Wisława Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wisława Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte

Szymborska-Glückliche Liebe und andere Gedichte

BEKENNTNISSE EINER LESENDEN MASCHINE

Ich, Nummer Drei Plus Vier Geteilt Durch Sieben,
bin berühmt für mein umfassendes linguistisches
aaaaaWissen.
Ich habe schon Tausende von Sprachen identifiziert,
deren sich im Laufe ihrer Geschichte
die ausgestorbenen Menschen bedienten.

Alles, was sie mit ihren Zeichen aufgeschrieben
aaaaahaben,
wenn auch von Katastrophen verschüttet,
ziehe ich heraus
und rekonstruiere die ursprüngliche Form.

Das ist nicht geprahlt −
sogar die Lava lese ich
und blättere in der Asche.

Ich erläutere auf dem Bildschirm
jedes erwähnte Ding,
wann es hergestellt wurde,
woraus und wozu.

Und ganz aus eigenem Antrieb
untersuche ich manche Briefe
und korrigiere darin
die Rechtschreibfehler.

Zugegeben – bestimmte Wörter
machen mir Schwierigkeiten.
So kann ich die „Gefühle“ genannten Zustände
bisher noch nicht genau erklären.

Ähnlich mit der „Seele“, einem rätselhaften Wort.
Vorläufig habe ich festgelegt, es sei eine Art Nebel,
angeblich dauerhafter als sterbliche Organismen.

Doch das größte Problem habe ich mit dem Ausdruck „ich bin“.
Es scheint eine gewöhnliche Tätigkeit zu sein,
allgemein verbreitet, doch nicht kollektiv,
in der Urzeit der Gegenwart,
im unvollendeten Modus,
der doch, wie man weiß, schon lange vollendet ist.

Doch reicht das aus als Definition?
In der Leitung rauscht es und Schrauben knirschen.
Mein Knopf zur Zentrale qualmt, statt zu leuchten.

Ich werde wohl Bruderhilfe anfordern
von Kumpel Zwei Fünftel Null Durch Ein Halb.
Der gilt zwar als verrückt,
aber Ideen hat er.

 

 

 

Einen Dichter wie sie gibt es kein zweites Mal

Einer der größten Widersacher Wisława Szymborskas, neben der totalitären Ideologie, dem politischen Verbrechen und – auf anderer Ebene – dem Tod, war die Langeweile. Langeweile und Banalität. Szymborska, die nichts Bohemehaftes an sich hatte, sich nicht exzentrisch kleidete und keinen Wert darauf legte, besonders aufzufallen, konnte das Banale nicht ausstehen. In ihren Gedichten wie in der Kunst des Lebens war sie stets um das Originelle, Spannende bemüht. Wenn sie sich abends mit anderen zu einem Glas Wein traf, wollte sie keine Banalitäten austauschen. Sie liebte die Konversation, gab sich ausgefallenen Lektüren hin und war an den unterschiedlichsten Wissenschaften interessiert, deren Entwicklung sie verfolgte. Das Modell des Dichters, der sich nur für Dichtung begeistern kann, lehnte sie ab.
Und sie lachte gern.
Manchmal kam es mir vor, als sei sie unmittelbar einem der intellektuellen Salons im Paris des 18. Jahrhunderts entsprungen. Bekanntlich wurden diese Salons von Frauen geführt, von Damen – belesenen, mutigen Persönlichkeiten, die unabhängig waren in ihren Ansichten. Wisława Szymborska schätzte die Aufklärung, die Vernunft; in unserer von romantischem Fieber durchdrungenen Kultur repräsentierte sie andere Werte, eine andere Temperatur. Sie war die Eleganz in Person: elegant in ihren Gesten, Bewegungen, in ihren Worten und Gedichten. Die Form war ihr wichtig, Chaos mochte sie nicht. Auch ihr vollendeter Humor entsprang in gewisser Weise der Aufklärung.
Sowohl in den Gedichten als auch im Leben war sie immer sie selbst, Wisława Szymborska, fast ohne weitere Beimischung und andere Ingredienzien. Auf dem Hintergrund der europäischen Gegenwartslyrik zeichnen sich ihre Gedichte durch Originalität aus: Sie sind intellektuell, konzentriert, aber auch witzig, ironisch und – o Wunder – unglaublich verständlich. Einen Dichter wie sie gibt es kein zweites Mal. Auch außerhalb Polens war sie vielerorts sehr populär. In Italien kamen die Menschen in hellen Scharen zu ihren Lesungen. Wie es in anderen Ländern war, wissen wir nicht, weil sie anderswo nicht hinfuhr, doch die gewaltigen Auflagen ihrer Bücher, beispielsweise in den USA, sprechen für sich. Einladungen lehnte sie ab: „Ich komme, sobald ich jünger bin“, diktierte sie ihrem Sekretär. Die Tatsache, daß sie nicht kam, weil die boshafte Zeit ihr nicht erlaubte, dieses Versprechen zu halten, machte sie zu einer legendären Gestalt. Direktoren großer Institutionen und Universitätsprofessoren bedauerten ihre Absagen zutiefst. Da hatten wir in Krakau wahrlich mehr Glück!
Auch in Freundschaften fand sie Erfüllung. Begegnungen im kleinen Kreis Vertrauter waren das, was sie wollte, hier war sie in ihrem Element. Massen, selbst die Massen ihrer Bewunderer, schüchterten sie ein. Vor der Masse floh sie. Interviews gab sie selten, sie wollte keine öffentliche Person sein, auch wenn sie die Ereignisse in ihrem Land aufmerksam verfolgte und klare politische Ansichten vertrat. Vor wichtigen Wahlen konnte es schon einmal vorkommen, daß sie offen liberale Kandidaten unterstützte – gegen die Populisten. Das Paradox ihres Lebens war, daß sie, bei all ihrer Aversion gegen Publicity, bei all ihrem Unwillen gegen Kameras und Scheinwerfer, eine sehr bekannte Autorin war, eine, auf die man hörte – also doch eine öffentliche Person, wenn auch wider Willen.
Sie schrieb in ihrem eigenen, ruhigen Rhythmus, ohne Eile. Wahrscheinlich hat sie an jedem ihrer Werke lange gearbeitet. Wir wissen auch, daß sie die Entwürfe ihrer Gedichte vernichtete – ein wenig wie der Frédéric Chopin in Benns Gedicht: „… nur keine Restbestände, Fragmente, Notizen, diese verräterischen Einblicke.“ Nach dem Trubel um den Nobelpreis, nach den Blitzlichtgewittern, den lauten Feiern, die entschieden nicht nach ihrem Geschmack waren, setzte sie ihr normales, arbeitsames Leben fort, das aus Schreiben, Lektüre, Freundschaften, Fernsehen und Ferien im Gebirge bestand.
Wer sie gut kannte, hat immer betont, sie sei ein heiterer Mensch gewesen. Ein tragisches Ereignis war Anfang der neunziger Jahre der Tod ihres langjährigen Lebensgefährten Kornel Filipowicz, eines hervorragenden Prosaisten und reizenden Menschen. Ihm widmete Szymborska die wohl diskreteste Elegie, die die Geschichte der Dichtung hervorgebracht hat: „Die Katze in der leeren Wohnung“. Ein Gedicht, dessen erschütternde Wirkung vor allem durch das ausgelöst wird, was darin nicht gesagt ist. Die Zeit der Trauer war für sie eine einsame Zeit. Als sie in die menschliche Gesellschaft zurückkehrte, war sie wieder sie selbst, eine Person, die lächelt, die nicht klagt. Sie selbst hat einmal erzählt, bei den Treffen mit ihren Freundinnen aus der Gymnasialzeit habe immer eine Sparbüchse auf dem Tisch gestanden, und wer über seine Leiden oder Krankheiten sprach, mußte eine kleine Geldbuße entrichten.
Eine ähnliche Legierung aus Skepsis und Akzeptanz finden wir auch in ihren Gedichten. Im Spätwerk von Wisława Szymborska verschiebt, verändert sich etwas: Wir haben es immer noch mit einem skeptischen Geist zu tun, der jeglicher Ideologie abschwört, aber in ihren Gedichten, die immer ein gewisses Mißtrauen der Welt gegenüber an den Tag legen, erscheint sie zunehmend gelassen. Vielleicht liegt gerade darin der geheimnisvolle Reiz dieser Lyrik – in der Verbindung von philosophischer Strenge, konsequenter Ablehnung eines die Wirklichkeit erklärenden Prinzips mit dem humor- und liebevollen Akzeptieren einer Situation. In dem Gedicht „Ein Wort über die Seele“ aus dem Band Der Augenblick kommentiert die Autorin unser nicht einfaches Verhältnis zur Seele (die uns entschieden zu oft im Stich läßt); zum Schluß aber heißt es ermutigend: „Es sieht so aus, / daß so, wie wir sie, / auch sie uns / zu irgend etwas braucht.“ Szymborskas Lyrik scheint zu suggerieren: Ja, wir wissen nur wenig, alles ist möglich, unser Leben ist zerbrechlich und auf das zweifelhafte Fundament des Zufalls gebaut, und dennoch können wir auf diesem unvollkommenen Planeten leben und könnten uns manchmal geradezu wohl fühlen hier – wenn die Menschen es nur fertigbrächten, von Krieg und Haß abzulassen.
Die Vorstellung eines anderen, nach den strengen Regeln der Logik aufgebauten Kosmos, einer Welt, in der gilt: „In den Sätzen herrscht die Wirklichkeitsform / Die Namen decken sich exakt mit den Dingen“, diese im „Schrecklichen Traum eines Dichters“ formulierte Vorstellung erfüllt die Autorin mit Grauen. Offensichtlich sah sie gerade in der Unlogik und Vieldeutigkeit unseres Lebens die Möglichkeit zur Freiheit.
Aber wenn ich das sage, sage ich schon zuviel: Schließlich vermied Wisława Szymborska Begriffe und Schlagworte, suchte eigene, private Wege, zog das Konkrete dem Abstrakten vor und wußte die Vorteile des Dichterdaseins zu schätzen: etwa das Privileg, „Programme“ und Wörter mit großen, mit den ganz großen Buchstaben abzulehnen.

Adam Zagajewski, Nachwort, April 2012

 

„Szymborska ist ein Phänomen der Unwiederholbarkeit,

ganz gleich, ob wir die Trauer, den Tiefsinn oder den wunderbaren Humor ihrer Gedichte auf uns wirken lassen“, sagte Karl Dedecius, der Freund und Übersetzer der Dichterin. Den staunend-ungläubigen Blick auf das Leben, jenes Spiel mit ungelernten Regeln – ihn hat sie bis zuletzt in jedem Gedicht neu ausprobiert. Warum wollte Darwin nur Romane mit Happy-End lesen? Warum gilt Unaufmerksamkeit auch in kosmischen Dimensionen als schlechtes Benehmen? Warum kann ein Bild von Vermeer im Rijksmuseum den Weltuntergang noch eine Weile hinauszögern?
Aus den Kinderfragen nach dem Hier und Anderswo, nach dem Gewesenen und dem Möglichen formt sie Gebilde von berührender Aufrichtigkeit. Der Band mit Gedichten aus den Jahren 2005 bis 2011 wurde noch mit Wisława Szymborska zusammen geplant. Nun ist er zu ihrem Vermächtnis geworden.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2012

 

Metaphysisches Savoir-vivre

− Das Vermächtnis der grossen Wisława Szymborska. −

Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska wird als poetische Lichtgestalt in die Literaturgeschichte eingehen. So unterschiedlich ihre Gedichte im Einzelnen daherkommen und so vergnüglich sie ausschwärmen in vielerlei Gebiete – ihnen allen liegt ein metaphysisches Staunen zugrunde.
Kurz vor ihrem Tod im Februar 2012 hat die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska, Nobelpreisträgerin von 1996, noch einen Gedichtband zusammengestellt, der auf Deutsch erscheinen sollte: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Nun ist er da, eine Auswahl aus Altem und Neuem, ein kostbares Geschenk. Mit etwas zu essen und diesem Buch vor der Nase könnte man einsame Wochen verbringen. Sie wären angefüllt mit tausend Anregungen, die einen umtreiben, auch wenn sie listiger und einfacher nicht hätten dargeboten werden können.
Schon die ersten Verse warten mit einem Gedanken auf, den man als Leitgedanken fürs Ganze nehmen möchte, obwohl diese Dichterin auf Leitgedanken eigentlich gar nichts gibt. Er lautet: Aus Zufall bin ich da, so wie ich bin, und versuche zu sein. Dieses erste Gedicht, „Abwesenheit“, streift jene, die an unserer Stelle leben könnten, die aber aus einem oft unscheinbaren Grund die Existenz verpasst haben:

Es fehlte nicht viel,
und meine Mutter hätte Herrn Zbigniew B.
aus Zdunska Wola geheiratet.
Hätten sie eine Tochter gehabt, wäre das nicht ich gewesen.
Vielleicht eine mit besserem Gedächtnis für Namen und Gesichter…

Eine kindlich verrückte Überlegung, die hinter allem steht, was Wisława Szymborska geschrieben hat: All die Ichs auf der Welt machen viel Aufhebens und sind doch haarscharf an der Nicht-Existenz vorbeigeschrammt.
Die Verwunderung darüber, dass etwas ist, wie es ist, stellt jede Szymborska-Zeile in einen weiten Atemraum. Dabei muss diese Verwunderung gar nicht explizit angesprochen werden. Sie kann sich an der uneingelösten Zukunft der Wetterprognose festmachen und eine ebenso witzige wie rätselhafte Feststellung zeitigen, welche die Gegenwart betrifft: „Der nächste Tag / verspricht sonnig zu werden, / obwohl jene, die leben, / noch einen Regenschirm brauchen.“ Tatsache und Nicht-Tatsache, Existenz und Nicht-Existenz stossen in diesen Strophen hart aneinander. Sie gehen von Krieg und Zerstörung aus oder auch nur vom Überlebenskampf in der Natur. Im Gedicht „Ereignis“ etwa, wo eine hungrige Löwin eine Antilope jagt, die einer Wurzel wegen eine Viertelsekunde lang aus dem Takt gerät, was die Löwin ausnützt. Und der Schluss daraus: „… nur Schweigen.“ Gut möglich, nebenbei bemerkt, dass die sesshafte Schriftstellerin aus Krakau hier auf eine Tiersendung im Fernsehen anspielt. Sie ist selten gereist, auch nicht, um zu schreiben.
So unterschiedlich ihre Lyrik im Einzelnen daherkommt und so vergnüglich sie ausschwärmt in vielerlei Gebiete – die Verse ihrer späten Jahre sind nicht weniger aufs Staunen eingestellt als die früheren. „Träume“ beispielsweise. Träume stellen Häuschen auf wie Spielzeug, „darin riesige Säle mit dem Echo unserer Schritte“. Sie lassen uns ungefiedert fliegen, fliessend in fremden Sprachen reden oder, „bis der Wecker klingelt“, in Liebesverlangen entbrennen nach jemand, den wir nicht einmal kennen. Was für ein Arsenal von Wirklichkeiten liegt verborgen in uns! Solche zählt das Gedicht, 2009 erstmals auf Polnisch, wunderbar auf und betont nebenbei, dass Psychoanalytiker in all den Unvorhersehbarkeiten träumender Patienten nur „zufällig“ etwas finden, das „für sie stimmt“. In den unendlichen Weiten der Träume könne manchmal sogar so etwas wie Sinn aufscheinen. Auch wenn sie sich über die Traumforscher nicht lustig macht, begegnet die Autorin doch deren Erklärungsmodellen, wie allen anderen auch, mit unüberwindbarer Skepsis. Dass etwas ist, ob konkret zum Anfassen oder phantasiert und gelesen (Pascal oder Proust), birgt für sie Wunder genug.
Bleibt der Stachel des Vergehens, die „Regel des verlorenen Spiels“, die da lautet: „Gewesen, also vergangen.“ So steht’s im Stück, dem Szymborska bezeichnenderweise den Titel „Metaphysik“ gibt. Uns und dem ganzen Kosmos müsse genügen, „dass etwas wirklich gewesen, bevor es vergangen ist“ – und wenn es nur die verdaute Mahlzeit von heute wäre. Eine ebenso einfache wie vertrackte Philosophie. Man könnte sie die Kunst der wachhaltenden Erinnerung nennen. Oder ist mehr gemeint? Braucht es überhaupt jemanden, der das, was ist und bald nicht mehr ist, registriert?
Ein Text – auch auf Polnisch erst in diesem Jahr erschienen – wendet sich „An mein Gedicht“. Dieses hat mehrere Möglichkeiten: Es wird entweder aufmerksam oder nur flüchtig gelesen, vielleicht auch zerrissen. Der vierte Ausweg sei der, sagt die Dichterin zum Gedicht: „du verschwindest ungeschrieben / und murmelst zufrieden vor dich hin.“

Wir, ihre bedürftigen Leser, sind dankbar, dass sich die fast Neunzigjährige damit nicht begnügt hat. Die Hälfte der vorliegenden Gedichte stammt aus den letzten Jahren. Die bewährten Renate Schmidgall und Karl Dedecius haben sich ihrer Übersetzung ins Deutsche angenommen.

Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung, 7.12.2012

„Wir leben länger / aber ungenauer / und in kürzeren Sätzen.“

Dieser Gedichtband enthält tiefsinnige Gedichte der im Februar 2012 in Krakau verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska. Die Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin wurde am 2. Juli 1923 in Posen geboren und debütierte 1945 mit dem Gedicht „Ich suche das Wort“.
Adam Zagajweski titelt das Nachwort „Einen Dichter wie sie gibt es kein zweites Mal“ und skizziert in der Folge das Wesen dieser interessanten Frau, die die Konversation liebte und sich ausgefallenden Lektüren hingab, sich für unterschiedliche Wissenschaften begeisterte, deren Entwicklung sie verfolgte. Zagajweski lässt den Leser wissen, dass diese Lyrikerin das Modell des Dichters, der sich für Dichtung begeistern kann, ablehnte. Szymborska lachte viel, erfährt man. Das spricht natürlich auch für sie als Mensch.
Auf dem Hintergrund der europäischen Gegenwartslyrik zeichnen sich die Gedichte der Polin durch ihre Originalität aus. Zagajweski charakterisiert die Verse als intellektuell, konzentriert, auch witzig ironisch. Dieser Meinung schließe ich mich an.
Eine Rezension über einen Gedichtband ist nicht geeignet Gedichtinterpretationen dort vorzunehmen, aber es sollte dem Leser zumindest ein Vers aus dem rezensierten Band vorgestellt werden. Entschieden habe ich mich zu nachstehenden Zeilen aus dem Gedicht „Glückliche Liebe“:

Glückliche Liebe. Muss das sein?
Takt und Vernunft raten, sie zu verschweigen,
wie einen Skandal aus den höheren Lebenssphären.
Prächtige Kinder werden ohne sie geboren
Die Erde könnte sie niemals bevölkern,
sie kommt schließlich selten vor.

Sollen doch die Menschen, die sie nicht kennen,
behaupten, es gebe keine glückliche Liebe.

Mit diesem Glauben leben und sterben sie leichter.

Helga König, amazon.de, 10.8.2012

Sprachliche Meisterwerke

Die Sprache Szymborkas ist wohltuend einfach, erstaunlich präzise und von großem Klang. Szymborka scheint völlig frei von dichterischen Eitelkeiten. Eine Frau, die mit ihrer Klugheit, ihrem Wissen und ihren Hoffnungen mitten im Leben steckt. Mit einem ungetrübten Blick schaut sie mutig auf das, was war und noch kommen wird. Ein kleines Buch, ein einzigartiger Inhalt. Eine große Dichterin.

Bernd Hußnätter, amazon.de, 9.2.2013

Als die Ewigkeit bei uns war

„Und jetzt erzähle ich dir mein ganzes Leben“: Mit diesem Satz sollen oft die Gespräche zwischen Wisława Szymborska und ihrer Breslauer Dichterkollegin Urszula Koziol begonnen haben. Wieviel Ironie dahinter steckte, wussten alle, die im Laufe der Jahre versucht haben, das Wesen der im vergangenen Jahr verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin von 1996 zu ergründen. Mehrere Publizisten, die gern ein Buch über sie geschrieben hätten, sind an Szymborskas Verschwiegenheit verzweifelt, andere hatten lediglich Informationsfetzen gesammelt. Nicht zufällig ist Wisława Szymborskas bislang einzige erschienene Biographie in Polen ein Bestseller geworden. Genauso wenig ist es aber ein Zufall, dass dieses Buch den Titel Erinnerungsgerümpel trägt: Darin wurde alles zusammengetragen, was über die Dichterin auch nur im Entferntesten Auskunft gibt: Gedichte, Briefe, Notizen, spärliche Selbstaussagen, Erinnerungen sämtlicher Freunde, Kritikerstimmen, Leserbriefe und so weiter.
Die gerümpelartige Struktur dieses Buches irritiert ein wenig, sein Umfang imponiert aber. Denn gegen die Hartnäckigkeit, mit der Szymborska sich zu Lebzeichen der Öffentlichkeit verweigerte, war in der Tat nicht anzukommen. Alles, was sie über sich zu sagen habe, sei in ihren Gedichten zu finden, lautete ihre übliche Aussage. Was über sie als Person zu erfahren war, etwa dass sie Vermeer, Fellini und Ella Fitzgerald liebte, gern archäologische Museen besuchte, Menschenmassen verabscheute, bei Gesprächen in kleinem Freundeskreis aufblühte und die Kochkünste ihrer Schwester schätzte, füllt gerade mal eine halbe Seite.

Mit einem Hauch von Metaphysik
Sie mochte es besonders, wenn das Gewöhnliche, Banale in den Rang der Kunst emporgehoben wurde – ob in der holländischen Malerei oder in der schwesterlichen Küche. Das versuchte sie auch konsequent in ihrer eigenen Lyrik zu erreichen, und daran hat sich, wie der nun auf Deutsch erschienene Band Glückliche Liebe, eine Auswahl aus ihren letzten vier Gedichtsammlungen, zeigt, bis zum Schluss nichts geändert. Auch hier wendet sie sich gern den alltäglichen Dingen zu, denen sie durch dichterisches Können einen Hauch von Metaphysik verleiht:

Nun ja, zum Beispiel diese Kammerlinge.
Sie lebten hier, denn es gab sie,
und es gab sie, denn sie lebten.
So gut sie konnten, da sie konnten,
so gut sie vermochten.

Der Reiz von Szymborskas Gedichten liegt vor allem darin, dass sie, um aus Adam Zagajewskis Nachwort zu zitieren, „intellektuell, konzentriert, aber auch witzig, ironisch und – o Wunder – verständlich“ sind. Doch das bedeutet nicht, dass sie auch immer leicht zu interpretieren wären. Einfach und verständlich sind nur die Stilmittel, mit denen sie ihre Gedanken zum Ausdruck bricht, ihre klare, sparsame, von Renate Schmidgall und Karl Dedecius perfekt übertragene Sprache, die aus ihrem Naturell resultierte: „Die Form war ihr wichtig, Chaos mochte sie nicht“, sagt Zagajewski dazu. Aber diese lyrische Sprache entstand auch aus ihrer Überzeugung, dass heutzutage zu viel geredet werde. „Fasse dich kurz. Die Welt ist mit Worten übervölkert“, würde der polnische Aphoristiker Stanislaw Lec sagen. Sie persönlich vertraute vor allem auf den Satz „Ich weiß nicht“. Er sei zwar klein, sagte sie einmal, erweitere aber unser Leben ungemein.
Wisława Szymborskas Staunen über den Reichtum und die Vielfalt der Welt war permanent, doch hier, in diesen späten Gedichten, scheint sie diese Haltung besonders zu genießen, weiß sie doch, wie kostbar jeder einzelne, noch so banale Augenblick geworden ist:

Wir leben länger,
aber ungenauer
und in kürzeren Sätzen.

Und weil mit dem Vergehen der Zeit das Ende um ein weiteres Stück näherrückt. Um so weniger war sie bereit zurückzublicken, und wenn, dann höchstens, um sich selbst als „Teenager“ mit der reifen Wisława Szymborska zu vergleichen:

Sie weiß wenig −
dafür mit übertriebener Sturheit.
Ich weiß viel mehr −
dafür nicht mit Sicherheit.

Marta Kijowska, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.4.2013

Die Welt verdient keinen Weltuntergang

− Glückliche Liebe und andere Gedichte: Das große lyrische Vermächtnis der polnischen Dichterin Wisława Szymborska. –

Vor einem guten Jahr, am 1. Februar 2012, starb Wisława Szymborska, Polens bedeutendste Lyrikerin der Moderne. Schon beim Wort „modern“ stutzt man, verzichtet ihre Lyrik doch auf (fast) alles, was moderner Lyrik gemeinhin attestiert wird. Zumal die Höhle des Hermetischen, in die sich die Dichter der Moderne so oft zurückzogen (und in der sie gelegentlich auch verschollen gingen), hat Wisława Szymborska nie betreten. Ihre Gedichte kann (fast) jeder ohne Nachhilfe in Hermeneutik verstehen, ja – man wagt es kaum auszusprechen −, sie sind oft geradezu unterhaltsam und sogar spannend, ohne deshalb vom Leser einen Rabatt auf Tiefsinn zu fordern. In gewisser Weise sind es prosaische Gedichte, und wenn sie etwas feiern, dann immer nur „Alltagswunder“. Diese Gedichte leben ganz von konkreten Gegenständen, denen sie, auch wenn diese sich dagegen sperren, jede Schwere nehmen. Leichtigkeit ist die hohe Kunst der Wisława Szymborska, die sie so eindrucksvoll beherrscht wie Clara Haskil, wenn sie Scarlatti spielt. In einem dieser Gedichte heißt es:

Nimm mir nicht übel, Sprache, daß ich pathetische Worte entlehne
und mir dann Mühe gebe, sie leicht erscheinen zu lassen

Pathos ist Wisława Szymborska so fremd wie Sentimentalität, und sicher zählt sie nicht zu den Dichterinnen, als deren Domäne das Liebesgedicht gilt. Dabei hat sie dem ewigen Vorrat der Poesie allein mit ihrem Gedicht „Katze in der leeren Wohnung“ eines der schönsten und schmerzlichsten Liebesgedichte überhaupt hinzugefügt, geschrieben auf den Tod ihres langjährigen Lebensgefährten Kornel Filipowicz (der zu Polens bedeutendsten Prosaisten zählte). Das Gedicht, das nicht von ihr und ihrer Trauer spricht, sondern einzig von einer verlassenen Katze, hebt so an:

Sterben – das tut man einer Katze nicht an.
Denn was soll die Katze
in einer leeren Wohnung.

Gerade durch das, was das Gedicht dann alles nicht sagt, berührt es so besonders. Zur Kunst der Leichtigkeit kommt bei Szymborska die Kunst der Distanz hinzu, und vermutlich gäbe es die eine nicht ohne die andere – und ganz sicher gäbe es ohne beide nicht das Gedicht „Katze in der leeren Wohnung“.
Der Gedichtband, den Wisława Szymborska noch kurz vor ihrem Tod mit ihrem deutschen Übersetzer Karl Dedecius zusammenstellte und der uns jetzt Gedichte aus dem Jahren 2005 bis 2011 präsentiert, trägt zwar den Titel Glückliche Liebe und andere Gedichte, enthält aber, was durchaus irritierend ist und wohl auch sein soll, kein einziges Liebesgedicht. Dafür bietet das Titelgedicht „Glückliche Liebe“ eine distanziert-ironische Relexion der Vorstellung von glücklicher Liebe, ohne ernsthaft deren Existenz zu bestreiten:

Glückliche Liebe. Ist das normal,
ernst zu nehmen, ist das nützlich −
was hat die Welt von zwei Menschen,
die die Welt nicht sehen?
(…)
Glückliche Liebe. Muß das sein?
Takt und Vernunft raten, sie zu verschweigen
wie einen Skandal aus den höheren Lebenssphären.
Prächtige Kinder werden ohne sie geboren.
Die Erde könnte sie niemals bevölkern,
sie kommt schließlich selten vor.

Sollen doch Menschen, die sie nicht kennen,
behaupten, es gebe keine glückliche Liebe.

Mit diesem Glauben leben und sterben sie leichter.

Die feine, feminine Ironie, die bei Wisława Szymborska stets Selbstironie mit einschließt, gehörte von jeher so unabdingbar zu ihren Gedichten wie die Skepsis gegenüber Träumen, seien es kollektive oder private, und gänzlich unverführbar zeigte sie sich gegenüber Utopien, zumal solchen, die mit Blut bezahlt werden müssen. Nur in ihrem 1945 unmittelbar nach der Befreiung Polens erschienenen ersten Gedichtband setzte sie, die während der deutschen Besatzung einer Widerstandsgruppe angehört hatte, für einmal auf die kommunistische Utopie. Bald jedoch lautete ihre Devise:

Ich bin mir lieber als Menschenfreund
denn als Freund der Menschheit

und bereits in ihrem zweiten Gedichtband (der erst 1954 die Zensur der KPP passieren konnte) kassierte sie alle kommunistischen Gewissheiten und lieferte, gemäß seinem Titel Fragen, die ich mir stelle, statt Antworten lieber Fragen, wobei eine Gewissheit für sie doch feststand:

Es gibt keine Fragen, die dringlicher wären als die naiven.

Tatsächlich favorisierte sie bis zuletzt die Frageform in ihrem Werk. Selbst wenn ihre Gedichte, was nicht selten der Fall ist, mit einer Pointe enden, fehlt dieser alles Auftrumpfende, weil sie zumeist als Frage erscheint. Es passt ins Bild, das Wisława Szymborska 1996 in ihrer Nobelpreis-Rede (die sich durch verblüffende Kürze ebenso auszeichnete wie durch völlig uneitle Bescheidenheit) betonte, wie „kostbar und vertraut“ ihr die drei kleinen Wörter „Ich weiß nicht“ seien. Aus ihrer Sicht bedeuten sie eine Vorbedingung für jenes Staunen, aus dem alle Dichtung hervorgeht.
Wie fragwürdig freilich auch jede dichterische Anstrengung bleibt und wie rasch das Gedicht mit einer übermächtigen Realität kollidieren kann, davon sprechen viele der späten Gedichte von Wisława Szymborska, exemplarisch jenes, in dem sich bei einer Dichterlesung vor Blinden der Dichter aller Farben schämt, die er in seinen Gedichten so verschwenderisch angehäuft hat. Oder jenes „Ketten“ überschriebene Gedicht vom Kettenhund, in dem auch die Krone der Schöpfung, der Mensch, angekettet erscheint, angekettet an Gewohnheit und Gedankenlosigkeit:

Ein heißer Tag, eine Hundehütte, ein Hund an der Kette.
Ein paar Schritte weiter eine Schüssel voll Wasser.
Aber die Kette ist zu kurz der Hund kommt nicht hin.
Fügen wir dem Bild noch ein Detail hinzu:
unsere wesentlich längeren
und weniger sichtbaren Ketten,
dank derer wir locker vorbeigehen können.

Das Gedicht erinnert an das wohl berühmteste Gedicht der polnischen Dichterin, „Die zwei Affen von Breughel“, in dem sie der qualvolle Traum heimsuchte, sie werde „in Menschheitsgeschichte geprüft“, und ihr einer der beiden angeketteten Affen die Antworten vorsagt – „mit leisem Klirren der Kette“. Wisława Szymborska macht sich auch in ihren letzten Gedichten noch einmal zur Anwältin der Tiere, indem sie etwa unsere Speisekarten als „Nekrolog“ apostrophiert und uns unsere Essgewohnheiten vorhält. Doch auch Wisława Szymborska weiß keinen endgültigen Ausweg aus dem großen Schuldzusammenhang, der uns mit den Tieren verbindet, und konstatiert resigniert:

(…) wo Hunger ist,
ist es aus mit der Unschuld

Gelegentlich leistet sich Wisława Szymborska auch ein bisschen Koketterie, so wenn sie im Gedicht „Einfall“ ebendiesem Einfall, der sich bei ihr einstellt, den Rat erteilt, sich an einen anderen, besseren Dichter zu wenden. 
Es gab in Polen diesen „besseren Dichter“, und wenn das Werk der Szymborska überhaupt mit einem winzigen Makel belastet ist, dann mit einem, für den sie absolut nichts kann, gemeint ist der Nobelpreis, der – als in Stockholm Polen auf dem Plan stand – doch mehr Zbigniew Herbert gebührt hätte als ihr; sein Werk zeichnet sich durch größere Dringlichkeit aus und eröffnet Dimensionen, die Wisława Szymborska verschlossen blieben oder die sie vielleicht gar nicht erschließen wollte. Aber was zählen alle Hierarchien von Ehre und Ruhm angesichts eines einzigen geglückten Gedichts, das sich dem Weltenlauf entgegenstellt? Wisława Szymborska sind nicht wenige solche Gedichte geglückt, eines von ihnen und eines ihrer letzten, „Vermeer“ überschrieben, sei zuletzt zitiert:

Solange diese Frau aus dem Rijksmuseum
in der gemalten Stille und Andacht
Tag für Tag Milch
aus dem Krug in die Schüssel gießt,
verdient die Welt
keinen Weltuntergang.

Peter Hamm, Die Zeit, 23.5.2013

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Daniel Henseler: Es ist genug
literaturkritik.de, Oktober 2012

Jürgen Brôcan: Zufrieden dahingemurmelt — Wisława Szymborskas letzte Gedichte
fixpoetry.com, 24.11.2012

 

 

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Zum 100. Geburtstag des Übersetzers:

Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021

Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021

 

 

 

 

Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź

 

 

 

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Katrin Hillgruber: Die Welt muss ständig neu beschrieben werden
Der Tagesspiegel, 30.6.2023

Elke Heidenreich: „Ich begeistere mich und verzweifle“
Süddeutsche Zeitung, 30.6.2023

Richard Kämmerlings: „Sie haben ein zu reines Herz, um gut schreiben zu können“
Die Welt, 3.7.2023

Holger Teschke: Was die Wirklichkeit verlangt
junge Welt, 3.7.2023

Peter Mohr: Mozart der Poesie
titel-kulturmagazin.net, 2.7.2023

Manfred Orlick: Kein umfangreiches Werk, aber etwas Unvergleichbares geschaffen
literaturkritik.de, 2.7.2023

 

 

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Nachrufe auf Wisława Szymborska: Süddeutsche Zeitung ✝ FR ✝
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Die Welt ✝ Berliner Zeitung ✝ Das Polen Magazin ✝
Deutschlandradio Kultur ✝︎

 

 

Wisława Szymborska in memoriam.

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