– Zu Christa Reinigs Gedicht „Die ballade vom blutigen Bomme“ aus Christa Reinig: Die Prüfung des Lächlers. –
CHRISTA REINIG
Die ballade vom blutigen Bomme
hochverehrtes publikum
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe gott persönlich
ich verbleibe ganz gewöhnlich
wenn ich auf den tod vom Bomme
meinem Freund zu sprechen komme
möge Ihnen nie geschehn
was Sie hier in bildern sehn
zur beweisaufnahme hatte
man die blutige krawatte
keine spur mehr von der beute
auf dem flur sogar die leute
horchen was nach außen dringt
denn der angeklagte bringt
das gericht zum männchenmachen
und das publikum zum lachen
seht die herren vom gericht
schätzt man offensichtlich nicht
eisentür und eisenbett
dicht daneben das klosett
und der wärter freut sich sehr
kennt den mann von früher her
Bomme fühlt sich gleich zuhaus
ruht von seiner arbeit aus
auch ein reicher mann hat ruh
hält den sarg von innen zu
jetzt geht Bomme dieser mann
und sein reichtum nichts mehr an
sagt der wärter: grüß dich mann
laß dirs gut gehn – denk daran
wärter sieht auch mal vorbei
mach mir keine schererei
essen kriegst du nicht zu knapp
Bomme denn dein kopf muß ab
Bomme ist schon sehr gespannt
und malt männchen an die wand
nein hier hilft kein daumenfalten
Bomme muß den kopf hinhalten
Bomme ist noch nicht bereit
für abendmahl und ewigkeit
kommt der pastor und erzählt
wie sich ein verdammter quält
wie er große tränen weint
und sich wälzet – Bomme meint:
das ist alles intressant
und mir irgendwie bekannt
denn was weiß ein frommer christ
wie dem mann zumute ist
auf dem hof wird holz gehauen
Bomme hilft das fallbeil bauen
und er läßt sich dabei zeit
schließlich ist es doch soweit
daß es hoch und heilig ragt
Bomme sieht es an und sagt:
das ist schärfer als faschismus
und probiert den mechanismus
wenn die schwere klinge fällt
spürt er daß sie recht behält
aufstehn kurz vor morgengrauen
das schlägt Bomme ins verdauen
und da friert er – reibt die hände
konzentriert sich auf das ende
möchte gar nicht so sehr beten
lieber schnell aufs klo austreten
doch dann denkt er: einerlei
das geht sowieso vorbei
von zwei peinlichen verfahren
kann er eins am andern sparen
wäre mutter noch am leben
würde es auch tränen geben
aber so bleibt alles sachlich
Bomme wird ganz amtlich-fachlich
ausgestrichen aus der liste
und gelegt in eine kiste
nur ein sträfling seufzt dazwischen
denn er muß das blut aufwischen
bitte herrschaften verzeiht
solche unanständigkeit
doch wer meint das stück war gut
legt ein groschen in den hut
von Gattungs- und Sujetnennung folgt einem gerade für die Ballade typischen Muster. Zu erinnern ist an Balladentitel wie: „Ballade vom Brennesselbusch“ (Börries von Münchhausen); „Ballade vom dürren König“ (Gottfried Keller); „Ballade vom kleinen Mann“ (Josef Weinheber) oder Brechts Balladen wie die „Ballade vom Tod der Anna Gewölkegesicht“, „Ballade von den Abenteurern“, „Ballade von der Freundschaft“ oder die „Ballade von der Hanna Cash“. Zweierlei ist durch den von Christa Reinig gewählten Titel erreicht: der Leser/Hörer erwartet durch die Gattungsbezeichnung „Ballade“ zum einen ein ganz bestimmtes, den folgenden Text im wesentlichen konstituierendes Ensemble literarischer Verfahrensweisen wie Versform, Reim, strophische Gliederung, zuweilen Refrain, epische Fiktionsbildung mit einer spezifischen teleologischen Vorgangsstrukturierung, wobei die Art der Erzählperspektive, die Konturierung des Erzählers und die Vermischung der epischen Fiktion mit lyrischen und dramatischen Elementen (z.B. Dialogisierung) wie die Strukturierung des Vorgangs in einzelne Erzählsequenzen in bezug auf die Erwartung des Lesers verhältnismäßig offen ist. Zum andern signalisiert der Titel dem Leser/Hörer, wer im Zentrum der Erzählung stehen, wer der Held dieser Ballade sein wird: der blutige Bomme. Mancher Leser/Hörer mag sich somit bereits durch den Titel an eine besondere, traditionsreiche Form der Ballade, die Heldenballade, erinnert fühlen, dennoch ist der Titel nicht so eindeutig, daß man entscheiden könnte, ob es sich um einen positiven oder negativen, aktiven oder passiven Helden handelt. Wer noch Balladentitel wie „Karl I.“ (Heinrich Heine), „Der Graf von Habsburg“ (Friedrich Schiller) oder „Barbarossa“ (Friedrich Rückert) im Ohr hat, wird konsterniert sein durch den trivial klingenden Namen des Helden dieser Ballade: Bomme. Irritation beim Leser/Hörer wird vermutlich auch das dem Familiennamen zugefügte Adjektiv „blutig“ erwecken, bleibt es doch für den Rezipienten noch offen, ob hier „blutig“ im Sinne von „blutrünstig“ oder „blutend“ zu verstehen ist. Die Unbestimmtheiten in der Titelgebung erzeugen dadurch Spannung auf das Folgende, die kalkuliert gesetzte Alliteration gibt dem Titel etwas Lockendes, gar Reißerisches, das den Leser/Hörer aufweckt: ballade vom blutigen Bomme.
Es ist die durch den Titel gesteckte Erwartung, die durch die erste Strophe genauer konturiert und mit weiteren Informationen angefüllt wird, indem hier auf engstem Raum eine fingierte Sprechsituation umrißhaft erzeugt wird, der Sprecher sich charakterisiert und ein bestimmtes Verhältnis zum angesprochenen Publikum aufbaut, vorwegnehmend ein Deutungsangebot zur dann folgenden Geschichte unterbreitet und durch die Art und Weise des Vortrags die bereits im Titel gegebene Gattungsbezeichnung präzisiert. Bereits Zeile 2 ist formelhafte, schmeichlerische Publikumsanrede, die sich jedoch in der nächstfolgenden Zeile durch das unvermittelte Duzen in eine kumpelhaft plump-vertrauliche, aufmerksamkeitsheischende Sprechgeste verkehrt. Das hier angesprochene Publikum ist – so macht Zeile 3 deutlich – Jahrmarktspublikum, der Sprecher dieses Rollengedichts ein Budenbesitzer. Somit sind fingiertes Publikum, Ort und Zeit des Sprechens und der Sprecher selbst lokalisiert, gleichzeitig aber auch erste Hinweise auf die folgende Geschichte gegeben:
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe gott persönlich
Der Sprecher entschuldigt sich demnach gleich zu Anfang – wie er es später nochmals in einer der letzten Zeilen tun wird – für das, was er im folgenden berichtet, denn er fürchtet die Rohheit und die spontane, gar gewalttätige Reaktion seines Publikums, weckt aber auch gleichzeitig das Interesse des Publikums insofern, als er seine Erzählung als ein solches Ärgernis hinstellt, das Reaktionen der beschriebenen Art hervorrufen könnte. Er charakterisiert im Vorgriff seine Erzählung als „albern“. Sie entzieht sich demnach den gewohnten Handlungsmustern, ist kindisch, einfältig, sinn- und belanglos. Entschuldigend beruft er sich auf eine höhere Instanz, den „lieben gott persönlich“, der für solche Albernheit die Verantwortung trägt. Sicherlich wäre es verkehrt, das hier vom Sprecher angebotene Deutungsmuster für die Interpretation der Ballade selbst als interpretatorischen Schlüssel zu verwenden; solche Metaphysik verbietet sich allein schon aufgrund der aufdringlichen Verwendung vorgeformter Sprache in diesen Zeilen, die sie gleich um ihre Ernsthaftigkeit („liebe Gott“, „macht persönlich“) bringen.
Der unmittelbare, sprunghafte Wechsel von Gott zum Ich in den Zeilen 6 und 7 wirkt komisch. Von den albernsten Geschichten, die Gott ganz „persönlich“ mache, blendet das sprechende Ich zurück auf seinen eigentlichen Erzählgegenstand, den bereits die Überschrift andeutet, Bomme, nun noch näher bestimmt als der „Freund“ des Sprechers. Mit dieser engen Verbindung zwischen Sprecher und Bomme ist die Authentizität, Wahrhaftigkeit und Aktualität des nachfolgenden Berichts verbürgt, gleichzeitig aber auch schon, da vom Tod Bommes die Rede ist, das Ende der Erzählung vorweggenommen. Abgesetzt vom ersten sechszeiligen Strophenkomplex, folgen nun noch zwei Zeilen direkter Hörerzuwendung, die im Gewand einer beschwörend formulierten Bitte davor warnen, daß den Zuhörern nicht geschehe, was Bomme geschehen ist. Ein verdecktes „tua res agitur“ in bezug auf die Geschichte Bommes wird so vernehmlich, der Nutzen der Erzählung als eines warnenden Beispiels angekündigt.
In der letzten Zeile der ersten Strophe („was Sie hier in bildern sehn“, Z. 11) entpuppt sich der Sprecher dem literarisch Informierten endgültig als Bänkelsänger, zugehörig also jener Gruppe von Schaustellern, „die auf Jahrmärkten, Messen, aber auch unabhängig von solchen Gelegenheiten, in Wort und Bild Ereignisse darstellen und mit Musikbegleitung vortragen [die sich an im Volk bekannte Melodien anlehnt], um das Publikum zum Kauf von Druckerzeugnissen [den Bänkelsängerheften] anzuregen“.
Es fällt nicht schwer, die Verwandtschaft der Reinigschen Ballade zum Bänkelsang, aber auch die nicht unerheblichen, signifikanten Differenzen zu dieser volkstümlich-lyrischen Form herauszukehren. Die oben bereits analysierte Eingangsstrophe weist deutliche Anlehnungen an die häufig verwandte Expositionsstrophe auf, die mehr oder weniger zum festen Formelbestand des Bänkelliedes gehörte. Einige Beispiele mögen das belegen: Das Lied über „Hamburg in seiner fürchterlichsten Unglückszeit, den 5., 6. und 7. Mai 1842“ beginnt wie folgt:
Höret jetzt Ihr Menschenkinder!
Von der schreckensvollen Nacht –
Die des Schicksals höchster Gründer,
über Hamburgs Flur gebracht. –
Hört Ihr Nahen, hört Ihr Fernen!
Erkennet alle Gottes Hand, –
Ehrt den Höchsten über Sternen,
Er Hilft selbst am Todes Rand.
Ähnlich beginnt auch das Lied von der „Einsamen auf dem Meere oder Gott verläßt die Seinen nicht“:
Höret, Leute, die Geschichte,
Wie auch die Unschuld leiden kann;
Nehmt sie hin in dem Gedichte,
Schaurig hört sie sich wohl an!
Doch wenn Stab und Anker bricht,
Gott verläßt die Seinen nicht!
Die erste Strophe des Liedes über das „Attentat“, das Tschechs Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. zum Gegenstand hat, lautet:
Leute tretet rings heran,
Hört Euch die Geschichte an,
Hört, was neulich an der Spreen
In der Hauptstadt ist geschehn.
Auch Reinigs Schlußformel findet sich in den verschiedensten Variationen im Bänkelsang vorgebildet. Ein Beispiel mag hier genügen:
Und wenn mein Lied dich weinen macht,
So laß die Thränen laufen,
Doch denk dabei, der es gedacht,
Der will es auch verkaufen.
Drei Kreuzer ist ein Lumpengeld,
Du lernst dafür, wie in der Welt
Es sich mit dem Duell verhält,
Drum zahle einen Batzen!
Es bleibt nicht allein bei diesen Übereinstimmungen. Die Eingrenzung des Themas auf ein Ereignis (Bommes Hinrichtung), der vom Sprecher erbrachte Wahrheitsbeweis für das Berichtete (u.a. durch die Namensnennung „Bomme“), der vorgebliche Neuigkeitscharakter, der Schlagworttitel, die Wahl einer Figur aus dem unteren sozialen Milieu, all das sind Kennzeichen des Bänkelsangs. Hierzu ist ebenfalls zu rechnen die Parallelisierung zwischen strophischer Gliederung einerseits und Aufeinanderfolge der einzelnen Erzählsequenzen andererseits, denn im Bänkelsang „schreitet die Erzählung von Szene zu Szene, von Situation zu Situation?“ (2. Strophe = vor Gericht, 3. Strophe = in der Zelle; 4. Strophe = Bomme – Pastor; 6. Strophe = Aufrichtung des Fallbeils; 7. Strophe = Hinrichtungsvorbereitung; 8. Strophe = nach der Hinrichtung). Auch die Einlagerung von Dialogpartien bzw. einfacher wörtlicher Rede (s. Strophe 4, 5, 6) entspricht bänkelsängerischer Praxis. Reinig wählt außerdem mit der Hinrichtungssituation eine für den Bänkelsang geradezu klassische Situation, hatte sich doch die Tradition eines Urteils-, Hinrichtungs- oder Valetliedes als Formtypus innerhalb des Bänkelsangs herausgebildet, hervorgegangen aus den Urgichten oder Vergichten, dem Geständnis des Angeklagten im mittelalterlichen Strafprozeß, das zusammen mit dem Urteilsspruch am Tage der Hinrichtung dem sensationslüsternen und schaulustigen Publikum zum Kauf angeboten wurde.
Die lange Liste der Elemente, die Reinigs Ballade mit dem Bänkelsang vergleichbar machen, legt die Vermutung nahe, daß auch in der sprachlichen Verarbeitung des Geschehens um Bommes Hinrichtung kalkulierte Anklänge an den Bänkelsang von der Verfasserin gesucht werden. Zwar ist die zehnzeilige Strophenform recht ungewöhnlich, unterteilt man jedoch die Strophe in einen acht- und zweizeiligen Komplex, wobei die letzten zwei Zeilen an ein refrainartiges Gebilde erinnern, ist die Nähe zu dem vom Bänkelsang bevorzugten achtzeiligen Strophenbau mit einfachem Kreuz- oder Paarreim dennoch gewahrt. Die Bevorzugung parataktischer Satzbildungen, die Aufnahme eines umgangssprachlich-saloppen Tones, der Zeilenstil, der keine inneren Spannungen aufkommen läßt, die Willkürlichkeit in der Abfolge männlicher und weiblicher Versausgänge, das alternierende Metrum und der durch weitgehenden metrisch-rhythmischen Gleichlauf erzeugte, durch die Wahl der Kleinschreibung und den Verzicht auf Interpunktion gestützte, leiernde Ton, der jede Künstlichkeit zu meiden sucht, legen ebenfalls die Annahme nahe, daß Reinig mit dieser Sprache den bänkelsängerischen Ton imitieren wollte, ja die Erzeugung eines solchen Tones wird durch die gesucht und darum komisch wirkenden Reime (hatte – Krawatte; männchenmachen – lachen; faschismus – mechanismus; morgengrauen – verdauen; beten – aufs Klo austreten) bis zum Äußersten getrieben.
Dennoch sollte man sich nicht täuschen lassen. Die Stilebene, die Reinig in der Ballade anschlägt, ist nicht die der für den Bänkelsang typischen Sprache. Die Sprache des Bänkelliedes tendiert eher dazu, „einen gehobenen, literarischen, mitunter schwülstigen Stil anzuwenden. […] Besonders deutlich wird der Unterschied zum volkssprachlichen Stil im Satzbau. Schon daß man im Bänkellied Präsenzpartizipien, Genetivverbindungen, Zusammensetzungen und Antithesen antrifft und daß kaum ein Substantiv ohne Adjektiv steht, fällt auf. […] Das Bänkellied verwendet die Hypotaxe und die Verkettung durch logische Konjunktionen und demonstrative Beziehungsangaben.“ Die solchermaßen pathetische Sprache des Bänkelsangs ist auf den Wirkungseffekt hin kalkuliert. Genau dieser Stilzug, erkennbar etwa an der Anhäufung drastischer Epitheta oder auch an der „Hypertrophierung einzelner sprachlicher Elemente“, fehlt jedoch der Reinigschen Ballade. Sie läßt sich nicht darauf ein, die ambitionierte Sprache des Bänkelsangs, die häufig ins (allerdings ungewollt) Komische umschlägt, zu imitieren und durch weitere Übertreibung bewußt zu parodieren; an die Stelle der pathetisch-„moralinsauren“ Sprache setzt sie eine nüchtern-sachliche, fast das Banale suchende Sprache („Ich verbleibe ganz gewöhnlich“, Z. 7; „aber so bleibt alles sachlich“, Z. 74). Der gewollt gewöhnliche, teilweise kaltschnäuzig-schnoddrige Stil bewirkt einen hochartifiziellen, raffiniert konstruierten Gegensatz zur beschriebenen Situation.
Es verwundert darum nicht, daß in der Ballade das für den Bänkelsang typische Sentimentale oder Schockierend-Grauenerregende gänzlich fehlt. Statt einer auf den Gefühlseffekt hin kalkulierten Sprechhaltung herrscht hier kühle Distanz zum Berichteten, obwohl der Sprecher sich als Freund Bommes ausgibt. Bezeichnend ist auch, daß Reinig nicht dem für den Bänkelsang üblichen Schema folgt und erst die blutige Tat Bommes ausmalt, um schließlich von dessen Hinrichtung als der gerechten Strafe berichten zu können. Bommes Mord wird nur ganz beiläufig erwähnt (Z. 12f., 28f.), seine Tat nicht weiter motiviert. Sie wird weder durch die Schilderung bestimmter Umstände (z.B. der Armut Bommes) näher erklärt noch entschuldigt. Ist solchermaßen erst einmal der Zusammenhang zwischen verbrecherischer Handlung und Strafe weitgehend aufgelöst, schwindet auch die für den Bänkelsang charakteristische moralische Ökonomie, nach der zur Beruhigung des Publikums „die ausgleichende Gerechtigkeit am Schluß [der Moritat] die Idealform des ,happy end‘ [ist]“, wobei das Gute belohnt, das Böse bestraft wird. Garant solcher ausgleichenden Gerechtigkeit ist Gott. Hier aber „macht der liebe gott“ eine ganz alberne Geschichte ganz „persönlich“ (Z. 6). Der für den Bänkelsang konstitutive Glaube an Gottes weise Fügung, der naive Glaube an die Theodizee, der Optimismus des Bänkelsangs sind bei Reinig gebrochen, umgeschlagen in eine zutiefst pessimistische Sicht, aus der heraus keine Handlungsmaxime bzw. Moral mehr formuliert werden kann. Insofern ist Reinigs Ballade subversiv und nicht – wie es für den ursprünglichen Bänkelsang charakteristisch ist – herrschaftserhaltend. Das Polemisch-Subversive ergibt sich aus Bommes nicht den Erwartungen entsprechendem, situationsinadäquatem Verhalten. Sein Benehmen wirkt komisch, weil es die Norm in jeder Hinsicht unterläuft. So zwingt er noch bei der Verhandlung das Gericht „zum männchenmachen“ (Z. 18), im Gefängnis fühlt er sich „gleich zuhaus“ (Z. 26). Wie er das Publikum während der Gerichtsverhandlung auf seine Seite zieht, gewinnt er – als alter Bekannter – den Gefängniswärter für sich. Obwohl seine Hinrichtung feststeht, kritzelt er „männchen“ an die Gefängniswand, lehnt Appell und Trost des Pastors ab, hilft schließlich „das fallbeil bauen“ (Z. 53) und überprüft dessen Mechanismus. Am Morgen der Hinrichtung konzentriert sich Bomme „auf das ende“ (Z. 65)
möchte gar nicht so sehr beten
lieber schnell aufs klo austreten
doch dann denkt er: einerlei
das geht sowieso vorbei
Die Hinrichtung vollzieht sich „sachlich“, zuletzt wird Bomme
[…] ganz amtlich-fachlich
ausgestrichen aus der liste
und gelegt in eine kiste
nur ein sträfling seufzt dazwischen
denn er muß das blut aufwischen
Verbrechen, Hinrichtung und Tod wird somit alles Große oder gar Erhabene genommen, das Geschehen wird auf die Ebene des ganz Banalen heruntergeholt:
Ein von Bomme ermordeter
hält den sarg von innen zu
während auch Bomme von seiner verbrecherischen „arbeit ausruht“. Im Munde des Wärters verflacht Bommes Todesurteil zum „dein kopf muß ab“ (Z. 37). Die mahnenden Worte des Pastors werden heruntergespielt zu einem für Bomme „interessant(en)“ und ihm „irgendwie bekannt(en)“ Geschwätz. Das Fallbeil benutzt er als Spielzeug. Die Hinrichtung selbst ist nichts anderes als ein „peinliche(s) verfahren“, vergleichbar mit dem Gang „aufs klo“, der für Bomme notwendig geworden ist, weil ihm das ungewohnt frühe Aufstehen am Hinrichtungsmorgen „ins verdauen“ geschlagen ist. Was von Bomme schließlich bleibt: ein Strich durch seinen Namen in einer Liste, sein Leichnam selbst in einer „kiste“ und ein „unanständiger“ Blutfleck auf dem Hinrichtungsplatz, den ein Gefangener fluchend aufwischt.
Durch den Lakonismus des Erzählens, die Wahl eines unangemessenen Vokabulars und durch die Verengung des Berichteten auf Nebensächlichkeiten schafft der Erzähler ironische Distanz zum über Bomme verhängten Schicksal. Und Bomme selbst banalisiert dieses Schicksal durch sein Verhalten. Sein Protest ist jedoch nicht reflektiert, er revoltiert nicht, er reagiert naiv, vital. Bommes Schicksal – auch diese Möglichkeit der Figurengestaltung oder Figureninterpretation seitens des Erzählers hätte es gegeben – weist nicht auf abänderungswürdige Zustände einer Gesellschaft hin. Bomme ist kein proletarischer Revolutionär, dessen Scheitern tragisch zu interpretieren wäre. Dies verhindert schon die den Text durchziehende kühl-ironische Erzählweise. Bomme ist aber auch kein reflektierter Skeptiker oder Defätist. In seiner Weise der Reaktion erweist er sich eher als normzersetzendes Element denn als bewußter Normzerstörer, der sich sein normzerstörendes Handeln zur sinnvollen und neuen Sinn gebenden Maxime gemacht hätte. Genau hierin dürfte das Provokativ-Polemische des Textes liegen, wovon oben bereits die Rede war. In der Aussparung solcher Sinnangebote dürfte jene Verunsicherung des Lesers liegen. Bomme negiert in seinem Handeln und Reagieren gesellschaftliche Normen und Institutionen wie das Gericht oder die Kirche. In seinem nicht bewußten, vitalen Nonkonformismus nimmt er dem Verhängnis oder dem Tod die Einmaligkeit, ohne an deren Stelle etwas Neues, Sinngebendes zu setzen.
Sicherlich, eine solche Interpretation mag überzogen erscheinen. Vieles spricht dafür, daß Reinigs Ballade nichts weiter ist als ein artistisches sprachliches Spiel mit einem vorgegebenen literarischen Muster. Unterstellt man ihr eine solche Intention, würde sich ihre bänkelsängerische „ballade vom blutigen Bomme“ leicht in eine Traditionsreihe von Gedichten einreihen lassen, die bis an den Ursprung der deutschen Kunstballade zurückführt, waren doch Gleims „Marianne“ oder Höltys „Adelstan und Röschen“ bzw. „Die Nonne“, die – wenn auch nicht unbestritten – gern als die ersten deutschen Kunstballaden angesehen werden, raffinierte Transformationen des nicht salonfähigen Bänkelsangs in die hohe Literatur. Aber man braucht nicht einmal bis ins 18. Jahrhundert zurückzuschreiten. Die epigonale Balladendichtung eines Börries von Münchhausen, einer Lulu von Strauß und Torney oder Agnes Miegel signalisierte um die Jahrhundertwende den drohenden Untergang dieser inzwischen obsolet gewordenen Gattung. Aber die erneute Adaption beim Bänkelsang oder beim Chanson etwa durch Frank Wedekind, später dann durch Erich Kästner, Kurt Tucholsky oder Bert Brecht setzte Impulse frei, die die Ballade wieder lebensfähig machten. Reinigs Ballade wäre also durchaus in diese Reihe von Erneuerungsversuchen der Ballade als einer modernen Kunstform einzureihen. Auch diese Ballade könnte ausschließlich verstanden werden als rein ästhetisch-provokative Spielerei, die wohlkalkuliert mit dem Entsetzen scherzt. Nachdenklich stimmt jedoch der Kontext des Gedichtes innerhalb der Sammlung „Die Steine von Finisterre“, wo die „Ballade“ sich in unmittelbarer Nähe zu dem Gedicht mit dem Titel „Hört weg!“ befindet:
kein wort soll mehr von aufbau sein
kein wort mehr von arbeit und altersrente
hört weg – ihr helden – ich rede allein
für asoziale elemente
für arbeiter die nicht mehr arbeiten wollen
für die stromer und wüsten matrosen
für die sträflinge und heimatlosen
für die zigeuner und träumer und liebestollen
für huren in häusern mit schwülen ampeln
für selbstmörder aus zerstörungslust
und für die betrunkenen die unbewußt
ein stück von einem stern zertrampeln
ich rede wie die irren reden
für mich allein und für die andern blinden
für alle die in diesem leben
nicht mehr nach hause finden
Hier ist programmatisch formuliert, was sich in der „Ballade“ nur andeutete: Reinigs Sympathie mit denen, die sich der Norm verschließen. Der individuelle Protest – sei er nun reflektiert („Hört weg!“) oder dumpf-elementar („Ballade…“) artikuliert – richtet sich gegen die Einvernahme durch ein hypostasiertes Allgemeines. Die Poesie verweigert sich einer Indienstnahme, sie liefert nicht den ihr abverlangten Teil beim allseits propagierten, von allen verlangten „Aufbau“ der sozialistischen Gesellschaft.
Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel, Hajo Kurzenberger: Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982
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