William Butler Yeats: Ausgewählte Werke

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von William Butler Yeats: Ausgewählte Werke

Yeats/Blecher-Ausgewählte Werke

EIN TAGWERK GRAS

Malerein und Bücher bleiben
Auch ein Tagwerk grünes Gras,
Um sich an der Luft zu stählen −
Doch des Körpers Kräfte nehmen ab;
Mitternacht, ein altes Haus,
Wo nichts scharrt als eine Maus.

Die Versuchung flieht mich, schweigt.
Hier, des Lebens Ende schauend,
Kann man nicht auf vage Phantasien
Noch die Mühe des Verstandes bauen.
Unter Haut und Knochen steht es still,
Was die Wahrheit ausschrein will.

Leih mir doch die Raserei der Alten,
Daß ich neu und ungestüm mich reg,
Bis ich Lear und Timon von Athen bin
Oder besser jener William Blake,
Der so lang getrommelt an die Wand,
Bis die Wahrheit Red und Antwort stand;

Leih den Geist des Michelangelo,
Mächtig war er, Wolken zu zerschlagen,
Rasend gar, die Toten noch
Totenhemdbekleidet hochzujagen −:
Denn vergessen werden sie sonst dreist
Eines alten Mannes Adlergeist.

Übersetzt von Heinz Piontek 

 

 

 

Kleine Geschichte

der Zuerkennung des Nobelpreises an William Butler Yeats

Seit langem bedeutete der Nobelpreis für England ein Problem, das seiner Lösung harrte. Der Jury der Schwedischen Akademie wurde vorgeworfen, sie habe in ihrem konventionellen Idealismus das Land Shakespeares, Dickens’ und Thackerays von Anfang an vernachlässigt.
Die hastige und unerwartete Entscheidung, die im Jahre 1907 Rudyard Kipling den Preis zuerkannte, hatte mit der Zeit ihren Glanz verloren und wurde angesichts der Würdigung anderer Länder nur noch als ein Alibi von wenig Gewicht betrachtet. Deutschland hatte vier Literaturpreise erhalten und Frankreich drei. Als nach dem Ersten Weltkrieg in Schweden die Englandfreundlichkeit zunahm, wurde man auf dieses Mißverhältnis aufmerksam. Es war höchste Zeit, dem abzuhelfen.
Damals wurde der Name Thomas Hardy besonders oft genannt, und in der schwedischen Presse besaß er eine beträchtliche Zahl von Anhängern. Seit langem war man allgemein überzeugt, daß seine literarische Kapazität den Bedingungen, die dieser in der ganzen Welt begehrte Preis stellte, vollkommen entspreche; jedermann wußte, daß seine Kandidatur von kompetenten englischen Persönlichkeiten mehrfach vorgetragen worden war. Der Meister des tragischen Romans hatte außerdem auf seine alten Tage dem Lorbeer des Prosaisten einige lyrische Zweige hinzugefügt und eine ganze Gedichtfolge von unbestreitbarer Vollendung geschaffen. Mit Recht genoß er in seinem Land das Ansehen eines Olympiers: zweifellos war er der Primus inter pares der angelsächsischen Literatur.
Im Jahre 1923 erwartete man also, daß der Preis dem Autor von Tess of the UrbervillesTess von d’Urbervilles – und von Jude the ObscureJuda, der Unberühmte – zuerkannt würde. Unter den möglichen Konkurrenten wurden Thomas Mann, Sigrid Undset und John Galsworthy genannt. Immerhin erschien es einleuchtend, wenn England in diesem Jahr den Preis erhielt. Der Kronprinz von Schweden hatte gerade eine Verwandte des englischen Königshauses geheiratet. Der Literaturpreis, dieser kulturelle Sympathiepreis Schwedens, würde den Neuvermählten im rechten Augenblick als Angebinde dargeboten werden. Um so größer war die Verwunderung, als man erfuhr, daß Schwedens Geschenk nicht nach London, sondern nach Dublin, nach Irland, gehen würde.
„Die Anglophobie ist nicht tot“, kommentierte eine liberale Zeitung. „Da man sich endlich genötigt sicht, seinen Blick in den Westen zu richten, wendet man sich der äußersten Peripherie zu.“ Und die Kritik fügte hinzu, diese Wahl habe einen unangenehmen politischen Beigeschmack. In Anbetracht der Spannung, die damals zwischen England und Irland herrschte, konnte die Entscheidung der Akademie als eine begünstigende Stellungnahme gegenüber dem Freistaat Irland und anderen Streitfragen mit keltischem Akzent ausgelegt werden, die in den Zeitungen die außenpolitischen Leitartikel beherrschten. Hinzu kam, daß das große Publikum William Butler Yeats nicht kannte. Er war ein Sternbild, dessen Glanz für das bloße Auge in diesem nördlichen Himmelsstrich noch nicht sichtbar war. Es gab also in England einiges Zähneknirschen, doch – ohne die Verdienste von Yeats in Zweifel zu ziehen – rührte die Unzufriedenheit daher, daß Thomas Hardy auch diesmal wieder übergangen worden war. Vor allem der hervorragende Rezensent des Observer, J.C. Squire, beurteilte die Lage mit ebensoviel Sachkenntnis wie Gerechtigkeit.
Übrigens suchte man sich im Lande Nobels zu informieren: Dokumentarwerke wurden befragt, frühere Veröffentlichungen hervorgesucht, Gedichte übersetzt, und lange vor Weihnachten erschien eine ganze Sammlung von ins Schwedische übertragenen dramatischen Werken. Alles deutete darauf hin, daß der angesehene Preis diesmal einem bedeutenden und ursprünglichen Autor verliehen worden war, welcher der Wortführer der noch zu wenig bekannten, neuen Literatur einer bezaubernden alten Insel war.
Die Eingeweihten, die den dichten Vorhang, der das Nobelgeheimnis indiskreten Blicken verbarg, ein Stückchen hatten heben können, wußten, daß die Entscheidung nicht, wie man hätte glauben können, das Ergebnis einer plötzlichen Laune, sondern tatsächlich seit langem vorbereitet worden war. Die respektable Akte über William Butler Yeats war bereits im Jahr 1902 angelegt worden, in jenem Jahr, das Theodor Mommsen gehörte. Yeats war von einem Landsmann, dem viel älteren W.E.H. Lecky, einem liberalen Historiker, vorgeschlagen worden, dessen Geschichte Englands im 18. Jahrhundert auch im Ausland Leser gefunden hatte und der von 1895 bis zu seinem Tod 1903 die Universität Dublin im Unterhaus vertrat. Er hatte sein möglichstes getan die Aufmerksamkeit des Auslandes auf einen irischen Dichter zu lenken, der, „jung und mystisch, gewiß, aber außergewöhnlich begabt war“.
Die Jahre vergingen, und der mystische junge Dichter hatte sich einen festen Ruf erworben. Als er 1912 Rabindranath Tagore dem europäischen Publikum vorstellte, war er von neuem in den Bannkreis des Nobelpreises gedrungen, und seit 1914 – empfohlen von G.M. Plunket von der Royal Society of Literature − stand er wieder auf der Liste. Als der Name Yeats nach dem großen Krieg auf die Tagesordnung gesetzt wurde, geschah dies auf Veranlassung des Komitees. Dort besaß er in der Person des Präsidenten Dr. Per Hallström einen leidenschaftlichen Verehrer. Dieser hielt Thomas Hardy für einen zweifelhaften Deterministen, während Yeats seinem idealistischen Geschmack entsprach. Auch hatte ein solcher Kandidat große Chancen, in der die Entscheidung treffenden Versammlung Sympathien zu gewinnen.
Die schwedische Literatur, die um die Jahrhundertwende in der Nachfolge Strindbergs und der naturalistischen Epoche stand, hatte eine gewisse Neigung zum Provinzialismus: es genügt, an die Namen Selma Lagerlöf, Verner von Heidenstam, Erik Axel Karlfeldt zu erinnern. Das alte, vom Industrialismus durchsetzte Bauernland kehrte sich von der Welt ab in einer Literatur, die in Erzählungen aus der Vergangenheit und „lokal gefärbten“ Erinnerungsbüchern seinen bukolischen Charme wiederaufleben ließ. Diese Phalanx von Literaten hatte Zeit zum Altern gehabt und in der erhabenen Akademie Platz genommen. Einer ihrer Repräsentanten war Per Hallström. In seiner wenig großzügigen Lebensauffassung hegte er einen gemäßigten Groll gegen das XIX. Jahrhundert und versäumte keine Gelegenheit, die Schriftsteller zu unterstützen, die seine antiintellektuellen Sympathien verkörperten.
Yeats schien diesem Schema zu entsprechen; der Autor von Catheen ni Houlihan lieferte Stoff zu verschiedenen Artikeln, deren Geist – als alle diese Bemühungen am 10. Dezember 1923 endlich gekrönt wurden – in der Verleihungsrede an den Preisträger seinen vollen Glanz erreichte. Dort werden einige befremdende Behauptungen erhoben. So wird das Chaos der Nachkriegszeit dem Skeptizismus und dem Bankrott des wissenschaftlichen Denkens angelastet – eine Perspektive von auffallender Groteske. Ebenso überrascht es, Yeats als einen Mystiker von gradliniger Einfachheit, halb als Druiden, halb als sentimentalen Dorfpoeten vorgestellt zu sehen. Nicht – oder fast gar nicht – ist die Rede von den Jahren einstigen Forschens des Preisträgers im Paris und London der Symbolisten, von jenen Experimenten, denen er sich hingegeben hatte, als er Visionen und neue Ausdrucksformen suchte, kurz, von den Beziehungen, die ihn mit dem intellektuellen Europa seiner Zeit verbanden, mit dieser Atmosphäre, in der er gemeinsam mit seinen Freunden Ezra Pound und T.S. Eliot einer der Schöpfer des dichterischen Stils der modernen Welt wurde. Um in den Nobelrahmen der Schwedischen Akademie von 1923 eingefügt werden zu können, sah sich Yeats zu den reichlich naiven, provinziellen Dimensionen eines folkloristischen Poeten, eines Sängers keltischer Götterdämmerung herabgewürdigt; es ist wohl nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß seine Freunde auf der grünen Insel, die Elfen, Gnomen, Feen und Nymphen, wesentlich dazu beitrugen, ihm die Pforten der Akademie zu öffnen. Abgesehen jedoch von diesen Einschränkungen, hat man allen Grund, sich zu der Entscheidung vom 14. November, die ihm den Preis zuerkannte, zu gratulieren.
Im allgemeinen war 1923 für Yeats ein glückliches Jahr. Er hatte sich dazu überreden lassen, im neuen Senat des Landes den Vorsitz zu führen, und spürte, daß er im Dail Eirann ein nützliches Werk vollbrachte. So gesellte sich das bürgerliche Prestige zu seinem literarischen Ruhm. Als dann das große Ereignis eintrat, war die Versammlung übrigens darauf bedacht, sich einen Teil des Ruhms, den der Preis ausstrahlte, selbst zuzuschreiben. „Um so stolzer sind wir“, erklärte Lord Glenavy, „wenn wir an den Mut und den Patriotismus denken, die Senator Yeats vor zwölf Monaten veranlaßten, unter äußerst kritischen Umständen mit seinem Volk gemeinsame Sache zu machen.“ Am Tage, nachdem Yeats die frohe Nachricht aus Stockholm erhalten hatte, versammelte er seine Freunde um sich und lud sie ein, mit ihm im Shelbourne Hotel zu essen, jenem Shelbourne, das mit der Atmosphäre des Dubliner Lebens gesättigt ist. Das erste Glückwunschtelegramm, das er erhielt, bereitete ihm besondere Freude: es war von James Joyce.
Dann machte sich der Meister, von seiner Frau begleitet, auf den Weg nach dem fernen Stockholm, wo ihn eine mit Interviews und Sitzungen bei Fotografen erfüllte Woche erwartete, deren festliche Höhepunkte die Nobelfeier selbst, der Empfang des Preises, das Bankett, das Diner im Schloß, die Theatervorstellung von Cathleen ni Houliham und die Konferenzen waren. Der Preisträger zeigte sich als ein vollendeter Gentleman, liebenswürdig und bescheiden, was ihm allseitige Sympathien eintrug. Schließlich erfuhr er zu seiner großen Befriedigung – ein Gefühl, das er nicht zu verbergen suchte – das Urteil der Mitglieder der königlichen Familie, die gefunden hatte, er sei unter allen Nobelpreisträgern der „vollkommenste Mann von Welt“, den man je im Schloß empfangen habe. Im Gedanken an den ungewöhnlichen Reiz, der von den großen Dichtungen ausging, die Yeats in seinem hohen Alter schuf, erscheinen schmeichelhafte Bemerkungen dieser Art recht oberflächlich. Doch können wir sie uns nicht versagen, denn wir sind nun einmal recht gut unterrichtet über die Wirkung, die der berühmte Gast anläßlich der aufeinanderfolgenden Ereignisse während der Tage des nordischen Triumphes hinterließ. Nach Irland zurückgekehrt, begnügte er sich nicht damit, die praktischen Konsequenzen aus dem großen Scheck zu ziehen: vernünftiges Investieren, Hilfe für seine kranke Schwester, Anschaffung der Encyclopaedia Britannica und einer vollständigen Ausgabe von Gibbon, Regale für seine Bibliothek und ein Teppich. Aus einem lobenswerten Gefühl der Dankbarkeit heraus ergriff er die Feder, um schwarz auf weiß mit für das Land Nobels äußerst schmeichelhaften Worten die Eindrücke niederzulegen, die er von seiner Reise mitgebracht hatte.
Daraus entstand der Text mit dem Titel The bounty of Sweden, eine Arbeit, die zunächst 1924 im London Mercury gedruckt, dann als Buch veröffentlicht und schließlich in die posthume Autobiographie des Autors eingefügt wurde. Es ist ein kleines, charmantes Werk, eine Art lächelnder Chronik, gemischt aus Wesentlichem und weniger Wichtigem, in welcher der Hauptteil der bei jener Gelegenheit von dem Preisträger gehaltene Vortrag ist. Als Thema hatte Yeats „Die dramatische Bewegung Irlands“ gewählt.
Er hatte diese Denkschrift zu einer Art Rückblick auf sein eigenes Dasein gestaltet und seinen Freund mehrerer Parisreisen, den bereits verstorbenen Millingtone Synge, und die gute Fee des Dubliner Theaters, jene bemerkenswerte Lady Gregory, besonders kraftvoll gezeichnet. Wir zitieren: „Als ich aus der Hand Ihres Königs die mir von Ihrer Akademie zugedachte Auszeichnung empfing, hatte ich die Empfindung, als hätte neben mir der Geist eines jungen Mannes und auf meiner anderen Seite eine sehr lebendige Frau in der ganzen Kraft ihres hohen Alters stehen müssen.“ Eine solche Betrachtung wirft einen Schein keltischer Poesie auf die Reden gelegentlich der Feier von 1923, bei der dem Vortragenden der ihm zuerkannte Preis überreicht worden war:

Für sein von edler Inspiration erfülltes Werk, das in knappster künstlerischer Form die Seele des Volkes sprechen läßt.

Gunnar Ahlström

Verleihungsrede

anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an William Butler Yeats

Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

William Butler Yeats hat sich von früher Jugend an als ein Dichter in der vollen Bedeutung dieses Wortes behauptet; seine Autobiographie beweist, daß die innere Stimme des Dichters seine Beziehungen zur äußeren Welt von klein auf geregelt hat. So ist es natürlich, daß er sich seit seinen ersten Anfängen in der von seiner Sensibilität und Intelligenz vorgezeichneten Richtung entwickelte.
In Dublin im Heim eines Künstlers geboren, wurde ihm die Schönheit von Natur aus lebenswichtige Notwendigkeit. Da er selbst künstlerische Fähigkeiten zeigte, wurde seine Erziehung besonders darauf angelegt, diese Neigungen zu unterstützen, ohne daß man sich dabei viel um die Sicherstellung traditioneller, schulischer Ausbildung kümmerte. Diese vollzog sich zum großen Teil in England, seiner zweiten Heimat, doch entschieden seine Verbindungen mit Irland – vor allem mit dem verhältnismäßig unbekannten keltischen Distrikt von Connaught, in dem der Feriensitz der Familie lag – seine Entwicklung. Hier empfing er aus dem Glauben und der Geschichte seines Volkes den phantasievollen Mystizismus, der den charakteristischsten Zug seines Temperaments bildete, und hier – umgeben von einer ursprünglichen Landschaft, zwischen Bergen und Ozean – ging er völlig auf in der leidenschaftlichen Erforschung dieser Natur.
Für ihn war die Seele der Dinge kein leeres Wort, denn der keltische Pantheismus, das heißt, der Glaube an die Existenz lebendiger und personifizierter Kräfte, die im Geist des Volkes immer gegenwärtig sind, erfüllte seine Phantasie und nährte sein verinnerlichtes und vertieftes religiöses Streben. Wenn er in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Geist seiner Zeit das Leben in der Natur voll brennender Anteilnahme beobachtete, waren diese Beobachtungen in bemerkenswerter Weise dem Studium der Aufeinanderfolge von Vogelstimmen bei Tagesanbruch oder dem Flug der Nachtfalter gewidmet, wenn in der Abenddämmerung die Sterne sich entzündeten.
Der Junge war so vertraut mit dem Rhythmus des Tagesablaufs, daß er die Zeit durch solche kaum merkbaren Zeichen genau zu bestimmen wußte. Diesem Einklang mit dem täglichen Einschlafen und Erwachen der Natur entspringen später die fesselndsten Züge seiner Dichtung.
Den Jünglingsjahren entwachsen, gab er seine Ausbildung in der bildenden Kunst auf, um sich der Dichtung zu widmen, zu der er sich besonders hingezogen fühlte. Der Umstand allerdings, daß er im künstlerischen Milieu aufgewachsen war, offenbarte sich während seiner ganzen Laufbahn, einmal durch die Sorgfalt, mit der er die Form behandelte, durch den persönlichen Charakter seines Stils, aber mehr noch durch die kühn paradoxe Lösung von Problemen, wobei sein scharfes, aber fragmentarisches, philosophisches Denken ihm den Weg bahnt, der seinem Wissen entspricht.
Die literarische Welt, in die er eintrat, als er sich Ende der achtziger Jahre in London niederließ, bot ihm nichts besonders Positives, wenn nicht die Tatsache, daß seine Antipathien Widerhall fanden, und das bedeutet für eine kämpferische Jugend einen wesentlichen Umstand.
Gegenüber dem Geist der Epoche empfand er nur Auflehnung und Widerwillen, besonders gegenüber dem wissenschaftlichen Dogmatismus und der naturalistischen Kunst. Aber es gab nicht viele, die von einer so tief verankerten Feindseligkeit beseelt waren wie Yeats, dieser intuitive, visionäre und unbezähmbar spiritualistische Genius.
Nicht allein der absolute Charakter der Wissenschaft und die Enge der die Wirklichkeit kopierenden Kunst irritierten ihn; er hegte tiefen Abscheu vor der Vernichtung der Persönlichkeit und vor der Kälte, die den Skeptizismus ablehnte, sowie vor dem Verdorren der Phantasie und des Gefühlslebens in einer Welt ohne anderen Glauben als den des kollektiven und automatischen Fortschritts, der einem heiligen Schlaraffenland entgegenstrebte. Die Ereignisse sorgten für den Beweis, daß er erschreckend recht gehabt hatte: des mit Hilfe einer solchen Methode von der Menschheit errichteten Paradieses dürfen wir uns gegenwärtig freuen.
Selbst dem schönsten sozialen Utopismus, verkörpert durch den viel bewunderten Dichter William Morris, gelang es nicht, einen Individualisten wie den jungen Yeats zu fesseln. Erst später wandte er sich dem Volk zu, das für ihn keineswegs einen abstrakten Begriff darstellte, sondern sich in der irischen Rasse verkörperte, mit der er in seiner Kindheit engen Kontakt gefunden hatte. Und er suchte in dieser Rasse nicht die von den Anforderungen des heutigen Lebens zermürbten Massen, sondern einen Typ der im Laufe der Zeiten geformten Seele, die er zu bewußtem Leben erheben wollte.
Inmitten des Getriebes des intellektuellen Londoner Lebens beschäftigte sich Yeats mit allem, was die irische Nation betraf, und diese Verbundenheit wurde lebendig erhalten durch die vertieften Studien der irischen Folklore, die er während seiner Ferien in seinem GeburtsIand trieb. Seine ersten Gedichte sind ausschließlich von den in diesem Bereich gesammelten Eindrücken inspiriert. Die hohe Anerkennung, die sie schlagartig in England erfuhren, verdankten sie dem Umstand, daß dieser neue Stoff mit seinem mächtigen Appell an die Phantasie in aller Form dargeboten wurde, die trotz ihrer Eigenart eng mit edlen Traditionen der englischen Dichtung verbunden war. Die Mischung von keltischen und englischen Elementen, die im Bereich des politischen Lebens nie mit Erfolg hätte verwirklicht werden können, wurde in der Welt der dichterischen Phantasie zu einer Realität.
Je mehr Yeats indes die englischen Meister studierte, erhielten seine Gedichte einen anderen Charakter. Rhythmus und Farben wandelten sich, als wären sie in eine neue Atmosphäre, jene der keltischen Abenddämmerung am Meeresstrand, übertragen worden. Ein wichtiger, in der modernen englischen Dichtung ungewohnter Platz wird dem Lied eingeräumt. Die Musik ist melancholischer, und unter der sanften Kadenz, glauben wir einen anderen, aus leisem Windhauch und ewigem Pulsschlag der Naturkräfte gebildeten Rhythmus wahrzunehmen. Wenn diese Kunst einen solchen Grad erreicht, grenzt sie an Magie, doch macht ihre Düsterkeit sie zuweilen schwer zugänglich. Diese Esoterik stammt von dem Mystizismus des behandelten Gegenstands, aber vielleicht auch von der keltischen Gemütsart, die mehr durch Ungestüm, Sensibilität und Scharfsinn als durch Klarheit charakterisiert zu werden scheint. Dennoch kann die Tendenz der Zeit ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben: Symbolismus und l’art pour l’art – vor allem, um das kühn angeeignete Wort zu erforschen.
Yeats Verbundenheit mit dem Leben seines Volkes bewahrten ihn vor der charakteristischen Sterilität in der ästhetischen Tendenz seiner Zeit. An der Spitze einer Gruppe von Landsleuten nahm er am literarischen Leben Londons teil und gründete die mächtige Bewegung Die keltische Erneuerung, die eine neue Nationalliteratur, die anglo-irische, geschaffen hat.
Der hervorragendste und hinsichtlich des Talents vielschichtigste dieser Gruppe war Yeats. Seine belebende und anziehende Persönlichkeit trug im wesentlichen dazu bei, daß die Bewegung sich so rasch entwickelte und ausbreitete, indem sie den bis dahin zerstreuten Kräften ein gemeinsames Ziel setzte oder die neuen, ihrer Existenz noch nicht bewußten Kräfte ermutigte.
Damals wurde auch das irische Theater geboren. Yeats’ aktive Propaganda schuf zugleich eine Bühne und ein Publikum; die erste dort gegebene Vorstellung war das Drama The Countess Cathleen – Die Gräfin Cathleen −. Diesem dichterisch ungewöhnlich reichen Werk folgte eine ganze Reihe von Schauspielen, die alle irische Probleme behandelten und in der Hauptsache die alten Heldensagen zum Gegenstand hatten. Zu den schönsten unter ihnen gehört Deirdre, die unheilvolle Tragödie der irischen Helena; The green helmetDer grüne Helm −, eine Sage von heldischer Heiterkeit und eigentümlich primitiver Wildheit, und vor allem The King’s thresholdDie Schwelle des Königs −, dessen einfacher Stoff von einer selten erreichten Größe und Tiefe ist. Der Streit um Rang und Stellung des Barden am Königshof stellt hier das immer brennende Problem der geistigen Werte und des Glaubens daran. Unter Einsatz seines Lebens verteidigt der Held mit dem Primat der Poesie alles, was das Dasein des Menschen schön und wert macht. Die meisten Dichter würden nicht gewagt haben, auf diese Weise solche Forderungen zu stellen, Yeats hat es getan: Sein Idealismus hat sich nie gebeugt, wenn ihm nicht der gleiche Ernst begegnete, der seiner Kunst innewohnt. In seinen Dramen erreichen seine Verse durch ihren Stil eine seltene Schönheit.
Der bezaubernde Eindruck seiner Kunst zeigt sich vor allem in The land of the heart’s desireDas Land der Sehnsucht −, das in seiner klaren, träumerischen Melodie die ganze Magie märchenhafter Poesie, die ganze Frische des Frühlings besitzt. Vom dramatischen Standpunkt gesehen, ist dieses Werk auch eins der schönsten und könnte als das Kleinod seiner Dichtung betrachtet werden, wenn er nicht ein kleines Drama in Prosa, Cathleen ni HoulihanDie Tochter von Houlihan −, geschrieben hätte, das sein einfachstes, populärstes Theaterstück und vom klassischen Standpunkt zugleich sein vollkommenstes ist.
Hier schlägt er – mächtiger als überall sonst – die patriotische Saite an: das Thema ist Irlands jahrhundertelanger Kampf für die Freiheit und die Hauptgestalt Irland selbst, verkörpert durch eine umherirrende Bettlerin. Doch vernehmen wir nicht einen einzigen Schrei des Hasses; die das Stück beseelende tiefe Leidenschaft ist mehr als in jeder anderen Dichtung dieser Art gezügelt. Nur das reinste, erhabenste Gefühl der Nation wird hier ausgedrückt, der Text ist maßvoll und die Handlung auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt; das Ganze ist von echter Größe. Das Thema konzipiert Yeats im Traum; der visionäre Ursprung dieser Himmelsgabe blieb ihm bewußt – eine Auffassung, die übrigens der ästhetischen Philosophie des Autors nicht fremd ist.
Man könnte länger bei seinen Werken verweilen, doch mag es genügen, die in seinen letzten Dramen verfolgten Wege aufzuzeigen. Hinsichtlich ihres seltsamen, ungewöhnlichen Stoffes waren sie oft romantisch, gelangten jedoch in ihrer Form mehr oder weniger zu einer klassischen Einfachheit. Dieser Klassizismus hat sich fortschreitend zu einem kühnen Archaismus weiterentwickelt: Der Dichter suchte die primitive Plastik zu erreichen, die den Beginn aller dramatischen Kunst darstellt. Die ganze Schärfe seines Denkens hat er darauf verwandt, sich von der modernen Auffassung des Theaters zu lösen, in welcher der Dekor das von der Phantasie heraufbeschworene Bild trübt, ein Charakterstück notwendigerweise durch die Rampe verzerrt und wo das Publikum eine wirkliche Illusion fordert. Er wollte die Dichtung so darstellen, wie sie aus der Vision des Dichters geboren wurde – eine ihm eigentümliche Vision, die sich unter dem Einfluß uralter Modelle aus Hellas und Japan bildete. So hat er den Gebrauch der Masken wiederaufgenommen und der Mimik des Schauspielers, begleitet von einer einfachen Musik, großen Raum gegeben.
In so vereinfachten und in vollkommener Einheit des Stils dargestellten Dramen, deren Stoffe vorwiegend von irischen Heldensagen inspiriert sind, hat Yeats zuweilen – sowohl durch den auf ein Minimum beschränkten Dialog als durch die tiefe, lyrische Intonation der Chöre – sogar auf einfache Menschen eine faszinierende Wirkung ausgeübt. Dies alles ist jedoch in voller Entwicklung begriffen; noch läßt sich nicht entscheiden, ob die Ergebnisse den vollbrachten Opfern entsprechen. Diese Art Theaterstücke, obwohl an sich höchst bemerkenswert, werden wahrscheinlich in bezug auf die Popularität größeren Schwierigkeiten begegnen als die früheren.
In ihnen und in seinen klarsten und schönsten Gedichten hat Yeats das vollbracht, was nur wenigen Dichtern vergönnt gewesen ist: wenn er auch noch so aristokratische Kunst schuf, ist es ihm gelungen, seinen Kontakt mit dem Volk zu bewahren. Sein dichterisches Werk hat sich in einem ausschließlich künstlerischen Milieu entwickelt, was viele Gefahren in sich birgt; doch ohne den Leitsätzen seines ästhetischen Glaubens abzuschwören, hat sich seine leidenschaftliche und wissensdurstige, stets auf der Suche nach dem Ideal begriffene Persönlichkeit von der Leere der Form um der Form willen gelöst. Es ist ihm gelungen, dieser Geistesrichtung treu zu bleiben, die ihn von vornherein zum Interpreten seines Landes bestimmte, eines Landes, das im geheimen seit langem eine Persönlichkeit erwartete, die ihm ihre Stimme lieh. Es ist also nicht übertrieben, ein solches Lebenswerk „groß“ zu nennen.

Per Hallström, 10.12.1923

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Christoph Kuhn: Zu William Butler Yeats
DU, Heft 7, Juli 1963

Sean O’Casey: Bei W.B. Yeats
Sinn und Form, Heft 5–6, 1962

An Experiment in Living – The places of significance for W.B. Yeats

Zum 75. Todestag des Autors:

Armin Steigenberger: Your mother Eire is always young
signaturen-magazin.de

Zum 150. Geburtstag des Autors:

Elsemarie Maletzke: Die Sehnsucht des jungen W.
Die Zeit, 12.6.2015

Peter Münder: Dichter, Mystiker, Staatsmann
Neue Zürcher Zeitung, 11.6.2015

Robert Quitta: Irland: Ruhen zu Füßen des schlafenden Riesen
Die Presse, 28.8.2015

 

Zum 83. Todestag des Autors:

Jürgen Schneider: Er verschwand im tiefsten Winter
nd, 27.1.2022

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William Butler Yeats liest The Lake Isle of Innisfree. Eine Erklärung der geometrischen Formen im Zusammenhang mit Yeats Denken findet man hier.

 

Robert Forster spielt am 2.3.2019 im Berliner Dodo Beach von William Butler Yeats „Crazy Jane on the Day of Judgement“.

 

Haggren Gravlund – „The Wild Swans At Coole“ von William Butler Yeats.

 

Shane MacGowan – „An Irish Airman Forsees His Death“ von William Butler Yeats.

 

The Waterboys – An Appointment with Mr Yeats, Glasgow Concert Hall 2011.

 

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