Wisława Szymborska: Salz

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wisława Szymborska: Salz

Szymborska-Salz

DEN FREUNDEN

Vertraut mit den großen Räumen
zwischen Himmel und Erde,
verlieren wir uns im Raum
zwischen Erde und Kopf.
Der Weg vom Leid zur Träne
ist interplanetarisch.
Unterwegs vom Trug zum Sein
ergraut unser Kinderschopf.

Wir spotten des Satelliten,
dieser Spalte der Stille
zwischen Flug und Schall
und sagen: Weltrekord.

Es gab schon schnellere Flüge.
Ihr verspätetes Echo
riß uns aus unserem Schlaf
nach vielen Jahren erst fort.

Ein Rufen breitet sich aus:
Wir sind total unschuldig!
Wer ruft denn da? Wir laufen,
öffnen die Fenster zur Welt.

Da stockt die Stimme plötzlich.
hinter den Fenstern fallen
Sterne, wie nach einer Salve
Tünche von Wänden fällt.

 

 

 

Salz weiblicher Weisheit

− Einführung nebst Zusammensetzung und Gebrauchsanweisung. −

O heilige Einfalt der Beschreibung,
stehe mir bei!
Wisława Szymborska

Ich hatte gerade einen Anlauf genommen, mit der Beschreibung des Lebens der Wisława Szymborska die Einleitung zu ihren Gedichten zu beginnen, als ich in Życie Literackie auf eine ihrer Rezensionen stieß. Ihr darin bekundeter Unwille gegen das Biographische machte mich unsicher. Das Biographische, schrieb sie,

beleuchtet nur die äußeren Umstände des Entstehens von Poesie. Beim Lesen kam mir der quälende Gedanke, daß jede Poesie, auch die schlechte, reich an Begleitumständen sei; daß auch ein Graphomane ein ziemlich komplizierter Mensch sei, und daß es auch bei ihm vieles zu biographieren gäbe. Ob sich einem Dichter die Worte zu lebendigen, dauerhaften Bindungen fügen oder nicht, darüber wird ohnehin in einem niemandem zugänglichen Bereich entschieden. Und ich vermute, daß es ein Bereich ist, auf den die Peripetien des Lebens und die Intensität der Erlebnisse keinerlei Einfluß haben.

Ich stimme der Autorin zu – was den Graphomanen betrifft, aber ich kann ihr nicht ganz zustimmen: für mich ist das Verhältnis von Leben und Werk keine Frage der Begleitumstände, vielmehr eine von vielen und faszinierenden Kausalitäten. Aber ich respektiere die Vorbehalte der Autorin und werde ihren Lebenslauf verschweigen. Es sei genug zu verraten, daß sie in der Kultur-Beilage Der Kampf (Walka) des Polnischen Tageblatts (Dziennik Polski) 1945 debütiert hat, daß sie in Krakau lebt und dort 1953 ständige Mitarbeiterin des Literarischen Lebens (Życie Literackie) wurde, daß sie der Generation von Zbigniew Herbert und Tadeusz Różewicz angehört und daß sie Bücher rezensiert und Gedichte schreibt; und daß ihre Gedichte seit zwei Jahrzehnten zu dem Besten gezählt werden, was die polnische Nachkriegslyrik hervorgebracht hat.
„Die Erste unter den Lyrikerinnen. Dieses Zepter des Primats erkennen ihr alle zu, Poeten wie Kritiker“ (Julian Przyboś in Poezja). „Es scheint, als habe diese Poesie zwischen den beiden Flügeln unserer Literatur das rechte Maß gefunden. Sie ist weder traditionell-moralistisch noch avantgardistisch-artistisch: sie ist einfach – vollendet“ (Artur Sandauer in Miesiȩcznik Literacki).

Als würde bei Szymborska mit jedem Gedicht alles von neuem beginnen. Die Welt, das Sein und das Nichtsein, das Wissen und die Intuition, das blinde Unwissen vom Schicksal und das strahlende Bewußtsein des Glücks. Wir alle, Freunde wie Nichtfreunde der Lyrik, wissen es, daß Szymborskas Gedichte faszinieren. Womit?… Sie hat der banalen Wahrheit die Kraft des Paradoxon gegeben. (Zbigniew Bieńkowski in Kultura)

Eine der allerwichtigsten Erscheinungen in der gegenwärtigen polnischen Poesie. Ungewöhnliche Einfachheit und Kommunität… Vollkommen unprätentiös. Und zugleich eine intellektuell in höchstem Maße anspruchsvolle Lyrik, eine poetische Welt von höchst interessantem Eigenleben… Hinter der Einfachheit verbirgt sich Kunst, hinter dem Humor Tragik, hinter der Wirklichkeit das Irreale. (Jerzy Kwiatkowski in Życie Literackie)

Wisława Szymborska gehört zu den wenigen Dichterinnen, die es verstanden haben, dem Etikett ,Frauenlyrik‘ zu entkommen. (Marta Wyka in Życie Literackie)

Von Anbeginn – ihr erstes Gedicht hieß „Ich suche das Wort“ und erschien 1945 – waren Szymborskas Publikationen ein Ereignis. Wenn ihre Gedichtbände zum besten Buch des Jahres gewählt werden, stehen in der Presse folgende Begründungen zu lesen:

Die Poesie der Wisława Szymborska wächst, nimmt an Weisheit zu und verwundert uns, die Leser, ständig, mit jedem Gedicht, stets aufs neue. Es ist zeitgenössische Lyrik, die einzige, die keine Krisen kennt… Was ihre Tragkraft ausmacht, ist die unaufhörliche Attraktivität für alle Leser von Lyrik, ohne Unterschied des Empfindsamkeitstypus. Szymborska besitzt eine seltene Gabe, und diese Gabe besitzt sie maximal: die Weisheit der Poesie.

Die Auswahl aus dem bis jetzt sieben schmale Bändchen und drei Auswahlbücher umfassenden Gedichtwerk der Wisława Szymborska möchte ich mit einer ihrer letzten Veröffentlichungen beginnen, sie als Prolog vor die Klammer stellen. Das Gedicht heißt „Entdeckung“ und ist ein Credo des Unglaubens an den Menschen, die Entdeckung der Nichtigkeit und Eitelkeit dessen, womit dieser Mensch trotz seiner Talente sich abplagt und weswegen er Kriege führt und Kerker erfindet.

Ich glaube an die Angst des Menschen…
Ich glaube an die Blässe seines Gesichts…
… den kalten Schweiß auf der Lippe.

… an das Verbrennen der Niederschriften,
… an das Verschütten der Zahlen,
… an das Zerschlagen der Tafeln,
an das Vergießen der Flüssigkeiten,
an das Erlöschen der Flamme.

Mir kreisen diese Worte über den Regeln.
Sie suchen keine Stütze bei den Exempeln.
Mein Glaube ist fest, blind und ohne Begründung.

Zu diesem Unglauben an den Menschen gesellt sich der Glaube an die Kreatur, den Käfer, den Vogel, den Fisch, die Lemuren, die sie „von oben betrachtet“, gegen die ungerechtfertigte Vorrangstellung des Menschen in Schutz nimmt. Die Evolution der Natur, und was daraus wird, beschäftigt sie unentwegt. Ihre Reflexion sucht die urgeschichtliche und die kosmische Perspektive, wenn sie ausruft:

Seht von den Sternen auf euch.

Die Gedichte sind so geordnet, daß die jüngsten vorne stehen und die ältesten am Schluß. Die römischen Zahlen bezeichnen die Publikationen der Autorin, deren Erscheinungsjahr und chronologische Reihenfolge im Anhang stehen. Prolog und Epilog sind außer der Reihe placiert.
Als erstes entnehme man den Stimmen der Geschichte, daß sie ein falsches Echo überliefern, daß sie eine falsche Herkunft und ein falsches Ziel vortäuschen, ein falsches Zeugnis sprechen. Man durchschaue die Habgier der Roma aeterna, der Großen, die sich als Kulturträger, als Schutzmächte, als Protektoren bieder verstanden sehen möchten:

Die kleinen Völker haben kleinen Verstand.
Immer weitere Kreise zieht der Stumpfsinn um uns.
Tadelnswerte Sitten. Rückständige Gesetze.
Unwirksame Götter…
Bedauernswert sind die kleinen Völker.
Ihr Leichtsinn verlangt hinter jedem neuen Fluß
nach Aufsicht…
Ich fühle mich bedroht von jeglichem Horizont.
So sehe ich das Problem…

So sieht das Problem der Sieger und die Geschichte. Szymborska sieht es anders. Ihr Testament ist ein altes. Wenn sie von Hiob erzählt, tut sie es, wie Leszek Kołakowski es getan hätte: das Einzelschicksal bekommt philosophisches Gewicht und politische Aktualität, das heißt, neue Gültigkeit. Hiob, der Aufbegehrende, kapituliert. Hiob demütigt sich vor dem Herrn, der nicht zum Thema zu sprechen wünscht. Hiob übt Selbstkritik, Hiob ist bereit, Hiob will nicht mehr dem Meisterwerk im Wege stehen. – Hiob bekommt seine Maultiere, Ochsen und Schafe wieder zurück. Auf seinem zur Strafe kahlgewordenem Schädel wachsen wieder Haare.
Ihr Reifezeugnis trägt anstelle der schmückenden Kordel klirrende Ketten („Die zwei Affen von Breughel“).

Szymborskas „Eindrücke aus dem Theater“ haben den Höhepunkt nach dem fünften Aufzug, wenn der Vorhang fällt, wenn das Opfer neben dem Henker, Rebell und Tyrann sehr friedlich und Hand in Hand ihre Kunst der Verbeugungen, Kniefälle darbieten, auch die zum Beifall wiederauferstandenen Toten und Verschollenen −

Zu denken, daß sie geduldig hinter Kulissen warteten,
immer noch kostümiert,
ohne sich abzuschminken,
rührt mich stärker als alle Tiraden des Dramas.

Die Figuren dieses „Theatrum mundi“ muten wie Marionetten an, vielleicht kommen sie deshalb dem Leben so erschreckend nahe.
Manchmal sieht die Dichterin die Welt wie eine Schaubude, manchmal wie ein Museum:

Teller, aber kein Appetit.
Ringe, doch ohne Gegenliebe…
Aus Mangel an Ewigkeit wurden
zehntausend alte Gegenstände versammelt.

Was sie am meisten befremdet, ist die Kluft zwischen der toten und der lebendigen Natur.

Die Krone überdauerte den Kopf.

Das Fehlen jeglicher Naivität, sogar in den Träumen, schafft eine neue Gattung des Traums, den Traum von der gewesenen Zukunft und von der werdenden Vergangenheit. In den Fragen, die sich die Dichterin stellt, stellt sie sich selber in Frage:

Ist alles im Verhältnis
von Mensch zu Mensch so einfach?

Die tapfere Zurückweisung der im Prospekt gepriesenen Schmerztablette, des „chemischen Mitleids“, verbirgt einen ängstlichen Hintergrund, die Befürchtung, daß wir den Augenblick, den tödlichen, bedenkenlos überleben könnten.
„Das Massenfoto“ zeigt ihre „statistische Person“, ohne den narzißtischen Effekt und ohne Heroisierung, auch ohne jede Spur von Selbstmitleid: nüchtern, gewappnet, stoisch – vielleicht mit einer winzigen Prise ironischer Koketterie. So ist es bei Szymborska immer: ihre Gegenwartsbezogenheit bezieht prähistorische Erfahrungen mit der Natur und futurologische Schlußfolgerungen der Psychologie und der Soziologie ein, um die Welt und sich selbst in der Evolution und skeptisch zu sehen, als etwas Unstetes, vom Ichthyosaurus bis zum Wassertropfen, alles als eine „in Fluß“ befindliche Einheit zu erleben.

Im Fluß des Heraklit
fischen Fische nach Fischen,
zerlegen Fische Fische mit einem scharfen Fisch,
bauen Fische Fische, wohnen Fische in Fischen,
fliehen Fische aus belagerten Fischen…
Im Fluß des Heraklit
bin ich Einzelfisch, Sonderfisch
(zumindest nicht so wie der Baumfisch oder der Steinfisch)

Das „carpe diem“, das Verweilen bei dem Augenblick, der schön wäre, ist ihr versagt. Sie sieht die Dinge mehrdimensional, im Zusammenhang, mit Hintergrund und Vorgeschichte, zugleich sehr differenziert im Detail, was ihre minuziösen Beobachtungen der Natur beweisen. Der Wassertropfen, der auf ihre Hand fällt, macht ihr seine Herkunft bewußt. Er stammt aus dem Ganges und aus dem Nil, und die Kunde „Von einem Wassertropfen“ ist für sie eine Kunde von der Gleichzeitigkeit alles Lebenden. Der Weg des Wassertropfens ist ihr eine erkenntnistheoretische Wanderschaft vom Mikrokosmos zum Makrokosmos. Die Philosophien, die sie zitierend, paraphrasierend oder parodierend einbezieht, stammen von Heraklit, Kant und Bergson, Heidegger und Sartre.

Den Freunden schrieb sie einmal ins Stammbuch:

Der Weg vom Leid zur Träne
ist interplanetarisch.

Deshalb sucht sie, mit Hilfe „Kleiner Anzeigen“, nach der verschollenen Phantasie des Herzens – dem Mitleid. Sie bietet Nachhilfestunden an, nicht in Latein und Geographie, sondern –

Ich lehre das Schweigen
in allen Sprachen
nach der Methode der Betrachtung
des Sternenhimmels,
des Sinanthropus,
der Heupferdchensprünge,
der Säuglingsnägel,
des Planktons,
der Schneeflocke.

Es ist alles einfach, und doch ist es nützlich, bei der Lektüre der Gedichte ab und zu im Gedächtnis oder sogar im Lexikon nachzuschlagen, zum Beispiel Tarsius lesend. In Meyers Lexikon wird man erfahren, daß es winzige Halbaffen sind, eine neben den Lemuriden angezeigte, bekannte Unterordnung „langsam kletternder früchte- oder allesfressender nächtlicher Säugetiere“, „14 cm lang mit 24 cm langem Schwanz, braungrau“. Und Meyer zählt zu den Tarsidae vor allem den Gespenstermaki und den Koboldmaki.

Auch zur Beschreibung der poetologischen Absichten der Szymborska finden wir keine Anhaltspunkte bei ihr selbst. Nur einer ihrer Sammelbände enthält ein kurzes Vorwort von 34 Zeilen, in dem sie ihre Scheu, ein poetisches Manifest zu formulieren, begründet.

Ich würde mir vorkommen wie ein Insekt, das aus unbegreiflichen Gründen sich selbst in eine Gablotte treibt und auf eine Nadel aufspießt.

Wer lebt, meint sie, sei entwicklungsfähig. Die Tatsache, daß sie noch lebt, erlaube ihr nicht, sich selbst endgültig zu bestimmen. Sie wisse nicht einmal, was „Poesie sei“, was diese von der Kunstprosa unterscheide.

Die kleinere Zahl der gebrauchten Wörter? Nun ja. Aber weder ist der Reim ihre Voraussetzung, noch der Rhythmus ihr unabdingbarer Besitz, noch die offene Subjektivität ihr unteilbares Privileg. Eine lustige Verwirrung, eine besorgniserregende Komplikation, die den Anhängern traditioneller Zuordnungen den Schlaf von den Lidern treiben mag.

Szymborskas Lyrik kennt in der Tat keine Formeln, keine Schablone und keine Raster. Sie ist von Gedicht zu Gedicht auf neue Weise erfinderisch in der Sprache und im Thema. Sie verrichtet ihre Arbeit wie einen Befreiungsakt, in der Schule des Bewußtseins, das Werkzeug ist ihr nebensächlich, der Einfall alles. Sie empfindet „Freude am Schreiben“:

Hier herrschen andre Gesetze, schwarz auf weiß.
Hier dauert jeder Moment so lange, wie ich es will…
… eine Welt,
deren unabhängiges Schicksal ich bestimme…

Freude am Schreiben.
Möglichkeit des Erhaltens.
Rache der sterblichen Hand.

Das ist wenig, und das ist sehr viel. In der Inschrift auf ihrem „Grabstein“ („Epilog“) bezeichnet sie sich als eine unmoderne Autorin. Doch ihre Gedichte sind auf eine sehr moderne Art Essays, Reportagen, Soziogramme, psychologische Tests, Meisterwerke der poetischen Novellistik, präzis kalkuliert, sparsam und streng, Poesie der Logik.
In dem Band Rufe an Yeti taucht zum ersten Mal als tragendes Element die Ironie auf, hinter der sich diskret die didaktische Absicht verbirgt. Aber auch darin prägt sie ein eigenes Verfahren: zu ironisieren mit Takt, zu entlarven, ohne zu denunzieren.

Manchmal ist es ein trockener Bericht:
aaaaaaaaaaaaaAufstehn. Danken. Abschied nehmen…

(„Pieta“)

Manchmal pitoreske Beschreibung:

Töchter des Barock. Teig schwillt im Backtrog,
Bäder dampfen, Weine erröten,
über den Himmel galoppieren Ferkel von Wolken,
Trompeten wiehern den physischen Alarm…

(„Rubens’ Frauen“)

Oder anmutig lyrischer Humor, wenn sie von einem berichtet, der sich eine Geige aus Glas baute, „um die Musik zu sehen“, oder handfeste Satire wie im „Autorenabend“.
Kontrapunktisch zum Stoff und seiner Bedeutung verhält sich die Sprache: aus trockenen Konventionalismen zusammengesucht, ja ausgesucht, um den Augenblick gegen die Ewigkeit deutlicher abzusetzen, den winzigen Platz, den wir einnehmen, gegen das Universum abzugrenzen:

Teure Sirenen, so hat es sein müssen,
liebe Faune
(„Thomas Mann“)

als ob sie ihren Tanten und ihren Cousins schriebe, oder aber das scheinbar flüchtige Parlando nutzte, um das Tragische nicht restlos preiszugeben, es schamhaft zu verbergen.

Ophelia, Dänemark möge dir und mir vergeben:
ich falle in Flügeln, ich überlebe in praktischen Krallen.
Non omnis moriar aus Liebe.

(„Der Rest“)

Kultur im grauen Kleid der Alltagssprache.

Nach der Lektüre der Gedichte weiß man, warum sich Szymborska nicht auf einen Nenner bringen läßt. Ihre Lyrik ist ständige Metamorphose – hier der epischen Dichtung, dort des Epigramms, der grotesken Miniatur, der Parabel, der Metapher:

Schwalbe, Schönschreibkunst,
Zeiger ohne Minuten,
frühe Vogelgotik,
Silberblick des Himmels,
Schwalbe, spitze Stille,
heitere Traurigkeit,
Aureole Verliebter,
erbarme dich ihrer.

(„Denkwürdigung“)

Im oben zitierten Vorwort zu einer ihrer Gedichtsammlungen beruft sich Szymborska auf einen Satz von Montaigne: „Seht doch, wieviel Enden dieser Stock hat!“ Ihr sei es völlig gleichgültig, ob dieser Satz in Prosa oder in Gedichtform geschrieben worden ist, es genüge ihr, daß Montaigne, „um sein Erstaunen auszudrücken, Worte fand, die man nicht vergessen kann. Nein, ich habe kein poetisches Programm… Ich habe nur dieses Motto – als unerreichtes Muster der Kunst des Schreibens und als ständige Ermunterung, mit Gedanken die Offensichtlichkeit zu überschreiten“.
In Szymborskas Gedichten ist alles aus der Beobachtung heraus destilliert. Kein Tränenwasser, kein Geruch von Galle stört die reine Erkenntnis. Übriggelassen wird nur das Endkristall – das Salz: der wertbeständige Sinn, die Ratio des letzten Gefühls.

Das unter besonders hohen Temperaturen gewonnene Salz basiert auf aktiven Faktoren zur Behandlung von Schwindelanfällen. Das Präparat entspricht allen Anforderungen, die nach den modernsten Erkenntnissen der Heilkunde an eine erfolgreiche poetologische Therapie gestellt werden müssen.
Jedes Gedicht ist wie ein Extrakt aus essentieller Erfahrung. Wirkprinzip der Substanz: Kristalle natürlicher Herkunft mit überwiegend ungesättigten Säuren.
Indikationen sind zu empfehlen bei allen Erkrankungen, die das Sehen, Hören, Fühlen und Denken beeinträchtigen. Das Salz schützt zuverlässig vor Infektionskrankheiten, normalisiert die Leber- und die Gallenfunktion, stellt die Leistungsfähigkeit der roten Körperchen und der grauen Zellen wieder her und beugt der inneren Luftverschmutzung vor.
Wenn vom Arzt nicht anders verordnet, einmal täglich ein Gedicht vor dem Schlafengehen unzerkaut schlucken. Mit etwas Nachdenklichkeit nachspülen, fünfzehn Minuten lang ruhig liegen bleiben, nachwirken lassen.
Handelsform: Originalpackung 44 Gedichte.
Das Präparat ist vor Dunkelheit und Fäulnis zu schützen. Zum baldigen Gebrauch bestimmt. Falls längere Lagerung unvermeidlich – an freundlichen, gut sichtbaren Plätzen aufbewahren (z.B. in den Schaufenstern guter Buchläden oder in öffentlichen Büchereien).

Karl Dedecius, Vorwort

 

Mit Gedanken die Offensichtlichkeit überschreiten

Mit dem Band Salz hat der deutsche Leser zum erstenmal eine Gedichtauswahl der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska in Händen, mit bewährter Zuverlässigkeit übertragen und herausgegeben von Karl Dedecius. In seiner Einleitung schreibt, er, dass Wislawa Szymborska der Generation von Zbigniew Herbert und Tadeusz Rozewicz angehört und als ständige Mitarbeiterin der Zeitschrift Literarisches Leben in Krakau arbeitet.
Dedecius hat die Gedichte so angeordnet, dass die jüngsten am Anfang des Bandes und die ältesten am Schluss stehen. Wieder, wie schon oft, lässt er den Leser an einer Entdeckung teilnehmen. Dieser lernt eine ausdrucksstarke, klare, durch Erfahrung, durch künstlerischen Ernst überzeugende Stimme kennen.

Ich glaube an die verpfuschte Karriere, ich glaube an die vertane Arbeit vieler Jahre, ich glaube an das ins Grab genommene Geheimnis. Mein Glaube ist fest, blind und ohne Begründung.

Man findet schon bei der ersten Lektüre des Bandes eine Reihe von Gedichten, die sich dank der Originalität des Einfalls und der Sicherheit des Tons einprägen, etwa die Eindrücke aus dem Theater, mit diesem Beginn:

Für mich ist der wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug: die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne, das Zupfen an den Perücken, Gewändern, das Entfernen des Dolchs aus der Brust, das Lösen der Schlinge vom Hals, der muntere Auftritt in einer Reihe mit dem Gesicht zum Parkett.

Oder das herrliche Stück „Glückliche Liebe“, in dem das sprechende Ich launig-ironisch fragt, ob so etwas normal, wichtig, nützlich, ob es nicht ungerecht sei, nicht alle möglichen Prinzipien verletze, wie eine Verschwörung im Rücken der Menschheit wirke, ob die Glücklichen sich nicht, wenigstens maskieren, Niedergeschlagenheit spielen sollten.

Glückliche Liebe. Muss das denn sein? Takt und Vernunft gebieten, sie
zu verschweigen wie einen Skandal…

Es gibt in dem Band auch einige Stücke poetischer Prosa, die ganz in die Nähe der Gedichte reichen. Dedecius zitiert in seinem Vorwort Wislawa Szymborskas Aeusserung, sie wisse nicht, was Poesie sei, was diese von der Kunstprosa unterscheide, und ihre schnippische Hinzufügung:

Eine lustige Verwirrung, eine besorgniserregende Komplikation.

Montaignes Satz „Seht doch, wieviel Enden dieser Stock hat“ veranlasst sie zu der Bemerkung, ihr sei es gleichgültig, ob dieser Satz in Prosa oder als Vers geschrieben worden sei, es genüge ihr, dass Montaigne, „um sein Erstaunen auszudrücken, Worte fand, die man nicht vergessen kann… Ich habe nur dieses Motto – als unerreichtes Muster der Kunst des Schreibons und als ständige Ermunterung, mit Gedanken die Offensichtlichkeit zu überschreiten.“ Wiederholt dachte ich bei der Lektüre der Gedichte an diese Sätze. Das oft Ueberraschende der Verse ist wesentlich von diesem Ziel her zu verstehen, mit Gedanken die Offensichtlichkeit, zu überschreiten. Etwa:

Es freut mich, dass ich im Sterben immer wieder erwache.

Aber Wislawa Szymborska formuliert mit ebenso grosser Intensität das Naheliegende, zum Beispiel, wenn sie in dem Gedicht „Goldene Hochzeit“ von den Eheleuten sagt:

Eines Nachts errieten sie den Ausdruck ihrer Augen nach der Art des Schweigens, in der Dunkelheit.

Walter Helmut Fritz, Die Tat, 29.12.1973

 

Wisława Szymborskas Gedichte

verwirren häufig die Leichtfertigkeit, mit der wir etwas zu wissen meinen. Sie lassen sich auf keinen Nenner bringen. Sie sind einfach und kunstvoll, melancholisch, tiefsinnig, übermütig, ironisch, jeweils von Anfang an:

Aha, das also ist der Himalaja!

Oder:

Glücklich, verschlang ich einen Stern.

Oder, unter dem Titel „Ein Wort zur Pornographie“:

Es gibt keine schlimmere Ausschweifung als das Denken.

Oder die erste Strophe des Gedichts „Eindrücke aus dem Theater“:

Für mich ist der wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug:
die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne,
das Zupfen an den Perücken, Gewändern,
das Ziehen des Dolchs aus der Brust,
das Lösen der Schlinge vom Hals,
das Einreihen zwischen die Lebenden
mit dem Gesicht zum Parkett.

Wie oft sind einem diese Gedichte um Schritte voraus.

Walter Helmut Fritz, aus Walter Helmut Fritz: Offene Augen, Hoffmann & Campe Verlag, 2007

 

 

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Zum 100. Geburtstag des Übersetzers:

Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021

Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021

 

 

 

 

Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź

 

 

 

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Katrin Hillgruber: Die Welt muss ständig neu beschrieben werden
Der Tagesspiegel, 30.6.2023

Elke Heidenreich: „Ich begeistere mich und verzweifle“
Süddeutsche Zeitung, 30.6.2023

Richard Kämmerlings: „Sie haben ein zu reines Herz, um gut schreiben zu können“
Die Welt, 3.7.2023

Holger Teschke: Was die Wirklichkeit verlangt
junge Welt, 3.7.2023

Peter Mohr: Mozart der Poesie
titel-kulturmagazin.net, 2.7.2023

Manfred Orlick: Kein umfangreiches Werk, aber etwas Unvergleichbares geschaffen
literaturkritik.de, 2.7.2023

 

 

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Wisława Szymborska in memoriam.

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