Paterson: Buch I
VORREDE
„Strenge der Schönheit, das ist, was wir erstreben. Aber wie die Schönheit finden, wenn sie unwiderruflich eingesperrt ist in unserem Sinn?“
aaaaaEinen Anfang,
aaaaaaus Einzelheiten,
aaaaaund diese allgemein
aaaaazu machen, die Summe
aaaaaaufrollen, mit unzulänglichen Mitteln –
aaaaaDie Bäume beschnuppern,
aaaaanur ein Hund
aaaaaunter vielen andern. Was
aaaaagibt es denn sonst? Und zu tun?
aaaaaDie andern sind fort –
aaaaaden Hasen nach.
aaaaaNur der Lahme steht noch – auf
aaaaadrei Beinen. Kratz hinten und vorn.
aaaaaSei schlau und friß. Grab
aaaaaeinen modrigen Knochen
Denn der Anfang ist sicherlich
das Ende – weil wir nichts wissen, einfach
nichts, was außerhalb unsrer eigenen
Windungen liegt.
aaaaaaaaaaaaaaaUnd trotzdem gibt es
kein Zurück: aus dem Chaos rollt es,
ein Neun-Monate-Wunder, die Stadt
der Mann, eine Eigenart – es kann
nicht anders sein – ein
Durchdringen, gegenseitig. Es rollt
hervor! Bildseite, Kehrseite;
das Trunkene das Nüchterne; der Glanz
die Roheit; eins. In der Unwissenheit
ein besonderes Wissen, und das Wissen –
unverteilt – sich selbst zum Verderb.
aaaaaaaaaaaaaaa(Der mannigfaltige Keim,
vollgepfropft mit Detail, versauert,
verliert sich im Strom, und der Verstand,
so verwirrt, schwimmt davon in demselben
Schaum)
Es rollt heran, rollt heran, an Vielzahl
schwanger
aaaaaaaaaaEs ist die Sonne, unwissend,
die aufgeht im Schlitz der
hohlen aufgegangenen Sonnen, so daß nie und nimmer
in dieser Welt ein Mann gut leben wird, in seinem Leib,
ohne zu sterben – und nicht wissen,
daß er stirbt; doch das ist
der Entwurf. Erneuert sich selbst
in diesem, im Zukauf, im Abzug,
im Auf- und Abgehn.
aaaaaund das Handwerk,
vom Denken zerrüttet, dem aufrollenden; mag er sich
hüten vor einer Tätigkeit, die nur
abgestandene Poeme erzeugt…
Die Hirne, wie stets glattgezogene Betten,
aaaaaaaaaaaaaaa(steiniger als ein Strand)
unwillig oder unfähig.
aaaaaaaaaaaaaaaEs rollt heran, diese Seite nach
oben, nach unten, Stoß und Rückstoß, ein lautes Gerassel:
emporgehoben wie Luft, bebootet, vielfarbig bunt, ein
Wellenschlag –
von der Mathematik zu den Einzelheiten –
aaaaaaaaaaaaaaaauseinandergestäubt wie der Tau,
die schwebenden Nebel, um niedergeregnet und
wieder beisammen zu sein, in einem Strom, der fließt
und einkreist:
aaaaaaaaaaaaaaaSchalengehäuse und kleinste Tiere
im allgemeinen, und so denn zum Mann,
aaaaaaaaaaaaaaazu Paterson.
Paterson ist ein langes Gedicht in vier Teilen – darüber, daß ein Mensch sich selbst eine Stadt ist und sein Leben durch Funktionen beginnt, sucht, erfüllt und beendet, die von den verschiedenen Aspekten einer Stadt verkörpert werden können – wenn sie von der Vorstellungskraft erkannt werden – einer jeden Stadt, deren sämtliche Einzelheiten dazu gebracht werden können, seine heimlichsten Überzeugungen auszudrücken. Der erste Teil stellt den Elementarcharakter der Lokalität dar. Der zweite Teil enthält die heutigen Nachbildungen dieser Lokalität. Im dritten Teil wird nach einer Sprache gesucht, durch welche diese ausgedrückt werden können, und der vierte, der Strom unterhalb des Wasserfalls, wird Episoden-Erinnerungen heraufholen – alles, was ein jeder Mensch im Verlauf eines Lebens vollbringen kann.
William Carlos Williams, Vorwort
Nach Dr. Williams’ ursprünglichem Plan sollte Paterson aus vier „Büchern“ bestehen, und die Vorbemerkung des Verfassers, sein „Beweisgrund“ für das Gedicht, erschien in der Erstauflage des Ersten Buches im Jahr 1946. Die Bücher 2, 3 und 4 erschienen 1948 bzw. 1949 und 1951. Das 5. Buch erschien im Jahr 1958; einige Zeit vor dieser Veröffentlichung schrieb Dr. Williams dem Verleger James Laughlin folgendes zur Sache:
(seitdem ich Paterson, Vier beendete) ist mir einiges aufgegangen, nicht nur, daß sich manches in mir und in der Welt verändert hat, sondern auch, daß ich mich zu dem Eingeständnis gezwungen sehe, daß es für eine derartige Geschichte kein Ende geben kann, in jenem Rahmen, den ich mir selbst gesteckt hatte. So mußte ich die Welt von Paterson in eine neue Dimension übertragen, wenn ich ihr eine schöpferische Gültigkeit verleihen wollte. Dennoch wollte ich sie heil bewahren, so, wie sie es für mich ist. Als ich mir all das durch den Kopf gehen ließ, nahm die Komposition allmählich eine Form an, welche Sie in diesem, hier vorliegenden Gedicht sehen können, und bewahrte – so hoffe ich zumindest – eine Einheit, die direkt aus dem Paterson der ersten vier Teile herauswächst. Hoffen wir, daß mir das gelungen ist.
Gegen Ende 1960 und in den Anfangsmonaten des Jahres 1961 schrieb Dr. Williams dem Verleger von seinen Plänen für einen sechsten Teil, aber sein physisches Leiden vereitelte die Ausführung. Vier Seiten von Aufzeichnungen und Entwürfen für Das Sechste Buch wurden unter den Papieren des Dichters nach seinem Tode gefunden, und diese stehen als Anhang am Ende dieser Ausgabe.
Anselm & Josephine Hollo, Nachwort
verglichen mit Ezra Pounds The Cantos, Walt Whitmans Leaves of Grass und T.S. Eliots The Waste Land, gilt als eines der Hauptwerke der amerikanischen Dichtung dieses Jahrhunderts. Williams hat mit diesem zyklischen Gedicht ein „Testament hinterlassen, wie ein Mann es erst schreibt, wenn er sowohl zu leben wie auch zu schreiben gelernt hat“ (Archibald MacLeish). In seiner Autobiographie sagt er zur Entstehungsgeschichte seines Epos, daß er ein Bild finden wollte, das groß genug war, seine ganze erkennbare Umwelt einzufangen. Und in seiner Vorbemerkung zu dem Ersten Buch von Paterson heißt es:
Paterson ist ein langes Gedicht – darüber daß ein Mensch sich selbst eine Stadt ist und sein Leben durch Funktionen beginnt, sucht, erfüllt und beendet, die von den verschiedenen Aspekten einer Stadt verkörpert werden können – wenn sie von der Vorstellungskraft anerkannt werden – eine, jede Stadt, deren sämtliche Einzelheiten dazu gebracht werden können, seine heimlichsten Überzeugungen auszudrücken. Der erste Teil stellt den Elementarcharakter der Lokalität dar. Der zweite Teil enthält die heutigen Nachbildungen dieser Lokalität. Im dritten Teil wird nach einer Sprache gesucht, durch welche diese ausgedrückt werden können, und der vierte, der Strom unterhalb des Wasserfalls, wird Episoden, Erinnerungen heraufholen – alles, was ein jeder Mensch im Verlauf eines Lebens vollbringen kann.
Paterson ist sowohl ein geographischer und zeitlicher Ort als auch ein Mann: die symbolische Gestalt, in der sich das Persönliche, das Eigenleben des Dichters, mit dem Allgemeinen, der Geschichte der Lokalität verbindet.
Henry Goverts Verlag, Klappentext, 1970
– William C. Williams’ Großes Amerikanisches Gedicht. –
Die umfangreiche Versdichtung Paterson gilt als William Carlos Williams’ Hauptwerk. Sie wird in einem Atemzug mit den anderen Großgedichten der nordamerikanischen Dichtung – den Grashalmen von Walt Whitman, den Cantos von Ezra Pound, den Maximus-Gedichten von Charles Olson, A von Luis Zukofsky und Flow Chart von John Ashbery – genannt und mit ihnen verglichen.
Erste Skizzen zu Paterson gehen auf 1914 (in einem Gedicht „The Wanderer“) und 1927 (Abdruck des 85zeiligen gleichnamigen Gedichts Paterson in der Literaturzeitschrift The Dial) zurück. In der Vorbemerkung des Verfassers zu dem 1946 erschienenen Ersten Buch definiert Williams Paterson als
ein langes Gedicht in vier Teilen – darüber, daß ein Mensch für sich genommen eine Stadt ist und sein Leben beginnt, sucht, vollbringt und beschließt auf Wegen, die von den verschiedenen Aspekten einer Stadt verkörpert werden – falls von der Vorstellungskraft ersonnen – einer jeden Stadt, deren Einzelheiten insgesamt so gefertigt werden können, daß sie seinen innersten Überzeugungen Ausdruck geben. Der erste Teil stellt das elementare Wesen des Ortes vor. Der zweite Teil die modernen Repliken. Der dritte ist auf der Suche nach einer Sprache, die sie in Töne setzt, und der vierte, der Fluß unterhalb der Fälle, wird Episoden wachrufen – alles, was jeder einzelne Mensch im Laufe seines Lebens vollbringen kann.
Die weiteren drei ,Teile‘ erschienen 1948, 1949 und 1951, in jeweils leicht überformatigen, außerordentlich sorgfältig gedruckten Einzelbänden in einer Auflage von je 1.000 Exemplaren. 1958 ließ Williams ein Fünftes Buch folgen, „zum Gedenken an Henri Toulouse-Lautrec, Maler“.
Als er 1963 starb, fanden sich unter seinen nachgelassenen Papieren vier maschinengetippte Seiten vom Januar 1961, die sich mit der Struktur eines Sechsten Buches befassen. Williams hat demnach fast sein gesamtes erwachsenes Dichterleben über Organisation und Architektur seines Großen Amerikanischen Gedichtes nachgedacht, das er bewußt als Erwiderung auf die Cantos seines alten Freundes Ezra Pound und die Vier Quartette seines Rivalen T.S. Eliot verstand.
Die Niederschrift von Paterson warf für Williams zahlreiche formale Probleme auf. Was seine Lyrik bis 1946 auszeichnete – Knappheit, Exaktheit, Unmittelbarkeit von Wahrnehmung und mitteilender Spiegelung – mußte sich nun plötzlich in einer großen Struktur bewähren. Er kombinierte die mit untrüglichem Gehör erfaßte rhythmische Struktur des Amerikanischen mit Prosapassagen unterschiedlichster Herkunft, aus Geschichtsbüchern, politischen Pamphleten und Briefen von Bekannten und Freunden, darunter einigen jüngeren Schriftstellerkollegen wie Allen Ginsberg oder Gilbert Sorrentino, dessen ersten Text Williams in seinem Paterson veröffentlichte.
Das folgende Dossier möchte in bisher noch nicht bekannten Briefen Williams’ an James Laughlin, Robert Lowell und Wallace Stevens nicht nur das Ringen des Dichters um das Ordnen des gesammelten Materials in eine epische Großform dokumentieren, sondern auch exemplarisch die Positionen verdeutlichen, mit denen Paterson in den USA rezipiert wurde. Charles Olson nimmt hier eine kritische, doch vermittelnde Rolle ein, während Edward Dahlberg, neben Randall Jarrell Wortführer der abwertenden Kritiker, Williams „eine grundlegende Kälte“ vorwirft und Robert Lowell, auf der anderen Seite, der das Zweite Buch als „unsere Grashalme“ und „in Amerika wurzelnde Anti-Cantos“ feiert.
Im Rückblick waren es vor allem die Dichter der auf Williams folgenden Generation, also Robert Lowell und Robert Creeley (und weitere Repräsentanten der Black Mountain Gruppe) und Beat-Autoren wie Allen Ginsberg, die in Williams ihr Vorbild fanden und ihn als Vaterfigur verehrten.
1970 erschien Paterson im Goverts-Verlag in der Übersetzung von Anselm und Josephine Hollo auf Deutsch, acht Jahre nach Hans Magnus Enzensbergers vielbeachteter Auswahl der kurzen Gedichte. Diese Ausgabe wurde zu Unrecht kaum wahrgenommen. Die hier abgedruckte Rezension von Karl Krolow ragt hervor, ist aber auch eine der ganz wenigen Auseinandersetzungen mit Williams’ Großgedicht in Deutschland.
Erst in Nachrufen zum 90. Geburtstag (als Williams bereits zehn Jahre tot war) wurde nochmals auf Paterson eingegangen, meist jedoch in jenem überlieferten und vereinfachten Sinn, dessen sich z.B. Hans Jürgen Heise bediente: W.C. Williams sei „ein Dichter der kleinen Zeit- und Raumeinheit“, dem übergreifende metaphysische Ideen oder Maß- und Ordnungsstrukturen fehlten. Daß Williams von mythologischen Grundkonstellationen ausging, sich von der Odyssee, inspirieren ließ und zahlreiche Mathematik- und Wirtschaftstheorien in seinem Großgedicht verwendete, ist Heise und seinen Kollegen ebenso entgangen wie der offensichtliche Wunsch Williams’, aus disparaten Stimmen, Diskursen und Dokumenten ein noch nicht fertiges Gebilde zu schaffen, ein offenes und plurales Aktionsfeld also, das für das phantastische und unordentliche Amerika stehen soll.
Joachim Sartorius, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Ich habe keine Erinnerung daran, wann mir zum erstenmal die Idee kam, ein langes Gedicht über die Ähnlichkeit zwischen dem Geist des modernen Menschen und einer Großstadt zu schreiben. Die früheste Notiz zu diesem Thema, die Vivienne Koch unter meinen Aufzeichnungen gefunden hat, geht auf das Jahr 1925 zurück. Als mir 1927 nach dem Erscheinen des Gedichts „Paterson“ in The Dial von dieser Zeitschrift ein Preis zuerkannt wurde, waren meine Überlegungen zu diesem Komplex jedenfalls schon weit fortgeschritten.
Nachdem feststand, was ich tun wollte, überlegte ich geraume Zeit, wie ich meine Aufgabe anfassen sollte. Es ging darum, die vielfältigen Aspekte einer Großstadt als Bilder für vergleichbare Aspekte zeitgenössischen Denkens zu verwenden und auf diese Weise den Menschen selbst, wie wir ihn kennen und lieben und hassen, objektiv darstellen zu können. Dafür schien mir ein Gedicht dazusein: Es soll in einer Sprache zu uns sprechen, die wir verstehen. Aber bevor wir sie verstehen können, muß die Sprache erkennbar sein. Wir müssen sie als die unsere erkennen, wir müssen davon überzeugt sein, daß sie für uns spricht. Und doch muß es eine Sprache bleiben wie alle Sprachen, ein Mittel der Verständigung.
Daher konnte die Stadt, die ich mir zum Gegenstand nehmen wollte, nur eine sein, mit der ich bis in die intimsten Einzelheiten vertraut war. New York war zu groß, eine zu gewaltige Ansammlung von Aspekten der ganzen Welt. Ich brauchte etwas Heimischeres, etwas Überschaubares. Und wählte Paterson mit Bedacht als meine Wirklichkeit. Die Vorstadt, in der ich lebte, unterschied sich von keiner anderen und war für meinen Zweck auch nicht abwechslungsreich genug. Es gab noch andere Möglichkeiten, aber Paterson war die beste.
Paterson hat eine klar umrissene Geschichte, die bis zu den Anfängen der Vereinigten Staaten zurückreicht. Außerdem besitzt sie mit den Passaic Falls ein charakteristisches Merkmal, das sich, als ich einmal anfing darüber nachzudenken, mehr und mehr zum glücklichen Leitgedanken dessen entwickelte, was ich sagen wollte. Ich las alles Erreichbare über die Geschichte der Falls, des Parks auf dem kleinen Hügel dahinter und der früheren Bewohner. Von Anfang an stand für mich die Einteilung in vier Bücher fest, die dem Lauf des Flusses folgen sollten, dessen Leben mir, je länger ich darüber nachdachte, immer mehr meinem eigenen Leben zu gleichen schien: der Fluß oberhalb der Falls, das Drama des Wasserfalls selbst, der Fluß unterhalb der Falls und schließlich sein Einmünden ins Meer.
Als ich mich auf diesen allgemeinen Plan näher einließ, mehr dem Thema folgend als dem Fluß selbst, mußte er unzählige Male abgeändert werden.
Das Rauschen des Wasserfalls schien mir eine Sprache zu sein, die wir immer gesucht haben und noch heute suchen, und als ich mich umsah, wurde meine Suche zum Ringen um die Interpretation und Verwendung dieser Sprache. Dies ist der eigentliche Kern des Gedichts. Das Gedicht kündet aber auch von der Suche des Dichters nach seiner Sprache, seiner eigenen Sprache, die ich, ganz abgesehen vom rein Stofflichen, zu verwenden hatte, um überhaupt schreiben zu können. Wenn ich das mir gestellte Thema überzeugend darstellen wollte, mußte ich auf eine ganz bestimmte Weise schreiben.
Damit wurde das Ziel recht komplex. Es faszinierte mich, und nebenbei schulte es mich. Ich mußte beim Schreiben nachdenken, ich mußte die Mittel erfinden, um nach den von mir vorgegebenen Kategorien sagen zu können, was mir erforderlich schien. Auch der Schluß des Gedichts bereitete mir einiges Kopfzerbrechen. Untauglich wäre ein großartiges, die Seele sättigendes Finale gewesen, denn davon vermochte ich in meinem Thema nichts zu sehen. Ebenso wenig lag mir an einem wirren, deprimierten oder predigerhaften Schluß. Auch das paßte nicht zum Thema. Es wäre leicht gewesen, das Ganze mit einem lauten Knall enden zu lassen, einem „schönen“ Sonnenuntergang auf See oder einer Schar Tauben, dem Ende der Liebe und dem Wirrwarr des menschlichen Schicksals.
Stattdessen gelangen wir – nachdem das Mädchen endlich in der kläglichen Weltklugheit der großen Stadt aufgegangen ist, die nicht weniger ratlos, verständlich und auch liebenswert ist als das Mädchen selbst – am Schluß zum Meer. Odysseus schwimmt hinaus, wie der Mensch es immer tun muß, er geht nicht unter, dazu schwimmt er zu gut, sondern kehrt, von seinem Hund begleitet, aufs Land zurück (Richtung Camden), um von neuem zu beginnen.
William Carlos Williams, 31.5.1952, Schreibheft, Heft 45, Heft 1995
aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
– Briefe. –
An James Laughlin
An James Laughlin
An Wallace Stevens
An James Laughlin
Hoffentlich gefällt Dir das Ding; daß es Dir nicht gefällt – diese Gefahr besteht immer. Aber Teile davon werden Dir bestimmt gefallen.
An Babette Deutsch
An Robert Lowell
An Horace Gregory
An Marianne Moore
An Robert Lowell
William Carlos Williams, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
– Erste Veröffentlichungen in Paterson: Allen Ginsberg und Gilbert Sorrentino. –
Zwei angehende Schriftsteller, der 1926 in Paterson geborene Allen Ginsberg und der drei Jahre jüngere, aus New York stammende Gilbert Sorrentino waren stark von der Lyrik William Carlos Williams’ beeinflußt. Beide nahmen Kontakt zu Williams auf, schrieben Briefe, schickten Gedichte und Erzählungen und lernten ihn schließlich persönlich kennen.
William Carlos Williams, der an Buch 4 und 5 von Paterson schrieb, nahm außer Zeitungsartikeln und Auszügen aus alten Geschichtsbüchern auch zwei Briefe Allen Ginsbergs und eine Erzählung Gilbert Sorrentinos in sein Gedicht auf. Für beide, Ginsberg und Sorrentino, war dies die erste Veröffentlichung.
Ginsberg berichtet über seine Begegnungen mit Williams in seinen Notizbüchern, Sorrentino in einem Gespräch mit Denis Scheck.
März 1952 Aufzeichnungen
Er machte mir selbst die Tür auf und sagte, o je ich wollte grade weggehen. Auf eine Party, aber komm doch rein, vielleicht kannst du mitkommen? Wie gehts dir jetzt? Ich dachte schon, du hast das Alphabet vergessen, sagte ich.
Mir gehts okay, das einzige ist nur (das sagte er später) – ich spreche so langsam.
Konntest du meine Briefe gebrauchen? fragte ich. Er: Hast du Buch 4 gesehen? (Er hatte mich um Erlaubnis gebeten, meine Briefe an ihn in den Paterson-Text aufzunehmen.) O ja, ich hab sie benutzt, nachdem ich deine Postkarte bekam – carte blanche. Ich habe mehrere benutzt. Ich sagte: Wirklich? Er: Wolltest du mich auf den Arm nehmen? Ich: Nein, aber nein. Er: Hast du meine Karte bekommen? Ich: Nein. Er: Als du krank warst. Ich: Ja schon, aber ich war ja krank in der Klinik. (1949 war ich acht Monate im Psychiatrischen Institut des Staates New York gewesen, und ich hatte dort keine seiner Postkarten erhalten.) (…)
Gespräch über Versmaß, Metrum usw. Im Auto in seiner Garage, er ist jetzt müde, spricht aber direkter: Es ist alles eine Sache des Taktes im Vers. Wichtig ist, den örtlichen Akzent und Rhythmus aufzunehmen und dann in dem Idiom zu schreiben, Ich weiß nicht mal, ob Paterson Dichtung ist. Ich habe keine Form, ich versuch nur, die Zeilen zu Bildern zu pressen.
Audens Nones gefielen mir. Alle Zeilen in jeweils anderem Rhythmus, variabel, klare Gedanken, fast alle Zeilen (er hält seine Hände parallel vor sich) ganz unterschiedlich, mit kleinen Variationen in jeder Zeile.
Meine Briefe: Mir war peinlich, sie zu sehen. Das erste, was von mir gedruckt wurde, sagte ich. Sie sind egoistisch. Er: Naja, sieh dir doch mal Stevens’ erste Briefe an, die frühen Briefe an Marianne Moore.
Ich kam mir ganz groß vor. Er: Ja, egoistisch stimmt. Aber das ist ja so, darauf kann man dann zurücksehen. Wenn man jung ist, ist man egoistisch. Ein junger Man muß einfach immer nur an sich denken, das muß nun mal so sein.
Ist es dir denn recht, mit den Briefen? Aber sicher, sagte ich, ich bin erfreut, hocherfreut. Es sieht nur komisch aus. Kein Weltuntergang, gedruckt zu werden. Bedeutet A.P. Allen Paterson? Er: Nein, A. Poet. Vielleicht hätte ich deinen Namen einsetzen sollen? Ich werd es allen Leuten sagen. Ich sagte: Und ich kriege nichts davon ab? Er: Na gut, ich versprech dir ein Exemplar. Signiert? sagte ich.
Langes Gespräch über die Aufgabe der nächsten Generation: es muß ein Maßstab für die Zeile gefunden werden. Darüber ist nichts Treffendes geschrieben worden, sagte ich. Du solltest was darüber schreiben, das ist nötig, damit Leute wie ich nach Mustern suchen, wo es keine gibt. Vielleicht werde ichs noch, sagte er…
Allen Ginsberg, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Aus dem Amerikanischen von Bernd Samland
Bordertown
– Aus einem Gespräch–
William Carlos Williams hat mich enorm beeinflußt. Als ich beim Militär war, 1952, 23 Jahre alt, hatte ich einen kurzen Text mit dem Titel „Bordertown“ geschrieben, in dem es um einige Soldaten geht, die auf Urlaub in einer mexikanischen Grenzstadt sind.
Nach meiner Entlassung aus der Army beschäftigte ich mich zum erstenmal ernsthaft mit Williams, vorher hatte ich zwar schon von ihm gehört, aber nur einige Gedichte in Anthologien gelesen. Ich wußte also gar nicht, wer er war. Aber dann las ich, Ende 1955, Anfang 1956, einen gerade veröffentlichten Lyrikband von ihm, dessen Titelgedicht, „The Desert Music“, von Williams und einer Gruppe Freunde handelt, die in eine mexikanische Grenzstadt fahren.
Als ich dieses Gedicht las, erinnerte ich mich an meine Skizze „Bordertown“, nahm mein Herz in beide Hände und schickte Williams den Text mit einem Brief in dem ich schrieb, wie mich sein Gedicht beeindruckt hatte und daß es ihn vielleicht interessieren würde, meine Skizze zu lesen.
Williams ermutigt Sorrentino und lädt ihn zum Abendessen ein. Damals schreibt er am fünften und letzten Buch von Paterson, in das er Briefstellen und kurze Texte anderer Autoren einarbeitet. So fragt er auch Sorrentino, ob er einige Seiten aus „Bordertown“ für Paterson verwenden darf. Der angehende Schriftsteller fühlt sich natürlich geschmeichelt und erlaubt es ihm.
Als mich dieser Brief von Williams erreichte, saß ich wirklich in der Tinte. Ich war furchtbar pleite und kannte keine anderen Schriftsteller. Ich wußte überhaupt nicht, was ich eigentlich wollte. Ich hatte schrecklich viele Gedichte geschrieben und begann gerade mit Prosa, aber kein Mensch wollte irgendwas davon veröffentlichen. Ich hatte damals so gut wie kein Selbstwertgefühl, und da machte es mir großen Mut, daß mich Williams für einen guten Schriftsteller hielt. (…)
Als ich Williams kennenlernte, war er schon ein alter Mann und hatte zwei Schlaganfälle hinter sich.
Er fragte mich, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente. Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals gemacht habe, ich glaube, ich arbeitete in einem Lager. Williams sagte, ich weiß, das muß sehr hart für Sie sein, und bestimmt sind Sie wütend, weil Sie lieber mehr Zeit an Ihrem Schreibtisch verbringen würden.
Es hat aber auch etwas Gutes, wenn man sich jeden Tag seinen Lebensunterhalt verdienen muß. Es läßt eine seltsame Kraft in einem entstehen, und diese Kraft übersetzt sich oft in Energie zum Schreiben. Er wisse nicht, weshalb das so sei, aber es habe vielleicht etwas mit der Wut zu tun, die man täglich bei der ungeliebten Arbeit empfinde. Diese Wut könne einen aber auch umbringen oder Depressionen erzeugen, so daß man nie etwas schreibe. Aber wenn ich ein wirklicher Schriftsteller sei, dann würde ich auch schreiben (…)
Gilbert Sorrentino, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Aus dem Amerikanischen von Denis Scheck
– Zeitgenössische Stimmen über Paterson. –
Paterson, Buch Zwei
Paterson, Buch Zwei, ist ein innerer Monolog. Ein Mann verbringt einen Sonntag im Park von Paterson, New Jersey. Er denkt und sieht sich um; sein Geist betrachtet, beschreibt, kommentiert, assoziiert, hält inne, stammelt und fliegt umher wie ein Glühwürmchen, nur von seiner Umwelt gebunden. Der Mann ist Williams selbst, irgendein Einwohner Patersons, der Amerikaner, das maskuline Prinzip – eine Art Jedermann. Sein Monolog wird von Prosabrocken unterbrochen: Absätzen aus alten Zeitungen, Lehrbüchern und den Briefen einer zerrissenen und zerreißenden Dichterin. Dieses Material hat der Autor lediglich ausgewählt. Daß die Dichtung es roh zu verdauen imstande ist, ist ein Maß ihrer Kraft und Kühnheit – der Kühnheit der Naivität; denn nur ein knapper Stil, mit Erfahrungswelten dahinter, konnte solchen Verzicht leisten und vor dem Anthologen zurücktreten. Die didaktischen Kapitel von Moby Dick haben eine ähnliche Funktion, sie sind der Fels, auf den sich Captain Ahabs Kampf stützen kann.
Der Park ist Jedefrau, irgendeine Frau, das feminine Prinzip, Amerika. Das Wasser, das über den Wasserfall vom Park nach Paterson hinunterrauscht, ist das Prinzip des Lebens. Der Fels ist der Tod, Negation, das Nein; behauen und geformt, steht er für die Phantasie, „wie eine Heuschrecke aus rotem Basalt, lang wie ein Stiefel mit Fensteraugen“. Die Symbole sind nicht allegorisch, sondern lose, intuitiv, und proteisch.
In Paterson geht es wie in Hart Cranes Marriage of Faustus and Helen um die Ehe. „Strenge der Schönheit ist, was wir suchen.“ Alles in dem Gedicht ist maskulin oder feminin, alles strebt der Ehe zu, aber die Ehen kommen nie zustande, außer in der Phantasie, und auch dort nur in abgeschwächter, fragmentarischer, ungewisser Form. „Scheidung ist das Zeichen von Wissen in unserer Zeit.“ Die Menschen „spiegeln nichts als rohe Schönheit wieder… wenn es nicht Schönheit ist, irgendwo, so schamlos im Verlangen.“ „Die häßlichen Beine der jungen Mädchen, Kolben, zu mächtig für Zartgefühl“; „nicht ohne Würde“; „in der Arbeiterklasse ist es zu einer Art Zusammenbruch gekommen.“ Der Prediger im zweiten Abschnitt, begleitet vom „eisernen Lächeln“ seiner drei nicht mehr ganz jungen Schüler, von „Bänken, auf denen einige Kinder von den anderen abgestellt worden sind, damit sie nicht weglaufen“, „geht in die Knie und richtet sich mit der ganzen Kraft seiner Bestimmung wieder auf – wie Beethoven, wenn er aus einem Orchester ein Crescendo herausholt“ – wenig effektiv, jämmerlich und ein bißchen verlogen. Er hat, jedenfalls behauptet er das, ein Vermögen ausgegeben und gegen den unendlichen Reichtum unseres Herrn Jesus Christus eingetauscht. Als ironisches Gegenthema in seine Predigt eingestreut ist Alexander Hamilton, dessen fruchtbare Phantasie die nationale Schuld ersann und Paterson eine Zukunft als großes Produktionszentrum prophezeite. Niemand gewinnt. „Die Kirchtürme bieten immer noch ihren Witz gegen den Himmel auf.“ „Die Felsplatte, von den Nägeln der Stiefel der Ausflügler mehr zerkratzt als der Gletscher sie zerkratzte.“ Die großen Industriellen sind „jene verbrecherischen Schufte, die uns zu zerstören versuchen.“ Die Gesetzgeber sind „unter dem Müll, unwissend, unfähig, sich Wissen beizubringen.“ „Eine orchestrale Dumpfheit bedeckt ihre Welt.“ „Die Sprache, zungenlahm… Worte ohne Stil!“
Soweit die harte Betrachtungsweise. Ihr entgegengestellt ist die humorvolle: die Hunde, die Kinder; reizende Bruchstücke von Naturbeschreibungen; das Gefühl des Autors für das Menschliche und Sympathische in seinem Volk.
Williams ist als Vertreter des Imagismus bekannt, als photographisches Auge; in Buch Eins hat er „Keine Ideen außer in Tatsachen“ geschrieben. Das ist irreführend. Sein symbolischer Mann und seine symbolische Frau sind Hegels These und Antithese. Sie streben nach Synthese – Ehe. Vollständigkeit aber gibt es nur, wenn überhaupt, in einfachen Dingen, Bäumen und Tieren; und so wird Williams wie andere Platoniker auf die „Idee“ zurückgeworfen. „Und keine Weiße (verloren) ist so weiß wie die Erinnerung an Weiße.“ „Der Stein lebt, das Fleisch stirbt.“ Die Idee, Schönheit, muß vom Dichter dort erkannt werden, wo er lebt, in Paterson. „Versöhne dich, Dichter, mit deiner Welt, sie ist die einzige Wahrheit“, auch wenn die „Liebe“ dafür „keine Trösterin ist, eher ein Nagel im Schädel.“
Paterson ist ein Versuch, das Amerikanische Gedicht zu schreiben. Es beruht auf dem amerikanischen Mythos, einem Mythos, der unserer Literatur selten fehlt – er ist Teil unserer Macht und Teil unserer Hybris und Verdorbenheit. In seiner krassesten Form ist der Mythos Propaganda, aufgebläht und Fratzen schneidend: Größe, Stärke, Vitalität, der Einfache Mann, die Neue Welt, Lebendige Rede, die Maschine; die scheußlichen neurömischen Charaktere; Demokratie, Freiheit, Liberalität, der Mais, das Land. Wie hohl, wie leer und träge all dies einem phantasievollen Menschen aus einer anderen Kultur erscheinen müßte! Aber der Mythos ist eine ernste Angelegenheit. Er wird von Emerson, Whitman und Crane übernommen; von Henry Adams und Henry James. Auf Gedeih und Verderb, Amerika ist etwas Riesenhaftes, Krasses und Römisches. Wir kommen nicht daran vorbei, uns in unserer Geographie, Geschichte, Zivilisation, unseren Institutionen und unserer Zukunft einzurichten.
Die Themen großer Dichtkunst waren normalerweise Charaktere und Leidenschaften, der moralische Kampf, der die ganze Persönlichkeit eines Menschen in Anspruch nimmt. Man denkt an den Zorn des Achilles, an Macbeth und sein Gewissen, an Aeneas, der überlegt, ob er Dido verlassen oder Turnus töten soll. Aber in den besten langen amerikanischen Gedichten – Grashalme, Cantos, The Waste Land, Vier Quartette, The Bridge und Paterson – gibt es keine Charaktere, die hinreichend Gestalt annehmen, um zu einer Krise zu gelangen. Die Menschen verschmelzen zu Stimmen. Eliot hat kürzlich in einem Essay seine Gründe dafür dargelegt, warum ein Autor vielleicht Milton lesen sollte; Williams hat darauf mit einem Essay geantwortet und Gründe vorgebracht, warum ein Autor Milton nicht lesen sollte – Eliot und Williams könnten aus Paradise Lost und Samson Agonistes lernen, wie Milton seine Wüste bevölkert hat.
Bis zum Erscheinen der Bücher Drei und Vier sollte man Paterson sicherheitshalber mit Gedichten vergleichen, die ihm ähnlich sind; nicht mit The Bridge, diesem wunderbaren Ungeheuer, unausgeglichen und unerfahren – das in seiner Rhetorik zuweilen nicht minder betäubend wirkt als Keats; sondern mit einem Buch, in welchem seine Bewunderer, wie sie sagen, alles finden: Grashalme. Whitman ist ein bedeutender Dichter, und ein bedeutender Mythos. Ich vermag das eine nie ganz vom anderen zu trennen. Ich würde sagen, Whitmans Sprache besitzt weniger Vielfalt, Entschiedenheit und Energie als die Williams’; seine Phantasie ist relativ weich, formlos, eintönig und vage. Was Mitgefühl und Begeisterung angeht, sind beide Dichter stark, aber bei Whitman sind diese Eigenschaften oberflächlich und unscharf.
Paterson ist Whitmans Amerika, bemitleidenswert geworden und tragisch verroht durch Ungleichheit, zerrüttet durch industrielles Chaos, mit seiner Auslöschung konfrontiert. Kein Dichter hat je mit einer solchen Kombination aus Brillanz, Anteilnahme und Erfahrung darüber geschrieben, mit solcher Wachsamkeit und Energie. Weil es ihm mehr um Verständnis als um vernichtende Kritik gegangen ist, und weil er sich in seiner Reife mit dem „Rohen“ und dem Allgemeinen beschäftigt hat, ist sein Paterson nicht die Tragödie des Außenseiters, sondern die Tragödie unserer Zivilisation. Ein Buch, in dem die besten Leser genau wie die einfachen Leser sehr wahrscheinlich alles finden werden.
Robert Lowell, 1948, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Brief an Robert Creeley
lerma, campeche, mexico, 8. märz
Dn Brief! Wie der sich placierte. Folgendermaßen: (1) eintraf genau bei Sonnenfinsternis (1/2); (2) eintraf auf dem Höhepunkt langer Plapperei mit Con während welcher… ich folgenden Vorschlag gemacht: daß Kukulkan gg. die Chichimec der wahre Kampf war, nicht die Spanier, und daß ich vorschlug, wieder anzuknüpfen, jetzt hier, über das Leben dieses gewaltig großen Mannes, und zu Con sagte, bei seinem dermaßen häufigen Vorkommen in Kodizes, Fresken, Steinmetz- und Stuckwerk müsse es wohl möglich, oder mehr, sein, ihn wiedererstehen zu lassen, wie dieser Barlow da, von Mss. ausgehend, selbiges bei Montezuma zu machen suchte:
hatte gerade ges: „hab vergessen, dir zu erzählen, daß ich in Champoton, letzten Sonntag, nachdem du den Bus genommen hast, da mit einem Barjungen ins Gespräch kam, und wie ich üb die Isla Cuyo (die jetzt im Meer stehenden Überreste der Pyramide, die K dort für sich errichtete, nachdem er Tula-wärts abgegangen, wie er sein Werk hier erledigt) redete, ich die Idee hatte, daß, daß er die Vorstellungskraft besaß, im Meer zu bauen, ein weiteres Zeichen für seine Einzigartigkeit ist“ (wobei ich mich fragte, wie wohl die Beziehung aussehen mochte zwischen selbigem Akt und (1) dem Fakt, daß die Maya hier umzu ihre Städte (im Gegensatz zu allen seitherigen) auf den Hügel übers Meer packten („Señor gusta monte“, sagte die Lady, v welcher, Bananen, auf der Straße in, eines Tages), (2) der Insel Jaina, eben über uns hier, ungef so weit nördlich von uns, wie Champoton südlich liegt, und noch nicht aufgesucht, weil man übers Meer hin muß (hatten wunderschöne Handarbeiter in Lehm), und (3) daß an der Ostküste die große schöne Örtlichkeit TULUM ist, und die Insel Cozumel (laut Karte, gestern reingek aus Tulane, sind die Bauten auf Cozumel reichlich ((schlage vor, hinzufahren, falls sich das drehen läßt: drei Tage per Segelschiff von Progreso aus))
als BRIEF-BLITZ reinschneit, mitten in einen unwiederholbaren Kontext – (1) das Rumoren draußen, wo alle, alle, Kids & Große, die Finsternis beobachteten, ganz aufgeregt (Gegensatz zu Staaten, ungef 1930, als totale Finsternis und, augenscheinlich, bloß ich und Vögel uns dessen bewußt, bis es plötzlich dunkel war) hier, ohne echte Lichtverminderung, und doch, jedermann, diese Nachkommen von Astronomen, als welche niemand effektiver als ein gewisser Kukulkan, augenscheinlich ((der Monat CEH, welchen ich, glaub ich, im letzten Brief als SEINE neue Feuerzeremonie identifizierte – Spinden datiert die Einrichtung auf 1168 mit Tag-1-Messer, als Keine neue Jahreszählung einführte als Jahr-1-Messer, und im Jahr-2-Rohr, 1194–95, verkündete er, die Feuerzeremonie müsse in Abständen von 52 Jahren 37 begangen werden)) sie alle ohne Ausnahme, mit geschwärzten Gläsern und alten Filmen und eingerollter Zeitung, allem möglichen, am schauen, nach oben; (2) das Gespräch, ich immer noch am rumfuhrwerken, diese Sachen
&
(3) CARLOS KOMMT REINSPAZIERT MIT DNR NACHRICHT, DNR NACHRICHT, BRU, VON K & einem Seepferd (denn selbiges Ding, ein Seepferd, ist auch korrekt: benutzt als Fetisch zum Festklemmen dnr Briefe bei dem Wind, der hier durchs Zimmer fegt, was hab ich da, hab ich gehabt seit dem dritten Tag nach Ankunft, als Geschenk von einem Jungen, den ich nicht mehr gesehn seit? und selbiges Ding war mir wieder &. wieder im Sinn, leicht ist’s, und ich würd’s gern an dich & Ann & Kids schicken als ZEICHEN, tat’s aber nicht weil nämlich, was einzuschachteln scheint jenseits von gut & böse, denn einen Brief wegzukriegen, sagen wir eine Postanweisung, hat sich schon als mörderisch erwiesen: eine für ein Buch aus Merida schon verlorengegangen!
Und jetzt ist es zu spät. Denn du hast es, bereits. Und hast’s mir zum Geschenk gemacht! Wunderbar. Und sag Slater von mir, er ist HEISS. Glaub ich jedenfalls, jetzt so langsam, mit dem, was am gange ist:
Laß mich zurückgehen.
I: Warum stelle ich mich immer noch quer, die Nominierung loswerdend, so daß historisches Material jetzt frei ist für Formen:
Ez’ Epos löst Problem durch sein Ego: seine Einzelemotion staucht alle zusammen zu ihm Ebenbürtigen oder Unterlegenen (soweit ich sehe, läßt er nur zweien, vielleicht, das Recht, ihm überlegen zu sein – Konfuzius & Dante. Welchselbige Annahme, daß es intelligente Burschen gebe, die er niederschwatzen kann, eine wunderschöne ist, weil sie die historische Zeit zerstört und so die Methodologie der Cantos erschafft, nämlich: ein Raum-Feld, durch das er, per Inversion, obwohl das Material ganz und gar aus Zeitmaterial besteht, so scharf mit dem Spitzschnabel seines Ego hindurchgejagt ist, daß er die Zeit in das verwandelt hat, was wir nun nötig haben, den Raum & seine lebendige Luft
((Sekundärkontrast dazu ist Joyce, der, wie mir jetzt dämmert, keinen Fortschritt brachte gegenüber Duns Scotus Erigenus oder den Iren jener Zeit, die Iren waren die Kulturbosse, wann war das noch, 7.–9. Jahrhundert, oder sowas: er versuchte, dem Problem beizukommen, indem er eine Sprache mit der andern kollidieren ließ, um so eine Universalsprache des Unbewußten zu schaffen. Was am Ende Mus & Scheiße ist, heute, heißt das. Keineswegs, damals, DSE oder die Irländler, denn damals war Europa, in Sprache & Traum gleichermaßen, von jener Art.
(((weiter hin: Joyce, der Handlungsreisende: die Anbetung von IARichards – durch die selben Leute, nur zu passend, die Joyce verhohnepiepeln – ist da aufrichtiger: das heißt, daß diese Internationalisierung der Sprache für den Kommerz heute viel relevanter ist als für das Problem des Ästhetischen.
((((das ganze hier eine bessere Art, zu sagen, er: BEENDIGER)
der Primärkontrast ist, für unsere Zwecke, BILL: sein Pat ist exakt das Gegenteil zu Ez’, das heißt, Bill HAT ein emotionales System, das jener Ausbreitungen und Verdichtungen fähig ist, die das Ego-System (der Alte Deal, Ez als Cento-Mann, rührt hier her) nicht leisten kann. Aber indem er seinen Stoff als geschichtlichen einer einzigen Stadt anlegt (der Joycesche Deal), übertrifft Bill sich ganz & gar selbst, läßt er sich von der Zeit niederwalzen, wie Ez das nicht tut, und trägt so, was das Wichtigere ist, die Methodologie, gar nichts bei, verzögert tatsächlich nur, hindert, hemmt, weil er sich nicht durch eben jenes Problem hindurchgebrochen hat, dem Ez auf so brillante Weise entgegengetreten ist, & das er packte
Was dich – wenn mein Mundwerk die Worte dafür parat hätte heut Morgen – bewegen sollte, einzusehen, warum ich auf Nominierung herumreite, und zwar folgendermaßen:
jede der obigen Aufgaben sind HÄLFTEN, das heißt, ich gehe davon aus (1) daß das EGO ALS SPITZ-SCHNABEL gebogen & gebrochen, freilich (2) was es auch sei, das wir als dessen Ersatz bezeichnen können (Bill sehr viel davon in Spuren), BIS JETZT noch nicht in der Lage WAR, irgendeine Zeit auf unsre Höhe so zu hieven, daß wir in dieser Luft des Gegenwärtigen uns befinden und geradewegs, aus uns selbst, hinausgehen, und da hinein
Siehst du, ich folgte dir, bißchen her, als du, in Reaktion auf Tarot & Maya, ges hast, klar, & so sieht’s aus, was du oder irgendwer nur heiß macht, das ist heiß. Klarer Fall.
Vielleicht diskutiere ich, wie schon mal ges, bloß mit mir selbst, das heißt, ich versuche rauszufinden, wie man die Materialien, an denen ich interessiert bin, werfen muß, daß sie einschlagen, und zwar mit der ganzen Wucht einer korrekten Methodologie UND MITSAMT DER ALTERNATIVE ZUR EGO-POSITION
Ich gewöhne mich immer mehr an den Gedanken, es laufe auf folgendes hinaus: Kultur, die den Staat ersetzt. Was meine Vermutung ist auf die Frage, warum Ez sich so platt anhört, wenn er bloß so redet, wenn er sich außerhalb der Cantos befindet, sagen wir mal, sein Spaziergänger da, als weichselbigen es, freilich, bis jetzt keinen besseren gibt
(so vieles an Ez ist die Haltung des 19. Jahrhunderts:
PROTEST, (Dahlberg ist der Witzbold, von der selben Sorte: die würd beide liebend gerne, wer war’s noch, Lousie XIV, gewesen sein, „I’état, c’est moi“?
was mich zur Weißglut bringt, ist, daß sie, wenn sie auf den Staat oder die Wirtschaft einschlagen, im Grunde nie für wen anders als sich selber sprechen. Und das ist die reine Boheme-Haltung und viel zu spät, ungef genau so spät wie vorher schon Fourier, Marx & Nietzsche, um die richtigen Typen noch gar nicht zu erwähnen, also, Riemann oder die ganzen Geometer da, die wirklich Neuland betreten haben
Obwohl man freilich hier auch Ez was zugestehen muß: daß er KULCH geschrieben hat
Was uns zurückbringen sollte auf II, oder: Kulkulkan. Nämlich folgendermaßen: der Grund, warum das Problem hartnäckiger ist als Ez’ Wurf oder Bills Scheitern, ist, daß die Verschiebung SUBSTANTIELL ist (es entzückt mich, feststellen zu dürfen, daß hinter dem Wort auch ein anderes, mit der Bedeutung „Hauptwort“, versteckt ist!)
soll heißen, ein weiterer Grund, warum ich nicht glaube, Ez’ Tukan funktioniere nach 1917 noch, ist, daß, nach jenem Datum, die Materialien der Geschichte, welche er für nützlich befunden hat, ganz und gar nicht von Nutzen sind (ebensowenig sind’s diejenigen Bills, trotz der augenscheinlichen Homogenität: Zeit 1917, nicht bloß trat Yurrup (West, Cento, Renaissance) ab, sondern auch das Blaubeer-Amerika, wie Bill es ausbreitet (Rauch vom Jersey-Schleuderkram verhüllt selbiges), ist ABGETRETEN (soll heißen: Bill, bei allem Respekt, weiß nicht a d Nichts, was eine Großstadt ist)
welchselbiges folgendes besagt: daß die Stoffe der Geschichte, die heute nützlich sind, außerhalb, unterhalb, eben hier, irgendwo liegen, aber in direkter Fortsetzung der Gesellschaft, wie wir sie gekannt haben (des Staates, gleichfalls, der Wirtschaft, gleichfalls, der Politick: Ez ist ein Verräter, wie es Dante, gegenüber Florenz, war: die Differenz von F zu USA ist überhaupt keine Differenz, abgesehen vom Vergehen von Zeit & von der Zeit trostlosen Akkumulationen durch Wiederholung
(((einiges von dem hier muß gewesen sein, was Razl meinte, als er ges hat, GESCHICHTE IST UNIVERSELLE GLEICHFÖRMIGKEIT)))
(Bemerkung: Ich bemerke, daß ich unterstelle, Geschichte sei das Primäre, sogar jetzt gerade. Ich unterstelle, sie sei es. Ich unterstelle, dieses eine – des Menschen Neugier betr was seine Zopalotenbrüder für welche gewesen sind – dringe geradewegs aus jener vorherigen Zivilisation zu uns durch, und sei der eine Faden, an den wir uns verdammt nochmal besser klammern sollten. Und der einzige.
Vielleicht, weil sie etwas ebenso Primäres ist, wie, eine Finsternis?
Der Stoff hat gewechselt. Punkt. ABER: wir sind, wie’s die Menschen auf ewig sind, mit der PHASENVERSCHIEBUNG konfrontiert. Unsere Mitbürger, denk ich mir, lassen sich von jedem Substantiv spielend leicht verschrecken, das ein paar Z oder X enthält. (Nicht wiederum, daß es, auf diese oberflächliche Art, ein gottsverdammtes bißchen ausmachen würde: sprengt sie in die Luft. Recht so. Was ich sagen will, das ist bloß, daß der Gebrauch lauter X und Z für die Schwierigkeiten verantwortlich ist, die John Adams oder King Fu Sze oder sogar Omeros nicht heraufbeschworen. ((Oder ist das jetzt bloß ein bißchen Spitzfinderei & Verdrießlichkeit, die man kriegt, wenn die Arbeit nicht erledigt ist und man stattdessen darüb schwadroniert.))
((Macht auch nichts. Denn wie du vermuten würdest, läuft die ganze Operation andersherum, läuft die tatsächlich aufs Gegenteil hinaus: wie ging’s denn diesem Kukulkan, wie geht’s dir, Mister C)))
Wie kann ich an diese Injaner anknüpfen – soll heißen, wo doch Stephens, Prescott, Parkman an sie vor bei 100 Jhr nicht so angeknüpft haben, daß sie sie, im selben historischen Augenblick wie ein gewisser H. Melville, hätten hängenbleiben lassen, so wie er, Pazifika? Was ist da falschgelaufen – oder, gleichermaßen, Sumerien. Oder mao. Oder usa, heutzutage.
NEIN. Tilge obiges. Irgendwo bin ich vom Methodologischen abgekommen (…)
Charles Olson, 1953, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Wortkrank und ortsversessen
Bücher sind wilde Tiere oder Brackwasser oder tote Hohlwege. Es ist schwer heutzutage, ein Buch zu finden, auf das man sich verlassen kann und in dem der Zweig ein Ast ist und Vogel Vogel und der Apfel wie ein Apfel spricht. Mehr denn je sind die Bücher Mischmasch und Dreck, und wenn auch in jedem Dichter Fäulnis und Schweinsgekritzel stecken, so sind doch die alten levitischen Unterschiede zwischen vom Schwamm befallenen Örtlichkeiten und unreinlichem froschigem Kram und Erdbeerbaum und Levkoje dahin. Da steckt so viel vom Löwen- und Schakalsunheil in unserer Moral, und der Mensch ist bestenfalls, wie Hamlet sagt, leidlich ehrlich, daß der Dichter bei einfachen und schlichten Dingen nicht mehr hausbacken und schlicht ist.
Er ist wie William Carlos Williams, der Dichter des Paterson Rock, der uns mit Kunstgeschick und Erfindungsreichtum bedient statt mit dem Hochzeitswein von Kana. Seine ursprünglichen Bücher sind medusisch, dazu angetan, die Köpfe einer Generation in Stein zu verwandeln, und Paterson und The Later Collected Poems sind gesetzlose Kunst. Paterson, von dem er sagt, das sei Lokalstolz, ist ein Vokabelbuch für den fahrenden Dichtergesellen, und seine schwierigen Flußvokabeln werden dem Leser viel Freude machen.
Sokrates hat einmal gesagt, der Mißbrauch von Wörtern verursache Böses in der Seele, und diese bemerkenswerte Feststellung kommt dem Problem des Paterson-Gedichts sehr nahe; Williams besaß eine kriegerische Leidenschaft für den Satz – seine Formulierungen verfügen über die Feuerkraft eines automatischen Revolvers. Rauhes Berglergeschick oder das, was wir poetischen Erfindungsreichtum nennen, kann die Seele des Ganzen erschlagen. Originalität ist häufig eine stiefmütterliche Muse, die ihre Brust dem Falken und dem Berg gibt, und ist der große Fluch unserer Literatur; es steckt ein Übermaß an Originalität in Paterson.
Williams war ein froststarrer Fluß-und-Felsen-Kerl, der ein hoch bemerkenswertes heißes Buch geschrieben hat, In the American Grain. Aber unsere talentiertesten Schriftsteller haben viel zuviel Seewasser in ihren Köpfen, und sie alle waren kalte Burschen. Es möge genügen, wenn ich hier nur Thoreaus Walden und A Week on the Concord and Merrimack Rivers erwähne, denn die Titel dieser wunderbaren Bände sind ein hinreichender Nachweis ihres Inhalts. Melvilles Moby-Dick ist ein erstaunliches, freilich unmenschliches Meisterwerk. Schiefer- und Flußbücher sind keine Weisheitsliteratur. Hawthorne, der eine ebenso arktische Seele besaß wie Thoreau, beklagte sich über seine nordische Natur. In The Christmas Banquet schreibt Hawthorne, daß innere Kälte die schlimmste Geißel des Herzens sei; und doch ist der schwächliche, sündige Mann Hester Prynnes in Der scharlachrote Buchstabe Chillingworth.
Die frühen griechischen Denker glaubten, wo zu viel Feuchtigkeit sei, da sei Ungerechtigkeit, und sagten, der Mensch sei ursprünglich ein Hochseehai gewesen; sei das nun eine zutreffende Lehre oder nicht, eine ungewöhnliche Wahrheit über die Menschen ist es jedenfalls. Man sehe sich deshalb vor vor diesen wilden wässerigen Burschen in der Literatur und vergesse nicht, daß Odysseus ein jämmerlicher Kerl ist, bis seine unglückliche Wasserreise an ihr Ende kommt, und daß er sich weniger nach Penelope verzehrt als vielmehr nach Ithaka, seinen Schweinen, Schafen und Früchten.
Ein Dichter muß eins sein, einen einzigen Gott haben, der Willen und Zweck seiner ganzen Natur bestimmt. Wir stellen uns vor, ein Schriftsteller sei Diogenes und Herkules zugleich, schonungslose Rede und eine moralische Kraft. Ohne Herkules’ Löwenhaut und Keule sind die Philosophie und die Dichtung und die Wissenschaft betrügerisch, lasterhaft und willenlos. In Paterson und The Later Poems halten wir vergebens nach moralischer Willensstärke Ausschau, denn die Felsen, die Festigkeit simulieren, sind Unmenschlichkeiten, und das Wasser ist der Tod.
Heraklit sagt, zuviel Feuchtigkeit sei der Tod der Seele. Es ist wahr, daß Dichter mehr schwankendes Wasser in sich haben als andere Denker; Plutarch ist vertrauenswürdiger als Shakespeare. Bei Plutarch kann man sich über die liederlichen Laster solcher Lumpen wie Antonius und Cleopatra nicht hinwegtäuschen, aber bei dem großen englischen Dichter herrscht Anarchie genug, um den Leser in die Irre zu führen, und diese Wüstlinge werden zu pfauengefiederten Fatzken mit staunenmachenden asiatischen Gelüsten, die Shakespeare uns zu bewundern zwingt. Jage freilich war von eindimensionalem Charakter, der rußige Goneril ist eine Einheit und Timon aus einem einzigen Stoff.
Der amerikanische Dichter ist eine Doppelung, seinem Wesen nach ein Chamäleon, und er hat moralische Doppelhände, aber ganz anders als der Philosoph Charles S. Peirce, der seine Fragen mit der einen Hand niederschrieb und sie mit der andern beantwortete. Bei Williams ist es ganz unmöglich, herauszufinden, wo seine Zuneigung oder seine Moral liegen; er wechselt so unablässig seine Gestalt, daß er dem stets sich wandelnden Schuldner in der Komödie des Epicharmos gleicht, der sich weigert, seinen Gläubiger auszuzahlen, weil er, wie er sagt, gar nicht mehr die Person sei, die das Geld geliehen habe. Wir können Williams moralisch nichts schuldig bleiben, weil wir gar nicht wissen, was für einen Kredit er aufgenommen hat, sei es durch Leugnung, sei es geradeaus mit einem ehrlichen Ja.
In der Kunst ergibt, wie Dostojewski schrieb, zwei plus zwei fünf, und darauf fußt der untergründige Nihilismus des modernen Menschen; aber der Moral zufolge sind zwei und zwei immer vier. Die Unterscheidung zwischen Kunst und Ethik darf nicht so bedeutend werden, daß sie es fast unmöglich macht, den Unterschied zwischen dem Falschen und dem Wahren, zwischem dem Acheron und der weichen, wachsenden Erde zu erkennen. Entweder wird ein Dichter zu unserer Gesundheit beitragen, oder diese ganze kranke Wasserlyrik treibt uns in den Wahnsinn.
Wir können einem Dichter kein Credo und keine Religion auferlegen, aber er muß eine einheitliche Persönlichkeit aufweisen, oder wir kriegen einen höchst trostlosen pluralistischen Moralkodex, eine Moral für jede neue Gelegenheit. Noch die schäbigsten Kyniker in Athen verfügten über ein paar Linsen-, Lupinen- und Thymianregeln, nach denen sie lebten und an denen sie erkannt wurden. Man findet diesen winterfesten Proviant an Grundsätzen und Gebräuchen bei Homer und bei jenen philosophischen Hunden, die unter öffentlichen Portalen schliefen und kohabitierten und ebenso ohne Wohnstatt, Bettdecke und Obdach waren wie das Paterson-Gedicht und deren einer seinen Schülern das folgende Rezept angedeihen ließ: „Tut zehn Minas für einen Koch beiseite, eine Drachme für den Doktor, fünf Talente für einen Schmeichler, ein Talent für eine Hure, drei Oboli für einen Philosophen.“
Das ist die Art Rezept, die wir bei einem Dichter oder Denker Stil oder Form nennen, und ob es nun für gut befunden wird oder nicht: es ist doch jedenfalls ein klares. Wir tadeln den Menschen weniger für ein Prinzip, mit dem wir nicht konform gehen und das wir deswegen ablehnen mögen, als für seine Verworrenheit, die wir nicht verstehen und akzeptieren können; Verworrenheit zeugt das schlimmste. Übel in der Seele.
Es ist ganz unmöglich, herauszukriegen, ob Williams nun ein Menschenfeind ist oder nicht, denn obwohl er auf die Sprache eines Volkes zurückgreift, sind die kahlen Hügelchen, die „baumlose Anhöhe“ und die Wasserspiele in den Gedichten nomadischer Nihilismus. „Das Wasser, mit dem Stein vermählt“ ist nicht die Kühnheit des Pioniers, sondern nichtsnutziger Pessimismus und üble Misanthropie. Er ist ohne Heimat und ohne Eltern, gezeugt von Hohlwegen und stets im Freien unter „verwobenem Wurzelgeflecht“, „veraschten Schoten“, bei „Fels, Stamm und Hauern“; seine Vorlieben sind zudem so naturiert, daß er Mensch und Erde weder behausen noch beküchen noch betischen kann.
Die Wörter „Stein“ und „Fels“ tauchen achtundsiebzigmal auf und „Wasserfälle“ neunzehnmal; daneben kommen „Fluß“ und „Strom“ vielleicht sogar noch häufiger vor als die Steine, und „Schlucht“, „Felsgesims“, „Steilklippe“ und „Katarakt“ werden ebenfalls ständig wiederholt. Gegen Ende des in vier Teile gegliederten langen Gedichts präsentiert Williams uns ein Inventarium, das herzählt, welche Mengen an Schiefer und rotem Sandstein sich in den verschiedenen Tiefen eines Quells finden. Der „fanggezähnte Fels“, die „Heuschrecke aus rotem Basalt“ und die „Möwen auf dem eisbestreuten Fluß“ sehen zuerst nach Kraft und Stoizismus aus – wir halten häufig das, was bloß roh und primitiv ist, für Unberührtheit und ursprüngliche Stärke –, sind aber in Wahrheit kalte, nasse Verse.
Es sind die Briefe in Paterson, die Sonne und Blut sind, der menschliche Schrei und das Gewissen, die dem Schierer und dem Hechtkroppzeug abgehen. Die ergrimmtesten Sendschreiben werden von einer anonymen Frau geschrieben, die diesen Mann bitter tadelt, der zum Ort geworden ist, denn ein Ort kann ein Lügner sein und uns verschlingen. Die Frau schreibt, der Dichter habe ihre Gaben in irgendeine „undurchdringliche verfestigte Substanz“, in „rauhes Eis“ verwandelt. Ein ägyptischer Begräbnisweidenkorb verfügt über mehr menschliche Wärme als diese barbarischen, kalten Naturgedichte.
Um in Platos Terminologie zu sprechen: was in der Welt existiert, muß seine Entsprechung im Universellen finden, das heißt: das Pferd als Spezifikum der Welt muß durch eine universelle Pferdheit repräsentiert sein, und ein Stuhl muß seine ideale Stuhlheit haben. In Don Quichotte ist das Barbiersbecken gleichzeitig der Helm von Mambrino; wenn das eine nicht auch das andere ist, dann haben wir entweder gemeine Materie vor uns, ganz genau so, wie Williams sie hervorbringt, oder inhumane Abstraktionen, und eins ohne das andere ist Wirrwarr und Wahnsinn.
Melville schreibt in Moby-Dick „Seie du in dieser Welt, aber nicht von ihr“, womit einem Manne angeraten wäre, mit Polonius und Hamlet, Christus und Barrabas vertraut zu sein und in der Lage, den einen vom andern auseinander zu halten. Williams weist den Leser der Later Poems an, er solle mit der Welt ausgesöhnt sein, ein Ratschlag, der einen Scharlatan, einen Wichtigtuer und einen Lügner hervorbringen dürfte, und das ist genau das, was die Welt einem jeden wirklichen Dichter gewesen ist, einschließlich Jesus, der ausruft: „O, ich habe die Welt überwunden!“
Sowohl Thoreau als auch Williams finden an einem grellen Satz Geschmack; The Concord and Merrimack und In the American Grain gehören zum Kanon amerikanischer Geographie; Williams hat sich Grönland und unzivilisiertem Territorium so weit unterworfen, wie sein Wagemut reichte. Er schrieb mit tiefem Verständnis über die Pilger, die eine weite Wildnis zu erobern kamen und ihr verfallen sind.
Man nehme die folgenden Formulierungen aus den Bänden beider Autoren und versuche abzuschätzen, ob sie zu Thoreau oder zu Williams gehören: „Aale und ein Mond“, „Fels, Stamm und Hauer“, „Sassafrasbaum mit der süßen Rinde“, „baumlose Anhöhe“, „bimssteinbeschichtet“, „veraschte Schoten“, „speerspitzenschartes Gras“, „eine Pfeilspitze aus Feuerstein“, „alte Senke“. Man glaube ja nicht, diese amerikanische literarische Geographie sei von unbedeutendem Wert, schnell zu vergessen. Homer hat auch seinen Schiffs-, seinen Namen-, seinen Städlekalalog, und das sind alles Gedichte. Es gab einmal einen griechischen Komödienschreiber namens Mermippus, der im Jahre 429 v.Chr. eine Liste von Importwaren aufstellte, und das sind eßbare Verse, denn der Geist ißt, was er wahrnimmt, und seine Nahrung muß ihm zum Gedeih und nicht zum Erbrechen ausschlagen: „Häute und Gemüsewürze aus Zypern; Getreide und Fleisch aus Italien; Schweinefleisch und Käse aus Syrakus; Segeltuch und Papyrus aus Ägypten…“
Man kann sich nicht allzu lange aus den Sümpfen Thoreaus oder dem geklaubten Kies und schmuddeligen Fluß Paterson ernähren; diejenigen, die sich in diese wilde, heimtückische Schönheit verlieben, werden böse Entzündungen davontragen. Thoreau und Williams sind Grenzlandgeister mit scharfer Wind-und-Brombeer-Logik den physikalischen Untergrund betreffend, aber dieser ganze Grund und Boden ist kein Wohnplatz für die Imagination. Ich kann mit Felsen und Bäumen nicht reden, sagt Sokrates.
Man sehe sich diesen Dichter William Carlos Williams an: er ist primitiv und urwüchsig, und seine Wurzeln liegen im rauhen Forst und an gewalttätigen Örtlichkeiten; er ist wortkrank und ortsversessen. Er bewundert die Kraft, aber zu welchem Zwecke? Gewalt! Das ist der Kult des Grenzergeistes. „Das hungrige Tier als Urgrund aller andern Macht.“ Dem Grenzlandboden ist er nicht weniger unterlegen als Crèvecoeur, Fenimore Cooper, Twain und Parkman. Aber wer will denn bei diesen amerikanischen Einsiedlern über öde Hohlwege und abgerissene Krüppelkiefern lesen, nur um noch inhumaner zu sein, als man von Natur aus schon ist? Welche Shakespearesche Wahrheit oder welche Jeremiassche Vision soll da in diesen zerfetzten Nebeln und Schluchten stecken?
Paterson ist ein heimatloses Vagantengedicht; alles spielt da draußen im Freien. „Hypäthral“ heißt das Wort, das Thoreau dafür benutzt. Die Paterson-Fälle sind eisiger Nihilismus. Der Dichter sehnt sich danach, vom Felsgesims in die unheilvolle Eisflut zu springen, aber er läßt die Pfarrersfrau und einen Seiltänzer in den februarkalten Fluß fallen, und mit dem Schleppnetz werden die Leichname gefunden, eisumschlossen. „Eher das Eis als ihre Gepflogenheiten.“ Aber dies ist die furchtbare Eiskrankheit, die der Schrecken des menschlichen Tastsinnes ist und des Verstricktseins mit andern Menschen. Mehr steckt nicht hinter diesen ganzen Katarakten, den Wasserspielen und den Stromschnellen; er weiß es, aber so, wie die Tierhaut über Wissen verfügt.
Melville war ebenfalls ein gesetzloser kalter Schriftsteller; er schrieb Mardi, um sein Blut in Wallung zu bringen. In the American Grain ist Williams’ erstes heißes Buch, mit tropischen aztekischen und Florida-Indianernamen und Reptilien- und Alligatorensexualität, mit „Zuckerrohr von den kanarischen Inseln“, dem „Öl der Walnüsse…, gezapft wie Olivenöl“, „Chicaca…, mit Mais angedickt“ und „Hackbraten aus Maische und Pflaumen“. Der Jaspisfußboden in Montezumas Palast ist so asiatisch wie Menelaos’ Wohnstatt. Es kommt darin ein ganz reizender Gesang auf Raleigh vor, wo Williams schreibt:
die wahre Form entkommt im Winde, singe, O Muse…, vom Streben nach Schönheit und der Hülse, die übrig bleibt… singe, O Muse.
Aber Williams, der die tabuisierte Berührungsangst des Amerikaners gut versteht, kehrt in Paterson und in den Later Collected Poems zur „schweren, repressiven Pionierscholle des Geistes“ zurück. Es verlangt den Dichter danach, Ort zu sein, „die Lücke zwischen Berührung und dem Ding“. Aber kann die Örtlichkeit ein Urteil über Herz und Leber und Neigungen gewinnen? Wie Melville, der dem Pazifik nachgab, sagt Williams Montezuma, Joppe, Ninive Lebwohl und verschwindet im Flusse Paterson. Er ist rechtschaffen heimatlos, ohne Eltern und ohne einen Mann oder eine Frau in der Nähe; eine Beute der grimmigsten Elemente. Das ist keine kreative Metamorphose, sondern viehische Unterwerfung: das sich hinkauernde Tier nährt sich von der eigenen Klaue.
Der schreibende Ismael plagte Williams. Er verfügte über eine vorzügliche Imaginationskraft, mißtraute aber den Büchern. Er machte ein paar Beobachtungen über Dante, Jesaja und die Azteken. Wie alle Pioniere haßte Williams die alte Welt und nahm Rache an der alten europäischen Kultur. Er dachte, daß sich die Zivilisationen des Altertums hier nicht aussäen ließen, worin die Verblendung des Grenzers steckt. Melville wandte sich Hiob und Lear zu, Thoreau der Bhagavad-Gita, und Charles S. Pierce hat auf Duns Scotus zurückgegriffen. Weh dem, der irgendeine seiner höheren Fähigkeiten unerforscht läßt, schrieb Thoreau.
Kein Volk hat Maximen so sehr nötig wie das amerikanische. Der Grund dafür ist offensichtlich; das Land ist so riesig, die Leute sind immer irgendwohin unterwegs, vom Apfeltal in Oregon bis zum nordischen New England, daß wir gar nicht wissen, ob wir nun ein gemäßigter Obstgarten oder ein unfruchtbarer Himmelsstrich sind. Große Kulturen gehen von kleinen homerischen oder hebräischen Inseln aus; unsere Größe hat uns einen solchen Schwindelmaßstab eingetragen, daß wir für Mitleid oder Kummer oder für andere zu groß sind.
Ist einem Menschen eine Gabe verliehen, auf daß er sie für sich alleine gebraucht? Was unserm Genie am meisten fehlt, das ist die Eigenschaft, einfach zu sein. Wenn das klar ist, dann wird ein Dichter seinen Kopf nicht verleugnen, wie Williams das tat, nur weil der den Upanischaden zufolge wie ein Rabennest riecht. Er wird nicht wie Williams die Gewalt als seine Braut in die Arme schließen.
Wenn ein Dichter ein paar standhafte moralische Leitsätze am Leibe hat, dann kann er nach Belieben Metaphern drechseln, soviel er mag, denn ihm wird klar sein, daß Bücher die Lilien und die Vögel sind, die mehr sind als Gewandung und Fleisch.
Wir müssen zu In the American Grain zurückkehren, dem Genie der wilden und primitiven Blume in Williams. Er erzählt uns eine dunkle Parabel, und er war der erste, der die amerikanische Geschichte als Fabulist umspannt hat. Er erzählt, wie die Entdecker kamen, um hier die alte europäische Seele einzupflanzen, und obwohl sie alles umbrachten und unterwarfen, waren sie es doch, die von dem primitiven Fluß und Berge versklavt wurden. Die Pflanzer waren grimmige Männer aus Eis, Erik der Rote, Hudson, La Salle, Cartier, De Soto, Raleigh.
Wir halten christliche Widerstandslosigkeit für archaische asiatische Weisheit und können nicht verstehen, von welch alter Lehre der wackere Montezuma gewesen ist, der sich Cortez und einer jämmerlichen kleinen Bande unterwarf, ihm Rubine, Gold, Smaragde gab und wußte, was seit jeher indianisches Wissen gewesen ist, daß nämlich der Eroberer der Sklave sein wird. Sogar die aztekischen Namen – Napateca, Caliquen, Paraxcoxi – sind alte vulkanische Götter, die uns dressieren, während wir sie umbringen.
Wir sind immer noch Entdecker, Logiker der neuen Welt, die die Pharao-Klippen von New Mexico und Arizona und jene ägyptische Nilhalbinsel, Florida, mit der alten epischen Zivilisation verwechseln. Es steckt eine schreckliche Wahrheit in dieser amerikanischen Fabel; jeder Entdecker, den wir hatten, war unter den Sehern der Welt ein wilder Schollenbauer. Melville, Thoreau, Parkman, Prescott und Williams, das sind alles Fluß- und Meeres- und Hochebenengenies, die sich einen Kontinent als Haus erwandern, und sie alle tun’s outdoors, im Freien.
Edward Dahlberg, 1964, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
Aus dem Amerikanischen von Friedhelm Rathjen
Als William Carlos Williams im Frühjahr 1963 achtzigjährig in Rutherford, New Jersey, starb, war mit ihm einer der Lehrmeister der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik dahingegangen. Vielleicht ist seine Bedeutung nur noch mit der von Walt Whitman und Ezra Pound zu vergleichen.
Dieser Armenarzt, der lebenslang in einer amerikanischen Provinzstadt praktizierte, hat nicht allein Gedichte, sondern auch Kurzgeschichten, Romane, Theaterstücke veröffentlicht. Pound etwa zählte zu seinen nächsten Freunden. Die „poetischen Momentaufnahmen“ (Enzensberger) seiner kurzen Gedichte wurden Modelle für einen Lakonismus, der das konkrete Detail aufsuchte und zur Sprache brachte. Enzensberger hat schon vor Jahren eine Auswahl der Williams-Gedichte ins Deutsche übertragen und damit ein gutes Bild von dieser bedeutenden literarischen Erscheinung vermittelt.
Unübersetzt blieb ein monströses „episches“ Poem, Paterson, ein Hauptwerk freilich doch wohl mehr von seinem Umfang, seiner Geräumigkeit her als von der zentralen Stellung, die weiterhin den knappen Gedichten zukommt. Jetzt legen Anselm und Josephine Hollo die deutsche Ausgabe dieses Gesangs vom amerikanischen Provinzialismus vor, und man kann Paterson, diesen dichterischen Kosmos, in seiner gewaltigen „Materialität“ wie als spannungsreiche Kunstform kennenlernen.
Das Monströse an Paterson ist seine literarische Organisierung durch seinen Verfasser. Paterson, in New Jersey gelegen, eine Industriestadt von mehr als hunderttausend Einwohnern, ist zugleich imaginärer Punkt auf einer abstrakten Karte; das Kollektiv für amerikanisches Leben in der Provinz ist zugleich personifiziert als Mr. Paterson. Enzensberger nannte seinerzeit den Gesamtkomplex, der sich Paterson nennt, mit Recht eine „Mythologie der amerikanischen Zivilisation und ihrer Geschichte“.
Freilich ist der „Mythos“ namens Paterson aus sehr heterogenem Stoff. Williams hat sich in dem insgesamt aus fünf Büchern bestehenden und zwischen 1946 und 1958 publizierten Werk der verschiedensten literarischen, poetischen und durchaus unpoetischen Äußerungsweisen bedient. So trifft Lied auf Ekloge, Monolog auf Dialog, Versstruktur auf Prosatext. Gerade die verschiedenen Prosamöglichkeiten gehören zum Wesen dieses „Poems“. Immer wieder sind Briefe, Chronikberichte, aber auch Testamente, Plakate, Tabellen und Legenden indianischer Überlieferung eingestreut.
So gesehen und verstanden ist Paterson ein geräumiger Montagetext aus einer Zeit, als Montage und Collage noch nicht zur literarischen Methode entwickelt worden waren. Zustande kam dabei ein vielstimmiges Opus, das man vergeblich einzuordnen versucht, weil es sich allen Klassifizierungen entzieht. Es hat als Ensemble etwas Überraschendes, Unberechenbares, und dieses Unberechenbare war möglicherweise die Absicht von Williams, der damit das Außerordentliche des amerikanischen Alltags, den amerikanischen Kosmos in seiner Abbildung durch einen literarischen „american way of life“ darstellen wollte.
Überraschend ist schließlich auch das, was als „Stimmung“ über der wechselnden Paterson-Szenerie liegt. Dem Deklamatorischen, dem Pathos seiner Geräumigkeit steht eine registrierende Kühle, auch eine leise, sehr diskrete Ironie, ein trockener Humor, ein Lakonismus des Feststellens gegenüber, den Williams in seinen kürzeren Gedichten so meisterhaft bewiesen hat. Menschen, Landschaft, ein amerikanischer Bundesstaat mit dem ihn durchziehenden Passaic-Fluß werden zu einer allgemeinen Genealogie miteinander verbunden. Williams selbst hat in seiner kurzen Vorbemerkung Paterson unter anderem wie folgt gesehen:
Paterson ist ein langes Gedicht – darüber, daß ein Mensch sich selbst eine Stadt ist und sein Leben durch Funktionen beginnt, sucht, erfüllt und beendet, die von den verschiedenen Aspekten einer Stadt verkörpert werden können – wenn sie von der Vorstellungskraft anerkannt werden.
Diese Vorstellungskraft als der gleichsam immer auf Hochtouren laufende Motor ist die eigentliche Antriebs- und Durchhaltekraft für ein so umfangreiches literarisches Unternehmen, das immer in Gefahr steht, zu überborden und dabei auseinanderzufallen. Es wird durch einen beharrlichen Willen, eine immense Energie zusammengehalten, wie das ja auch bei vergleichbaren Texten, bei Pounds Cantos oder den poetischen Fresken Saint-John Perses, der Fall ist.
Karl Krolow, 1970, Schreibheft, Heft 45, Mai 1995
I
Im Zusammenhang mit William Carlos Williams denkt man gewöhnlich an seine kurzen imagistischen Gedichte oder auch an sein Mammut-Poem Paterson, kaum jedoch an seine Essays und sein – ohnehin unbedeutendes – erzählendes und dramatisches Werk. Am wenigsten jedoch bringt man den Dichter mit den experimentellen Arbeiten seiner Krisenjahre um 1920 in Verbindung. Dabei stand Williams gerade damals vor der Alternative, entweder – wie sein Freund Ezra Pound und sein Erzfeind T.S. Eliot – ins Lager der europäischen Avantgardisten überzulaufen oder, und das womöglich um den Preis eines dauerhaften Scheiterns, zum couragierten Wegbereiter einer in Amerika verwurzelten Lyrik zu werden.
Die Entscheidung, die Williams zu treffen hatte, ist ihm keinesfalls so leicht gefallen, wie es sich später, aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte, dargestellt hat.
Groß waren die Verlockungen, die von der modernen Malerei und Literatur Europas ausgingen. Und Williams mußte sich selber gut zureden, damit er – etwa wegen des von ihm außerordentlich bewunderten Kubisten Juan Gris – seinen nationalen Standpunkt nicht zugunsten einer kosmopolitisch orientierten Ausrichtung aufgab, so wie das der beredte Ezra Pound, der listige Old Ez, verlangte, wenn er spottete:
Amerika? Was zum Teufel weißt du verdammter Ausländer über das Land. Dein père ist gerade mal bis an den äußeren Rand gelangt, und du bist nie weiter westlich als bis Upper Darby oder bis zur Berg- und Talbahn von Maunchunk gekommen. Würde der Mannskerl Sandburg Dich, einen verbrauchten Ostküstler, als einen WIRKLICHEN Amerikaner ansehen? UNVORSTELLBAR!!!!!
Es gehörte zu Pounds Taktik, Williams vorzuwerfen, eigentlich gar kein richtiger Amerikaner, sondern („Du verdammter Ausländer“) das Kind eines nicht lange vor seiner Geburt eingewanderten Engländers und einer Puertoricanerin zu sein.
Williams ließ sich jedoch seine Identität als ein Mensch der Neuen Welt nicht absprechen, sondern postulierte in „Der große amerikanische Roman“: „Der Hintergrund Amerikas ist Amerika“ – eine Aussage, die er allerdings relativierte, wenn er nur wenige Sätze weiter feststellte:
Der Hintergrund Amerikas? Das ist Europa. Es kann nichts anderes sein.
Worum es Williams ging, war die Einordnung und die Eingliederung seines Heimatlandes in den Kontext der übrigen Kulturnationen. Um zu betonen, daß Amerika durchaus eine eigene Physiognomie besaß, war er sogar bereit, vom Bastard-Charakter (Lateinamerikaner würden heute sagen: vom Mestizentum) der autochthonen Kultur zu sprechen.
Wie Man Ray, sein geistiger Zwillingsbruder aus dem Reich der bildenden Kunst, hatte es Williams darauf angelegt, sein Gefühl indirekt, über banale Dinge der Außenwelt, zum Ausdruck zu bringen. Bei beiden Künstlern gibt es, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Einstellung zu den Sujets, ein Verlangen, die Realität jeden Augenblick mit gleichsam kindlich staunenden Augen anzusehen. Dieses Bedürfnis aber, das Williams sagen läßt „Nichts ist gut außer dem Neuen“, verträgt sich nicht mit den Überlieferungen Europas, die an Traditionen anknüpfen und – selbst noch in Phasen der Umbrüche, der Umstürze – auf transformierend bewahrende Weiterführung bedacht sind.
Kein Dichter seines Ursprungsmilieus hat Williams denn auch so in Harnisch gebracht wie Eliot, der, weil er sich als Erbe der abendländischen Klassik verstand, einen unverzeihlichen Verrat an der Idee Amerika als einer eigenständigen geistigen Größe zu begehen schien.
Williams war durchaus geneigt, sich mit gewissen zeitgenössischen Kunstformen Europas, dem Futurismus und dem Dadaismus, auseinanderzusetzen. Doch er zeigte keinerlei Bereitschaft, diesen innovationsträchtigen Richtungen zuliebe etwas von seinem Amerikanertum aufzugeben.
Was Williams vorschwebte, war vielmehr eine Verfeinerung der gestalterischen Ausdrucksmittel durch europäische Form-Anstöße… dies aber nicht, um der transatlantischen Experimentierkunst auf deren Weg ins International-Wurzellose zu folgen, sondern, ganz im Gegenteil, um dem unveräußerlichen Thema Amerika mehr stilistische und sprachliche Raffinesse angedeihen zu lassen.
Williams hat sich zwar verschiedentlich kritisch über den Whitman-Schüler Carl Sandburg geäußert, allerdings nie in Bezug auf dessen Stoffe, die ja schließlich Amerika zum Inhalt haben. Seine Mißbilligung bezog sich lediglich auf die ungeschlachte Darbietungsart seines Landsmannes, mit dem er im übrigen viel gemein hatte: die Liebe zu den USA und das Faible, einzelne Menschen und beiläufige Alltagsszenen ins Bild zu setzen.
Der Wandel, der sich von Sandburg (oder auch Edgar Lee Masters) zu Williams vollzog, war der einer bewußten Minimalisierung des Gegenstandes – verbunden mit einer stärker auf die Darstellungsmethode, den freien Vers, gerichteten Aufmerksamkeit.
Den Slang, das amerikanische Idiom, hatten bereits andere Schriftsteller literaturfähig gemacht: Mark Twain und Stephen Crane in der Prosa und Whitman sowie dessen enthusiasmierte Nachfolger in der Lyrik.
Was Williams an Besonderem einbrachte, war ein – bis dahin unbekanntes – Gefühl für sprachliche Valeurs: ein Sinn für Rhythmus, Atem und Silbenmaß, der ihn die zuvor verwendeten Langzeilen durch kurze, emotionsgerechte Zeilen ersetzen ließ… ein Verfahren, dessen sich bald auch (freilich mehr ins Artifiziell-Spielerische abgewandelt) E.E. Cummings bedienen sollte, der strukturelle und lettristische Experimentator der amerikanischen Poesie.
Williams, der einmal konstatiert hat „Reden, das nur informieren will, ist unterwürfig“, war nicht willens, seine lyrischen Gebilde als reine Transportmittel faktischer Sachverhalte einzusetzen. Und er war auch nicht bereit, bestimmte Ideen – Weltanschauungen oder Philosopheme – zu propagieren.
Seine Intention war ganz und gar darauf ausgerichtet, ohne jeden festen Standpunkt immer wieder von vorn zu beginnen und sein Gefühls- und Gedanken-Magma noch im Zustand vor dem Erkalten zu bloßem Begriffsgestein sichtbar zu machen.
Der Dichter, dessen poetologische Lieblingsvokabel das Wort „Imagination“ war, hielt in einer der surreal-assoziativen Eintragungen seines – aus Gründen der Selbstvergewisserung geschriebenen – Bandes Kora in Hell von 1920 fest:
Es ist beinahe pures Glück, wenn der Verstand von einem Kunstwerk völlig umgekrempelt wird. Nichts ist schwieriger, als ein Gedicht zu schreiben.
Das Problem bestand für Williams darin, in seinen Versen sich selbst zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig etwas von Amerika, seiner angestammten Umwelt, zu vermitteln, trotz der ständigen Beeinflussungsversuche Pounds, dem er Paroli bot, indem er sagte:
E. P. ist der beste Feind, den die USA-Poesie hat. Er ist interessiert, leidenschaftlich interessiert – selbst wenn er nicht weiß, wovon er redet.
Williams kannte sein eigenes Ziel nur zu genau. Er wollte mit Hilfe einer geschmeidigen Sprache, die zugleich Jargon und feinziselierte lyrische Rede war, Tag für Tag auf die sinnlichen Herausforderungen seines Lebens reagieren… mit einer von der Einbildungskraft gesteuerten Wahrnehmungsintensität, die vor Klischees und Festschreibungen bewahrte, so daß es ihm nicht erging wie all den Menschen, die vieles über ihre Vergangenheit wissen und die sich auch ihre Zukunft ausmalen können, die sich jedoch niemals zu fragen getrauen, wer sie sind – jetzt, „in eben diesem Augenblick“.
II
Die Anerkennung von Williams’ kurzen schnappschußartigen Gedichten erfolgte erst in den vierziger und fünfziger Jahren, als der Autor sich emotional und auch ästhetisch bereits weitgehend verausgabt hatte und er mit der Realisierung von Paterson beschäftigt war, einem großangelegten Gedicht von Buchlänge, das weit mehr den monumentalen long poems seiner Antipoden Pound und Eliot ähnelte als den miniaturhaften Glanzstücken, mit denen er sich weltweit einen Namen gemacht hat:
DER ROTE HANDKARREN
so viel hängt ab
von
einem roten Hand-
karren
glasiert vom Regen
naß
bei den weißen
Hühnern¹
NUR DAMIT DU BESCHEID WEISST
Ich habe die Pflaumen
gegessen
die im Eisschrank
waren
du wolltest
sie sicher
fürs Frühstück
aufheben
Verzeih mir
sie waren herrlich
so süß
und so kalt¹
JUNGE FRAU AM FENSTER
Sie sitzt mit
Tränen auf
der Wange
die Wange auf
der Hand
das Kind
auf dem Schoß
seine Nase
gegen die Scheibe
gepreßt¹
Williams war ein Meister der Reduktion, der die Forderungen des Imagismus konsequenter und vor allem dauerhafter befolgte als Pound und Eliot, die zunehmend die Mittel des Fremdzitats, der Rhetorik und der redundanten Stoffbehandlung nutzten.
Knapp, klar, bildhaft – so drückte Williams sich aus. Außerdem verwandte er die Umgangssprache. Und er anverwandelte sich seine Sujets dadurch, daß er die Möglichkeiten des freien Verses ausschöpfte, um atemgenau und präzise das zu sagen, was er sagen wollte.
Im Gegensatz zur Haiku-Dichtung der Japaner, aus der er, wie alle Imagisten, Nutzen zu ziehen verstand, vermied er jede Art von transzendentaler Andeutung und spiritueller Sinngebung, und seine wenigen direkten Annäherungen an die fernöstliche Aussparungskunst gehören nicht unbedingt zu seinen überzeugendsten Kreationen:
O meine grauen Haare!
Wirklich, ihr seid wie Pflaumenblüten weiß.¹
Im allgemeinen ist die Lyrik von Williams verortet – in dem Milieu, in dem er lebte und wirkte. Und was später als besondere Qualität verstanden wurde, die konsequente Verwurzelung im Unscheinbaren des amerikanischen Kleinstadtdaseins – gerade das hatte Eliot dazu gebracht, boshaft zu sagen:
Williams ist ein Dichter, dem man möglicherweise eine gewisse lokale Bedeutung nicht absprechen kann.
Was Eliot übersah – und übersehen wollte – war die Tatsache, daß sein Widersacher alles andere als ein Heimattümler war, der es sich behaglich in seiner Umgebung machte und im idyllischen Abseits die Probleme der Gegenwart ignorierte. Williams ging nur scheinbar einen anderen Weg bei seiner Auseinandersetzung mit der Moderne. Er überantwortete sich nicht – wie Eliot in The Waste Land – dem neuen Mythos der großen Städte, und er tauchte auch nicht – wie Pound in seinen Cantos und Eliot in Four Quartets – in die Abgründe abendländischer Geschichte und Bildungsgeschichte ein. Vielmehr setzte er sich, statt mit der Historie und dem kulturellen Erbe Europas, mit der sozialen Wirklichkeit Amerikas auseinander; oder anders gesagt: er war zwar ein Nativist, doch einer, der keinerlei Berührungsängste mit den Hervorbringungen des technischen Zeitalters hatte.
Schon in seinem 1921 publizierten Band Saure Trauben hatte er ein Gedicht mit dem Titel „Ouvertüre zu einem Tanz der Lokomotiven“ veröffentlicht und 1923 in Frühling und Alles das Poem „Schnellverkehr“, in dem es heißt:
Alle vier Minuten stirbt einer
im Staat New York –
Zur Hölle mit dir und deinen Gedichten –
…
Ha, hinaus aufs Land
…
Weite Flächen grünen Grases
wundervolle Schattenbäume, rieselnde Bäche
Nehmen Sie den Pelham-Bay-Park-Zug
Der Lexington-Avenue-(East-Side) –
Linie und Sie sind in wenigen
Minuten da
Ihre Transit-Schnellverkehrs-AG.²
Williams, der das alte beschauliche Amerika seiner Kindheit noch deutlich vor Augen hatte, erlebte die rasende Industrialisierung und Mechanisierung seines Landes auf beteiligte Weise, und er schuf Bilder und Szenerien, die weitaus konturierter und gegenwartsbezogener waren als die tradierten Kultur-Ikonen, die die „expatriares“ Pound und Eliot ins Zentrum ihres lyrischen Schaffens rückten.
Williams trug die Konflikte seiner Epoche sehr wohl in seinem Werk und auch in seiner Poetik aus. Und bei seinem Insistieren auf Amerika als einer realen und durch nichts zu ersetzenden Erfahrung hatte er es nicht nur mit den beiden Kosmopoliten Pound und Eliot zu tun, sondern ebenso mit dem (ansonsten durchaus den USA verbundenen) Wallace Stevens, der vom französischen Symbolismus her kam und keinen Wert aufs Bodenständige und Tatsächliche legte, weswegen er mit konfessionellem Nachdruck ein Gedicht schrieb, das er „Beschreibung ohne Ort“ nannte.
Gegen Stevens’ programmatische Arbeit setzte Williams sein Poem „Ein Ort (irgendein Ort), um alle anderen Orte zu transzendieren“, einen Text, der sogar noch New York eine gewisse tellurische Identität zuerkannte, weil es erbaut worden ist auf der alles tragenden vegetabilischen Erde: „Subways der Träume“ –? Gewiß. Doch auch die Welt, in der es keinen Unterschied mehr gibt als den „aus dünnen Lohntüten“, ist letztlich aufgestockt auf einen Boden aus „Gras und Flechten“.
Williams, der amerikanische Kleinstädter, der seinen Geburtsort Rutherford zum empirischen Mittelpunkt eines kleinen Kosmos machte, war am stärksten, wenn er Menschen porträtierte oder Situationen evozierte:
DIE TATHANDLUNG
Da standen die Rosen im Regen.
Ich bitt dich, schneid sie nicht ab.
aaaSie werden sich nicht halten, sagte sie.
Aber sie sind so schön,
aaawo sie sind.
Ach, schön waren wir alle einmal,
aaasagte sie,
und schnitt sie und gab sie mir
aaain die Hand.¹
Oder, mit der souveränen Gelassenheit eines Menschen, der sich vorübergehend ganz aus der sozialen Sphäre zurückzieht und sich auf ein kontemplatives Gespräch mit den einfachen Erscheinungen der Natur einläßt, dies jedoch ohne jeden metaphysischen Augenaufschlag:
Unkraut: nie werde ich dieses Anblicks satt
er erfrischt mich immer
denn es ist wenig Heiligkeit
in dem was höheren Glanz hat.¹
Das Amerika, das Williams in seinen besten Gedichten enthüllt, gibt die Sicht auf einen Hinterhof oder ein paar Straßen der Umgebung frei, und von manchen unscheinbaren Dingen, die häufig bereits das Stigma bloßen Gerümpels tragen, gehen Impulse aus, die dem Dichter die Kraft geben, dem Terror des Fortschritts weiterhin zu trotzen:
In meinen jüngeren Jahren
war es mir klar:
es galt aus mir etwas zu machen.
Älter geworden
geh ich durch Seitenstraßen
und bewundre die Häuser
der ganz Armen…
Das Gedicht „Pastorale“, aus dem diese Verse stammen, endet unverhofft mit einem Ausruf, der so etwas ist wie ein stiller, introvertierter Patriotismus:
Niemand
will einsehen, daß all dies
von größter Bedeutung ist für die ganze Nation.¹
Lange Jahre hindurch schrieb Williams spontan im Umgang mit seinem Erlebnismaterial – nach der Methode gelenkter Eingebung, über die er in dem Gedicht „A Sort of Song“ Rechenschaft ablegte, 1944, in einem Band, der den etwas spröden und sperrigen Titel Der Keil trägt; die zweite und bedeutsamere Strophe von „Eine Art Lied“ lautet:
– Menschen und Steine versöhnt
allein die Metapher.
Stell zusammen (Gedanken
sind nur in Dingen.) Erfinde!
Steinbrech ist meine Blume, die sprengt
den Fels.¹
Gewöhnlich wird aus diesem Bündel selbstverordneter Maximen nur ein Satz zitiert: „No ideas but in things“, „Gedanken sind nur in Dingen“! Doch das Geflecht poetologischer Sentenzen enthält ein vielschichtigeres Lyrik- und Weltverständnis als diese eine, fast stets isoliert vorgebrachte Aussage.
Williams räumt der Metapher die magische Kraft ein, den Menschen weiterhin mit der Natur zu verschwistern. Und zu dem Imperativ „Stell zusammen“, den man wohl als Anweisung fürs Collagieren und Zitieren verstehen darf, tritt – bedeutsamer noch, weil mit Ausrufungszeichen versehen – der Ratschlag:
Erfinde!
Die Phantasie wird also in die Pflicht genommen… ganz wie in jungen Jahren, als sich der Autor in Frühling und Alles selber ermuntert hatte mit einer Frage, die er sogleich beantwortete:
An wen soll ich mich wenden? An die Imagination.
Durch sie, die Imagination, sah sich der Dichter „in brüderlicher Umarmung“ mit dem Leser verbunden; und mit ihrer Hilfe fühlte er sich auch zwei Jahrzehnte später durchaus noch in der Lage, die härtesten Widerstände zu überwinden:
Steinbrech ist meine Blume, die sprengt
den Fels.
Williams hatte eine diffizile, naturbezogene Vorstellung von der Wirklichkeit. Zwar gibt es von ihm die oft zitierte Definition:
Ein Gedicht ist eine kleine (oder große) Maschine, aus Wörtern gemacht.
Doch diese Äußerung erinnert auf merkwürdige Weise an das technizistische Denken Paul Valérys, der behauptet hat, ein Gedicht sei „eine Art Maschine, die aus Wörtern den dichterischen Zustand erschaffen soll“.
Der Sensualist Williams war seinem Wesen nach kein Poet des reinen Kalküls und der lingualen Vernunft. Und für das Prinzip stilistischer Ökonomie, das er in seiner Poesie walten ließ, benötigte er keine Exempel aus dem Bereich der Ingenieurs- und Maschinenbaukunst. Er fand sie in der Sphäre des Organischen und Naturhaften, das selbst noch in Paterson, seinem schlackenreichen Alterswerk, anzutreffen war, hier allerdings nur noch in beschädigter fragmentarischer Form.
Williams, der, wie viele Lyriker, sein Bestes in jungen und mittleren Jahren gegeben hatte, war nach dem Erscheinen seiner Complete Collected Poems im Jahr 1938 auf die Idee verfallen, ein langes, auf vier „Bücher“ angelegtes Gedicht zu schreiben. Mit diesem Opus wollte er in Wettbewerb zu Pound und Eliot treten, die sein Schaffen verschatteten, dadurch, daß sie lange schwierige Gedichte schufen, die viel Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Der Lyriker Williams, der sich bisher damit begnügt hatte, begrenzte Ausschnitte der Wirklichkeit darzustellen, suchte plötzlich den großen Zusammenhang – ein Unterfangen, für das er sich auch sprachlich vorzubereiten trachtete, indem er nun viel über Rhythmus und Versmaß nachzudenken begann.
Williams’ Alterswerk hat seine Anhängerschaft in zwei Lager gespalten. Während die einen den Verfasser der knappen, umrißscharfen Gedichte für einen der größten Poeten des 20. Jahrhunderts halten, sind die Parteigänger des langen Gedichts fest davon überzeugt, wirkliche Geltung habe das Schaffen des Autors erst mit Paterson und den späteren Gedichtbänden erlangt, speziell mit den Bildern nach Brueghel, einer eher deskriptiven Sammlung, für die der 1963 gestorbene Lyriker noch postum den Pulitzer-Preis erhielt.
Der Riß, der sich im Œuvre zeigt, setzt sich außerhalb des Werks in der literarischen Landschaft fort. Und da es vor allem Allen Ginsberg und Charles Olson waren, Propagandisten des langen Gedichts, die Williams in den fünfziger Jahren zu einer Kultfigur machten, ist es nicht ganz abwegig zu fragen, ob der Dichter heute so berühmt wäre, wie er ist, hätte er nicht mit Paterson ein lang poem präsentiert, mit dem er selber den Typus des Kurzgedichtes abwertete.
Paterson war das Ergebnis einer großen Anstrengung. Und es ist gewiß kein Zufall, daß der ursprüngliche Plan, ein nur vierteiliges Gedicht zu schaffen, gesprengt wurde. Das Material war zu disparat, der Stoff zu wenig konturierbar. Wohl sprühen an vielen Stellen poetische Funken. Doch dann wieder gibt es über weite Strecken substantiellen Leerlauf, der besonders im dritten Buch zu metapoetischen Reflexionen führt und zu Kriseneingeständnissen wie:
Laß das Gedicht
sausen. Laß den ganzen
Kunstkrempel sein.
Und, eingeschoben in gewöhnlicher Prosa:
Es ist gefährlich, das einfach stehen zu lassen, was schlecht geschrieben ist. Ein Zufallswort auf dem Papier kann die Welt vernichten. Sieh deshalb genau hin und streich aus, solange du noch Gelegenheit dazu hast… denn alles, was geschrieben ist, könnte sich – sofern es einmal in die Welt tritt – in tausend Gehirne hineinfaulen… dann müßten sämtliche Bibliotheken niedergebrannt werden.
Man merkt Paterson die Mühe an, die es seinem Urheber bereitet hat. Allenthalben brechen Zweifel auf, und kompositorische Überlegungen stellen sich ein:
Ohne Erfindungsgabe hat nichts den richtigen Abstand –
wenn der Geist nichts umgestaltet,
wenn die Sterne nicht neu vermessen werden
in Bezug auf ihre Stellung zueinander,
dann wird sich auch die Verszeile
nicht verändern, wird das Notwendige nicht geschehen:
ohne neuen Geist
gibt es keine neue Zeile, die alte wird weiterklappern
in tödlicher Wiederkehr…³
Paterson war angelegt als das Gedicht eines Mannes und einer Stadt, die beide denselben Namen tragen und die einen Gedanken verlebendigen sollen, der von George Santayana stammt und den Williams als Motto in den Text montierte: „Für Oliver waren Städte nicht ein Teil der Natur“, sondern „ein zweiter Körper für den menschlichen Geist… vernünftiger, beständiger und ansehnlicher als der animalische Organismus aus Fleisch und Knochen: ein Werk natürlicher und zugleich moralischer Kunst.“
Dieser Vision von urbaner Schönheit und tieferem Sein widersprach die Realität des modernen entseelten Amerikas, „eine Welt heruntergekommener Städte“, in die sich kein Mythos mehr einpflanzen ließ: keine antiken Trugkadenzen, wie Williams sie mit Hilfe der in Buch 4 auftauchenden Griechen „Corydon & Phyllis“ herbeizuzaubern versuchte.
Paterson ist ein Werk, das geradezu aufs Mißlingen hin angelegt wurde. Der Einzelne kann kein Profil in dem ihn anonymisierenden Großstadtdschungel erlangen. Und die leitmotivische Formel „Gedanken sind nur in Dingen“ muß versagen in einer Realität, die aus zusammenhanglosen Einzelheiten besteht. Aus einem multiplen urbanen Chaos, in dem Sinn nur noch das Geld stiftet – in der Hand derer, die es gewinnmaximierend anzulegen vermögen:
Sag es! Gedanken sind nur in Dingen. Mr.
Paterson ist verreist,
um sich zu erholen und zu schreiben. Im Innern des Busses
sieht man seine Ideen sitzen und aufstehen, sie steigen aus
und zerstreuen sich…
Diese zentrale Passage aus Paterson wurde schon früh veröffentlicht, in einem separaten Gedicht gleichen Titels und etwas überdurchschnittlichen Umfangs. Williams hat spätestens um 1940 den Entschluß gefaßt, es mit Pound, Eliot, Hart Crane und MacLeish aufzunehmen und selber ein langes Gedicht zu schreiben, ein ambitioniertes Konstrukt, in dem sich viel Poetologisches ablagerte, so daß der Dichter seufzte:
Das Buch aus Blei,
man kann die Seiten nicht heben.
(Warum bloß gebe ich mich
mit solchem Unfug ab?)³
Williams hatte das Paradoxe seiner Lage durchaus begriffen:
Es gibt nur eine Antwort: schreib unbesonnen und tu das konsequent, weil nichts überleben wird, das nicht grünt.
Die Einsicht brachte jedoch keine Lösung. Das absichtslos Improvisierende wollte sich nicht wieder einstellen, und wegen des Ausbleibens sprachfrischer Bilder entschloß er sich, die Methode seiner (insgeheim ohnehin beneideten) Widersacher Pound und Eliot zu übernehmen.
Williams wurde ausschweifend, rhetorisch und ließ sich zunehmend auf die Strapazen philosophischen und philologischen Denkens ein, auf Mühen, die ihm und seinem Pleinair-Naturell nicht lagen.
Amerikas bester lyrischer Sprinter sah sich unglückseligerweise genau in dem Augenblick veranlaßt, sich für Rennen über längere und längste Distanzen zu trainieren, als seine Kondition selbst für die kurze Strecke nicht mehr die allerbeste war.
III
Nicht zu trennen von dem Dichter William Carlos Williams ist der Mensch William Carlos Williams, der Kleinstadtarzt aus Rutherford, New Jersey. Das wird besonders deutlich in seiner Autobiographie, die 1951 erschien und bei deren Niederschrift sich der Autor derart verausgabte, daß er einen ersten Schlaganfall bekam – zwölf Jahre bevor er 1963 starb, im Alter von neunundsiebzig Jahren.
Das Buch, ein aufrichtiger, sich teilweise aber in Anekdoten und Nebensächlichkeiten verzettelnder Rechenschaftsbericht, macht offenkundig, was bereits das Riesenpoem Paterson hatte erkennbar werden lassen: Williams besaß wenig Talent für die große Form, und er hatte – wie seine Romane und Short Stories verraten – auch keine ausgeprägte Begabung fürs Erzählen.
Seine Stärke war das kurze imagistische Gedicht, eine Gattung, die ihn intellektuell jedoch ebenso wenig beschäftigt zu haben scheint wie seine berufliche Tätigkeit, die er gewissenhaft ausübte, ohne freilich eine allzu hohe Meinung von ihr zu haben:
Als Kunst hatte die Medizin nie einen besonderen Reiz für mich, auch wenn manches mich faszinierte, vor allem die Physiologie des Nervensystems.
Williams war der Ansicht, daß „jeder Arzt, der etwas taugt, weiß, daß niemand ,geheilt‘ werden kann […] der Begriff Heilung ist absurd, genauso absurd wie die Bezeichnung ,Krankheit‘.“ Wie Gottfried Benn, der zynisch gemeint hat, daß auch ein gesundes Leben zu einem kranken Tod führe, sah Williams überall nur Bataillone von Bakterien und Viren, die in „tödlichem Manöver gegen andere Bestandteile der Natur“ kämpfen; und wenn er sich in jungen Jahren für den Arztberuf entschied, dann hauptsächlich, weil er auf keinen Fall die haltlose Existenz eines Bohemiens führen, sondern seine künstlerischen Neigungen auf der sichernden Basis eines Jobs betreiben wollte, der ihm lag und sogar Freude machte:
Ich würde nicht ,für die Kunst sterben‘, sondern für sie leben.
Hinzu kam, daß Williams ein Spätentwickler war und viel länger als etwa sein Freund Ezra Pound brauchte, um herauszufinden, was er wirklich wollte und konnte. Seine empirische Neugier war nicht verbunden mit einer gleich starken Reflektionsfähigkeit. Dieses Defizit schlug sich in seiner literarischen Arbeit nieder, die er nur tastend entwickelte und die ihn lange Zeit nicht erkennen ließ, wo sein Talent lag.
Überraschenderweise spricht Williams in seiner Autobiographie weniger von seinen bahnbrechenden Kurzgedichten als von seinen epischen und dramatischen Werken, die lediglich biederes Mittelmaß sind und niemals seinen Ruhm hätten begründen können.
Nur in einem Punkt zeigt sich der Dichter konsequent und entschlossen: in seinem Votum für Amerika und für ein amerikanisches Englisch, das es um jeden Preis durchzusetzen galt gegen das Englisch des europäischen Mutterlandes und die anderen Kultursprachen Europas:
Hinter all dem stand als förmliche Liturgie Menckens The American Language.
Zunächst freilich begann der angehende Poet mit einer Nachahmung von John Keats’ Gedicht „Endymion“, und dieses „Monumentalwerk in vier Büchern“ sowie ein zweites Langgedicht trugen vermutlich dazu bei, daß er später das Riesenpoem Paterson schrieb.
Williams, der seine Kontakte zu europäischen und New Yorker Künstlern nie allzu eng werden ließ, lebte in einem ( uneingestandenen) Spannungsverhältnis zu fast allen amerikanischen Avantgardisten, vor allem jedoch zu den Nestflüchtern Pound und Eliot, die er wiederholt karikierte.
Besonders Eliot sah er als eine Art Verräter an, weil dieser nicht auf der Linie der Pruftock-Gedichte weitergemacht, sondern mit The Waste Land einen Vorstoß in Richtung Europa und Kosmopolitismus unternommen hatte:
Was für Fortschritte hätten wir wohl erzielt, wenn wir seine Kunstfertigkeit für unser langsames Vordringen hätten einspannen können! Wir brauchten ihn für den Plan, der mir halb bewußt vorschwebte. Ich brauchte ihn: er hätte unser Ratgeber, ja unser Held werden können.
Aus dem bewunderten Mitstreiter wurde eine suspekte Figur, auf die Williams viel böser war als auf Pound, den er ohnehin nicht ganz ernst nahm und dessen musikalische Unfähigkeit ihm Anlaß für eine poetologische Überlegung gab:
Meiner Meinung nach kann Ezra […] keinen Ton von einem anderen unterscheiden. Dies ist […] interessant; weiß man doch, daß das Fehlen einer Begabung nicht selten durch eine aufs höchste gestimmte Empfänglichkeit auf einem anderen Gebiet ausgeglichen wird. Pound besitzt ein außerordentliches Gefühl für Rhythmus.
Hier spielt Williams auf Pounds frühe Poetik an, auf Aussagen wie:
Ich glaube an einen ,absoluten Rhythmus‘ […], der sich genauestens mit dem Gefühl oder der Gefühlsschattierung deckt, die er wiedergeben soll.
Und:
Ich glaube, man sollte den vers libre nur schreiben, wenn man ,muß‘, also nur, wenn die ,Sache‘ sich zu einem Rhythmus steigert, welcher schöner ist als der von gebundenen Versmaßen.
Williams hat sich mit zunehmendem Alter für dichtungstheoretische Fragen interessiert – in auffälliger Parallelität zum Nachlassen seiner Fähigkeit, geschmeidig-schlanke Kurzgedichte zu schreiben.
Rhythmus, Vers, Versfuß – all das ging ihm im Kopf herum, je erfolgreicher Pound und Eliot wurden und je mehr ihm selber die Spontaneität abhanden kam.
Das Amerika der zwanziger und dreißiger Jahre war nicht reif gewesen für die Hervorbringungen dieses Lyrikers, der regionale Sujets in einer Sprache abbildete, die zugleich waschechtes Amerikanisch und hochkarätige Artikulationskunst war.
So wurde Williams’ Selbstvertrauen allmählich ausgehöhlt. Und weil sein Repertoire ohnehin begrenzt war, entwickelte er die beinahe zwanghafte Vorstellung, es mit dem Typus des langen Gedichts zu versuchen und also etwas zu konstruieren, das zwar in Amerika verortet war, formal aber mit Eliots The Waste Land und Pounds Cantos korrespondierte.
Nun, beim Umgang mit den gewaltigen Sprach- und Stoffmassen von Paterson, tauchten allerdings kaum lösbare Gestaltungsprobleme auf, die ihren Niederschlag sogar im Kontext des Gedichts fanden.
Hatte der Autor über seine frühen short poems leichthin sagen können: „Die Zeilen waren kurz, nicht ausgetüftelt“, so mußte er sich nun mit Langzeilen herumquälen. Doch sein sinnliches Naturell machte ihn ungeeignet, poetischer Landvermesser einer ganzen Stadt zu werden.
Zunächst hatte Williams sogar mit dem Gedanken gespielt, den Großstadtmoloch Manhattan zu porträtieren. Doch dann wählte er einen weitaus weniger komplexen Schauplatz: Paterson, die Nachbarstadt von Rutherford. Ein Sujet, das ihm immer noch genug Kopfzerbrechen bereitete, zumal sich seine – weiterhin beibehaltene – Schaffensmaxime „Gedanken sind nur in Dingen“ in ihrer sensualistischen Essenz kaum dazu eignete, abstrakte Denkschritte zu unternehmen und all die geschichtlichen, architektonischen, ökonomischen und soziologischen Fäden so miteinander zu verknüpfen, wie sich das aus der Themenstellung ergab.
Schon mit In the American Grain von 1925 hatte er sich allzu redlich angestrengt, seine amerikanische Identität durch eine Fülle von Lebensbildern überragender Entdecker- und Pioniergestalten der Neuen Welt zu begründen. Mit Paterson, dessen fünf Bücher zwischen 1946 und 1958 erschienen, übernahm er sich vollends. Und er selber scheint geahnt zu haben, daß er mit diesem Opus kostbare Zeit vergeudete und es währenddessen versäumte, einen anderen Weg einzuschlagen, der ihn hin zu Dichtern führte, die Redundanz und Rhetorik mieden und die mit ihrer komprimierten Bilddichtung Geistesverwandte der amerikanischen Imagisten waren:
[…] die größte Herausforderung für uns Heutige ist Lorca, und, durch seine Vermittlung, Góngora […] Ich habe, den Eindruck, als könnten uns Übertragungen von Lorca und Góngora in unsere Sprache eine geradezu ideale Gelegenheit bieten, neue Sprechweisen zu erproben, die grundverschieden von allem sind, was im Englischen und Französischen möglich ist.
Mit der Hinwendung zum langen Gedicht war für Williams der freie Vers untauglich geworden. Und der Autor, der sich wohl auch irritiert fühlte durch Charles Olsons poetologische Mixtur Projective Verse von 1950, erfand nun für sich den Begriff „variabler Versfuß“, und er sagte:
Ohne Versmaß sind wir verloren!
Der variable Vers, den Williams gelegentlich auch als „lockeren Vers“ oder spanisch als „verso suelto“ bezeichnete, schien ihm ein Instrumentarium zu sein, mit dem sich vortrefflich auf den raschen Wandel modernen Lebens reagieren ließ. Da ihm die Langzeilen, die er jetzt schrieb, als allzu kompakt erschienen, verfiel er zudem auf die Idee, „triadic stanzas“ zu benutzen: in sich selbst mehrmals gebrochene Zeilen, die durch ihre Abstufung, ihre treppenförmige Anordnung, die Textblöcke auflockerten… ein Verfahren, das Williams vermutlich von Wladimir Majakowski übernommen hat, den er 1925 in New York hatte lesen hören.
Hier, als Beispiel, der Anfang von „Paterson II“, ein Text, der zwar die Regelstrenge der „triadic stanzas“ noch nicht mit schematischer Konsequenz anwendet, doch bereits charakteristische Merkmale der (teilweise recht willkürlichen) Typographie vieler später Williams-Gedichte aufweist:
Outside
aaaaaaaaaaaaaaoutside myself
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaathere is a world,
he rumbled, subject to my incursions
– a world
aaaaaaaaaaaaaaaaaa(to me) at rest,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawhich I approach
concretely –
aaaaaaaaaaaaaaaTue scene’s the Park
aaaaaaaaaaaaaaaupon the rock,
aaaaaaaaaaaaaaafemale to the city
– upon whose body Paterson instructs his thoughts
(concretely)
Das Scheitern an Paterson war vorprogrammiert, weil, wie ich meine, lange Gedichte nur dann gelingen können, wenn sie von der Klammer einer philosophischen, religiösen oder ideologischen Überzeugung zusammengehalten werden. Lukrez. Vergil. Dante. Der Rilke der Duineser Elegien, der Eliot der Quartette. (Weniger der Pound der Cantos: weil diese keine tragende Idee haben.) Majakowski mit seinen oratorischen politischen Poemen. Neruda mit dem Canto General – sowie sein Lehrmeister Whitman mit den Grashalmen. Und Nâzım Hikmet mit Menschenlandschaften. Auch Enzensberger mit Der Untergang der Titanic. Sie und einige andere waren Gestalter, die samt und sonders aus überpersonalem Antrieb beziehungsweise aus zusammenhängender Weltsicht aktiv wurden – derart mit seelischer und geistiger Energie aufgeladen, daß sich der Duktus ihrer Kunstwerke quasi wie von selbst aus der Dynamik ihres Anliegens ergab.
Williams – pragmatisch, amerikanisch – besaß keine großen Überzeugungen, keine übermächtigen, sich in den Ideenhimmel aufschwingenden Visionen. Seine Wirklichkeitsvorstellung setzte sich aus Einzelheiten zusammen: aus den sicht- und greifbaren Dingen seiner unmittelbaren Umgebung.
Übersetzer: 1 = Hans Magnus Enzensberger, 2 = Walter Fritzsche, 3 = Hans-Jürgen Heise. Verschiedene Werkpräsentationen – Gedichtsammlungen, Schriften sowie die Autobiographie – sind im Carl Hanser Verlag erschienen. Eine erste mustergültige Auswahl der Lyrik hat Hans Magnus Enzensberger 1962 im Suhrkamp Verlag unter dem Titel Gedichte publiziert; ihr folgte 1970 eine (von Anselm und Josephine Hallo unternommene) deutschsprachige Annäherung an Paterson. Die Übersetzer des hier verschiedentlich herangezogenen Poetikbandes Kore in der Hölle sind Joachim Sartorius, Walter Fritzsche und Jürg Lederach.
Hans-Jürgen Heise, in Hans-Jürgen Heise: Wenn das Blech als Trompete aufwacht. Essays, Kowalke & Co Verlag, 2000
Die „Katastrophe“ kam aus heiterem Himmel. Im November 1922 traf sie die amerikanische Literaturwelt so heftig und unerwartet, daß sich Zeitzeugen später an die Vernichtungsgewalt einer Atombombe erinnert fühlten. Verantwortlich für dieses Elementarereignis war die New Yorker Literaturzeitschrift The Dial, die in jenem November ein langes, in Form und Inhalt schockierendes Gedicht veröffentlichte. Der in den USA noch weitgehend unbekannte Verfasser dieses Poems hieß Thomas Stearns Eliot, der Titel des nachgerade epochalen Gedichts war The Waste Land. In die allgemeine Aufregung, die The Waste Land damals auslöste, mischten sich auch besorgte und entrüstete Stimmen.
Der wohl empörteste Kritiker, der mit Eliots Gedicht eine Katastrophe für die amerikanische Literatur heraufziehen sah, war sein literarischer Antipode William Carlos Williams, der Dichterarzt aus dem Provinznest Rutherford in New Jersey. In einigen kleinen Gedichtbänden hatte Williams bis dahin die Grundrisse einer Poetik des amerikanischen Alltags entworfen, die sich an der gesprochenen Sprache und an typisch amerikanischen Traditionen und Lebenswelten orientieren sollte. T.S. Eliot dagegen, so schimpfte Williams später in seiner Autobiographie, stieß die amerikanische Lyrik genau in dem Moment in den europäischen Akademismus zurück, als sie kurz davor war, sich lokal zu verwurzeln und ein neues Verständnis von poetischem Regionalismus zu entwickeln. Spätestens seit dem waste land-Schock trug sich Williams daher mit dem Gedanken, das Seinige zu tun, um mit einem poetischen Gegenentwurf die „Katastrophe“ abzuwenden.
In dieser Situation literarischen Umbruchs entsteht der Plan zu dem langen, weitverzweigten Gedicht Paterson, in dem Williams die Geschichte und Mythologie der amerikanischen Zivilisation neu erschaffen wollte. Schon in seinem frühen, 1916 verfaßten Gedicht „The Wanderer“ finden wir die Fundamente für dieses Konzept einer heimatverwurzelten amerikanischen Poesie. Hauptakteure in diesem Gedicht sind seine Großmutter und ein Fluß: der Passaic River im Nordosten von New Jersey. Der geographische Ursprung und Verlauf dieses Flusses, die geologischen Gegebenheiten und die historischen Anekdoten und Legenden, die sich um den Passaic River ranken, bilden schließlich das poetische Kraftzentrum von Paterson
„Paterson“, das ist zunächst ein ganz realer Ort, eine mittlere Industriestadt von etwa 150.000 Einwohnern im Nordosten von New Jersey. In seiner poetischen Imagination verwandelt Williams diese Provinzstadt zur Kernzone amerikanischen Lebens. Mit Paterson geographisch und mythisch eng verknüpft sind auch die einst berühmten Passaic Falls, die großen Wasserfälle, die in Williams’ Gedicht zum Schicksalstopos stilisiert werden. „Von Anfang an“, schrieb Williams in einer späten autobiographischen Notiz, „stand für mich die Einteilung in vier Bücher fest, die dem Lauf des Flusses folgen sollten“. In dem 1926 veröffentlichten Gedicht „Paterson: Der Wasserfall“ skizziert Williams schon sehr genau die Umrisse seines langen Gedichts, dessen erster Teil freilich erst zwei Jahrzehnte später, 1946, veröffentlicht wurde.
Welche gemeinsame Sprache taugt, zu entwirrn? Der Fall, zu schnurgeraden Zeilen gekämmt durch die frontale Felslippe – setze da ein, mitten in den schneidenden Satz, den Nebensatz, prall bepackt!
So beginnt das Vorläufer-Gedicht zu Paterson: Mit ein paar Verszeilen, in denen die Sprache des Dichters mit der Struktur und dem wilden Toben und Tosen des Wasserfalls gleichgesetzt wird – ein metaphorisches Verfahren, das im späteren Paterson-Gedicht leitmotivisch wiederkehrt. Die ersten drei Verse tauchen auch wortwörtlich im „ersten Buch“ von Paterson wieder auf. In der Art eines poetischen Exposés beschreibt das programmatische Gedicht „Paterson: Der Wasserfall“ den Erkenntnisweg und die thematische und formale Struktur des geplanten Langgedichts:
Das ist mein Plan. 4 Teile: Erstens die archaischen Personen des Stücks. Die Ewigkeit von Vogel und Busch bewahrt. Entwirrt das konfuse Strömen, gereiht zu sprechenden Zeilen! Klang mit Kraft vereint, der Kraft des Fallens von weit oben! Die wilde Stimme des hemdsärmeligen Evangelisten, ankämpfend: „Hört mich! Ich bin die Auferstehung und das Leben!“ – so geht das Echo umher zwischen Barsch und Hecht, schlanken Aalen von Barbados, der Sargasso-See: die Küste arbeiten sie sich herauf zu dieser Fülle, Teiche und wilde Ströme – Drittens die alte Stadt: Alexander Hamilton hat sich von St. Croix heraufgearbeitet, von jener See! und einer tieferen, aus der er kam! und unversehens festgehalten von diesem starren Gedröhn, festgenagelt hier: die Felsen stumm aber das Wasser, dem Stein vermählt, beredt wenngleich gefroren: das Wasser, selbst wenn und wenngleich gefroren – das Wasser wispert noch und stöhnt – Und durch die spröde Luft gellt die Fabrikglocke im Dämmer; und unter Füßen knirscht Schnee. Viertens die heutige Stadt: ein gestaltloses Dröhnen. Der Katarakt und sein Krachen auseinandergebrochen – und, von all der Gelehrtheit innen getroffen, dröhnt es, das leere Ohr.
Tatsächlich ist hier schon poetisch konzentriert, was dann später im epischen Großformat mit langem Atem entfaltet wird: Das erste Buch beginnt mit der Anrufung einer allegorischen Gestalt – des unsterblichen Riesen Mr. Paterson, der sein schlafendes Haupt an den Wasserfall schmiegt und in seinen Phantasmagorien die landschaftliche Umgebung und die Geschichte der Passaic Falls durchwandert. Im zweiten Buch taucht die Figur des geheimnisumwitterten Predigers auf, des Evangelisten, der eine große Predigt über Amerika hält. Das dritte Buch beschwört in litaneiartigen Sequenzen den schweifenden Geist des Dichters, seine ewige Suche nach Schönheit und Erlösung, daneben auch das zweite Generalthema des Gedichts, die Tragödie des ehelichen Zusammenlebens. Im vierten Buch schließlich wird die Geschichte der „alten Stadt“ und des neuen, „gestaltlos dröhnenden“ Paterson vergegenwärtigt. Als poetischer Glutkern und Zentralmetapher des Gedichts fungiert dabei der Wasserfall, beschworen als „Fall“ und „Katarakt“, der mit den Elementarbildern von „Fluß“ und „Strom“ die disparaten Einzelteile des Gedichts zusammenführt. Zu den geplanten vier Büchern, die zwischen 1946 und 1951 publiziert wurden, fügte Williams als Epilog noch ein fünftes Buch hinzu, das dann 1958 erschien. Daß sein Großgedicht Paterson wie alle anderen vergleichbaren Poeme, seien es nun Ezra Pounds Cantos oder Walt Whitmans Grashalme, zum Unabschließbaren tendiert, zeigt die Tatsache, daß sich in Williams’ Nachlaß noch Aufzeichnungen für ein sechstes Buch fanden.
Schon während der Arbeit am fünften Paterson-Buch war Williams lebensgefährlich erkrankt, von mehreren Schlaganfällen schwer gezeichnet. Als er im März 1963 im Alter von achtundsiebzig Jahren starb, wurde er in seiner Heimat schon längst als Erzvater der modernen amerikanischen Lyrik verehrt. In Deutschland schlief man einstweilen noch den Schlaf der Selbstgerechten. In Hugo Friedrichs erstmals 1956 erschienener kanonischer Studie über „die Struktur der modernen Lyrik“ kommt der Name William Carlos Williams nicht vor. Es ist – einmal mehr – Hans Magnus Enzensberger zu verdanken, der 1961 mit einer ersten Übersetzung von Williams Gedichten und mit einem fulminanten Essay auf den Dichter nachhaltig aufmerksam gemacht hat. Danach begann man Williams und sein Werk allmählich wieder zu vergessen, woran auch die erste Gesamtübersetzung seines opus magnum Paterson im Jahr 1970 nichts änderte. Das amerikanische Dichterpaar Anselm und Josephine Hollo hatte damals für den Goverts Verlag eine Übertragung angefertigt, die sich mit der jetzt realisierten Neuübersetzung von Joachim Sartorius und Karin Graf durchaus messen kann.
Als einziger deutscher Kritiker reagierte 1970 übrigens Karl Krolow auf das poetische Monument Paterson. Krolows Beschreibung von Paterson als eines gattungsüberschreitenden „Montagetextes“ trifft dabei sehr genau die formalen Eigenarten des Werks. Denn Williams hat zwischen die eigentlichen Versformen immer wieder Prosatexte der verschiedensten Art eingefügt: Briefe, Berichte aus Chroniken, geologische Tabellen und indianische Legenden. Auf deklamatorische Partien folgen in Paterson immer wieder deskriptive und registrierende Passagen, emphatische Anrufungen der Natur werden durch kühlen Dokumentarstil konterkariert. Karl Krolow sieht vor allem in diesem Montageverfahren die Modernität des Werks:
Zustande kam dabei ein vielstimmiges Opus, das man vergeblich einzuordnen versucht, weil es sich allen Klassifizierungen entzieht. Es hat als Ensemble etwas Überraschendes, Unberechenbares und dieses Unberechenbare war möglicherweise die Absicht von Williams, der damit das Außerordentliche des amerikanischen Alltags, den amerikanischen Kosmos durch einen literarischen ,american way of life‘ darstellen wollte.
Krolows Fazit läßt sich unschwer in literaturkritischen Klartext übersetzen: William Carlos Williams’ Paterson ist nicht nur ein „unberechenbares“, sondern auch, ganz entgegen den Intentionen des Autors, ein schwer zugängliches Werk. Während die Imagination des Dichters in den lyrischen Sequenzen assoziativ und sprunghaft arbeitet und den Leser ständig durch unterschiedlichste Vorstellungswelten jagt, wirkt der Text in seinen prosaischen Partien, insbesondere bei den eingeschobenen Briefen und Legenden stofflich viel konzentrierter. Hinzu kommt, daß gerade die einmontierten Briefe wunderbare Exempel poetologischer Unruhestiftung darstellen. Im zweiten Buch präsentiert Williams beispielsweise sehr ausführlich die Liebes- und Haßbriefe einer gekränkten Dichterin, die sich durch den berühmten Dichterarzt aus Rutherford mißverstanden und verschmäht fühlt. Im fünften Buch finden sich dann bewegende Briefe des Dichters Allen Ginsberg, die Williams eigenem poetischen Credo sehr nahe kommen, zumal auch Ginsberg das Hohe Lied von Paterson singt:
Ich stelle mir für mich eine Art neue Sprache vor – zumindest anders als das, was ich bisher geschrieben habe – neu insofern, als sie klare Aussagen treffen muß über die Tatsachen des Elends (…) und der Herrlichkeit auch, falls bei meinen subjektiven Wanderungen durch Paterson sich solche zeigt. Der Ort ist, wie ich sagte, der natürliche Lebensraum meiner Erinnerungen. (…) Ich sehe Elend (wie eine Flutwelle, die sich aus meiner Phantasie erhebt), vor allem aber die Herrlichkeit, die ich in mir trage, wie es alle freien Menschen tun.
Über seine eigene neue Gedichtsprache gibt Williams gegen Ende des fünften Buches Auskunft:
Nun ja, ich würde sagen, Dichtung ist eine mit Gefühl aufgeladene Sprache. Es sind Worte, rhythmisch organisiert. (…) Ein Gedicht ist ein in sich geschlossenes Universum. (…) Wir Dichter müssen in einer Sprache reden, die nicht Englisch ist. Nämlich im amerikanischen Idiom. Es ist genauso ursprünglich wie Jazz.
Elend und Herrlichkeit: Die beiden Pole einer auf Paterson konzentrierten Dichtung, wie sie der damals vierundzwanzigjährige Allen Ginsberg definierte, beschreiben auch den poetischen Spannungsbogen in Williams’ Paterson-Poem. Da sind auf der einen Seite die lyrischen Evokationen der Passaic Falls, die sich, illustriert durch Chroniken und Legenden von unerhörten Ereignissen am Wasserfall, zur poetischen Liebeserklärung an die wilde Schönheit der Landschaft ausweiten. Den Rühmungen der Natur-Herrlichkeit stehen allerdings Klagelieder gegenüber, poetische Artikulationen des Schmerzes über das, was Williams „divorce“ beziehungsweise „Scheidung“ und „separation“, respektive „Trennung“ nennt: Das zielt auf das „Elend“ von Mann und Frau, auf ihre ewig scheiternden Versuche, sich in Leidenschaft zu vereinen und zum Liebespaar zusammenzuschließen. Will man den Selbststilisierungen in seiner Autobiographie Glauben schenken, so bevorzugte Williams im wirklichen Leben die Wonnen der Gewöhnlichkeit: Statt sich kräftezehrenden Ausschweifungen und den in Dichterkreisen üblichen außerehelichen Zerreißproben hinzugeben, verharrte er in unauffälliger Monogamie. Die langen poetischen Sequenzen in Paterson, die von Entfremdung zwischen Mann und Frau oder dem „Eherätsel“ handeln, legen da aber eine ganz andere Spur. In den düstersten und bewegendsten Passagen von Paterson, die dieses „Rätsel von Mann und Frau“ thematisieren, werden naturlyrische Elemente, poetologische Reflexionen und Verzweiflungs-Gesten zu einem rhapsodischen Gesang verschmolzen:
Sing mir ein Lied, um den Tod erträglich zu machen, ein Lied von einem Mann und einer Frau: das Rätsel von Mann und Frau. Welche Sprache könnte unsere Dürste stillen, welche Winde könnten uns erheben, welche Fluten uns tragen über Niederlagen hinaus außer einem Lied, einem Lied, das keinen Tod kennt ?
Der Fels vermählt mit dem Fluß macht kein Geräusch
Und der Fluß strömt vorbei – doch ich bleibe klagend ohne Unterlaß rufend zu den Vögeln und Wolken (lauschend) Wer bin ich?
– die Stimme! – die Stimme erhebt sich, mißachtet (mit ihrer neuen) der unbeugsamen Sprache. Gibt es keine Erlösung?
Gib auf. Laß es sein. Hör auf zu schreiben. „Einem Heiligen gleich“ wirst du nie diesen Schandfleck des Sinns trennen,
eine Beleidigung für die Liebe, der Wurm des Geistes frißt den Kern weg, nie zufriedengestellt
– nie diesen Schandfleck des Sinns von der trägen Masse trennen. Nie Nie dieses Strahlen in vier Teile zerlegt, unerreicht von Symbolen.
Doktor, glauben sie an ,das Volk‘, die Demokratie? Glauben Sie noch – an diesen Schweinetrog korrupter Städte? Ja, Doktor? Jetzt?
Gib dieses Gedicht auf. Gib dieses Hin und Her der Kunst auf.
Der Dichter William Carlos Williams hat nicht aufgegeben. Er hat sein Paterson-Projekt über zwei Jahrzehnte geplant und hat dann in großer Beharrlichkeit und Disziplin sein poetisches opus magnum vorangetrieben. Mit seiner Entscheidung für „Paterson“ hatte Williams auch seinen Bewunderern und Freunden größere Irritationen zugemutet – kannte man ihn doch als den Dichter des kleinen Alltag-Snapshots, der kleinen realistischen Momentaufnahme, die sich mit dem Festhalten gewöhnlicher Alltagsgegenstände begnügt. Berühmt geworden ist daher auch nur der Williams, der in seinen Gedichten köstliche Pflaumen im Eisschrank verzehrt, zu roten Schubkarren greift oder die Katze hinten im Hof begräbt. Das lange Poem Paterson ist immer nur respektvoll zitiert, in den seltensten Fällen aber auch gelesen worden.
Um so höher ist daher der Entschluß des Hanser Verlags zu bewerten, dieses selten gelesene Meisterwerk mit einer Neuübersetzung endlich wieder ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Karin Graf und Joachim Sartorius haben die schwierige Aufgabe, für die ganz unterschiedlichen Tonlagen dieses gattungsüberschreitenden Lyrik-Monuments poetische Entsprechungen zu finden, mit Bravour bewältigt. Abgesehen von kleineren Schludrigkeiten, etwa wenn „Muschelschalen“ sich in ominöse „Muskelschalen“ verwandeln, haben sie Williams’ heißgeliebtes „amerikanisches Idiom“ einfühlsam ins Deutsche gebracht. Der Gerechtigkeit halber sei hier aber nochmal hinzugefügt, daß sich ihre Neuübertragung nur punktuell, nicht substantiell von der Ur-Übersetzung von Anselm und Josephine Hollo unterscheidet.
„Das lange Gedicht“, hat Walter Höllerer vor mehr als dreißig Jahren notiert, „unterscheidet sich nicht nur durch seine Ausdehnung von den übrigen lyrischen Gebilden, sondern durch seine Art sich zu bewegen und da zu sein, durch seinen Umgang mit der Realität.“ „Doch dies ist nur möglich“, so schreibt Höllerer weiter, und wir dürfen diese Erkenntnis auch auf Paterson beziehen, „doch dies ist nur möglich mit freierem Atem, der im Versbau, im Schriftbild Gestalt annimmt. Ich werde mir sichtbar.“ In Paterson wird nicht nur der Verfasser William Carlos Williams und sein Mikrokosmos in New Jersey sichtbar, sondern auch die weit größere Einheit – der Makrokosmos Amerika.
– Zukunft ist auch keine Antwort: William Carlos Williams besingt Paterson. –
Als Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1961 in einem bemerkenswerten Aufsatz das deutsche Lesepublikum mit William Carlos Williams (1883 bis 1963) konfrontierte, reagierte er auf ein kritisches Erdbeben, das in den Vereinigten Staaten die Hierarchie der modernen Lyrik zum Einsturz gebracht hatte: T.S. Eliot, der Papst der angelsächsischen Moderne, dessen poetische Theorie und Praxis die literarische und akademische Szene mehr als drei Jahrzehnte lang beherrscht hatte, verlor gleichsam über Nacht an Einfluß. An seine Stelle trat der gänzlich unpäpstliche William Carlos Williams. Bei ihm suchte eine jüngere Generation von Dichtern für ihren Angriff auf eine zur Klassik versteinerte Moderne Rückhalt.
Williams hatte sich zu Lebzeiten freilich nie aus dem Schatten Eliots lösen können, sah in dessen Waste Land eine Katastrophe für die Entwicklung einer genuin amerikanischen Lyrik und in Eliots Flucht nach Europa und in das Traditionsbewußtsein europäischer Kultur einen Verrat an der gemeinsamen Sache. Williams selbst hatte das Exil im eigenen Land gewählt, um „die wahrgenommenen Dinge, die jetzt im Chaos geborgter Sprache verloren sind, neu zu benennen“. Dem Geist des Neuen, der „Amerika“ – dem Kontinent wie der Gesellschaftsform – eingeboren war, wollte er eine spezifisch amerikanische Dichtungssprache abgewinnen. Mit seiner Betonung der gewöhnlichen Dinge, der schöpferischen Kraft der Alltagssprache und des Rechts, das Vor-den-Augen-Liegende neu zu sehen, stellte sich Williams in eine Tradition, die mit den Namen Ralph Waldo Emersons und vor allem Walt Whitmans verbunden ist. Doch obgleich Williams das Sendungsbewußtsein Whitmans teilte und von der reinigenden und heilenden Kraft des Wortes besessen war, verstand er das Dichten als durchaus alltägliche, wenn auch lebensnotwendige Verrichtung, die sein berufliches Leben (er war Kinder- und praktischer Arzt) Tag für Tag begleitete.
Williams glaubte an die „irreduzible Konkretheit und Genügsamkeit“ des Demokratisch-Gewöhnlichen, an eine bildgenaue Sprache, die Ideen nur in Dingen auszusprechen erlaubte („no ideas but in things“). Seine überaus präzisen Gedichte, die sich als bewußte Gegenentwürfe zur Vollkommenheitsästhetik der klassischen Moderne den Anschein des Einfachen, des Vor- und Beiläufigen gaben, fanden ein lang nachhallendes Echo in der amerikanischen Lyrik seit den sechziger Jahren: Charles Olson, Robert Creeley, Frank O’Hara, Allan Ginsberg – sie alle beriefen sich auf William Carlos Williams. Inzwischen hat sich sein Ruf als Dichter knapper Ding- und Alltagslyrik allerdings so verfestigt, daß über roten Schubkarren, blühenden Robinien, faulenden Äpfeln und köstlichen Pflaumen im Kühlschrank der weiter reichende Anspruch seines Werks fast vergessen ist. Er findet Ausdruck in dem epischen Langgedicht Paterson, das Williams von den späten zwanziger Jahren bis an sein Lebensende begleitet hat. Zwischen 1946 und 1958 wurde es in fünf Teilen veröffentlicht, Fragmente eines sechsten Teils fanden sich im Nachlaß.
Paterson ist die Summe von Williams’ Lebenswerk, ein Kompendium seines stilistischen Repertoires, die Einlösung seiner ästhetischen und politischen Überzeugungen. In Amerika ein legendäres, wenn auch selten ganz gelesenes Meisterwerk, ist es in Deutschland – obwohl in den siebziger Jahren zum ersten Mal übersetzt – so gut wie unbekannt geblieben. Um so dankenswerter, daß nun der Hanser Verlag den Mut hatte, Williams’ opus magnum in einer neuen Übersetzung, mit einem nützlichen Anhang und einem erhellenden Nachwort von Joachim Sartorius noch einmal auf den deutschen Markt zu bringen. Geschrieben in einer Zeit der persönlichen und kollektiven Krise – des Zerfalls des eigenen, alternden Körpers wie auch des demokratischen „body politic“ –, ist Paterson dennoch vor allem ein Buch des Neuanfangs, das in Asche und Abfall, in Schlamm und Moder die Wirkkraft des Neuen, des unzerstörbar Lebendigen entdeckt.
Das Gedicht bezieht seinen Titel von Williams’ Nachbarstadt Paterson im Bundesstaat New Jersey, die vom Passaic River und seinem spektakulären Wasserfall durchschnitten wird, einer mittleren Industriestadt mit überschaubarer Einwohnerzahl und vergleichsweise langer Geschichte, die bis in die Kolonialzeit zurückreicht. Sie repräsentiert das in Williams’ Ästhetik so wichtige „Lokale“, in dem er – wiederum im Gegensatz zur kosmopolitischen „Heimatlosigkeit“ der Moderne bei Pound und Eliot – seine Dichtung verwurzelt wissen will. Paterson ist Stadt und Stadtmensch, geographischer Ort und Bewußtsein, das Gedicht infolgedessen ein symbolischer Raum, in dem sich Bewegung und Reflexion, Geschichte, Legende und Erinnerung durchdringen. Das Gedicht trägt den Namen der Stadt, aber seine Struktur folgt in den vier ursprünglich geplanten Büchern dem Lauf des Passaic.
Während des Schreibens, so berichtet er, sei ihm der Fluß zu einer Metapher für das eigene Leben geworden, das – wie der Passaic dem Meer – dem Tode zudränge. Innerhalb dieser Logik wird der Akt des Schreibens zu einer Handlung gegen den Tod, denn „das Meer ist nicht unsre Heimat“, und das Ende des Flusses wie des vierten Buches signalisiert zugleich einen Neubeginn, wenn der suchende Paterson-Odysseus dem Meer entsteigt und auf dem Lande wieder Heimat findet. Insofern war Paterson für Williams unabschließbar (so wie auch Pound die Cantos nicht abschließen konnte): Leben war Schreiben und beides ein Prozeß, dem nur der Tod ein Ende setzen konnte.
Im letzten Satz des Gedichts preßt Williams die Essenz von Paterson in eine musikalische Metapher, in der Ordnung und Offenheit, Struktur und Bewegung zusammenfallen:
Wir wissen nichts und können nichts
wissen
außer
den Tanz zu tanzen nach einem Maß
kontrapunktisch,
satyrhaft, den tragischen Fuß.
Diese kontrapunktische und doch fließende, linear-todgerichtete und doch aufgebrochene Struktur läßt Paterson auf den ersten Blick zusammenhanglos erscheinen: ein Nebeneinander unterschiedlicher Genres, ein Verschnitt aus Gedichten, privaten Briefen (von Ginsberg, Marcia Nardi und anderen), aus Dialogen, Interviews, Zeitungsberichten, Auszügen aus Büchern über die Lokalgeschichte und manchem anderen mehr. Williams entwirft die Stadt als Text-Collage, deren geographische, demoskopische und historische Zerklüftung einen Zusammenhalt nur aus der Bewegung des reflektierenden Bewußtseins erhält. Zugleich jedoch ebnet die Collage die Unterschiedlichkeit der Texte ein: „Alles ist“, wie Williams am Ende des zweiten Abschnitts im fünften Buch insistiert, „gutes Material für Dichtung“.
Diese offene Struktur „antagonistischer Kooperation“ findet ihre Entsprechung in der Fülle gegensätzlicher Figuren und mythologischen Bilder: dem schlafenden Giganten Paterson, dem Meer („unserer heimwehkranken Mutter“), dem lärmenden Fluß. Die Metaphorik für alle kontrapunktischen Fügungen entspringt der Opposition von Mann und Frau („Ein Mann wie eine Stadt – und eine Frau wie eine Blume“), die das gesamte Gedicht durchzieht. Das Mit- und Gegeneinander der Geschlechter markiert für Williams eine Grenze der Kommunikation: die Möglichkeit ihres Gelingens, vor allem aber die Wirklichkeit immer neuen Scheiterns. („Trennung“ und „Scheidung“ sind Schlüsselwörter.) In der patriarchalischen Ordnung Patersons steht das Weibliche für das marginalisierte andere der männlichen Phantasie.
Daß Williams sich entschloß, die Briefe Marcia Nardis als machtvolle Gegenstimme in sein Gedicht einzuarbeiten, weist darauf hin, daß er das kommunikative Versagen der (eigenen) Person als Beispiel für eine kollektive Not betrachtete. Denn in seiner Welt sind – ähnlich wie bei Pound – die eigentlichen Katastrophen die der Sprache, wenn sie, statt lauschend die Dinge zu benennen, diese wortreich zum Schweigen bringt.
Die Geschichte Patersons ist eine Geschichte des Nicht-Sprechen-Könnens oder des falschen Sprechens („Die Sprache, die Sprache läßt sie im Stich.“), Ausdruck einer Gesellschaft, die das richtige „Maß“ verloren hat, die den einzelnen gegen sich selbst oder den anderen kehrt. Daher konnte Robert Lowell über Paterson schreiben:
Wir haben das Amerika Whitmans vor uns, aber es ist zu einem Schauplatz der Erbärmlichkeit und der Tragödie geworden, verstümmelt durch Ungleichheit, verwüstet vom Chaos der Industrialisierung, der Vernichtung ausgesetzt.
Doch wie für Whitman ist auch für Williams das Sprachexperimentieren und Spracherfinden zumindest der Möglichkeit nach ein Akt gesellschaftlicher Regeneration – nicht prophetisch in die Zukunft gesprochen, sondern einer ständig verfallenden und sich verflüchtigenden Gegenwart Augenblick für Augenblick abgerungen. In Paterson ist daher der Fluß nicht nur Lebensmetapher, sondern auch Bild für die dichterische Sprache, die selber „flüssig“ sein muß, um das jeweilige Jetzt der Erfahrung erfassen zu können.
Es ist gewiß kein Zufall, daß Williams den fruchtbaren Kern des Gedichts in jenen Passagen zu finden glaubte, welche in ihrer rhythmischen Struktur die Bewegung des Passaic in eine Bewegung des Bewußtseins übersetzen:
Der Abstieg lockt
wie der Aufstieg lockte
Erinnerung ist eine Art
Errungenschaft, etwas
wie eine Erneuerung…
Keine Niederlage besteht einzig aus Niederlage – denn
die Welt, die sie öffnet, ist immer ein
früher
ungeahnter
Ort. Eine
verlorene Welt,
eine ungeahnte Welt,
ruft zu neuen Orten
wo kein Weiß (verloren) so weiß ist,
wie die Erinnerung
an Weiß.
Die Erneuerung suchte Williams hier in der scheinbar anarchischen Freiheit ungeordneter Zeilen, die er später „variable foot“ nannte, – eine flexible Ordnung zwischen Metrum und „freiem Vers“, die er am Ende des Gedichts in der Figur des kontrapunktischen Tanzes zum rechten „Maß“ des Dichtens wie des Lebens stilisiert. Dieser Figur entspricht die Bewegung einer Erinnerung, die nicht zur falschen Ordnung der Nostalgie gerinnt, sondern nur als Gegenwart, als angespannte Aufmerksamkeit gegenüber dem Jetzt der Wahrnehmung lebendig bleibt. Am Ende des dritten Buches heißt es:
Die Zukunft ist keine Antwort. Ich
muß
meine Bedeutung finden und sie, weiß,
neben das vorüberziehende Wasser
legen: mich selbst –
die Sprache auskämmen – oder unter liegen.
Das Amerika, dessen Alternativgeschichte Williams in seiner leidenschaftlichen Prosa In the American Grain (1925) als ein „ex-zentrisches“ Amerika an den ethnischen Rändern der dominanten angloamerikanischen Kultur rekonstruiert hatte, war letztlich nur ein linguistisches Ereignis, verwirklicht allein in Form und Sprache seiner Dichtung. Wie alle epischen Langgedichte von Walt Whitmans Leaves of Grass bis Hart Cranes The Bridge geht zwar auch Paterson aus dem Anspruch des Dichters hervor, die Gesellschaft mit zu formen, doch dokumentiert es zugleich seine Ohnmacht. Der öffentliche Gestus des Gedichts wird sich im fünften Buch seiner Privatheit zunehmend bewußt.
Paterson ist älter geworden
der Hund seiner Gedanken
ist geschrumpft…
Sartorius und Graf übersetzen nicht nur präzise, sie erfassen auch die sprachlichen Spannungen des Textes, die unterschiedlichen Tonlagen der verschiedenen Textsorten, die sinnlich-konkrete Eindringlichkeit der lyrischen Passagen, die für Williams charakteristische musikalische Variabilität der Zeile. Wo Williams liedhaft oder in parodistischer Absicht zu Reim und Metrum greift, bevorzugen die Übersetzer freilich das Reimlose und mildern dadurch die Textkontraste. Gerade weil sie den Leser so eindrucksvoll vergessen lassen, daß er eine Übersetzung liest, gerät er ins Stocken, wenn er auf Schwerfälligkeiten stößt:
Warum habe ich mich nicht… längst dem Tod in die Hände gespielt?
Oder er wundert sich, wenn die Übersetzer „tights“ mit „Schenkel“ übersetzen (statt mit „Trikot“) oder „team“ mit „Mannschaft“ (statt, in diesem Fall, mit „Gespann“) oder auch „principle“ mit „Prinzip“ (wo das offensichtlich gemeinte „principal“, das heißt „Grundsumme“, besser paßt); oder er ärgert sich über Vermeidbares wie die „Muskelschalen“ statt „Muschelschalen“ oder darüber, daß Wörter fehlen oder auch doppelt gesetzt sind und daß aus dem Prediger und Baseballspieler Billy Sunday ein Fußballspieler wird, den die Erzählerstimme ob seines „starken Armes“ preist.
Die bewundernswerte Leistung der Übersetzer wie das Verdienst des Verlages soll durch diese Einwände nicht geschmälert werden. Beide haben mit der späten Wieder-Entdeckung eines Werks, das Sartorius in verzeihlicher Übertreibung „das Große Amerikanische Gedicht unseres Jahrhunderts“ nennt, einem Meister der literarischen Moderne die überfällige, lang verdiente Reverenz erwiesen.
Wikipediaartikel zu William Carlos Williams: Paterson
Michael Rutschky: Welcher Dichter ich gern wäre. Eine Wanderung durch neue Lyrik, Merkur, Heft 600, März 1999
FÜR W. C. W.
Geistige vergnügungen nähren
ein vages arom
Der fingerhut (ungesehn) die
wilde blume
Den händen kommen
viele dinge unter. In zeiten der not
ein wildes frohlocken.
Robert Creeley
Übersetzung Klaus Reichert
Hans-Jürgen Heise: Willliam Carlos Williams: die Demokratisierung der Metapher
Die Tat, 15.9.1973
William Carlos Williams – Eine kurze biographische Dokumentation.
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