DAS NICHTS
Das Nichts hat sich auch mir genichtet.
Es wendete sich tatsächlich auf die andere Seite.
Wo bin ich nur hingeraten,
Kopf und Fuß in Planeten,
unbegreiflich, ich hätte einmal nicht da sein können.
O du mein hier Getroffener, Liebgewonnener hier,
ich ahne, die Hand auf deiner Schulter, nur,
wieviel Leere uns auf der anderen Seite zukommt,
wieviel dort Stille fällt auf eine Grille hier,
wieviel dort Wiese fehlt dem Sauerampferblatt hier,
die Sonne aber ist nach dem Dunkel wie Schadenersatz
im Tropfen Tau – für die wie tiefen Dürren dort!
Gestirnt aufs Geratewohl! Die Hiesigen umgekehrt!
Weitgestreckt über Schrägen, Schwere, Rauheit, Bewegung!
Ein Spalt im Unendlichen für den grenzenlosen Himmel!
Erleichterung nach dem Nichtraum in Form einer schwankenden Birke!
Jetzt oder nie bewegt der Wind eine Wolke,
denn Wind ist eben das, was dort nicht weht.
Und der Käfer betritt den Pfad im dunklen Anzug des Zeugen.
Für den Fall des langen Wartens aufs kurze Leben.
Für mich hat sich’s so ergeben, daß ich bei dir bin.
Und wirklich, ich sehe darin nichts
Gewöhnliches.
Wisława Szymborska, vom Ritual der üblichen Fragebögen irritiert, schreibt einen eigenen, der wesentlichere Fragen stellt. Sie schreibt ihn als Wissende, Erfahrene, in Gedichten. Die meisten Fragen kreisen bei ihr um die Freundschaft und die Liebe. Um die erste, die letzte, die naive und die skeptische Liebe, immer in Anbetracht des wahren, aktuellen Zustands der Menschengattung und ihrer globalen Irrtümer und Katastrophen. Die Dichterin wägt die Chancen und die Gefahren großer oder kleiner Gefühle in der heutigen Situation teilnahmsvoll, aber nüchtern, realistisch ab. Manchmal leicht melancholisch, manchmal sanft ironisch, doch stets sich ihrer Relevanz bewußt.
Das tat sie schon in den ersten Gedichten: Ich suche das Wort (1945), Deshalb leben wir (1952), Fragen, die ich mir stelle (1954) und Rufe an Yeti (1957).
Sie sucht das authentische Wort für die authentischen Lebensabläufe von Eva und Adam, dem Paar in seinem höchstpersönlichen Paradies oder nach der Vertreibung daraus. Den konsequentesten Vertriebenen-Flüchtling, Yeti, dem ewigen Eis und Schnee „in den vier Lawinenwänden“, der kalten Einsamkeit ausgesetzt, lockt sie, zur Erde und zur Zivilisation zurückzukehren: „O Yeti, Halbfaust, / überleg es, komm zurück!“ Sie ist sich aber ihrer Argumente selbst nicht mehr ganz sicher. Sie lockt Yeti mit den Wohltaten im bevölkerten Tal, dem Abece, dem Brot, Shakespeare, Geigenspiel, mit dem elektrischen Licht abends, der mathematischen Ordnungsliebe des Einmaleins, des Kalenders, Tage, Monate, Jahre. Aber ihre Argumente werden immer schwächer und leiser: Da unten, sagt sie mit unsicherer Stimme, tauen Schnee und Eis, und nicht nur Verbrechen seien möglich, nicht alle Worte seien ein Todesurteil. Kinder würden auch auf Ruinen geboren und machten das Erbe der Hoffnung, die Gabe des Vergessens erlebbar. Es hilft nichts, offenbar, Yeti bleibt oben im Eis. Dieses Gedicht macht uns mit einer Gabe des Humors bei Szymborska vertraut, ihrer feinen Ironie. Sie reißt keine Wunden auf, sie besänftigt den Schmerz, ohne Süßholz zu raspeln, ohne zu belehren. Die Erkenntnis kommt sowieso, unaufgefordert und mitmenschlich von selbst.
Mehrere Gedichte unserer Auswahl stammen aus dem Band Salz (1962), aus der Reifezeit, dem Wende- und Höhepunkt ihres Schaffens. Danach folgten mehrere Bände – jeder in Polen ein Ereignis – bis zum bislang letzten, Augenblick, der im Jahr 2002 erschien. In dieser Auswahl sind die Gedichte allerdings nicht chronologisch, sondern thematisch und kontrapunktisch neu geordnet.
1
Der „Lebenslauf“ beginnt mit der ersten Liebe der kleinen Mädchen, die sich in der Liebesgeschichte von Troja und in ihrem eigenen Spiegelbild verlieren. Die erste Liebe findet im Haselholz statt, unter dem Sturzflug der Schwalbe. (Die Schwalben fliegen tief, wenn ein Gewitter naht.) Szymborska beruft die „Schönschreibkunst“, die „frühe Vogelgotik“ des Schwalbenflugs und den „Silberblick des Himmels“, sich der Verliebten zu erbarmen, zu bewirken, daß sie „niemals vergessen“. Das Schicksal der ersten Liebe ist leider oft so, wie es das polnische Volkslied sachlich überliefert. Die Verliebten gehen getrennte Wege: „Du gehst bergauf, ich geh ins Tal…“ „Die Liebe auf den ersten Blick“ ist schöne „Gewißheit“, aber auch schöne Täuschung. Wenn es eines Tages ein „Überraschendes Wiedersehen“ gibt, haben sich beide „nichts mehr zu sagen“.
Ist „Glückliche Liebe“ überhaupt „normal und ernst zu nehmen und nützlich – / was hat die Welt von zwei Menschen, / die diese Welt nicht sehen?…“ Der „glücklichen Liebe“ folgt meist eine „normale“, dann eine vernünftige „ernst zu nehmende“ und schließlich keine von den beiden, sondern eine „nützliche“. Die „Goldene Hochzeit“ macht das allmähliche Zerstörungswerk bewußt:
Das Geschlecht verblüht, die Geheimnisse verglimmen,
im Ähnlichen begegnen sich Unterschiede
wie alle Farben im Weiß.
Was übrigbleibt, ist museumsreif : „die Krone überdauerte den Kopf“ – in der Vitrine.
2
Adam ist „Akrobat“, führt Kunststücke vor „von einem Trapez zum andern“ – „mit kalkulierter Phantasie“, wenn er dichtet, Erfolge plant oder Boxkämpfe austrägt. Nur bei Faustkämpfen fallen die Frauen „in Ohnmacht“, erleben sie „dantische Szenen“, „ebenso das Indenhimmelgehobenwerden“.
Eva singt Opernarien. Ihre Silben rinnen „italienisch silbern“, sie „trillert Triolen“, weil sie den „Chevalier vom hohen C“ liebt. Alles Theater: „Kleine Komödien“, Dramoletten, Buffonaden, spiritistische Seancen, Schattenspiele. Shakespeares Ophelia und die Autorin sehen es ein: „Beflügelt“ geht man unter, man überlebt „in praktischen Krallen“. „Non omnis moriar aus Liebe“. Szymborska zeigt den Ausweg aus den kleinen Tragödien: dies dennoch milde Lächeln der Trauer und der Nachsicht.
3
Die Frau. Eva. Lots Frau. Die jedem Ornament spottende „Große Mutter“, der „Fruchtbarkeitsfetisch aus dem Paläolithikum“ ohne Gesicht, ohne Füße:
Wozu auch.
Wohin sollte sie denn wandern?…
Oder die Affenfrau:
Im alten Ägypten verehrt…
In Europa nahm man ihr die Seele…
Oder die geheimnisvoll maskierte Frau, die weint – unter der Maske – während die anderen in ihrer Träne tanzen und „nichts wissen“. „Wer, wer bist du, schöne Maske.“ Einmal ist sie wie die „Katze in der leeren Wohnung“, nach dem Verlust des vertrauten Hausgenossen:
Sterben – das tut man einer Katze nicht an.
Denn was soll die Katze
in einer leeren Wohnung.
An den Wänden hoch,
sich an Möbeln reiben…
So stellt sich in der Bildergalerie das „Frauenbildnis“ vielgestaltig dar.
4
Adam ist „Wanderer“ von Alpha „nach Omega“. Er siegt in der „Schönheitskonkurrenz der Männer“, ist Mister Universum,
Gespannt vom Spann bis an die Kiefer.
Von Oliofirmamenten triefend.
Nur der bekommt die Mister-Note
der wie ein Striezel zugeknotet…
Merkwürdig sein filmisches „Negativ“. Alles ist anders. Dunkles hell, Helles dunkel. Schließlich findet man seine „Gewohnte Heimkehr“ gemütlich.
5
Die „Bildergalerie“ präsentiert sich verwirrend vielgestaltig. Da sind der „Fürst, aufs schmeichelhafteste unbeleibt“ und neben ihm „Frau Fürstin, / wunderbar jung, allerjüngst“ auf der „Mittelalterlichen Miniatur“. Oder „Die Frauen von Rubens“: „nackt wie das Donnern der Tonnen“ in den „zertrampelten Betten“, die Töchter des Barock, „aufgedunsene, kürbisrunde… fette Liebesgerichte“. Oder Tänzerinnen, wie Miss Duncan, die wie „ein sanfter Zephir“ wölkchenartig dahintanzende Bacchantin, im Lichtbilderatelier der Pose bis zur „Erstarrung“ zum Fraß vorgeworfen. Ein „Album“ voller Landschaften, Sommernachtsträume, die alle auf dem Dachboden landen. Und wenn es ein Album der „normalen“ Familie ist, so ist der Rückschluß prosaisch:
Niemand in der Familie starb aus Liebe.
… ein Tag verflog nach dem andern
… die Getrösteten, gingen ein an Grippe.
6
Dem Erinnerungsschatz, der Bildergalerie, dem Museum, dem Fotoalbum folgt eine „Elegische Bilanz“. Die Erfahrene warnt in einer „Kleinanzeige“:
Für die Versprechen meines Mannes,
der euch verführt hat mit den Farben
der volkreichen Welt … komm ich nicht auf
Unter den vielen Einsichten der Bilanz die wichtigste: „Nichts ist geschenkt“ für immer, „alles geliehen“ auf Zeit. Eines Tages muß man es „rückerstatten“.
Ein langer Katalog von offenen wie geschlossenen Fragen sind diese skeptischen Liebesgedichte, das heißt Lebenslaufgedichte. Und es sind noch nicht alle Fragen von Szymborskas „Lebenslauf“ hier verzeichnet. Das Verzeichnis kann jeder für sich nach Wunsch ergänzen. Der Melancholie folgend oder der Freude am Leben und an der Liebe: dem Gedächtnis, der Hoffnung; dem Schreiben und dem Lesen der Gedichte.
Karl Dedecius, Nachwort
die erste Liebe sei die wichtigste. / Ein sehr romantischer, / aber nicht mein Fall.“
Für Wisława Szymborska sind Liebe und Freundschaft Teil des alltäglichen Lebens; so hütet sie sich vor großen Worten. Die vorliegende Auswahl versammelt die schönsten Liebesgedichte der Literatur-Nobelpreisträgerin.
„Beide sind überzeugt, / sie habe ein plötzliches Gefühl vereint. / Schön ist die Gewißheit, / doch Ungewißheit schöner“ – Liebe gehört für Wisława Szymborska zum Alltag, ohne alltäglich zu sein; so hütet sie sich vor großen Worten, ist ironisch, aus Erfahrung kritisch, nachsichtig, selbstkritisch. Sie kartographiert die Augenblicke, und mit einfachsten sprachlichen Mitteln gelingt ihr die hohe Kunst der verdichteten Weltbetrachtung.
Insel Verlag, Klappentext, 2005
Die Dichterin Wisława Szymborska hat 1996 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Sie gilt als Schöpferin einer eigenen Poetik, weil keines ihrer Gedichte dem anderen gleicht.
Der vorliegende Gedichtsband ist untergliedert in: Prolog, erste Liebe, Buffo Profundo, Lots Frau, Wanderer nach Omega, Bildergalerie, Elegische Bilanz und Prolog.
Auf mich wirken Szymborskas Liebesgedichte sehr kopflastig. Das sehe ich aber keineswegs negativ. Aus den Versen sprich selten Liebe und wenn, dann in einer merkwürdig distanzierten Form. Die Lyrikerin schreibt ein Gedicht mit dem Titel „Verliebte“, das endet mit dem Vers:
Und wenn wir einschlafen,
sehn wir im Traum die Trennung.
Doch dieser Traum ist gut,
ja dieser Traum ist gut,
weil wir davon erwachen.
Eine sonderbare Zustandbeschreibung, die das dahinter stehende Gefühl nur sehr vage andeutet.
Gefallen hat mir ein Gedicht mit dem Titel „Überraschendes Wiedersehen“:
(…) Wir verstummen mitten im Satz,
rettungslos lächelnd.
Unsereiner hat sich
nichts mehr zu sagen.
Ein solcher Satz bringt es auf den Punkt. Wenn man einem Menschen emotional im Leben irgendwann nahe war, dann verliert sich das nie mehr… und so ist es völlig natürlich folgenden Gedanken zu äußern:
Lächelnd wollen wir eins sein,
wenn wir uns halbwegs umfassen,
obwohl wir uns unterscheiden
wie zwei Tropfen reinen Wassers.
Ich habe in diesem Büchlein viele sehr schöne Gedichte gelesen, aber ich habe kein einziges Gedicht entdeckt, das sich nachhaltig an das Herzens-Du wendet. Das hat mich zunächst irritiert. Erst nach Stunden begriff ich die Gefühlsintensität, die den Gedichten inne wohnt.
Daniel Henseler: Späte Meisterschaft
literaturkritik.de, 3.3.2006
– Notizen zum Werk der polnischen Dichterin Wisława Szymborska. –
Für mich ist das wirklich Schöne an den Gedichten der Wisława Szymborska, daß sie nicht schön sind. Nicht schön im üblichen Sinne von „Heile, heile, Gänschen, der Dichter leimt dein Schwänzchen“. Leugnen wir’s nicht: So simpel hätten wir es nämlich schon ganz gerne. Unsere nahezu grenzenlose Toleranz noch dem billigsten Schlager gegenüber beweist es. Unter anderem.
Ernst sei das Leben, heiter die Kunst… Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. Mach mir was vor, blas mir ins Ohr. Wenn der weiße Flieder, komme ich dir wieder… Bißchen gebogen, ziemlich verlogen. Hübsch dumm gereimt – und alle geleimt…
Sie merken, ich rede mal so still und sarkastisch für mich hin. Lasse mal hören, was so halb geredet und halb gedacht wird. Üblicherweise.
Der Dichter, der um diese Situation nicht wüßte, der sie leugnen wollte, müßte ein Idiot sein. Wenn er nur halbwegs seine Sinne beieinander hat, weiß er, daß das, was im allgemeinen von ihm verlangt wird, beinahe in umgekehrtem Verhältnis zu dem steht, was im besonderen gebraucht wird.
Verlangt wird von manchem: das Bild einer heilen Welt oder zumindest das Rezept, wie man sich ein solches Bild zu malen habe. Gebraucht aber wird anderes, wenn das unbillige Verlangen nicht billig verkommen soll: die Bereitschaft jedes einzelnen, auf Bilder von der heilen Welt zu verzichten, solange die Welt nicht heil ist. Nicht nur Bücher, auch Bilder können den Blick auf die Welt verstellen. Das ist schlimm, weil es letztlich noch immer zu Schlimmerem geführt hat: zu theoretischer Verstiegenheit und praktischer Unkenntnis. Da hat – und diese Erinnerung muß im Blick auf Wisława Szymborska und den Leidensweg ihres Volkes erlaubt sein – das Nachbarvolk dann plötzlich „keinen Raum“ mehr, sondern nur noch einen „Führer“.
Dichten, also das Verfertigen mehr oder minder dichter, auf Wesentliches hin komprimierter Texte, ist eben kein Wort-Hokuspokus und kein gefälliger Zauber. Nicht im Ablenken und Zerstreuen, sondern im Hinlenken und Sammeln sucht Dichtung ihr Heil. Und das meint für jeden verantwortlichen Künstler: das Heil der vom Unheil nicht nur bedrohten, sondern längst schon allseits geplagten und gezeichneten Welt. Was existiert, existiert immer real. Oder es existiert nicht. Augen zukneifen und blinde Gedichte lesen hilft nicht über Wirklichkeit hinweg. Allenfalls beraubt es die Wirklichkeit um eine ihrer Möglichkeiten zum Besseren, das nur durch offenäugig engagiertes und solidarisches Ein- und Zugreifen des einzelnen erzwungen werden kann.
Ich höre skeptischen Widerspruch. Und ich ahne, worauf er sich vor allem gründet: auf der Autoritätslosigkeit meiner Sätze, ihren hörbar inoffiziellen Charakter. Unsere majoritäts- und autoritätsgläubige Sehnsucht geht nicht nur nach Gereimtem, sondern auch nach Geleimtem. Und der weltzerstörende Teufel brauchte, gäbe es ihn, nur an dieser Stelle einzuhaken und schon hätte er uns. Hören Sie bitte einen Text der Wisława Szymborska, der diesem Gedanken nachgeht und erschreckenden Ausdruck verleiht:
WERBEPROSPEKT
Ich bin Beruhigungspille.
Wirke privat,
habe Erfolg im Büro,
sitze den Prüfungen bei
und der Verhandlung,
sorgfältig kitte ich den zerbrochenen Krug,
du mußt mich nur nehmen
auf der Zunge zergehen lassen,
mich trinken
mit einem Schluck Wasser.
Ich weiß das Unglück zu meistern,
die schlechte Nachricht zu ertragen
und zu verringern das Unrecht,
ich verkläre die Abwesenheit Gottes,
den passenden Trauerhut weiß ich zu finden.
Worauf wartest du noch,
vertraue dem chemischen Mitleid.
Noch bist du jung (junger Mann, junge Frau)
und solltest dich einzurichten versuchen.
Wer war es, der sagte,
man müßte das Leben mutig durchstehn?
übergib ihn mir, deinen Abgrund –
ich polstere ihn mit Schlaf,
du wirst sie mir danken;
die vier Tatzen zum Fall.
Verkaufe mir deine Seele,
kein anderer Käufer steht dir parat.
Und auch kein anderer Teufel.
Was mich an diesem Text und fast allen Texten der Wisława Szymborska betroffen macht, ist: daß er mich – mich tiefstpersönlich! – betrifft und mir den Weg durch die Hintertür des faulen Kompromisses verbaut, indem er ihn benennt und mir bewußt macht. Der verständige, scharfe Blick der Szymborska geht nicht auf die aparte Eigenheit des einzelnen, sondern auf seine – allenfalls ihm selbst noch apart erscheinende – Neigung zur Uniformität. Als fände er da Heil und Sicherheit. Daß er’s da nicht findet, hat Wisława Szymborska nicht nur durchdacht, sondern vor allem Durchdenken auch erlebt.
1923 geboren, standen ihre Jugendjahre unter dem verheerenden Einfall mordend egalisierender SS- und Heeresverbände. Nationalsozialistische Planung hatte die Vernichtung auch der polnischen Nation auf ihre Karten und Fahnen geheftet. Im Beilagetext zu den beim Verlag Volk und Welt deutsch erschienenen Gedichten der Wisława Szymborska hat Jutta Janke, die kongeniale Nachdichterin des Bandes, treibende Gründe für diese Dichtung benannt:
Die Ohnmacht, das Leiden der unzählbaren Menschen nachempfindbar machen zu können, geschweige denn die Statistiken der Toten vorstellbar, die Einsicht in die Ohnmacht der Dichtung führte Wisława Szymborska zur Erkenntnis, daß die Aufgabe engagierter Poesie auch darin bestünde, dem Einzelnen, seiner einmaligen Existenz und seiner Unaustauschbarkeit Ausdruck zu verleihen und ihm damit den ihm gebührenden Platz zurückzugewinnen.
Soweit Jutta Janke. Mir scheint, daß diese Grunderkenntnis nicht nur die Dichtung, sondern auch die berufliche Entwicklung Wisława Szymborskas bestimmte. Ihre Neigungen zu Mathematik, klassischer und existentialistischer Philosophie, ihr Studium der Soziologie und der polnischen Sprachwissenschaft, ihre redaktionelle Tätigkeit bei der maßgeblichen Krakauer Literaturzeitschrift sind Momente ein und desselben Engagements, das sich allem exakten Wissen offen- und aller nur ungefähren Gewißheit fernhält. Die Mitgift solcher Haltung, solchen Sich-offenhaltens ist die vermehrte Angreifbarkeit. Von daher erklärt sich ein Vers wie „Wehrloser als das Laub im November“. Fast wäre dies der Titel des Bandes geworden. Aber die Dichterin protestierte:
Ich schreibe doch. Und wer schreibt, ist nicht wehrlos.
Ich bekenne, daß dieser Satz, wiewohl kein Gedicht, für mich zu den schönsten gehört. Nicht weil er schön, sondern weil er tapfer ist. Und insofern ist er vielleicht nicht einmal wahr. Aber er verrät eine Haltung, die das wahr macht und wahr machen will, wozu sie sich bekennt.
Jürgen Rennert, Sendung in Das Literaturjournal am 30.4.1980
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Katrin Hillgruber: Die Welt muss ständig neu beschrieben werden
Der Tagesspiegel, 30.6.2023
Elke Heidenreich: „Ich begeistere mich und verzweifle“
Süddeutsche Zeitung, 30.6.2023
Richard Kämmerlings: „Sie haben ein zu reines Herz, um gut schreiben zu können“
Die Welt, 3.7.2023
Holger Teschke: Was die Wirklichkeit verlangt
junge Welt, 3.7.2023
Peter Mohr: Mozart der Poesie
titel-kulturmagazin.net, 2.7.2023
Manfred Orlick: Kein umfangreiches Werk, aber etwas Unvergleichbares geschaffen
literaturkritik.de, 2.7.2023
Wisława Szymborska in memoriam.
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