GRABSTEIN
Hier ruht, altmodisch wie das Komma, eine
Verfasserin von ein paar Versen. Die Gebeine
genießen Frieden in den ewigen Gärten,
obwohl sie keiner Literatengruppe angehörten.
Drum schmückt nichts Beßres ihre Totenstätte
als Reimerei, die Eule und die Klette.
Passant, hol das Elektronenhirn aus dem Aktenfach
und denk über Szymborskas Los ein wenig nach.
Josif Brodskij, der russische Dichter und Nobelpreisträger von 1987, war und ist über jeden Verdacht erhaben, von Geburt an mit allzuviel Sympathie für seine polnischen Nachbarn ausgestattet zu sein. Dennoch stammt der folgende Satz von ihm und spricht für sich: „Die außergewöhnlichste Lyrik dieses Jahrhunderts wurde in polnischer Sprache geschrieben.“ Es hätte keines weiteren Belegs bedurft, und doch wurde ein solches Zeichen erneut gesetzt: Die Stockholmer Akademie verlieh den Literaturnobelpreis 1996 an die Krakauer Lyrikerin Wisława Szymborska.
Der Parnaß der letzten beiden Jahrzehnte ist also polnisch dominiert. Die kurz nach Czesław Miłosz ausgezeichnete Wisława Szymborska ist zu Lebzeiten Literaturhistorie, Kanon, Weltliteratur. Entgegen dem Poetendasein, wie sie es im „Autorenabend“ entwirft, wird sie „in den Himmel gehoben“, „verurteilt zu lebenslänglichem Büchner“. Was bleibt ihr jetzt noch zu schreiben, zu erobern? Ein Leben der erreichten letzten Ziele wäre für Szymborska das Unglück schlechthin. Denn es ist die Lust am kreativen Zweifel, der sie am Leben und Schreiben erhält. Es ist das Fragen, das Neues schafft, nicht die fertige Antwort.
Die meisten Menschen verharren „im Kreis“, um ein Bild der Nobelpreisträgerin zu benutzen. Szymborska dagegen denkt sich in ihrer Poesie mit ironischem Vergnügen und geistigem Gewinn aus der eigenen Haut heraus. „Es quält die Autorin, ans leichtvergeudete Leben zu denken, als sei dessen Vorrat endlos“. Glück, Genuß und Trauer entstehen nur aus dem Bewußtsein der Einzigartigkeit und Vergänglichkeit des gerade gelebten Augenblicks.
Nichts geschieht ein zweites Mal,
auch wenn es uns anders schiene.
Wir kommen untrainiert zur Welt
und sterben ohne Routine.
Auch in der Poesie ist nur das Unvergleichliche Kunst aus erster Hand, nur das Originäre und Originelle einmalig. Keines der Gedichte Szymborskas gleicht einem ihrer anderen Gedichte. Jedes ist anders, neu, mit eigener Trauer, eigenem Tiefsinn und eigener Weisheit, die Unausgesprochenes in Bilder, Rhythmen und anmutige Tonfolgen faßt. Wenn Szymborska reimt, dann treten ihre Reime frisch, erfinderisch auf, nicht an den Haaren herbeigezogen. Sie klirren nicht wie die arg strapazierten Narrenschellen der schlechten Poesie. Sie kommen überraschend, von weit her, wie zufällig, unauffällig, und leuchten doch sofort ein.
Szymborska kartographiert die Augenblicke, koloriert sie lyrisch, um ja kein Pathos aufkommen zu lassen, panzert ihre Gefühle mit Ironie und kommt dabei mit erstaunlich einfachen Mitteln einer sehr kommunikativen Sprache aus. Szymborskas einfache Sprache und kompliziertes Denken führen uns ein in die hohe Kunst und Kultur der verdichteten Weltbetrachtung.
Und dann der Reichtum ihrer Themen, das Füllhorn ihrer Phantasie. Frappierende Museumsbesuche, soziologische Befunde über die allerjüngste Gegenwart. Subtil ziselierte Novellen, Charakterstudien und Bildbetrachtungen. Wir finden in diesem schmalen lyrischen Werk Kleinanzeigen der alltäglichen Kümmernisse als Universalgeschichte; Archäologisches, Kosmologisches, Biologisches – Logisches auf alle Fälle.
Es gibt verschiedene Zugänge zur Erkenntnis. Einer davon ist der Esprit, der uns anregt, uns auf eine freundliche Weise zum Ernst anstiftet. Der uns kurzweilig das Fenster zur Wahrheit öffnet. Szymborskas feminine, feinsinnige Klugheit, selbstironisch und illusionslos, ist unverführbar, am wenigsten von der männlichen Ratio. Sie weiß sich gegen diese, diskret und unaufdringlich, mit Ironie und Humor zu wehren und durchzusetzen. Ihr Gedanke ist oft genug grotesk, paradox, doch nachvollziehbar, in seiner Logik letzten Endes unumstößlich. Und der Humor ist hier genauso ernst zu nehmen, wie der Ernst belächelt werden darf.
Goethe, in dessen Namen die Stadt Frankfurt am Main 1991 Wisława Szymborska auszeichnete, hatte in einem Gespräch mit Eckermann seine Vorstellung von guter Poesie kurzgefaßt: „Mir sind diejenigen Gedichte die liebsten, die Anschauung und Empfindung zugleich gewähren.“ Szymborskas Gedichte sind als Anschauung authentisch, getragen von einer Empfindung, die niemals falsch oder belanglos ist.
Wisława Szymborska hält uns einen scharf geschliffenen Spiegel vor, keinen Zerrspiegel der Postmoderne. Sie trägt keine zynische Überlegenheit (das heißt Gleichgültigkeit) zur Schau, sie nimmt die Unzumutbarkeiten und die LächerlichkeIten, die eigenen und die der anderen, zur Kenntnis: Auch das Gebrechliche ist menschlich.
Karl Dedecius, Nachwort
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Katrin Hillgruber: Die Welt muss ständig neu beschrieben werden
Der Tagesspiegel, 30.6.2023
Elke Heidenreich: „Ich begeistere mich und verzweifle“
Süddeutsche Zeitung, 30.6.2023
Richard Kämmerlings: „Sie haben ein zu reines Herz, um gut schreiben zu können“
Die Welt, 3.7.2023
Holger Teschke: Was die Wirklichkeit verlangt
junge Welt, 3.7.2023
Peter Mohr: Mozart der Poesie
titel-kulturmagazin.net, 2.7.2023
Manfred Orlick: Kein umfangreiches Werk, aber etwas Unvergleichbares geschaffen
literaturkritik.de, 2.7.2023
Wisława Szymborska in memoriam.
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