grete Lübbe-Grothues: Über Christine Lavant. Otto Müller Verlag Salzburg, 1984

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