BEITRAG ZUR STATISTIK
Auf hundert Menschen
zweiundfünfzig,
die alles besser wissen,
dem fast ganzen Rest
ist jeder Schritt vage,
Hilfsbereite,
wenn’s nicht zu lange dauert,
gar neunundvierzig,
beständig Gute,
weil sie’s nicht anders können,
vier, na sagen wir fünf,
die zur Bewunderung ohne Neid neigen,
achtzehn,
die durch die Jugend, die vergängliche,
Irregeführten
plus minus sechzig,
die keine Scherze dulden,
vierundvierzig,
die ständig in Angst leben
vor jemand oder vor etwas,
siebenundsiebzig,
die das Talent haben, glücklich zu sein,
kaum mehr als zwanzig, höchstens,
die einzeln harmlos sind
und in der Masse verwildern,
über die Hälfte, sicher,
Grausame,
von den Umständen dazu gezwungen,
das sollte man lieber nicht wissen,
nicht einmal annäherungsweise,
die nach dem Schaden klug sind,
nicht viel mehr
als die vor dem Schaden klug sind,
die sich vom Leben nichts als Gegenstände nehmen,
dreißig,
obwohl ich mich gerne irren würde,
Gebrochene, Leidgeprüfte,
ohne ein Licht im Dunkel,
dreiundachtzig,
früher oder später,
Gerechte
recht viel, denn fünfunddreißig,
sollte es die Mühe des Verstehens kosten,
drei,
Bemitleidenswerte
neunundneunzig,
Sterbliche
hundert auf hundert.
Eine Zahl, die sich vorerst nicht ändert.
Der erste Satz in einer Rede ist – sagt man – immer der schwerste. Das also habe ich schon hinter mir… Aber ich fühle, daß auch die nächsten Sätze schwer sein werden, der dritte, sechste, zehnte bis hin zum letzten, denn ich soll über Poesie sprechen. Zu diesem Thema habe ich mich selten geäußert, fast überhaupt nicht. Und immer begleitet von der Überzeugung, daß ich das nicht sonderlich gut mache. Deshalb wird mein Vortrag nicht allzu lang. Unvollkommenheiten sind leichter erträglich, wenn man sie in kleinen Dosen verabreicht.
Ein Dichter heute ist skeptisch und argwöhnisch, sogar und das vielleicht vor allem – gegenüber sich selbst. Nur widerwillig nennt er sich öffentlich einen Dichter – fast als schämte er sich dessen ein wenig. In unserer geschäftig schrillen Zeit ist es viel leichter, sich zu den eigenen Fehlern zu bekennen, können diese nur effektvoll genug ins Licht gesetzt werden, als zu den Tugenden, denn diese sind tiefer verborgen, und man selbst glaubt letztlich auch nicht so recht an sie… In Fragebogen oder Gesprächen mit Zufallsbekannten, wenn es längst ansteht, sich einen Dichter zu nennen, wählt man die allgemeinere Bezeichnung „Schriftsteller“, oder man gibt einen ebenfalls ausgeübten Nebenberuf an. Die Auskunft, sie hätten es mit einem Dichter zu tun, stimmt Staatsdiener oder Fahrgäste eines Busses leicht ungläubig und unruhig. Ich nehme an, die Berufsbezeichnung Philosoph löst ähnliches Befremden aus. Ein Philosoph befindet sich allerdings in einer weitaus besseren Lage. Er hat in den meisten Fällen die Möglichkeit, seinen Beruf mit einem akademischen Titel zu schmücken. Professor der Philosophie – das klingt schon viel seriöser.
Professoren für Poesie gibt es aber nicht. Das würde nämlich bedeuten, daß dieser Tätigkeit ein Fachstudium vorausgesetzt würde, jährliche Prüfungen, theoretische Arbeiten mit Anmerkungen, Quellen und Autoritäten, schließlich ein feierlich überreichtes Diplom. Und das würde wiederum bedeuten, daß es, um Dichter zu werden, nicht genügte, einige Papierseiten mit noch so hervorragenden Gedichten zu füllen, sondern man müßte unbedingt – vor allem – im Besitz eines Stück Papiers mit Amtssiegel sein. Denken wir doch daran, daß genau unter diesem Vorwurf der Stolz der russischen Poesie, der spätere Nobelpreisträger Iosif Brodskij, in die Verbannung geschickt wurde. Man schimpfte ihn einen „Parasiten“, denn er besaß keine amtliche Bescheinigung, keine Erlaubnis, Dichter zu sein…
Vor einigen Jahren hatte ich die Ehre und die Freude, ihn persönlich kennenzulernen. Ich bemerkte dabei, daß er unter den mir bekannten Dichtern der einzige war, der von sich gern als einem „Dichter“ sprach, er sprach dieses Wort ohne Hemmung, ja trotzig offen aus. Sicherlich eingedenk der brutalen Erniedrigungen, denen er in seiner Jugend ausgesetzt war.
In glücklicheren Ländern, in denen die Menschenwürde nicht so leichter Hand angetastet wird, sehnen sich Dichter vor allem danach, publiziert, gelesen und verstanden zu werden. Sie tun aber im Alltag nichts oder nur sehr wenig, um sich von den anderen Menschen abzuheben. Noch vor nicht allzulanger Zeit, in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, gefielen sich die Dichter darin, mit auffallender Kleidung und exzentrischem Auftreten ihre Umwelt zu schockieren. Das war als Schauspiel für die Öffentlichkeit gedacht. Doch dazwischen gab es die Augenblicke der Zurückgezogenheit hinter verschlossenen Türen, da der Dichter den Umhang, all den Glitzerkram und die sonstigen Poetenaccessoires fallen ließ, um in Stille, in Erwartung des eigenen Ich sich dem noch unbeschriebenen Blatt Papier zu stellen. Das ist es nämlich, was in Wirklichkeit zählt.
Ein charakteristisches Phänomen. Ständig und zahlreich werden Filme über die Lebensläufe großer Gelehrter und großer Künstler produziert. Die ehrgeizigsten Regisseure sind bemüht, den schöpferischen Prozeß, der wichtigen Entdeckungen der Forschung oder berühmten Kunstwerken vorausging, glaubhaft darzustellen. Manche Forschungsarbeit läßt sich filmisch einigermaßen vorführen: Laboratorien, Instrumente, Versuche können den Zuschauer durchaus eine Zeitlang fesseln. Außerdem sind Momente der Ungewißheit an sich dramatisch: ob ein Experiment zum tausendsten Male, leicht modifiziert wiederholt, auch endlich das erwartete Ergebnis bringt. Eindrucksvoll sind unter Umständen Filme über Maler – wenn es glückt, alle Phasen der Entstehung eines Bildes vom ersten Entwurf bis zum letzten Pinselstrich nachzubilden. Filme über Komponisten sind erfüllt von Musik – von den ersten Takten, die der Künstler in sich vernimmt, bis zur Reife des Orchesterwerks. Das alles ist freilich recht naiv und sagt noch nichts über den merkwürdigen Geisteszustand, den man für gewöhnlich Inspiration nennt; zumindest aber gibt es etwas zu sehen und zu hören.
Um die Dichter steht es schlechter. Ihre Arbeit ist hoffnungslos unfotogen. Da sitzt jemand am Tisch oder liegt auf einem Sofa, starrt unablässig an die Wand oder die Decke, schreibt von Zeit zu Zeit sieben Zeilen, von denen er nach einer Viertelstunde eine streicht, und wieder vergeht eine Stunde, und es geschieht nichts… Welcher Zuschauer hielte es aus, dem zuzusehen?
Ich habe die Inspiration erwähnt. Die Frage, was sie ist, wenn es sie gibt, beantworten die Dichter heute ausweichend. Nicht deshalb, weil sie die Wohltaten dieses inneren Impulses niemals verspürt hätten. Der Grund ist ein anderer. Es ist nicht leicht, jemandem etwas zu erklären, das man selbst nicht versteht.
Auch ich, gelegentlich danach gefragt, mache um das Wesen dieser Sache einen großen Bogen. Ich antworte beiläufig, die Inspiration sei kein ausschließliches Privileg der Dichter oder Künstler schlechthin. Es gibt, gab und wird immer eine bestimmte Gruppe von Menschen geben, die die Inspiration heimsucht. Dazu gehören alle, die sich ihre Arbeit bewußt aussuchen und sie mit Hingabe und Phantasie verrichten. Zum Beispiel manche Ärzte, Pädagogen, Gärtner und noch hundert andere Berufe. Ihre Arbeit kann ein permanentes Abenteuer sein, wenn es ihnen gelingt, in ihr immer wieder neue Herausforderungen zu entdecken. Auch in Schwierigkeiten und Niederlagen erlischt ihre Neugier nie. Sobald ein Problem gelöst ist, stellt sich ein Schwarm neuer Fragen ein. Inspiration, was auch immer sie sei, entsteht aus einem fortwährenden „Ich weiß nicht.“
Menschen dieser Art gibt es nicht viele. Die meisten Erdbewohner arbeiten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, sie arbeiten, weil sie müssen. Nicht sie entscheiden sich für eine Arbeit, die Lebensumstände entscheiden für sie. Die ungeliebte Arbeit, die Arbeit, die langweilt, die nur deshalb geschätzt wird, weil nicht einmal sie allen offen steht, ist eine schwere Bürde der Menschheit. Und es sieht nicht so aus, als würden die nächsten Jahrhunderte hier eine Wendung zum Besseren bringen. Ich meine nicht, daß den Dichtern der alleinige Anspruch auf Inspiration zukommt, dennoch rechne ich sie zu den wenigen, die das Schicksal begünstigt.
Hier könnten sich bei meinen Zuhörern Zweifel regen. Menschenschinder jeglicher Art, Diktatoren, Fanatiker, Demagogen, die mit einigen lauthals herausposaunten Parolen um die Macht ringen, mögen ihre Arbeit auch und verrichten sie ebenfalls mit findigem Eifer. Ja, aber sie „wissen“. Sie wissen, und das, was sie wissen, reicht ihnen ein für allemal. Auf nichts sind sie neugierig, denn das könnte die Kraft ihrer Argumente schwächen. Und alles Wissen, aus dem nicht neue Fragen aufkeimen, ist schnell ein totes Wissen, verliert die Temperatur, die das Leben braucht. Im Extremfall, den wir aus der alten und neuen Geschichte nur allzu gut kennen, wird es sogar für ganze Gesellschaften zur tödlichen Gefahr.
Deshalb sind für mich die drei kleinen Wörter „Ich weiß nicht“ so vertraut und kostbar. Zwar klein, aber mit starken Flügeln. Sie machen unser Leben weiter und weiter, sowohl nach innen als auch nach außen, in die Sphären hinaus, in denen unsere kleine Erde schwebt. Hätte sich Isaac Newton nicht gesagt: „Ich weiß nicht“, dann hätte es in seinem kleinen Garten zwar Äpfel hageln können, aber er hätte sich bestenfalls nach ihnen gebückt und sie mit Appetit verspeist. Wenn Maria Skłodowska-Curie, meine Landsfrau, nicht zu sich gesagt hätte: „Ich weiß nicht“, dann wäre sie sicher Chemielehrerin in einem Pensionat für junge Damen aus gutem Hause geblieben, und bei dieser – ebenfalls ehrenwerten – Arbeit wäre ihr Leben verflossen. Aber sie sprach sich immer wieder vor „Ich weiß nicht“, und genau diese Worte führten sie, sogar zweimal, nach Stockholm.
Auch ein Dichter, der wirklich ein Dichter ist, muß sich immer wieder sagen „Ich weiß nicht“. Mit jedem Gedicht versucht er, darauf zu antworten, doch sobald er nur einen Punkt gesetzt hat, beginnt er zu zögern; es wird ihm klar, daß seine Antwort provisorisch und völlig unzulänglich ist. Also versucht er es wieder und wieder, und irgendwann werden die Literarhistoriker diese Versuchskette seiner Selbstunzufriedenheit mit einer großen Büroklammer zusammenheften und mit „Œuvre“ überschreiben.
Manchmal träume ich von Situationen, die nicht wahr werden können. Ich stelle mir beispielsweise in meiner Dreistigkeit vor, ich hätte die Gelegenheit, mit dem Prediger zu sprechen, dem Verfasser der eindringlichen Klage über die Eitelkeit allen menschlichen Beginnens. Ich würde mich vor ihm tief verneigen, denn schließlich ist er – meiner Ansicht nach – einer der größten Dichter. Dann würde ich ihn bei der Hand fassen. „Nichts Neues unter der Sonne“, hast du geschrieben, Prediger. Du selbst aber bist neu unter der Sonne geboren. Und das Gedicht, das du geschaffen hast, ist auch neu unter der Sonne, denn vor dir hat es niemand geschrieben. Und neu sind alle deine Leser unter der Sonne, denn die, die vor dir lebten, haben es nicht lesen können. Sogar die Zypresse, in deren Schatten du sitzt, wächst hier nicht von Anbeginn der Welt. Irgendeine andere Zypresse, der deinen ähnlich, aber nicht genau dieselbe, gab ihr den Anfang. Und außerdem wollte ich dich fragen, Prediger, was du jetzt Neues unter der Sonne schreiben wirst. Eine Fortsetzung deiner Gedanken, oder reizt es dich vielleicht, ihnen zu widersprechen? In deinem letzten Gedicht schreibst du auch über die Freude – was ist schon dabei, daß sie vergänglich ist? Womöglich wirst du ihr dein neues Gedicht unter der Sonne widmen? Hast du dir schon Notizen, erste Skizzen gemacht? Du wirst doch kaum behaupten: „Ich habe bereits alles geschrieben, dem ist nichts hinzuzufügen.“ Das könnte doch kein Dichter der Welt von sich sagen, geschweige denn ein so großer wie du.
Die Welt – was immer wir über sie denken, eingeschüchtert von ihrer gewaltigen Größe und unserer Ohnmacht, empört über ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Leiden von Mensch, Tier und vielleicht auch Pflanze (denn woher nehmen wir die Sicherheit, daß Pflanzen nicht leiden), über ihre Räume, die die Sterne umstrahlen, um welche wiederum längst entdeckte Planeten kreisen, längst tote? noch tote? Das wissen wir nicht. Dieses unermeßliche Schauspiel, für das wir zwar eine Platzkarte besitzen, deren Gültigkeit lächerlich kurz ist, ist von zwei entschiedenen Daten begrenzt; was immer wir von dieser Welt denken −, sie macht uns staunen.
Im Begriff „Staunen“ steckt jedoch eine logische Falle. Wir bestaunen schließlich das, was von bekannten, allgemein anerkannten Normen abweicht, von der Selbstverständlichkeit, die wir gewohnt waren. Eine selbstverständliche Welt aber gibt es überhaupt nicht. Unser Staunen ist autonom und ergibt sich aus keinem Vergleich.
Im Alltag benutzen wir freilich Wendungen wie „die gewohnte Welt“, „das gewohnte Leben“, „der gewohnte Lauf der Dinge“, weil wir hier nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen… In der Sprache der Poesie aber, in der jedes Wort gewogen wird, ist nichts gewöhnlich, nichts normal. Kein Stein und keine Wolke darüber. Und vor allem kein einziges Dasein hier auf dieser Erde.
Es sieht so aus, als hätten die Dichter immer noch viel zu tun.
Wisława Szymborska, Nobelpreisrede, 7.12.1996
Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier
Josif Brodskij, der russische Dichter und Nobelpreisträger von 1987, war und ist über jeden Verdacht erhaben, von Geburt an mit allzuviel Sympathie für seine polnischen Nachbarn ausgestattet gewesen zu sein. Dennoch bezeugte er: „Die außergewöhnlichste Lyrik dieses Jahrhunderts wurde in polnischer Sprache geschrieben.“ Es hätte keines weiteren Belegs bedurft, und doch wurde am 10. Dezember 1996 abermals ein solches Zeichen gesetzt: Der Nobelpreis für Literatur ging an die Lyrikerin Wisława Szymborska.
Wisława Szymborska, ein Jahr älter als Zbigniew Herbert, ist früher als dieser mit ersten dichterischen Versuchen an die Öffentlichkeit getreten, etwas später allerdings als der zwei Jahre ältere Tadeusz Różewicz. In ihrer Jugend, in den ersten bei den veröffentlichten Gedichtbänden, als in ihrem Lande der Sozialismus besonderer Prägung noch eine Vision war, stellte sie sich in dessen Dienst, aber nur für kurze Zeit. Die Desillusionierung erfolgte schon in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. Sie distanzierte sich sogleich und eindeutig von dieser kurzen ideologischen und poetologischen Verirrung, um von nun an in völliger Unabhängigkeit von Gruppen und Tendenzen ein gedanklich wie formal erstaunlich konsequentes Werk fortzuschreiben. Ihr Ansehen als Künstlerin und Zeitgenossin wuchs seitdem mit jeder ihrer zehn Buchveröffentlichungen. Heute ist sie mit keinem ihrer in Polen berühmten Kollegen vergleichbar, auch keines ihrer Gedichte ist – weder formal noch inhaltlich – mit einem ihrer anderen Gedichte zu vergleichen. Jedes ist anders, neu, originell, ob gereimt oder ungereimt, mit eigener Trauer, eigenem Tiefsinn und eigener Weisheit, die das Althergebrachte in Frage stellt, das Unausgesprochene musikalisch und bildlich umschreibt. Sie ist ein Phänomen der Unwiederholbarkeit, weil sie keine Formeln, keine Schablonen und keine Raster kennt. Sie kartographiert die Augenblicke, koloriert sie lyrisch, um ja kein Pathos aufkommen zu lassen, sparsam, dezent, panzert ihre Gefühle mit Ironie und kommt dabei mit erstaunlich einfachen Mitteln einer sehr kommunikativen Sprache aus. Reinhard Lauer, Ordinarius für Slawistik an der Universität Göttingen, resümierte in seiner Laudatio zum Herder-Preis für Wisława Szymborska in Wien 1995:
Ihre Poesie ist spannend, man kann sich an ihr nicht satt lesen. Und während man sie liest und im Lesen das Gemüt erfrischt und erhellt, wird die Erkenntnis überfällig, daß der esprit polonais weiblich ist.
Wie Szymborska ihre Bild-, Wort- und Satzpartikel organisiert, ist höchst kunstvoll. Sie muß nicht ihre Silben zählen, damit sie maßvoll klingen; sie muß sich nicht unbedingt der Reime bedienen, um ihre Zeilen satzfigürlich oder akustisch aufzuputzen. Die Poesie ihrer Gedichte hat anmutiges Format ohne Korsett. Und dann der Reichtum ihrer Themen, das Füllhorn ihrer Phantasie: Expeditionen in den Himalaja, um den Yeti zu warnen, ob er sich wirklich in die Täler herablassen und der menschlichen Zivilisation ausliefern möchte. Kriegsberichte aus Vietnam und Korea. Fischfang im Fluß des Heraklit, philosophischer Fischfang. Frappierende Museumsbesuche, soziologische Befunde über die allerjüngste Gegenwart. Subtil ziselierte Novellen, Charakterstudien und Bildbetrachtungen. Wir finden in diesem schmalen lyrischen Werk Kleinanzeigen der alltäglichen Kümmernisse als Universalgeschichte; Archäologisches, Kosmologisches, Biologisches – Logisches auf alle Fälle. Naturwissenschaftlich und seelenkundlich erhärtete, geradezu chemisch durchgeführte Untersuchungen so flüssiger, undurchsichtiger Begriffe wie „Liebe“. Rezensionen über nicht geschriebene Bücher. Biblische Lektüren mit einer neuen Sicht auf so festgefahrene Figuren wie Lots Frau und Hiob. Film, Theater, Musik nimmt sie ganz anders wahr, als wir sie mit Hilfe der Experten zu sehen und zu hören gewohnt sind.
Ihre Altertumsforschung und Gegenwartskunde, in einem Dutzend kurzer Sätze eingefangen, wollen unsere Skepsis schärfen, ohne uns die Freude am Leben zu nehmen: Neue, ungewohnte Perspektiven eröffnen uns ihre Natur- und Kunstbetrachtungen: hier eine „Mittelalterliche Miniatur“, dort eine chinesische Tuschzeichnung „Menschen auf der Brücke“ – oder eine eigene Interpretation der barocken „Frauen von Rubens“:
Frauliche Fauna, Walküren,
nackt wie das Donnern der Tonnen.
Sie nisten in zertrampelten Betten,
schlafen mit aufgerissenen Mündern, als wollten sie krähen.
Ihre Augäpfel flohen nach innen
und stieren tief in die Drüsen,
aus denen Hefe sickert ins Blut.
Töchter des Barock. […]
Konvex ist sogar der Himmel,
konvex sind Engel und Gott −
Phöbus mit Schnurrbart, der auf einem schwitzenden
Roß in den kochenden Alkoven reitet.
Eine knappe, anschauliche und musikalisch (hörbar) wahrgenommene Lektion in Kunstgeschichte. In dem oben zitierten Gedicht ist die betonte Häufung des offenen „o“ charakteristisch: Donner, Tonnen, Roß, kochenden, Gott…
Ein anderes Gedicht führt uns im Dialog die Demagogie des Imperialismus vor, in die einfache Sprache der Soldaten übertragen. Römische Legionäre, unterwegs, fremde Provinzen zu erobern, unterhalten sich über die Niedertracht der kleinen Völker, die sich partout nicht unterjochen lassen wollen. Sie wiederholen die Argumente ihres Imperators, von deren Richtigkeit sie überzeugt sind („Stimmen“):
Wenn sie uns wenigstens nicht behinderten, aber sie tun es,
diese Aurunker, Marser, Spurius Manlius.
Von hier und dort die Tarquinier, von überallher die Etrusker.
Außerdem die Volsiner. Überdies die Vejinter.
Wider den Sinn die Aulerker. Item die Sappianaten.
Das überschreitet die menschliche Langmut, Sextus Oppius.
Die kleinen Völker haben einen kleinen Verstand.
Immer weitere Kreise zieht der Stumpfsinn um uns.
[…]
Ich fühle mich arg bedroht von jeglichem Horizont.
So sehe ich das Problem, mein Hostius Melius.
Drauf sage ich, Hostius Melius, dir, mein Appius Papius:
Vorwärts. Irgendwo schließlich ist die Welt zu Ende.
Dies ist keinesfalls nur ein Situationsbericht aus der Geschichte des Imperium Romanum. Die Geschichte unserer Zeit führt ähnlich motivierte Dialoge.
Dem Völkermord, der Schoah, widmet sie ein siebenarmiges brennendes Gedicht, wie ein jüdischer Leuchter zu Sabbat, einsilbig und vielsagend betitelt „Noch“.
Oder das so harmlos, so schlicht, auf leisen Versfüßen daherkommende Gedicht „Geburtstag“. Wir lesen und geraten in eine Falle. Nichts von all dem, was wir nach der Lektüre der Überschrift zu diesem Thema erwartet hätten. Das Vertraute erweist sich beim näheren Hinsehen als eine neu empfundene Geschichte von der Erschaffung der Welt, mit „Geburtstag“ ist der Tag der Geburt des Menschen in einer fast biblischen Relation zur Geburt der Welt gemeint: die Vergänglichkeit nach dem Maßstab der Ewigkeit. Wie teuer ist eigentlich die Welt Gottes, und wieviel davon kann sich der Mensch frohen Sinnes und reinen Gewissens leisten? Wisława Szymborska stellt hierzu verblüffende Überlegungen an.
Soviel Welt auf einmal von überall Welten:
Moränen, Muränen und Meere und Mähren,
Karfunkel und Funken und Bären und Beeren,
wo stell ich das hin, und wie soll ich mich wehren?
Die Minze und Pilze, die Drosseln und Brassen,
die Dillen und Grillen – wie soll ich das fassen?
Die Schönehen und Tränchen, Gorillas, Berylle −
ich danke, mich überfordert die Fülle.
Wohin mit der Pracht, mit den Kletten und Kressen, […]
Auch ohne das Preisschild ahn ich die Preise
der Sterne, nein, danke, ich kann’s mir nicht leisten.
Adalbert Reif (Welt der Kultur vom 4. Oktober 1996) lobt Szymborskas „Aussagemächtigkeit“, die sich „auf die zentralen Fragen des menschlichen Daseins“ konzentriere und „jedweder politischen und gesellschaftlichen Plakativität abhold“ sei, was stimmt. Es stimmt aber genauso, daß ihre Dichtung sehr politisch ist, nur eben auf eine ihr eigene, nicht bramarbasierende, eine die Einsicht öffnende und ins Gewissen eindringende Art:
Wir sind Kinder der Zeit,
die Zeit ist politisch.
Alle deine, unsere, eure
Tagesgeschäfte, Nachtgeschäfte
sind politisch.
Ob du es willst oder nicht,
die Vergangenheit deiner Gene ist politisch.
die Haut hat politischen Schimmer,
die Augen politischen Aspekt.
Wovon du sprichst, hat Resonanz,
wovon du schweigst, ist beredt,
so oder anders politisch.
Angezeigt hatte Szymborska die Art ihrer politischen Weitsicht bereits 1945:
Unsere Kriegsbeute ist das Wissen von dieser Welt:
− Sie ist so groß, daß zwei im Händedruck sie fassen können,
so schwer, daß sie mit einem Lächeln sich beschreiben läßt,
so seltsam wie das Echo alter Wahrheit in Gebeten.
Und deshalb sind Händedruck und Lächeln die Mittel ihrer Poesie. Ihr Herz pocht nicht auf die Sechsunddreißigstundenwoche zu.
Ich danke dir, mein Herz,
daß du nicht säumst, daß du dich regst
ohne Entgelt und ohne Lob,
aus angeborenem Fleiß.
Siebzig Verdienste hast du in der Minute.
Jede deiner Muskelbewegungen
ist wie das Auslaufen des Bootes
aufs offene Meer
zur Fahrt um die Welt.
Ein Liebesgedicht wie das folgende, auf das Bild einer Schwalbe konzentriert, derart überraschend mit seiner verschwenderischen Oszillation, ist unverwechselbar Szymborskas Sehkraft:
Im Haselholz liebten sie sich
unter den Sonnen des Taus,
mit welken Blättern im Haar
und auf der Erde zuhaus.
Schwalbenherz,
erbarme dich ihrer.
[…]
Schwalbe, Dorn der Wolke,
Anker der Atmosphäre,
vollendeter Ikarus,
himmelfahrender Frack,
Schwalbe, Schönschreibkunst,
Zeiger ohne Minuten,
frühe Vogelgotik,
Silberblick des Himmels,
Schwalbe, spitze Stille,
heitere Traurigkeit,
Aureole Verliebter,
erbarme dich ihrer.
Goethe, in dessen Namen die Stadt Frankfurt am Main 1991 Wisława Szymborska für ihr poetisches Werk ausgezeichnet hat, hatte am 6. April 1829 in einem Gespräch mit Eckermann seine Vorstellung von guter Poesie kurzgefaßt: „Mir sind diejenigen Gedichte die liebsten, die Anschauung und Empfindung zugleich gewähren.“ Und an einer anderen Stelle, um auch sein Negativkriterium nicht zu verhehlen: „Mangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen ist die Quelle allen Übels unserer neuesten Literatur.“
Wer sich in die Gedichte der Nobelpreisträgerin mit offenen Sinnen und nachdenklich hineingelesen hat, entdeckt Goethes Prinzip bei ihr verwirklicht. Ihre Gedichte sind als Anschauung authentisch, getragen von einer Empfindung, die niemals belanglos oder falsch ist, und beides ist gefestigt durch einen zuverlässigen Charakter.
Wisława Szymborska hält uns einen scharf geschliffenen Spiegel vor, keinen Zerrspiegel der Postmoderne. Sie trägt keine zynische Überlegenheit (das heißt Gleichgültigkeit) zur Schau, sie nimmt die Unzumutbarkeiten und die Lächerlichkeiten, die eigenen und die der anderen, zur Kenntnis: Auch das Gebrechliche ist menschlich. Darüber muß man aber nicht verzweifeln oder in Larmoyanz verfallen. Besser ist es, sich dem Leben mit Selbstkritik zu stellen und ihm mit einer Prise attischen Salzes, der Ironie, zu begegnen, um widerstandsfähig zu werden.
Karl Dedecius, Nachwort
Ulrich M. Schmidt: Die Dringlichkeit der naiven Fragen
Neue Zürcher Zeitung, 24.5.1997
die wunderbare polnische Lyrikerin, müsste von diesen merkwürdigen, gleichsam hierarchiefreien Photographien fasziniert sein. Das behaupte ich, und das Gedankenspiel scheint mir legitim. Mit auffallender Intensität, in vielen Varianten hat sie das Wichtige und das, was für unwichtig gilt, nebeneinandergestellt, nicht ohne Verbindung, aber ohne Rangordnung. „In der Sprache der Poesie… ist nichts gewöhnlich und nichts normal. Nicht ein einziger Stein und nicht eine einzige Wolke darüber. Nicht ein einziger Tag und nicht eine einzige Nacht. Und vor allem kein einziges Leben“ – das sagt sie am Ende ihrer Nobelpreisrede vom letzten Dezember.
Auf diese Rede war ich gespannt – und entsprechend dankbar, als ich sie von einer schwedenkundigen Freundin, die oft die Nobelpreiswoche in Stockholm verbringt, in die Hand gedrückt erhielt. Wie würde die Autorin, die in ihrem Werk poetologische Sätze vermeidet, ja deren Wert anzweifelt, diese Aufgabe meistern? Leichtfüssig, beiläufig, als wolle sie um die Sache herumreden, fängt sie an, und kommt dann doch zur Sache, tupfgenau, kommt, überraschend für viele, aber nicht für jene, die ihr Werk kennen, zu einem Satz, wie man ihn sich lapidarer nicht vorstellen kann: zum Satz „Ich weiss es nicht“, und damit zum Zentrum ihrer Rede. Das „Ich weiss es nicht“ ist keine Verlegenheitsfloskel, es steht für Wisława Szymborska am Ursprung aller Inspiration, nicht nur der dichterischen; er steht am Anfang von jedem Gedicht – und aufersteht an dessen Ende als ein Impuls für das nächste. So einfach ist das, so selbstverständlich, so überzeugend.
Nicht dass ich durch die Lektüre der Rede die Gedichte besser verstünde! Diese brauchen die Stütze der Theorie, die „wackligen Antworten“ der Poetologie nicht. Aber ich bin jetzt hellhöriger für die vielen Fragesätze, die durch die Gedichte gehen, für die Formeln der Ungewissheit – diese „sozusagen“, „angeblich“, „so scheint es“ −, die sie untergründig strukturieren.
Das „ich weiss es nicht“ der Szymborska wirkt sanft, leise, ohne Aggression – nicht zu vergleichen, beispielsweise, mit den gezielten, bohrenden Fragen, mit denen Ibsen der Gesellschaft seiner Zeit auf den Leib und in die Eingeweide rückte, und die, übrigens, dort am glaubwürdigsten sind, wo der Autor – wie in der „Wildente“ – auch den Fragesteller, also sich selbst, in Frage stellt. Die Gedichte Szymborskas wirken schwerelos, beiläufig im Ton; ohne Zorn, ohne Anklage. Und sind doch auf eine beharrlich leise Art subversiv, indem sie konsequent alle Rangordnungen und Gewissheiten auflösen. Das Gedicht „Das Ende des Jahrhunderts“ schliesst mit den überraschenden Strophen:
Wie leben? – fragte im Brief
mich jemand, den ich dasselbe
hab’ fragen wollen.
Weiter und so wie immer,
wie oben zu sehen, es gibt keine Fragen,
die dringlicher wären als die naiven.
Elsbeth Pulver 1.2.1997, aus Elsbeth Pulver: Tagebuch mit Büchern. Essays zur Gegenwartsliteratur, Theologischer Verlag Zürich, 2005
Vor nunmehr zehn Jahren, 1996, war es eine Frau, die von den Stockholmer Juroren mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden ist… eine Frau… und keinesfalls eine Quotenfrau. Denn die polnische Dichterin Wisława Szymborska ist eine der bedeutendsten Lyrikerinnen, nicht nur in der – an poetischen Begabungen ohnehin nicht armen – Literatur ihres Landes, sondern in globalem Kontext.
Auch der deutsche Leser hat sich schon früh vom Rang dieser Autorin überzeugen können, zum ersten Mal 1959, als Karl Dedecius, ihr kongenialer Übersetzer, sie mit drei Gedichten in einer Lektion der Stille betitelten Anthologie vorstellte. In einem späteren, umfangreicheren Sammelband, den Dedecius 1964 programmatisch Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts nannte, zeigte sich das Profil bereits deutlicher, auch in qualitativer Hinsicht.
Doch die Größe ihres Talents und die Breite ihrer Palette wurde hierzulande erst ein knappes Jahrzehnt später erkennbar: mit dem Erscheinen einer eigenständigen Verssammlung, die 1973 unter dem lapidaren Titel Salz erschien, einem Buch, in dem sich so fragile und transparente Sprachbilder fanden wie dieser Auftakt eines Prosagedichts:
Er baute sich eine Geige aus Glas, um die Musik zu sehen…
Zu sehen, nicht etwa zu hören.
Wisława Szymborska, die nicht lange den plumpen Anweisungen des Sozialistischen Realismus gefolgt ist, arbeitet an einer künstlerischen Welt, in der sich das Psychogrammatische mit dem Gedanklichen verbindet, das Banale mit dem Metaphysischen, das Alltägliche mit der philosophischen Reflexion:
Vertraut mit den großen Räumen
zwischen Himmel und Erde,
verlieren wir uns im Raum
zwischen Erde und Kopf…
Die Dichterin, die es ablehnt, die Daten und Stationen ihres Lebens öffentlich werden zu lassen, hat in dem seinerzeit stark politisierten literarischen Klima der Bundesrepublik zunächst weniger Beachtung gefunden als ihre Landsleute Tadeusz Różewicz, der rigorose Gegner allen metaphorischen Redens, und Zbigniew Herbert, der sich mehr vom Intellekt steuern ließ als die empfindsame und scheue Dichterin aus Krakau, die ein instabiles Gleichgewicht zwischen Begrifflichem und Emotionalem herzustellen versucht, wenn sie über die Rätsel des Seins nachsinnt:
Im Fluß des Heraklit
fischen Fische nach Fischen,
zerlegen Fische Fische, wohnen Fische in Fischen,
…
liebt ein Fisch einen Fisch…
Seit 1957, als sie die ersten, ihr selber gültig gebliebenen Gedichte in dem Band Rufe an Yeti publizierte, hat diese Verfasserin einer „lyrischen Novellistik“ nicht aufgehört, die Rezensenten, die Kollegen und vor allem die polnische Leserschaft in den Bann zu ziehen – mit Texten, die vibrierende Daseinsbekundungen sind, einfühlsame Sondierungen einer zugleich kühlen und erregbaren Vernunft:
Vier Milliarden Menschen auf dieser Erde,
und meine Vorstellungskraft ist wie sie immer war.
Sie tut sich schwer…
Oder, eine weitere aphoristisch zugespitzte Definition aus einem anderen Gedicht:
Ein Alltagswunder:
daß es so viele Alltagswunder gibt.
Die Fähigkeit zu staunen, die mit zunehmendem Wissen gewöhnlich abnimmt, hat bei Wisława Szymborska mit den Jahren sogar noch an Intensität gewonnen, ungeachtet des Zuwachses an Erfahrung und Erkenntnis. Man könnte sagen: die historisch akkumulierten Bestände unserer spätzeitlichen Zivilisation werden sowohl mit einem romantischen Herzen wie mit einem zur Analyse befähigten Kopf erlebt, ein Vorgang, bei dem nicht selten Ironie mit im Spiel ist, wie in dem Gedicht „Volkszählung“, in dem es heißt:
Sieben Städte hat man ausgegraben
auf dem Hügel von Troja.
Sieben. Sechs zuviel für ein Epos.
Wohin mit dem Rest, was tun?
Die Hexameter bersten.
Dann, ein paar Verse weiter, eine beiläufig beigebrachte Formulierung von absurder Abgründigkeit:
Unsere Frühzeit nimmt zu,
allmählich wird’s darin eng…
Die eigene Schwester, die keine Gedichte schreibt (ein „Talent“, das sie von der Mutter hat), ist für Wisława Szymborska ebenso ein lyrisches Sujet wie der Kosmos, die Historie, eine Landschaft, ein Massenfoto, ein Autorenabend, ein Grabstein oder die mit existentieller Bedeutung unterlegten Zufälligkeiten, die sich in einem Museum finden:
Teller, aber kein Appetit.
Ringe, doch ohne Gegenliebe,
seit mindestens dreihundert Jahren.
Aus Mangel an Ewigkeit wurden
zehntausend alte Gegenstände versammelt.
…
Die Krone überdauerte den Kopf.
Die Hand verlor gegen den Handschuh…
Wisława Szymborska sinnt über die Zeit nach, über die Tiefen und die Untiefen des Lebens, auch über das Wesen (nicht die Rolle) der Frau; und vieles, was ihr in den Blick gerät, kommt ihr entrückt vor – wie aufbewahrt in einer Vitrine oder wie aufgebahrt im Sarkophag der Geschichte:
Ein paar Handvoll Erde, und das Leben ist vergessen.
…
Zum Abfall wandern Pantoffeln, lästige Zeugen.
Die Geige eignet sich an der unbegabteste Schüler.
Oder, persönlich gesagt – auf der Schwelle zwischen Ich und All:
In der Beschreibung des Himmels scheint die Autorin etwas ratlos,
verloren im furchtbaren Weltraum,
befremdet ob der Starrheit der vielen Planeten…
Im Gegensatz zu manchen anderen Schriftstellern hat der Nobelpreis in das Schaffen von Wisława Szymborska keinen qualitätssenkenden Einschnitt gebracht. Weder hat der Ruhm ihr den Atem verschlagen, noch hat sie sich unter Auftrittszwang und Produktionsdruck setzen lassen.
Selbst der Begriff Alterslyrik wurde kein auf sie anwendbares Prädikat. Denn wenn man hiermit Reife und gesättigte Erfahrung verbindet, so hat es diese Kreativitätsmerkmale bei ihr schon vorher gegeben. Sie waren quasi von Anfang an da – ebenso wie die skrupulöse Zurückhaltung, die sie nur restlos Durchgestaltetes aus der Hand geben ließ…
Auch nach der Ehrung in Schweden hat die Dichterin sich Zeit gelassen, sechs Jahres lang, um erst 2002 einen neuen Versband vorzulegen, der nicht einmal zwei Dutzend Texte enthielt und, kontrapunktisch zu dem Terminus Ewigkeit, den minimalisierenden Titel Der Augenblick trägt.
Wiederum gelingt es der Autorin, von den großen letzten Dingen mit kleinen vorläufigen Floskeln zu sprechen:
Ich schlafe noch,
und währenddessen treten die Fakten ein.
Eine scheinbar banale Situation wird unversehens zur hintergründigen und hintersinnigen Szenerie. Mit dem hereindämmernden Tageslicht tauchen Gegenstände auf, die den Raum bevölkern, „Formen sondern sich ab, eine von der anderen“, und die „Frühe Stunde“ erweist sich als eine private Genesis, in der der Mensch als verspätetet Zeuge erwacht, dann, „wenn das Wunder schon abgeleistet“ ist.
In einem Gedicht porträtiert Szymborska ein kleines Mädchen, das die Decke vom Tisch zieht und hierdurch („Herr Newton hat damit noch nichts zu tun“) die Welt erkundet. Der Schrank und der Tisch sind unverkennbar störrisch, unverrückbar. Doch das, was sich auf der Decke befindet – Gläser, Teller, Löffel – erzittert „geradezu vor Freude“. Was wie Ungezogenheit erscheinen mag, ist in Wahrheit Empirie, reinste Entdeckerlust.
Szymborska sagt von sich selbst, sie fürchte seit ihrer Kindheit Regenpfützen:
Eine von ihnen könnte ja ohne Boden sein
Das Abgründige lauert in sämtlichen Erscheinungen, nicht zuletzt in der Weite des Alls, in der – Astrophysik hin oder her – unsere bewohnbare Erde vorerst keine kosmische Entsprechung hat und somit „keine Neuigkeiten / von besseren oder schlechteren Mozarts, / Platons oder Edisons irgendwo…“
Die Dichterin fragt sich, warum das Nicht-Sein sich, trotz seiner vermutlichen Vollkommenheit, in die „schlechte Gesellschaft der Materie“ begeben habe. Doch solch Sinn für reine Irrealität kennt keinerlei Berührungsängste mit dem Irdischen, das sie, freilich auf intellektuelle Weise, transzendiert.
Wie der späte Enzensberger umkreist auch sie das amorphe Phänomen der Seele und beschäftigt sich, ebenfalls wie Enzensberger, mit den – poetisch eigentlich längst ausrangierten – Wolken, die uns nicht gerade beim Möbelrücken und Kofferschleppen helfen, aber in ihrer sich ständig zerstreuenden und wieder erneuernden Beziehungslosigkeit über unserem Dasein „paradieren“.
Szymborska ist eine Metaphysikerin, verschlagen in ein unmetaphysisches Zeitalter. Auf dem Friedhof, so meint sie, huschen die Lebenden an den Gräbern der Toten vorüber, so wie Reiche an Elendsquartieren. Das Verlangen nach Kommunikation ist sphären- und gattungsüberschreitend:
In der Garderobe der Natur
sind viele Kostüme.
Die Geschöpfe, jedenfalls hier auf der Erde, scheinen nur von einer Maskerade in die nächste zu schlüpfen. Als Übergang dazu benötigen sie allerdings den Tod. Für den jedoch ist kein Platz in der Moderne, eher schon in der Gedankenwelt der Antike:
KÓSMOS MAKRÓS
CHRÓNOS PARÁDOXOS
Nur das steinerne Griechisch hat dafür Worte.
Wisława Szymborska bewegt sich zwischen Makro- und Mikrokosmos, Sein und Geschichte, zwischen den Einzelheiten des Lebens und dem Verschwinden des Individuums in der Statistik, die, summa summarum, ungeachtet aller Forschungs- und Wissenschaftsanstrengungen zu dem Ergebnis kommt, daß die Sterblichkeitsrate immer noch „hundert auf hundert“ beträgt.
Unter dem Firnis der Aufklärung nagt der Rost der Unwissenheit, und der Optimismus ist lediglich ein anderer Aggregatzustand der Verzweiflung. Das Gemüt mag Empathie entwickeln, die Ratio kann ansetzen, wo sie will. Das Ergebnis bleibt fragmentarisch, ganz wie „die einseitige Bekanntschaft“ mit den schweigenden Pflanzen, mit denen man gemeinsam das Universum durchrast, verbunden durch vielerlei Themen, denen man aber dennoch „rein gar nichts bedeutet“. Weswegen jede Rede, jeder brüderliche Annäherungsversuch („so notwendig wie möglich“), noch im Vorfeld der Kommunikation stecken bleibt: ein Monolog, gesprochen in resonanzlose Leere.
Wisława Szymborska hat gesagt:
Ungeachtet der Länge des Lebens
hat der Lebenslauf kurz zu sein
Es paßt zu ihrer diskreten Selbstbeschreibung, daß ihr „Sosein… nach Provinz“ riecht und sie ein Charakter ist, „wie ein Mantel, im Laufen zu Ende geknöpft“.
Bei dieser Autorin gehen Bescheidenheit und Konzentration Hand in Hand. Ihre Versbände sind von Anfang an konzis; sie erschienen in größeren Zeitabständen als die der meisten Autoren. Ihr Platz war nie ein intellektuelles Zentrum, sondern, wennschon sie in der geistig regen Stadt Krakau lebt, ein unauffälliges Abseits, in dem sie, die genaue Beobachterin, als stiller Reflex in den Augen Anderer, selbst Geliebter und Vertrauter, erscheint:
Ich ließ geschehen, daß er mich ausdachte
oder:
Ich bin zu nah, als daß er von mir träumte.
Das Kassandrahafte, das sich ihr aus Sein und Geschichte aufdrängt, wird durch wärmespendende Nähe zu Menschen und Dingen gemildert. Der oder das Einzelne ist ihr stets lieber als die Gattung. Doch gerade ihr Mitleid, diese „Phantasie des Herzens“, schärft den Blick für das Vereinnahmende durch Struktur und Kollektiv:
Du mußt nicht einmal ein menschliches Wesen sein,
um politisch bedeutsam zu werden.
Es genügt, du bist Rohöl,
Futtermittel oder Kunststoff.
Die Leistungen der Naturwissenschaften, die ihr keinesfalls entgehen, nötigen ihr wenig Respekt ab, und die Entdeckung eines weiteren Sterns durch einen Astronomen reicht, ihrer Meinung nach, allenfalls für eine neue Doktorarbeit. Jede zusätzliche Demaskierung des Numinosen vergrößert das Maß an Ängsten. Trost spendet allein die sich vervielfältigende Undurchschaubarkeit der Natur, die dem Forschergeist und den adminstrativen Ordnungszwängen beharrlich entgegenwirkt:
Wie undicht sind doch die Grenzen menschlicher Staaten!
Wie viele Wolken schwimmen straflos darüber hinweg…
Selbst auf ihrem ureigensten Gebiet, dem der Poesie, liefert der Erkenntnisdrang nichts wirklich Greifbares. So sagt die Szymborska zum Beispiel in ihrer Nobelpreisrede über die Inspiration:
Es ist nicht leicht, jemandem etwas zu erklären, was man selber nicht versteht.
Der Zentrifugalkraft ewiger Widersprüchlichkeit wirkt die beharrliche Konstante des Lebenswillens entgegen. Und Paul Valérys Gnome „Gott hat alles aus nichts erschaffen, aber das Nichts schaut durch“ findet in der translogischen Dialektik Wisława Szymborskas eine behutsam einschränkende Umkehr:
Es gibt so viel von Allem,
daß das Nichts recht gut bedeckt bleibt.
Hans-Jürgen Heise, die horen, Heft 221, 1. Quartal 2006
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Katrin Hillgruber: Die Welt muss ständig neu beschrieben werden
Der Tagesspiegel, 30.6.2023
Elke Heidenreich: „Ich begeistere mich und verzweifle“
Süddeutsche Zeitung, 30.6.2023
Richard Kämmerlings: „Sie haben ein zu reines Herz, um gut schreiben zu können“
Die Welt, 3.7.2023
Holger Teschke: Was die Wirklichkeit verlangt
junge Welt, 3.7.2023
Peter Mohr: Mozart der Poesie
titel-kulturmagazin.net, 2.7.2023
Manfred Orlick: Kein umfangreiches Werk, aber etwas Unvergleichbares geschaffen
literaturkritik.de, 2.7.2023
Wisława Szymborska in memoriam.
Unfasslich: Keine einzige schwache Zeile finde ich in den oben zu lesenden Versen der Wislawa Szymborska! Welch eine wunderbare Dichterin! Man liest und verliebt sich in sie.