– Zu Ernst Meisters Gedicht „Vogelwolke“ aus Ernst Meister: Die Formel und die Stätte. –
ERNST MEISTER
Vogelwolke
Ein Abend,
starrend von Staren…
und wärs auch
Wortspiel, es schafft sich
Wahrheit,
so schwarzes Gezwitscher,
ein unerhörtes
im Labyrinth.
Das muß
der Herbst sein. Er
runzelt die Braue:
die Vogelwolke
steigt auf aus
besudelten Wipfeln
und nimmt nach
Norden
unverständliche Richtung.
Die Wirkung eines einzelnen Gedichtes steht zur Debatte, der Einfluß eines Textes auf das Bewußtsein oder die Wahrnehmung eines Subjekts. Somit handelt es sich nachfolgend um den Versuch einer ideografisch-topografischen Beschreibung. Ideografisch: das meint die Beschreibung einer Wahrnehmungsänderung bei einem Subjekt, meint also einen Einzelfall, eine Fallstudie. Topografisch: das meint die Beschreibung einer bestimmten Situation, die sich in ihren Raumzeit-Faktoren konkret erfassen läßt. In diesem Sinne geht es um Topisches (= einen Ort betreffend/beschreibend) in dreifacher Hinsicht:
1. geht es um dieses Subjekt in einer bestimmten Situation;
2. geht es um ein Stück Landschaft, das konkret in Hinblick auf Situation und Subjekt wirksam wurde;
3. geht es um einen Gedichttext, der konkret in Hinblick auf Situation und Subjekt Bedeutung bekam.
Man kann somit von drei ,Texten‘ sprechen, die aufeinanderwirken. Da ist zunächst der ,Text‘ des Bewußtseins eines bestimmten Subjekts, der sich im nachhinein, also als Erinnerung, erfassen läßt. Sodann ist da der beschreibbare ,Text‘ der Landschaft. Und schließlich existiert konkret der Text des Gedichtes, in dem Landschaft ,beschrieben‘ wird: „Vogelwolke“ von Ernst Meister.
VOGELWOLKE
Ein Abend,
starrend von Staren…
und wärs auch
Wortspiel, es schafft sich
Wahrheit,
so schwarzes Gezwitscher,
ein unerhörtes
im Labyrinth.
Das muß
der Herbst sein. Er
runzelt die Braue:
die Vogelwolke
steigt auf aus
besudelten Wipfeln
und nimmt nach
Norden
unverständliche Richtung.
Ein Herbstgedicht – eines unter hunderten. Es hat auf seine Weise Anteil am Topos ,Herbst‘ im literaturwissenschaftlichen Verständnis (E.R. Curtius). In diesem Sinne verweist es auf das weite Feld tradierter Bilder und Motive. Überblickt man diese Tradition, so läßt sich pauschal der Gegensatz zweier ,Tonarten‘ konstatieren: Der Herbst alterniert sozusagen in Dur und Moll. Einerseits steht Herbst für Erfüllung, Glück, Gnade, steht für Ernteglück elementarisch, andererseits evoziert der Herbst Melancholie und Vergänglichkeit, Todesahnung oder Todessehnsucht. Daß diese ,Töne‘ in ein und demselben Gedicht vermischt vorkommen können, versteht sich.
Ernst Meisters Gedicht variiert den Topos ,Herbst‘ auf bemerkenswerte Weise. Ein unheimlicher, ein ,schwarzer‘ Herbst wird sichtbar. Im Verhältnis zu bekannten Gedichten der Moderne ist dieser Herbst nicht mehr melancholischer Traum, er ist schon bedrohlicher Alptraum. Die für das Subjekt, das hier in seinen Reaktionen beschrieben werden soll, vertrauten Trakl- und Rilke-Texte sind auf jeden Fall noch melodisch-weich im Abgesang:
Trakl:
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen. („Verfall“)1
Rilke:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
[…] („Herbst“)2
Der Abstand zum Gedicht Ernst Meisters ist augenfällig. Man kann entsprechend von einer rigorosen Transformation eines vertrauten Topos sprechen bzw. einer vertrauten Vorstellung von dem, was ,gemeinhin‘ ein Herbstgedicht evoziert. Jetzt aber wird etwas anderes vorgestellt: ein ,besudelter‘ Herbst, der fragwürdig, ,unverständlich‘ ist. Auf diese Farbe oder diesen ,Ton‘ strukturiert sich der Text als Ganzheit. Er intoniert etwas Befremdliches, das ratlos macht, er beginnt mit einem Fragment von Satz. Ein flüchtiger Konjunktiv, eine Vermutung, schließt sich an, die jedoch nicht mehr zurückgenommen werden kann. Die „Wahrheit“ ist irreversibel. Sie läßt sich nicht länger negieren, die Wahrheit von Verfremdung, Verstörung, Untergang:
so schwarzes Gezwitscher,
ein unerhöhrtes
im Labyrinth.
Die Logik solcher Strukturierung führt zum unvermeidbaren Faktum:
Das muß
der Herbst sein.
Und die Verstörung nimmt zu: Noch ist Leben in diesem Herbst, aber es ist ein ganz und gar unheimliches, schwarzes Leben:
[…] Er
runzelt die Braue:
die Vogelwolke
steigt auf aus
besudelten Wipfeln
Und das, was aufsteigt, steigert die Verwirrung, weil buchstäblich die ,Richtung‘ nicht mehr stimmt:
nach
Norden
Man muß nicht detailliert analysieren, um zu erkennen, daß in diesem strengen Gedicht keine Partikel vorkommt, die nicht im Sinne dieses ,schwarzen‘, bedrohlichen Gesamtbildes fungiert. Den Funktionszusammenhang kann man getrost als „Selbstregelung“ (Piaget) einer Struktur, eines Textes nehmen. Will man solche Regelung hervorheben, so kann man die Merkmale ,schwach‘ und ,stark‘ hervorheben. Der Übergang von einer zunächst noch ,schwachen‘ Vermutung zur unabweisbaren ,starken‘ Gewißheit würde dann die interne Folgerichtigkeit des Textes beweisen. Dieser Umschlag ist hart, lapidar: Er vollzieht sich auf engstem Textraum, der zugleich für den engsten Landschaftsraum steht. Die am Abend aufsteigende Vogelwolke füllt das ganze Genre aus. Und weiter bedeutet die Entgegensetzung von ,schwach‘ und ,stark‘: Das sich im Gedicht artikulierende Ich nimmt zunächst etwas wahr, was es jedoch noch nicht für wahr ansehen kann. Die Wahrnehmung „starrend von Staren“ ist noch ungefähr, ist noch so schwach wie ein „Wortspiel“ im Konjunktiv. ,Stark‘ und unvermittelt fällt dann die „Wahrheit“ ein, die in „unverständliche Richtung“ weist.
Dergestalt zentriert sich der Text als „Ganzheit“, er strukturiert sich selbst im Sinne einer internen „Selbstregelung“, und er grenzt sich durch „Transformation“ ab vom Kontext topisch zugehöriger Herbstgedichte. Damit sind im Sinne Piagets Strukturgesetze benannt, denen Texte generell, Gedichte aber in besonderem Maße, unterworfen sind.3 Zweifellos ist Ernst Meisters Gedicht differenziert durchstrukturiert. Er selbst hat bei Gelegenheit einer „Selbstinterpretation“ im Hinblick auf ein anderes Gedicht („Wirkliche Tafel“. FIS 1960, 13; AG, 59) das für ihn so wichtige Kriterium von struktureller Geschlossenheit bzw. Ganzheit hervorgehoben:
Was bei diesem Gedicht zuerst in den Blick fällt, ist eine motivische Einartigkeit, die sich zugleich als eine materielle kundgibt.4
Von solcher „Einartigkeit“ ist auch die „unverständliche Richtung“ der „Vogelwolke“, die sich materiell als Schrift einzeichnet oder eingraviert.
Ähnlich wie ein geschriebener Text dürfte sich auch der ,Text‘ von Bewußtsein und Wahrnehmung strukturieren. Auch hier dürften die Komponenten „Ganzheit-Selbstregelung-Transformation“ gelten. Fixieren lassen sich derartige Gesetzlichkeiten aber wohl nur als ,Momentaufnahmen‘. Das, was als Bewußtseinsstruktur erkennbar wird, ist außerordentlich komplex und zugleich flüchtig. Man kann hier „Ganzheiten“, die stets Voraufgehendes transformieren, die sich mobilehaft regulieren, weithin nur erinnernd erfassen. Das gilt für Selbst- wie Fremdbeobachtungen, bei denen wir immer zu vagen Formulierungen kommen, die etwa so lauten: ,Ja, das war so… es mag so gewesen sein… vielleicht…‘ Bewußtseinszustände dürften sich nur momentan oder für kurze Zeit selbstregulierend so strukturieren, daß man wie über eine „Ganzheit“ Auskunft geben kann. Im nächsten Augenblick strukturiert sich alles wieder um – und so fort. Die Bilder, die wir uns machen, kommen und gehen, sie überholen sich permanent, sie sind immer schon historisch.
Betont tentativ soll nun von einer längst überholten Wahrnehmung eines Subjekts die Rede sein. Das Sprechen über diesen historischen Zustand soll vornehmlich in der Ich-Form ablaufen, weil es sich hier um eine Befindlichkeit des Schreibers selbst handelt. Ich meine mich also selbst als Rezipienten in der oben erwähnten dreifachen Hinsicht:
Vor Jahren hatte ich Gelegenheit, eine in sich geschlossene, entlegene Mittelgebirgslandschaft ausgiebig kennenzulernen. Die intime Kenntnis der Gegend ergab sich, weil ich es mir damals leisten konnte, müßig zu leben für anderthalb Jahre. Das war um 1950 herum. An der einsetzenden Betriebsamkeit des ,Wirtschaftswunders‘ hatte ich keinerlei Anteil, weil der Aufenthalt in dieser Landschaft extrem esoterischen Charakter hatte: Ich lebte auf einem Schloß, ich war Hauslehrer, ich unterrichtete an wenigen Vormittagsstunden drei Schüler. So blieb immer viel Zeit für ausgedehnte Wanderungen.
Im nachhinein erscheint mir die damalige Lebensweise als ein ausgesprochen ganzheitliches Phänomen. Die Erinnerung bewahrt ein in sich geschlossenes Wahrnehmungsfeld mit deutlich erkennbaren, strukturierenden Elementen. Erinnerungselemente dieser Art sind das Wasserschloß im entlegenen Tal, sind die umrahmenden großen Wälder, sind die Bäche in feuchten Wiesen, die breiten, das Schloß umgebenden Wassergräben. Den Grundzug von Einsamkeit kann ich nicht genug hervorheben: Das Schloß liegt so weit von der nächsten Siedlung entfernt, daß man bei den seinerzeit noch gar nicht entwickelten Verkehrsverbindungen hier wie nach Sartre in einer „geschlossenen Gesellschaft“ lebte. Und dieses Leben auf dem Schloß hatte durchaus seine konkreten, pathologischen Züge.
Das Bewußtsein damals dürfte weiterhin bestimmt gewesen sein durch die Ambivalenz von Angst und Befreiung. Das Gefühl von Angst dürfte abgründig gewesen sein aufgrund verheerender Kriegserfahrungen, das Gefühl von Befreiung dürfte ,irgendwie‘ irreal gewesen sein: Nicht zu fassen, daß man davongekommen ist…
Unter solchen Voraussetzungen war der Aufenthalt auf dem Schloß gewiß heikel. Einerseits dürfte sich das Sensorium für ästhetische Wahrnehmung gesteigert haben, andererseits dürfte die Auseinandersetzung mit den politischen Problemen der Nachkriegszeit mehr oder weniger ausgeblendet worden sein. Haften geblieben sind ihrerseits ,irreale‘ Tischgespräche zum Beispiel über ein so unfaßbares Phänomen wie Bodenreform, das mit Revolution, wenn nicht mit Oktoberrevolution gleichgesetzt wurde. Derartige Erwägungen verschränkten sich meiner Erinnerung nach zudem wie von selbst mit eschatologischen Vorstellungen.
Wahrscheinlich wurde die sich nachhaltig selbst regulierende Dauerwahrnehmung von Ästhetischem (es gab ja nichts anderes als das schöne Schloß in schöner Landschaft) durch Lektüre verstärkt. Damals las ich wohl bevorzugt Hölderlin, Trakl, Rilke. Rainer Maria Rilke war ohnehin auf dem Schloß privilegiert: Guardini erschien dann und wann und las und deutete in esoterischem Kreise, der zuweilen einen Hauslehrer mit einschloß. Es fragt sich natürlich: was wirkte wie, woraufhin? Wirkte die Naturwahrnehmung auf Literatur, oder wirkte die Lektüre strukturierend auf die Vorstellung von Natur? So oder so – auf jeden Fall dürfte ein Prozeß von progressiver Differenzierung eingesetzt haben, in dessen Verlauf sich eine Einfärbung des Gesamtensembles ergab: Im nachhinein kann ich alles das, was mit diesem Schloß zusammenhängt, nur noch in Herbstfarben wahrnehmen. Es gibt für mich sozusagen keine anderen Jahreszeiten, es gibt statt dessen nur eine Art Dauerherbst um Schloß C. herum in extremer „Weltlosigkeit“. Diese Vokabel ging, wie man sich vielleicht erinnert, damals um bei Lyrikern und ihren Interpreten.
Ein Element dieser in sich geschlossenen Wahrnehmungswelt, in der sich alles auf eine Art ,letaler Gestimmtheit‘ hin regulierte, ist die Vorstellung von einem Weg, der durch eine Wiese führt. Eidetisch genau habe ich dieses Teilstück des Ensembles vor Augen: ein feuchter Weg, rechts ein Wiesenhang, vor mir der herbstliche Mischwald, den ich durchqueren muß, um auf der steil abfallenden Seite des Hügels das Schloß zu erreichen. Unterhalb des Weges wiederum Wiese, zur Straße hin abfallend, die von Ebereschen eingefaßt ist. Der Weg liegt also erheblich höher als die Straße, er steigt zum Wald hin an. Direkt links am Weg ein Dornengestrüpp (Schlehdorn). Rechts oberhalb des Weges, am Kamm des Hügels, die Silhouette einzelner Bäume gegen den Abendhimmel.
Auch für dieses Detail gilt das bereits Angedeutete: Ob ich diesen Weg im Frühjahr, Sommer oder Winter gegangen bin – wahrnehmen kann ich ihn nur im braunen, ockerfarbigen Herbstlicht (sozusagen in Trakl-Farben). So sehe ich also vor mir den Herbstwald, spüre feuchte Oktoberkühle, nehme links vom Weg im sehr feuchten Gras weiterhin einige Herbstzeitlosen wahr.
Dieses Bild nun veränderte sich plötzlich – irgendwann. Dabei kann ich nicht angeben, wann und warum es zu einer für mich bemerkenswerten Wahrnehmungsmodifikation exakt im Hinblick auf diesen Topos (das ,Wiesenstück‘) gekommen ist. Auf jeden Fall transformierte sich die Wahrnehmung punktuell und radikal: Das ,Wiesenstück‘ ist nicht länger ein analog strukturierendes Element in der Vorstellung des Gesamtensembles von Schloß und zugehöriger Landschaft. Es wirkt jedoch rückkoppelnd, also andersartig regulierend, auf die Gesamtwahrnehmung ein: Es dunkelt die ohnehin vorherrschenden Herbstfarben (diese ,letalen‘ Farben) weitergehend ein.
Was war geschehen?
Ein Text war hinzugekommen – das Gedicht Ernst Meisters – irgendwann, irgendwo zufällig gelesen. Seither überlagert dieser Text den ganzen ,Text‘ des Schloßensembles. Er stellt eine Form von dialektischer „Überschreitung“5 der bis dahin ,gültigen‘ Struktur dar. D.h. die zugrundeliegende Wahrnehmungsstruktur wird nicht ausgeblendet, sie wird transformiert auf eine allerdings durchschlagende Weise: Alles reguliert sich neu, alles färbt sich noch dunkler ein. Speziell das ,Wiesenstück‘ erscheint wie neugeschaffen: Es läßt sich nur noch als der Text „Vogelwolke“ wahrnehmen. Detailliert sind die Elemente dieses Bildes vorhanden: Die Vögel, die Stare, sind präzise da, sie lassen sich nicht mehr vertreiben. Wörtlich und eidetisch genau ist da nichts anderes mehr als „Ein Abend, / starrend von Staren“. Das „schwarze Gezwitscher“ ist da, die Schlehdornhecke ist da, das Gezwitscher also in und über der Hecke – „ein unerhörtes / im Labyrinth“. Und der Herbst insgesamt ist, wie gesagt, intensiviert, ist schwärzer, besudelter, unheimlicher, ,unverständlicher‘. Der Herbst verliert damit die letzte Spur von Erfülltem oder Tröstlichem, das möglicherweise noch von Rilke herkommt. Und entsprechend das ganze Bild von Schloß und Landschaft.
Folglich muß ich sagen: Das Gedicht ist jetzt die Landschaft in genau umrissener Topik, und die Landschaft ist das Gedicht, das nur in dieser Wechselbeziehung für mich existiert. Sekundenschnell hat sich also irgendwann eine Transformation des Bildes vollzogen. Sie hat mitnichten die Wahrnehmung weggewischt, sie hat sie vielmehr verstärkt, hat eine tiefere Spur eingraviert. Der Abend, die Schwärze, das Gezwitscher, das Besudelte, das Eisige aus „unverständlicher Richtung“, alles das ist konkret mit den voraufgehenden Vorstellungen verwoben und ist offensichtlich nicht mehr zu löschen.
Wenn ich mich nun frage, wie eine derart intensive, „überschreitende“ (Piaget) Modifikation einer Wahrnehmung entstehen kann, komme ich nicht umhin, auf eine Art tiefenstruktureller Übereinstimmung von Gedicht und Wahrnehmendem zu verweisen. Um eine solche Übereinstimmung zu verdeutlichen, kann ich wiederum das simple Strukturmodell heranziehen, das lediglich von den Komponenten ,stark‘ und ,schwach‘ ausgeht. ,Schwach‘ ist in diesem Sinne die zerstreute oder diffuse Empfänglichkeit des Subjekts für melancholische Herbstfarben, in die es, wie skizziert, das ganze Schloßensemble tunkt. Zweifellos dürfte das Schloß auch damals, mit anderen Augen gesehen, andere, hellere Farben gezeigt haben. Aber die auch gesellschaftlich vermittelte Befindlichkeit (Nachkriegsjahre usw.) dieses in gewissen Graden pathologisch strukturierten Subjekts ließ andere Farben bzw. Gestimmtheiten kaum zu. So ergab sich das ockerfarbige Herbstbild pauschal und detailliert. Ein besonders intensives Detail innerhalb des Ensembles ist das ,Wiesenstück‘, das mit dem ,Gesamttext‘ korrespondiert.
Der Gedichttext nun erweist sich plötzlich als eine ,stärkere‘ Struktur: Er kann wahrscheinlich deshalb so vehement einfallen, weil er präziser, härter ist als die bis dahin geltende Wahrnehmungsstruktur. Er hat eine andere, stärkere Qualität. Und eben deshalb verschafft er sich „Wahrheit“. D.h. hier: Er schafft sich Wahrheit durch eine durchgreifende Transformation der bestehenden Ganzheit, die sich sofort auch neu reguliert. Der bisherige Eindruck wird überdeckt, wird geradezu ,erschlagen‘, so daß ich vom Augenblick dieser unerhörten Begebenheit – irgendwann, irgendwo – nur sagen kann: Das Wiesenstück sehe ich nicht mehr, ich spreche es mit Ernst Meister. Und so spreche ich seither das ganze Bild von Schloß und Landschaft.
Die stärkere Qualität der Text-Wahrheit, der Wahrheit des Gedichtes also, hat etwas von der Stärke eines irreversiblen Begriffs. Es ist bemerkenswert, daß ein Moment von Begrifflichkeit mit der Lyrik Ernst Meisters zusammengebracht wird. Gregor Laschen zum Beispiel verweist entsprechend:
[…] die Anschaulichkeit des Begriffs. […] Vielleicht ist es […] diese Fähigkeit des Meisterschen Gedichts gewesen, den Leser von Gedichten in eine Denkanstrengung zu nehmen […] das Gedicht [erscheint] als [ein] Körper ohne Riß nämlich zwischen Bild und Gedanke.6
So gesehen erweist sich diese Lyrik tatsächlich als starke Struktur. Sie ist damit auch ,starke‘ Kunst im Sinne Adornos, in der das Diffuse (als das ,Schwächere‘) oder das „Entgleitende objektiviert und zur Dauer zitiert [wird]: insofern ist sie Begriff, nur nicht wie in der diskursiven Logik.“7 Dafür dürfte die Auswirkung solcher Begrifflichkeit um so nachhaltiger sein: Sie greift in ihrer spezifischen Stärke nicht nur nach dem Kopf.
Etwas Merkwürdiges bleibt noch anzumerken: Offensichtlich ist mit dem Begriffs-Text des Ernst-Meister-Gedichtes der Strukturierungsvorgang, der sowohl das Wiesenstück wie auch die Totale des Schloßensembles betrifft, an seine Grenze gekommen. Er ist seither irreversibel. Die Wahrnehmung von Schloß und Landschaft verändert sich seither nicht mehr. ,Seither‘ bezeichnet den Augenblick der Gedichtlektüre, der nicht mehr zu datieren ist. Der ,schwarze‘ Herbst in seiner dunklen, „unverständlichen“ Wahrheit ist als Wahrnehmungs-,Text‘ nicht mehr zu löschen. Ist damit der Vorgang von Strukturierung und Umstrukturierung abgeschlossen? Fungieren die Momente von Transformation und Selbstregelung nicht weitergehend und relativierend?
Für den ,Text‘ der Landschaft muß ich diese Frage negieren. Dieser Topos verändert sich nach dem ,Einfall‘ des Gedichttextes nicht mehr. Von dieser Erfahrung aus müßte ich die Vorstellung Piagets zumindest skeptisch betrachten, nach der Strukturierungsprozesse nach Art der erwähnten Gesetzlichkeit überhaupt nie zur Ruhe kommen. Piaget meint, daß man zu leicht „vergißt […], daß auf der Ebene des Erkennens (wie vielleicht auch der sittlichen oder ästhetischen Werte usw.) die Tätigkeit des Subjekts eine beständige Dezentration voraussetzt, die es von seiner spontanen intellektuellen Egozentrik zugunsten nicht eines fix und fertigen und ihm äußerlichen Universellen, sondern eines ununterbrochenen Prozesses von Koordinierungen und Bezugsetzungen befreit“.8 Aber muß in jedem Fall die „Dezentration“ von Wahrnehmungen ständig von Ganzheit zu Ganzheit, d.h. von Transformation und Selbstregelung weitergehen? Kann nicht ein ,Begriff‘, ein Text, ein besonderer Text, also ein starkes Gedicht, einen Punkt setzen? Also eine Vorstellung erzeugen, die irreversibel bleibt?
Daß dem so ist, kann ich zumindest im Hinblick auf diese Wahrnehmung von Schloß C. nicht leugnen. Offensichtlich ist der ,Begriff“ vom Ernst-Meister-Gedicht „Vogelwolke“ viel zu stark, als daß ich mich von ihm ,befreien‘ könnte. Der ,Begriff‘ läßt mich nicht mehr los, er hält mich dergestalt gefangen, daß ich die damals so intensiv erlebte Landschaft nur noch mit dem Lyriker Ernst Meister lesen kann. So bestimmt die „unverständliche Richtung“ des Gedichtes definitiv die Wahrnehmungsstruktur des zugleich entrückten und gegenwärtigen Ensembles von Schloß C. Offensichtlich wäre ich damit ein Gefangener des Gedichtes „Vogelwolke“.
Winfried Pielow, aus Helmut Arntzen und Jürgen P. Wallmann (Hrsg.): Ernst Meister • Hommage • Überlegungen zum Werk • Texte aus dem Nachlaß, Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1985
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