MEINE UNIVERSITÄT
Französisch können Sie.
Dividieren.
Multiplizieren.
Gleichungen lösen.
Deklinieren gönnen Sie
sich, doch bekennen Sie:
können Sie in Hausfassaden lesen?
verstehn Sie den höheren Kram:
die Sprache der Tram?
Das menschliche Kücken,
kaum dem Ei entschlüpft,
greift nach Buchrücken,
nach dem Heft mit Ziffernschrift.
Ich aber lernte gassenfrech
das Alphabet von den Firmenschildern,
blätterte in einer Fibel aus Blech
mit eisernen Bildern.
Man lehrt uns – nicht verwildern:
die Erde meistern heißt,
daß man Haut und Haar
ihr vom Leibe reißt;
dabei ist sie bloß ein winziger Globus.
Ich aber
erlernte das Erdkunde-Opus
durch Knüffe und Püffe,
die mir die Hüften trafen:
nicht umsonst doch warfs mich
auf den Boden zum Schlafen.
Den Schulbuch-Historiographen
quälen Fragen brennender Art:
– „Hatte Barbarossa einen feuerroten Bart?“
Na, wennschon!
In verstaubtem Schwatz wühl ich mitnichten;
dafür kenn ich jede der heutigen Moskauer Geschichten.
Da kriegt man Dobroljubow zu fassen
und lernt so, das Böse zu hassen;
doch die Sippe wehrt mit breitmäuligem Greinen,
Papa und Mama wolln ihn durchaus verneinen.
Ich
konnte die Fettleibigen
von Kind auf nicht leiden.
Mußte selbst mich für ein Mittagessen verdingen und bescheiden.
Verdaun ihre Lektion, diese protzigen Quallen,
setzen sich hin –
um den Damen zu gefallen;
Zwerg-Ideen, blechern und irr,
hinter kupfernen Stirnen ein ärmlich Geklirr.
Ich aber
redete bloß mit den Häusern.
Nur die Pump-Anlagen noch waren meine Partner.
Mit Dachluken-Ohrmuscheln
hinhorchend nach lautem Geräusch und leiserm
Tuscheln,
schwiegen die Dächer und harrten:
womit ich ihnen ins Gehör würde platzen.
Hernach aber hatten sie endlos zu schwatzen –
worüber? über die Nacht
und übereinander.
Ihre Zunge, die Fahne,
wirbelte um die Wette mit dem Wetterhahne.
Nachdichtung Hugo Huppert
I
Anerkennen oder nicht anerkennen? Diese Frage existierte für mich (und die übrigen Moskauer Futuristen) nicht. Das war meine Revolution. Ging ins Smolny. Arbeitete. Überall, wo es not tat. Beginn meiner Sitzungstätigkeit.
Diese Sätze aus Majakowskis Autobiographie belegen, was der Oktober 1917 für ihn bedeutete. Jetzt wurde möglich, worauf er von Anfang an hingearbeitet hatte: der Zusammenschluß von Kunst und Leben. Majakowskis Biographie verschmolz mit der Geschichte seines Landes.
Majakowski hatte als Futurist begonnen. In dem Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ (1912) hatte er zusammen mit seinen Dichterfreunden die Kunst der Vergangenheit für tot erklärt, die „Generale der Klassik“ über Bord geworfen; eine neue Kunst, neu in jeder Hinsicht, sollte geschaffen werden. Die Arbeit am Wort vollzog man mit der Leidenschaft von Stürmern und Drängern und mit der Besessenheit von Sektierern. Durch die Zerstörung der Syntax, die Negierung orthographischer und grammatischer Normen, durch Neuschöpfungen auf der Grundlage des graphischen oder phonetischen Charakters der Wörter hatten sie eine neue Sprache schaffen wollen, eine metalogische Klangsprache, die ohnehin mehr deklariert als tatsächlich praktiziert wurde. Das Mißtrauen gegenüber abgestumpften und entwerteten Mustern, die Polemik gegen eine durch Sprachklischees falsches Bewußtsein schaffende bürgerliche Literaturproduktion waren zweifellos von Bedeutung für ein geschärftes Verhältnis zur Sprache. Allerdings täuschten sich die Futuristen, wenn sie, was lediglich eine Voraussetzung für die Erneuerung der Literatur war, für das Wesen der Sache hielten. Majakowskis Anfänge sind mit diesen Bemühungen verbunden, die vor allem von Welimir Chlebnikow und Alexej Krutschonych vorangetrieben wurden. Er nutzte die neuen strukturellen Möglichkeiten und erfaßte die Welt der modernen Großstadt in ihrer bedrängenden sozialen Widersprüchlichkeit. Die Stadtlandschaft mit ihren Tag- und Nachtgesichtern lieferte ihm nicht die Vorlagen für herkömmliche Stimmungsbilder naturalistischer oder romantisierender Machart. Er sah nicht nur die Faszination des Tristen, sondern erkannte in den Fassaden urbaner Zivilisation Mauern, die den Menschen vereinsamten. Leere und Trivialität der zwischenmenschlichen Beziehungen wurden in Verse gefaßt, in denen Verzweiflung und Haß, Leid und Verachtung wechseln. Elegie und Satire liegen dicht beieinander. Auf die abstoßende und brutale Welt, in der das Streben nach Profit dominierte, reagierte der Dichter mit gewollter Grobheit und Verachtung. Das war nicht nur die Konsequenz aus einem Literaturprogramm, das sich hochmütig gegen die „parfümierten Salons“ der Symbolisten richtete. Diese Welt zeigte nicht Gesichter, sondern Masken und Fratzen. Sie entstellte das Menschliche. Der Krieg, in den sie mündete, war nur ihre letzte mörderische Metamorphose.
Die Bildwelt des frühen Majakowski entsteht so aus dem Zusammenstoß eines radikal desillusionierten Bewußtseins mit einer Wirklichkeit der Anmaßung und Lüge. Die antibürgerliche Provokation, die seine Dichtung bestimmt, realisiert sich in Kontraststrukturen. Der Dichter verachtet eine seelenlose Masse, verhöhnt den satten Bourgois, den selbstzufriedenen Spießer. Er rechnet ab mit den konventionellen Formeln der Trivialliteratur. Herausforderung wird bereits jetzt zu einem konstitutiven Element der Poetik Majakowskis.
Über den Weltschmerz, der nicht neoromantisches Epigonentum, sondern tödlich verletzender Schmerz an der Welt ist, gelangt der junge Dichter zum Bewußtsein seiner Verantwortung für die Welt.
In seinem Werk stehen dafür zwei kompliziert miteinander verbundene, sich häufig überschneidende Figuren: der messianistische Verkünder einer kommenden Welt menschlicher Harmonie und der für die Menschen sich opfernde Dichter. Es sind Komplementärfiguren eines isolierten und unverstandenen lyrischen Subjekts, das sich nicht selten durch groteske Clownerie und schockierende Paradoxe maskierte. Die Unmöglichkeit menschlicher Kommunikation läßt den Dichter sich in einen Hund verwandeln, der zum Opfer einer vertierten Menge wird. Der lyrische Held ist bereit, sein „unsterbliches Selbst“ zu opfern, „augenblicks für ein einziges Wort, / das da menschlich / von Herzen zu Herzen ginge“.
Der junge Majakowski wandte sich vorwiegend an ein Anti-Publikum, an die Bourgeoisie, die er haßte. Deshalb die blasphemische Profanierung aller überkommenen Werte, die sich die Welt der Reichen und Satten zusprach.
Eine geträumte Zukunft schien der einzig mögliche Ausweg aus einer Gegenwart der Verzweiflung. Die Visionen einer sinnerfüllten Welt in den hymnischen, oft ekstatisch gesteigerten Poemen der Jahre 1915 und 1916 entwerfen eine utopische Alternative. Die Behauptung des Menschlichen und die Verteidigung der Hoffnung auf seinen kommenden Triumph ist die große Leistung des jungen Majakowski.
II
Die Oktoberrevolution war die umfassende Antwort auch auf Majakowskis persönliche Fragen. Sein Freund Viktor Schklowski schrieb später: „Majakowski ging in die Revolution wie in ein Haus, das ihm gehörte.“ Die Revolution, die Wende der Zeiten, war für diesen Dichter zugleich die Voraussetzung erneuerter künstlerischer Existenz. Das Bekenntnis zu ihr aber mußte Folgen haben. Die strahlende Vollkommenheit der Visionen wurde abgelöst durch die Unvollkommenheit des Revolutionsalltags, das Anti-Publikum oder der ideale Adressat der Zukunft durch die wissenshungrigen Massen. Majakowski bestimmte seine Position als Dichter der sozialistischen Revolution, indem er für die schrieb, welche die Revolution machten: Arbeiter, Bauern, Soldaten.
Wie alles, was er tat, tat er auch dies mit Entschiedenheit. Der historische Augenblick forderte Klarheit und Einprägsamkeit der Aussage. Diese wollte er mit der Neuartigkeit revolutionären Ausdrucks verbinden. Die Avantgarde mußte in einer sich auf den Sozialismus hinbewegenden Gesellschaft beweisen, wessen sie fähig war. Der Vorgang war kompliziert und widerspruchsvoll. Er verlief nicht in einer aufsteigenden Geraden. Das künstlerische Experiment, getragen von Enthusiasmus und Hingabe an die Revolution, verfehlte seine Wirkung, wenn es den neuen Adressaten überschätzte, der gerade dabei war, sich elementare Kultur- und Bildungswerte anzueignen.
Die Demokratisierung des Lebens erzwang die Demokratisierung der Kunst. Das ästhetische Experiment erhielt eine neue soziale Dimension. Die Massen mußten erreicht werden, ohne daß der Anspruch auf Kunsterneuerung aufgegeben wurde. Sergej Prokofjew, dem Majakowski 1918 sein Poem „Krieg und Welt“ mit der Widmung „Dem Vorsitzenden der Musiksektion des Erdballs vom Vorsitzenden der Dichtersektion des Erdballs, Prokofjew von Majakowski“ zugeeignet hatte, formulierte später lakonisch, was nicht nur für ihn zutraf:
Die Schwierigkeit, in einer klaren Sprache zu komponieren, besteht eben darin, daß diese Klarheit nicht die alte sein darf, sondern eine neue sein muß.
Majakowskis erster Schritt in diese Richtung war die Erweiterung des Sprachmaterials, mit dem er arbeitete. In seinen Wortschatz ging die Sprache der Massen, der Politik, der Versammlungen und Zeitungen ein. Das Genresystem wurde umgewälzt: Losung und Plakat, das improvisierte populäre Lied – die Tschastuschka – und das Soldatenlied erwiesen sich für die neuen Inhalte als aufnahmefähiger als die unter den bürgerlichen Literaturverhältnissen verbrauchten traditionellen Formen, denen die ehemaligen Futuristen mißtrauisch gegenüberstanden. Überlieferte Stoffe taugten bestenfalls zur Parodie: Mit „Mysterium buffo“ (1918), dem ersten sowjetischen Drama, zeigte Majakowski solche Möglichkeiten auf. Das biblische Sintflut-Sujet, die Verheißung des Gelobten Landes, die Bergpredigt wurden zu Vorgängen im Prozeß einer proletarischen Weltrevolution umfunktioniert. Damit wurde über tradierte Stoffe ein kritisches Bewußtsein gegenüber überlieferten Werten geschaffen und zugleich neue Orientierungen vermittelt.
Majakowski begnügte sich nicht mit solchen Akten der Entlehnung und Adaption. Der Wechsel des Stils und der Formen war auch eine Folge der zunehmend vertieften persönlichen Einsichten in die Schwierigkeiten, in einem zurückgebliebenen und bedrohten Land den Sozialismus aufzubauen. Der Sprung in die Zukunft war nicht möglich. Die Bewegung erfolgte in vielen kleinen Schritten, die mühevoll im Alltag durchzusetzen waren. Die ROSTA-Fenster zeigten diesen Wechsel der Kampfformen auf drastische Weise, auch die operativ geziehen Gedichte, die er bis zuletzt schrieb.
Die große russische Tradition eines solchen Dichtungsverständnisses ist offensichtlich. Es ist die Verpflichtung des Dichters auf seine staatsbürgerliche Aufgabe, wie sie schon Puschkin, Nekrassow und Blok bekennerisch formuliert und verwirklicht hatten. Unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats begreift Majakowski alles, was er schreibt, als sozialen Auftrag. Der oft als polemische Übertreibung empfundene Satz, er halte den Vers „Alles für jeden / in Mosselprom-Läden“ für „Poesie höchster Qualifikation“ („Wie macht man Verse?“, 1926), ist nur die Konsequenz einer neuen Haltung des Dichters gegenüber allen noch so verschiedenen Forderungen der Gesellschaft, denen er mit seinen Mitteln entsprechen wollte. Der Reklamevers und das Lenin-Poem liegen gewiß nicht auf der gleichen Ebene künstlerischer Bedeutsamkeit, wohl aber unterwirft Majakowski sie den gleichen Kriterien maximaler sozialer Wirkung.
Dichtung wurde von Majakowski aus dem Dunstkreis höherer Inspiration herausgenommen. Sie war Arbeit innerhalb des großen gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. „Wie macht man Verse?“ ist eine politisch motivierte Poetik, die nicht Regeln aufstellen, sondern Verfahren einsehbar machen soll. Sie ist ein Beleg dafür, wie die künstlerische Avantgarde sich mit der politischen Avantgarde verband. Majakowski leitet hier, um es mit den Worten Brechts zu sagen, seine Ästhetik aus den Bedingungen des politischen Kampfes ab. Dichterische Produktion ist weder Spiritismus noch Handwerkelei, sondern bewußte Kommunikation des Künstlers mit seiner Umwelt. Sie bedarf der kollektiven Anstrengung, neuer Formen der Vermittlung und des Austauschs.
Das Nebeneinander von Alltagskleinarbeit und großen Entwürfen war für Majakowski der Normalfall. Ohne der Forderung des Tages zu genügen, war es nicht möglich, Zukunftspläne zu verwirklichen. Das produktive Jahr 1928 – Majakowski arbeitete an der satirischen Komödie Die Wanze, reiste nach Deutschland und Frankreich, trug seine Verse vor und hielt Vorträge – mag als Beispiel für den Umfang, die Vielfalt und Intensität seiner schriftstellerischen Aktivität dienen.
In diesem Jahr entstanden über achtzig Gedichte, darunter so bedeutende wie „Erzählung des Gießers Iwan Kosyrew vom Einzug in die neue Wohnung“, „Schriftsteller wir“, „Krim“, „Brief an Tatjana Jakowlewa“. Die meisten der Gedichte aber zielen auf die Überwindung ökonomischer und politischer Widersprüche im Alltag: sie agitieren für die Produktion billiger Herrensocken, für ökonomischen Wohnungsbau, für Staatsanleihen, Getreidelieferungen an den Staat, den Bau von Autos und die Motorisierung. Majakowski schrieb Reklameverse für den staatlichen Handel, propagierte den Massensport, unterstützte die atheistische Propaganda und die Bemühungen des Staates um Gesundheit und Hygiene, geißelte den Alkoholmißbrauch und nahm zu Gerichtsverfahren Stellung, in denen seiner Meinung nach nicht vom sozialistischen Standpunkt aus Recht gesprochen wurde. Sein Zorn verfolgte alle, die kleinbürgerlichen Kitsch als Kunst für die Arbeiter ausgaben. Immer wieder ging er gegen Bürokratismus und Bürokraten an. Er schuf eine Typengalerie von Spießbürgern: den Geizigen, den Verleumder, den Speichellecker, den Scheinheiligen, die Beamtenseele. In seinen Versen kommentierte er wichtige außenpolitische Ereignisse, den Kampf der Arbeiter in der ganzen Welt, das Erstarken der internationalen Arbeiterbewegung.
Majakowskis Begeisterung für die Zeitung, in der die meisten seiner Gedichte zuerst veröffentlicht wurden, für das Radio, die Bühne, die Tribüne und den Film hat mit seiner Poetik der unmittelbaren Ansprache und der öffentlichen Wirkung zu tun. Von da aus wird das Wort in die Massen getragen. Das bestimmt den didaktischen Gestus vieler Gedichte und ihren Aufbau: von der Fragestellung über Erläuterung und Argumentation zum konkreten Hinweis und zur Aufforderung zum Handeln.
Gedichte dieses Typs versteht jeder beim ersten Hören und Lesen. Ihnen gegenüber konnten Majakowskis Kritiker, deren es nicht wenige gab, kaum den Vorwurf der Unverständlichkeit erheben. Majakowski hat sich bis zu seinem Tode immer wieder dagegen wehren müssen. Tatsächlich strebte er nach Klarheit durch Einfachheit, nach Einprägsamkeit durch Neuartigkeit. Das schloß Ansprüche an den Leser nicht aus, wenn es um komplizierte Sachverhalte ging. Über Volkstümlichkeit im Sinne massenhafter Zugänglichkeit hatte er eine klare Meinung. Gegen den stereotypen und demagogischen Vorwurf „Die Arbeiter und Bauern verstehen Sie nicht“ schrieb er 1928:
Die Kunst wird nicht als Massenerscheinung geboren, sie wird zur Sache der Massen erst im Ergebnis einer Summe von Bemühungen: Da ist die kritische Analyse wirksam, die ihren Gediegenheits- und Nützlichkeitsgrad feststellt, dann die organisierte Verbreitung durch den Apparat von Partei und Staatsmacht, vorausgesetzt, es ist die besagte Nützlichkeit, die Rechtzeitigkeit der Beförderung des betreffenden Buches unter die Massen, die Entsprechung zwischen der im Buch aufgeworfenen Frage und dem Reifegrad dieser Fragestellung innerhalb der Massen ermittelt… Massenhaftigkeit ist das Ergebnis unseres Kampfes und nicht das Hemd des Glücks, worin das glückbegnadete Buch irgendeines literarischen Genies schon zur Welt kommt.
Majakowski wollte den Massen verständlich sein, freilich nicht um den Preis eines billigen Kompromisses. Die Meinung der Arbeiter interessierte ihn vor allem. Mit ihnen diskutierte er auch über ästhetische Fragen, weil die Vertiefung des Verständnisses für Kunst und Literatur, die Bildung des Geschmacks eine Aufgabe war, für die er sich zuständig fühlte. Es gab dabei Erfolge und Mißerfolge, auch historisch bedingte Grenzen. Eine Ahnung von noch nicht lösbaren Widersprüchen zwischen Dichter und Volk klingt in einem Vers an, den er später durchstrich:
Ich will: die Heimat soll mich verstehn.
Doch wenn sie nicht will, je nun –
dann heißt’s: an der Heimat vorübergehn,
wie die schrägen Regen es tun…
Majakowski grenzte sich in seinem Schaffen eindeutig von einem Programm ab, auf das ihn auch manche Theoretiker des Lef (Linke Front der Künste) festlegen wollten. Dessen kulturpolitische Linie bestimmte er als Redakteur der Zeitschriften Lef (1923/24) und Nowy Lef (1927/28) wesentlich mit. Majakowski wehrte sich gegen eine enge, dogmatische Auffassung einer „Literatur des Fakts“, die über die widerspruchsvolle Totalität des individuellen Bewußtseins hinwegsah, künstlerische Phantasie und Erfindung als Gestaltungsmittel tiefer und widerspruchsvoller Wandlungen der Zeitgenossen nicht akzeptieren wollte. Er sah die Gesamtheit der Veränderungen, denen der einzelne im Prozeß sozialistischer Emanzipation unterworfen war. Diese betrafen das Verhältnis zur Vergangenheit, das Geschichtsbild, die Lebensweise, die Kultur der Gefühle. Liebe etwa als kleinbürgerliches Thema der Poesie abzuqualifizieren hieß nicht nur eine große Tradition der Dichtung abzuschreiben, es bedeutete auch, die Revolution nicht ernst zu nehmen. Je tiefer Majakowski die Entwicklung seines Landes erfaßte, um so mehr löste er sich vom Traditionsnihilismus seiner Anfänge. Sein Verhältnis zu Puschkin etwa, der im Manifest des Jahres 1912 noch zu den „Generalen der Klassik“ gehörte, änderte sich entschieden. Die „Jubiläumsverse“ (1924) sind ein Bekenntnis zu Sprachgewalt und Lebenskraft seiner Dichtung. Majakowski stellt sich dem lebendigen Puschkin selbstbewußt an die Seite.
Majakowskis Weg ist charakterisiert durch die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst. Immer wieder stellte er sein eigenes Schaffen zur Diskussion. 1923 hatte er auf Bemerkungen Lenins zu seinem Poem „150 Millionen“ (1920) hingewiesen:
Iljitsch hat es gut gesagt. Was konnte ich damals schon für ein Kommunist sein? Ich begrüßte die Oktoberrevolution als anarchistischer Intellektueller, der mit Relikten des Alten behaftet war; aber wenn sogar Iljitsch gesagt hat, daß meine politische Richtung richtig ist, so heißt das doch, daß ich Fortschritte im Kommunismus mache. Das ist für unsereinen das Allerwesentlichste, die Hauptsache.
III
Die Wandlungen des lyrischen Ich vollzogen sich mit Konsequenz. Alexander Bloks stolze Erklärung, der Dichter mache keine Karriere, sondern folge seinem Schicksal, scheint direkt für Majakowski geschrieben zu sein. Gemeint ist die Unaufhaltsamkeit einer Selbstverwirklichung, die sich im Aufgehen in einer großen Aufgabe vollzieht.
Der aufsässige Schüler, herangewachsen in den Weiten Georgiens, in einem Elternhaus bürgerlich-demokratischer Gesinnung, hatte bereits in den Tagen der ersten russischen Revolution die Flugblätter und Proklamationen der Bolschewiki gelesen, die Lieder der Revolution gehört:
Das war Revolution. Das wurde mit Versen gemacht. Verse und Revolution flossen in meinem Kopf irgendwie zusammen.
In Moskau, wo er mit Mutter und Schwester seit 1906 wohnte, vertiefte er sich in Marx, Engels und Lenin. 1908 trat er in die Sozialistische Arbeiterpartei Rußlands ein und wurde Bolschewik. Er arbeitete illegal, wurde dreimal verhaftet und saß zweimal im Gefängnis.
Mit dem Blick auf die kommende sozialistische Revolution entschied sich Majakowski 1910, die Parteiarbeit zu unterbrechen:
Setzte mich hin, um zu lernen.
Der Futurist David Burljuk entdeckte in ihm, der sich nun als Maler und Graphiker ausbilden ließ, den genialen Lyriker. Er wurde sein Freund und Förderer. Ein Jahrzehnt später wertete Majakowski diese Begegnung als „Geburtsstunde des russischen Futurismus“ („Autobiographie“).
Der futuristische Protest gegen die „alte“ Kunst war damals für Majakowski die künstlerische Entsprechung seiner politischen Überzeugungen. Er attackierte den satten, mit sich und seiner Welt zufriedenen Bourgeois. Klage wandelte sich zunehmend in Anklage, Bitterkeit in aggressive Schärfe. Von den verächtlich karikierten Repräsentanten dieser Ordnung ging Majakowski zum Angriff auf das System selbst über. Die frühen Poeme „Wolke in Hosen“ (1915) und „Krieg und Welt“ (1916) entlarvten die amoralische Verfälschung der Werte, das barbarische Wesen des Kapitalismus, dessen Fratze der Krieg ist.
Es ist erstaunlich, wie schnell Majakowski zu seinem unverwechselbaren, individuellen Ausdruck findet, der in der Zukunft wohl modifiziert und vertieft wird, in wesentlichen Zügen aber sein Werk vom Beginn bis zum Ende bestimmt. In den Jahren vor der Revolution gewann Majakowski jene entschieden herausfordernde Diktion, deren Wirkungen auf kühn entfalteten Metaphern und phantastischen Hyperbeln beruhen. Allerdings: Solcher Wirkung waren noch Grenzen gesetzt. Die bescheidenen Auflagen seiner von der Zensur argwöhnisch durchgesehenen und häufig hemmungslos verwüsteten Dichtungen erreichten nur ein kleines interessiertes, neugieriges, selten verständnisvolles Publikum. Mit seinen Futuristenfreunden bemühte sich Majakowski um zusätzliche Resonanz durch geräuschvolle und schockierende Auftritte in Moskau, Petersburg und anderen russischen Städten.
Ebenso beeindruckend ist, wie die sein Werk bestimmenden übergreifenden Problemstellungen bereits im Frühschaffen sich ausprägen: das kosmische Modell, das die hochfliegenden Ideen und utopischen Entwürfe groß ausstellt; das elementare Zusammendenken von freier menschlicher Subjektivität und freiheitlicher Sozietät, von Kämpfen der Gegenwart und Zukunftserwartungen; der Traum von der Aufhebung entfremdeter menschlicher Beziehungen in der Harmonie von Mensch und von ihm geschaffenen Dingen.
Es waren Lebensfragen, die er in einer brüchigen Welt stellte. Die Revolution erlöste ihn aus einer Situation, die ihm nicht nur einmal den Gedanken eingab, die Schuld für das Elend dieser Welt wie ein zweiter Christus auf sich zu nehmen und als Erlöser den Opfertod für die Menschen zu sterben.
Majakowski ist nicht teilbar. Seine frühe Lyrik und das, was er nach 1917 schuf, werden durch eine zwingende innere Logik zusammengehalten. Das hat weniger mit dem Futurismus, sondern mit der bereits früh ausgeprägten Persönlichkeitsstruktur, vor allem der Universalität seiner Weltsicht zu tun. Betrachtet man vergleichend sein vor- und nachrevolutionäres Schaffen, so gelangt man zu überraschenden Einsichten in einen Prozeß von Bewahrung und Aufhebung. So wie sich das Pathos eines revolutionär-demokratischen Weltbürgertums nach 1917 zum Pathos internationalistischer Solidarität wandelte, so entfalteten seine frühen Motive ihre gedanklichen Potenzen. Selbstverständlich vollzieht sich hier keine eigengesetzliche Ideenmetamorphose. Was geschieht, ist die Beantwortung oder auch die Zuspitzung der offenen Fragen durch die Revolution und die Konzentration der schöpferischen Kraft auf reale Aufgaben. Voraussetzung dafür waren der neue Blick auf die Welt, das belebende Bewußtsein menschlicher Brüderlichkeit und sozialistischer Kollektivität. Das lyrische Subjekt überwindet seine Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Unverkennbar ist der Vorgang innerer und äußerer Befreiung. Majakowskis eingeborener Aktivismus sucht und findet ungeahnte Handlungsräume, neue Möglichkeiten schriftstellerischer Selbstverwirklichung. Die „Ode an die Revolution“ (1918) preist „das einfach menschliche Werk“. Die Gewißheit, in dieser Revolution seinen Platz gefunden zu haben, verschafft ihm ein gesteigertes Bewußtsein seiner Würde und gibt seiner Arbeit Sinn:
Dich verdammt der Spießerschrei:
„Dreimal sei vermaledeit!“
Ich übertäub ihn
mit dem Poetenwort.
„Viermal sei gepriesen und gesegnet!“
Majakowskis Hunger auf die Zukunft, seine Besessenheit, sie herbeizuholen, hatte die strahlenden Visionen des Finales von „Krieg und Welt“ (1916) getragen, die eine Welt absoluter Menschen- und Völkerharmonie antizipierten. Verkündet wird der ewige Frieden, in dem der Mensch nach seinem Maß wächst:
Freunde
und Feinde, Nahe
und Fremde,
ergießt euch
in breiten
Strömen
durch jene Tür!
Und er,
der Freie,
nach dem ich schreie,
der Mensch –
er kommt!
Ich bürge dafür!
In „Mysterium buffo“, dem heroisch-komischen Revolutionsspektakel, erscheint die Zukunft als Gelobtes Land, das sich die „Unreinen“ erkämpft haben. In „150 Millionen“ (1919/20) ist die Zukunft – „vielleicht / die x-te Jahrhundertfeier des roten Oktober“ – der Ort, von dem aus die Kämpfe der Vergangenheit in einem Weltoratorium gewürdigt werden. In dem Poem „Der Mensch“ (1916) setzt der lyrische Held in seiner Verzweiflung die Zukunft dem „Letzten“, seinem Tod, gleich. Als 1923 mit „Darüber“ dieses Thema wieder aufgenommen wird, hebt allein die Überzeugung von seiner Auferstehung im 30. Jahrhundert die Tragik des zu früh Gekommenen auf. In den großen Poemen „Wladimir Iljitsch Lenin“ (1924) und „Gut und schön!“ (1927) gewinnen die Zukunftsvorstellungen schon reale Konturen. Hier weiß sich der Dichter im Bund mit den durch ihre Arbeit herbeiholenden Zeit-Genossen:
Das macht froh –
denn hier mundet
mein eignes Bemühn
in das große Bemühn
meiner Republik.
Majakowski ging mit der Zukunft um wie mit etwas greifbar Nahem. Er sei von Kindheit an von der Zukunft verwöhnt gewesen, die er sich ziemlich früh und sichtlich ohne große Mühe erschlossen habe, schrieb Boris Pasternak nach Majakowskis Tod. Was man als utopisches Moment seiner Dichtung bezeichnen kann – für ihn war es das nicht. Die Realität der Zukunft beruhte auf der Realität der Revolution. An der Herbeiführung einer kommunistischen Zukunft wußte er sich beteiligt, schon deshalb war sie für ihn keine Utopie. Bis in seine letzten Bekenntnisverse hinein ist die „lichte Zukunft“ der Bezugspunkt seines Wirkens, vor der er sich – Dichter und Kommunist – verantworten wird. Majakowskis Zukunft war die Projektion des nur im Kommunismus Möglichen. Sie war aber auch eine Dimension, in der er arbeitete, in die einzudringen und die in reale Gegenwart zu verwandeln war. Der Dichter mußte dazu, wie er in „Wie macht man Verse?“ erläuterte, eine Distanz schaffen. Den sicheren Blick für die Gegenwart erhielt man aus der gedanklichen Vorwegnahme der Zukunft: „Kraftnaturen rennen weit genug voraus, um die richtig verstandene Zeit hinter sich herzuziehen.“ In dem Gedicht „An Sergej Jessenin“ (1926) gelangt Majakowski in gewagter, doch beherrschter Wendung von der Trauer über den Tod des Dichters zur Kritik seiner weltflüchtigen Haltung:
Freude
muß der Zukunft erst
entrissen werden.
Daß die Zukunft erkämpft werden mußte und daß dieser Kampf auch die Auseinandersetzung des einzelnen mit sich selbst einschloß, liest man am Werk Majakowskis nicht ohne Bewegung und Erschütterung ab. Zu Lebzeiten des Dichters haben wenige dessen Zukünftigkeit empfunden. Marina Zwetajewa schrieb 1923 in Paris:
Und wenn wir uns Majakowski zuwenden, dann müssen wir und vielleicht auch noch unsere Enkel nicht zurück, sondern vorwärts blicken… Mit seinem schnellen Gang ist Majakowski weit über die Gegenwart hinausgeschritten, und irgendwo hinter einer Wegbiegung wird er noch lange auf uns warten.
IV
Im unmittelbaren Zusammenhang mit seinen Zukunftserwartungen bewegte Majakowski immer wieder eine Frage: die Möglichkeit, Welt und Menschen zu lieben, Liebe als hohen Anspruch an sich und die anderen in eine selbstverständliche Kultur alltäglichen Zusammenlebens einzubringen. Dafür war die Revolution gemacht worden, deshalb hatte er sich ihr angeschlossen:
… ich warf mich
in den Kommunismus
aus den Himmeln der Dichtung,
weil’s für mich
ohne ihn
keine Liebe gibt!
(„Nach Hause“, 1925).
Eine solche Liebe setzte voraus, die Herrschaft der Dinge über die Menschen zu überwinden. Der junge Wladimir Majakowski, der als Held des gleichnamigen Monodramas bereit ist, sich dafür zu opfern, läßt in den verkrüppelten Figuren dieses Stückes die verkrüppelten, zu Waren gemachten Gefühle Gestalt annehmen. Ein anderer Titel des Werks – „Aufstand der Dinge“ – verdeutlichte dieses Auseinanderfallen von Mensch und Ding, von Produzenten und Produkt. Und bereits in seinem ersten größeren Werk nach der Revolution, dem Parabelstück „Mysterium buffo“, erscheint das Gelobte Land als Welt der befreiten Arbeit. Der „Aufstand“ von 1913 hatte seine Aufhebung gefunden: Die Dinge verbrüdern sich mit den Menschen. Dieses Bild der Zukunft, jetzt schon angesichts des Sieges der Revolution aus abstrakt-utopischen Vorstellungen herausgehoben, verbleibt freilich noch im Allegorischen, dargeboten in großer, odischen Gestus bezeugenden Rhetorik. Die reine Technikbegeisterung der Futuristen, die in der Faszination von Geschwindigkeit, Dynamik, Industriegeräuschen und -rhythmen den zivilisatorischen Fortschritt sensationell-sensualistisch veräußerlichte, vermochte Majakowski nicht zu infizieren. Von Beginn an war ihm das Problematische einer technizistischen Weltsicht bewußt. Ihn bewegte das Mensch-Technik-Verhältnis im konkreten gesellschaftlichen Raum.
Majakowskis enthusiastische Gedichte über die Arbeit in der sozialistischen Industrie mit dem legitimen Pathos ihrer Arbeitergestalten lassen die futuristischen Verzückungen angesichts einer die Menschenkraft vervielfachenden Energieballung hinter sich. Damit wird in der künstlerischen Aneignung der neuen Wirklichkeit auch die Allegorie überwunden, die etwa in „Mysterium buffo“ oder „150 Millionen“ für seine Hoffnung auf die menschenverändernde Kraft der Revolution stand. In der berühmten „Erzählung vom Kusnezkstroi und von den Leuten von Kusnezk“ (1929) werden die heroischen Anstrengungen der Arbeiter mit der greifbaren Perspektive der Stadt verbunden, die sie aufbauen. Der durhafte Klang dieses Gedichts ebenso wie sein drängender Rhythmus überhöhen die Strapazen und Entbehrungen der Bauleute und bestimmen die strenge balladeske Schönheit dieser Verse. Ein Gestaltungsprinzip ist hier erkennbar, dem Majakowskis Gedichte ihre eigentümliche Schönheit verdanken: Nicht um Harmonie an sich geht es, schon gar nicht um eine bloß gewünschte irreale Harmonisierung. Seine Abneigung gegen marmorne oder bronzene Denkmäler war auch eine Form des Mißtrauens gegen erstarrte, nicht ausgetragene Widersprüche. Gerade das Ringen um wirkliche Harmonie jedoch, das Austragen der Widersprüche der Epoche, verleiht seinem Werk die dem Jahrhundert adäquate Bedeutsamkeit und Größe. Es ist gegenwärtig in den visionären Entwürfen des jungen Dichters und bestimmt als ästhetisches und ethisches Programm die Epochendichtungen über Lenin und die Oktoberrevolution.
In einem solchen Geschichts- und Kunstverständnis war die Liebe ein immer wieder berufenes Phänomen. In ihr trafen sich individueller Glücksanspruch und soziale Ethik. Majakowskis heftiges Verlangen nach Übereinstimmung mit seiner Welt schloß die Vertraulichkeit des Umgangs mit ihr ein. Liebe und Brüderlichkeit waren das lichte Zelt, das alle und alles überspannte. Die kosmische Universalität der Revolution verlor ihre Abstraktheit „Genosse Sonne!“, „Genosse Leben!“. In einem solchen Raum mußte sich auch die Liebe entfalten, sie durfte nicht in zählebigen Gefühlsklischees verkommen. Majakowskis Gedichte, nicht nur die Liebesgedichte, lassen seine gesteigerte Sensibilität wie seine Entschlossenheit erkennen, mit der Verteidigung der Revolution auch einen ihr gemäßen Liebesanspruch durchzusetzen. In dem Poem „Darüber“ (1923) ist die Verzweiflung über die kleinbürgerliche Verzerrung der Liebe so groß wie sein Haß auf sie; beides wird jedoch überholt von der sicheren Erwartung künftiger Liebe, die, alle überkommenen Begrenzungen und Deformierungen überwindend, durchs Weltall wandern wird:
Damit der Tag,
von Armut siech,
nicht bettelnd überall herumgeht
und auf den Ruf:
Genosse!
sich die ganze Erde
zu dir umdreht!
Auch die Liebe bedurfte der Erneuerung, sie mußte alles menschliche Verhalten umschließen. Es ging nicht um eine innere Revolution, die von gesellschaftlichen Voraussetzungen absah. Die Liebe mußte mit dem Wandel der Gesellschaft Schritt halten. Majakowski begriff diesen Wandel als Herausforderung an das gesellschaftliche Verantwortungsbewußtsein des Subjekts:
Nicht für mich
bin ich eifersüchtig:
ganz Sowjetrußland eifert in mir.
V
Mit seinem rigorosen Anspruch auf eine neue Welt kollidierte Majakowski immer wieder mit dem Alltagskram, dem „byt“, in seinen verhüllten und unverhüllten Formen. Das Triumphgefühl des Revolutionärs kollidierte mit der schmerzhaften Empfindung der Bedrohungen und Niederlagen des Neuen. Die tragischen Töne in manchen Gedichten Majakowskis resultieren aus einem historischen Widerspruch, den Majakowski voll in sein Leben wie in seine Dichtung hineinnahm. Es war der Zusammenstoß von Zukunftsantizipation und einer Wirklichkeit, die nur in dem Maße zu verändern war, wie dies die sozial ökonomischen und historisch-politischen Gegebenheiten erlaubten. Er machte in seiner Dichtung bewußt, wie er mit diesem Widerspruch lebte, wie er ihn erlitt und durchzustehen entschlossen war. Dieses Werk öffnet sich aber gerade dort zunehmend den Lesern von heute, wo es den Zeitgenossen noch Schwierigkeiten bereitete. Majakowskis Revolutionsdichtung erweise sich aus der Sicht der Gegenwart als authentischer Versuch, menschliche Emanzipation im Sozialismus als gemeinsames Werk aller darzustellen, ohne die Widersprüche, Schwierigkeiten und Härten dieses Prozesses zu unterschlagen.
Sein Tod war, wie er selbst es voraussah, ein Tod für die Revolution:
Wo ich auch sterb,
sink als Sänger ich hin,
in welcher Wildnis
ich auch fallen sollte,
ich weiß,
daß ich
würdig bin,
mit denen zu ruhn,
deren Fallen
der Roten Fahne gegolten
schrieb er 1923 in „Darüber“. Die „Amortisation der Seele“ („Gespräch mit dem Steuerinspektor über die Dichtkunst“, 1924) war die Metapher für den Einsatz und den Schwund seiner Kräfte im pausenlosen Kampf. Majakowski wußte um seine Gefährdung, weil er dichtend sich verausgabte, sein Leben in sein Werk einsetzte. Die Konsequenz eines Dichterlebens, das „eine Fahrt ins Unbekannte“ war, nahm er mit jener kompromißlosen Unvernünftigkeit auf sich, von der er wünschte, daß sie ihn nie verließe.
Majakowskis Herausforderungen waren immer absolut. Er stand hinter ihnen und stand für sie ein. Bevor er am 14. April 1930 seinem Leben ein Ende setzte, war sein lyrisches Ich schon viele Tode gestorben. Er starb im Krieg:
Leute
wenn ihr kanonisiert die Namen
der Gefallenen,
berühmter als ich,
bedenkt:
noch einen hat der Krieg getötet –
den Dichter von der Bolschaja Presnja.
Wo Menschen litten, hatte er sich ans Kreuz schlagen lassen und sich geopfert:
Dann reiß ich aus dem Leib
mir die Seele heraus,
stampf sie flach und groß und mache daraus
für euch
eine blutige Fahne.
Er starb an der Verzweiflung der Einsamkeit:
Ich steh in Flammen.
Mich umwallt
des Liebesscheiterhaufens Feuer
mit unvorstellbarer Gewalt.
Er starb im Hunger nach Liebe und auferstand in der Erwartung wahrer Liebe. Er „trat / bebenden Hauchs / dem eigenen Lied / auf die Kehle“ und sprach doch „wie ein Lebender mit Lebenden“.
Noch sein Tod erhellte den historischen Raum, in dem Majakowski sich wirken sah.
Gerhard Schaumann, Nachwort, Juli 1984
… Plötzlich trat mir vorm Fenster unten sein Leben vor Augen, das jetzt schon reine Vergangenheit war. Es ging vom Fenster seitlich weg wie eine stille, mit Bäumen bestandene Straße von der Art der Powarskaja. Und als erstes stand auf ihr gleich bei der Hauswand unser Staat, unser in die Zeitalter brechender und für immer in sie aufgenommener… Staat. In seiner unübersehbaren Ungewöhnlichkeit erinnerte er irgendwie an den Verstorbenen. Die Beziehung zwischen den beiden war so frappierend, daß sie Zwillinge zu sein schienen. Und dann dachte ich mit derselben Ungebundenheit, daß dieser Mensch eigentlich der einzige Bürger dieser Bürgschaft war… Namentlich ihm lag das neue der Zeiten klimatisch im Blut. Er war ganz sonderlich von den Sonderlichkeiten der Epoche, den zur Hälfte noch nicht verwirklichten. Ich rief mir Züge seines Charakters in Erinnerung, seine Unabhängigkeit, die in vielem völlig alleinstand. Die Erklärung für sie alle war sein Heimischsein in Bedingungen, mit denen man unsere Zeit wohl identifizierte, die aber ihre Kraft als praktischer Alltag noch nicht verwirklicht hatten. Er war von Kindheit an von der Zukunft verwöhnt worden, die sich ihm recht früh ergeben hatte und, augenscheinlich, ohne große Mühe.
Boris Pasternak, aus Boris Pasternak: Der Schutzbrief, 1930, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1985
– Vor 90 Jahren wurde der Dichter Wladimir Majakowski geboren. –
Die Legende war ihm vorausgeeilt, ehe sein Werk – übersetzt – im Ausland ankam. Dieses neue, „machtvolle Talent brauste wie ein Orkan von Osten daher und wirbelte alle alten Rhythmen und Bilder durcheinander, wie das noch kein einziger Dichter gewagt hatte“, schrieb Johannes R. Becher.
Die Zeit war überreich an Beispielen, die die Richtigkeit des Goetheschen Ausspruches bestätigten: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst und man verknüpft sich mit ihr nicht sicherer als durch die Kunst.“ Majakowski dringt mitten ins Herz dieser unbegreiflichen und rätselhaften Wirklichkeit ein, wobei er sie voll Wißbegierde bis in die kleinsten alltäglichen Details durchforscht und sie mit der ganzen Kraft seines gewaltigen revolutionären Temperaments erfaßt.
Der Welt begegnete in Majakowski ein Dichter, der nicht nur über die Revolution schrieb, sondern für sie und der eine Revolution für die Dichtkunst vollzog.
In der Selbstdarstellung lag eine Weltdarstellung
Am 19. Juli 1893 in Bagdadi (Georgien) geboren, wurde er bereits mit 15 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands. In seinem dichterischen Schaffen war ihm Anfang an Selbstdarstellung zugleich Weltdarstellung. Er formulierte den Aufbruch eines in kapitalistischen Großstadt Isolierten und Entfremdeten. Damit nahm er Fragen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft auf, die seit Puschkins Ehernem Reiter die russische Literatur (Dostojewski vor allem) immer wieder beschäftigt hatten. In der frühen Tragödie Wladimir Majakowski (1913) zeigte er sich selbst als einen Menschen, der Tränen des Volkes sammelt. In den Poemen Wolke in Hosen (1915) und Krieg und Welt (1916) besang er die bevorstehende Revolution. Um so lakonischer konnte dann das Bekenntnis zum Jahre 1917 ausfallen: „Meine Revolution. Ging in den Smolny. Arbeitete.“
Damit war auch ein poetischer Grundsatz formuliert: In der Einheit von Ästhetischem und Politischem sah Majakowski die Bedingung für eine künstlerische Wirksamkeit, die der sich wandelnden gesellschaftlichen Realität gerecht wurde. Wichtiges Prüffeld für die Richtigkeit dieser Auffassung war die ROSTA-Arbeit während des Bürgerkrieges. Der Dichter und Grafiker hat mit Hilfe seiner naiven Versbilderbogen den tieferen Sinn der politischen und historischen Vorgänge massenwirksam zu erklären versucht. Den Weg der Revolution, der nach Majakowskis Worten dem „Sprengen von Gebirgen“ vergleichbar ist, sollten auch Bühnenwerke wie das satirische „Mysterium Buffo“ und andere Dichtungen tiefer erschließen. Der Vers ist von nun an zum Vortrag vor großem Publikum bestimmt, der Gedanke zum Disput.
Formen wie Feuilleton, Reklameversblatt, Plakat, revolutionäre Losung sowie Rundfunk, Film mißt Majakowski die gleiche Bedeutung zu wie Gedicht, Poem, Schauspiel. In alledem ist die Spannweite seines lyrischen Ichs zu fühlen, das die ungeahnten Möglichkeiten der neuen Alltäglichkeit, die Größe des Geschichtlichen und die Weite der gesellschaftlichen Perspektive gleichsam aufsaugt. Die hier gewonnene Identität von Ich und Welt trägt von nun an sicher und stark alles das was Majakowski noch schreibt – das Leninpoem, die Reisenotizen aus Deutschland, Frankreich, Amerika, das Poem „Gut und schön“. Dort steht das Bekenntnis:
Es geschah dies im Lande mit Truppen und Städten, oder in meinem Herzen allein.
Kämpferisches Pathos und Traum vom Zukünftigen
Souverän nimmt er in den Satiren „Die Wanze“ und „Das Schwitzbad“ Abschied von der Bande der „Speichellecker“, „dichtenden Betrüger, Schieber, Kriecher“. Und leidenschaftlich, sehnsuchtsvoll hat Majakowski von Liebe geschrieben. Sie war für ihn eine menschliche Begegnung, die auch den „Tastsinn fürs kommende bessere Sein“ entfesseln helfen kann.
„Athletischer Wuchs, sprühende Vitalität, erstaunliche Zungenfertigkeit und Geistesgegenwart bei Kampfdebatten, unbändiger Witz und Scharfsinn im zugespitzten Meinungsstreit — das alles war an ihm gefürchtet und bewundert“, schrieb der österreichische Kommunist und Schriftsteller Hugo Huppert in seinen Erinnerungen.
Wem kam es je in den Kopf, daß hinter diesem Panzer ein allzu empfindliches Herz schlug, ein zu Schwermut neigendes Gemüt aufs Freundeswort, auf Zuspruch, Mitgefühl, ja Zärtlichkeit sehnlich wartete? Er hatte Gefährten und Bewunderer genug, doch keiner bedachte die Gefahr, die solch unstillbarem Brennen, Wachsein Draufgängertum heimlich drohten.
Einer, der so viel Neues in die Dichtung eingebracht hatte, traf nicht nur auf Zustimmung. Majakowskis Werk wurde heiß diskutiert, er hatte Vorwürfe hinzunehmen, wurde in literarische Zerwürfnisse verstrickt. Das traf den sensiblen Dichter tief. Wie seine Ausstellung Zwanzig Jahre Arbeit zum Jahresbeginn 1930 deutlich machte, hatte er sein avantgardistisches Programm im wesentlichen verwirklicht. Es galt nun, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen. Ungelöste Schaffensprobleme kamen zusammen mit persönlichem Kummer. Am 14. April 1930 schied Majakowski freiwillig aus dem Leben.
Wenn wir heute Majakowski würdigen als einen der talentvollsten, kühnsten, leidenschaftlichsten Dichter der Revolution, der Kunst der Arbeiterklasse um unvergängliche neue Inhalte und Formen bereicherte, geht es nicht um die Kanonisierung dieses einen Weges sozialistischer Poesie. Wir betrachten sein Schaffen im Umfeld seiner experimentierfreudigen Mitstreiter Tretjakow und Meyerhold, im Kontext anderer poetischer Konzepte bis hin Pasternak und Achmatowa.
Werke, die uns immer Neues entdecken lassen
Jede Zeit hat Majakowski neu zu entdecken. In unserer Republik danken wir Leonhard Kossuth die Pionierleistung einer fünfbändigen Werksauswahl (1966 bis 1973). Fritz Mierau und Gerhard Schaumann haben einzelnes von und über Majakowski ergänzt. Alfred Edgar Thoss, Rainer Kirsch, vor allem Hugo Huppert haben das Werk in Deutsch lesbar gemacht. Hupperts Erinnerungen an den Dichter Ungeduld des Jahrhunderts sind zur Hand. Seit der ersten deutschen Schwitzbad-Inszenierung (Volksbühne 1959) haben wir von Zeit zu Zeit das Vergnügen, die Realisierung der phantasieprallen Schau-Bühne Majakowskis zu erleben.
Wir, die „Nachkommen“, die „verehrten Genossen Enkel“, wollen die „brockenharten, stahlbeschaffenen Zeilen“ nicht nur für Jubiläen in die Hand nehmen, wollen sie stets von neuem „prüfen als alte, aber furchtbar starke Waffen“. Wie es Wladimir Majakowski selbst gewollt hat.
Ingrid Schäfer, Neues Deutschland, 19.7.1983
Der äußerlich robust wirkende Wladimir Majakowski (1893–1930) war außergewöhnlich feinfühlig in seinen Empfindungen. Scheinbar widerstandsfähiger als andere, fürchtete er sich ständig vor Infektionen. Trotz seiner stämmigen Statur war er keine ungelenke oder grobe Erscheinung. Majakowski glaubte, die Weite und Gewaltigkeit der Welt in seinem Wesen vereint und wußte, wie schnell, wie arg ihn Enge, Mittelmäßigkeit und Genügsamkeit bedrohten. Von schier unerschöpflicher Energie und offenbar für ein langes Leben geschaffen, beendete ein exakt gezielter Schuß die Existenz des erstaunlichen Dichters. Majakowski war noch keine 37 Jahre, als er die Entscheidung traf, die nicht nur seine nächsten Freunde fassungslos machte.
Kein Majakowski-Biograph oder -Interpret ist jedoch auf den Gedanken gekommen, das Werk des Poeten fragmentarisch zu nennen. Was der Dichter in knapp zwei Schaffensjahrzehnten schuf, garantierte ihm den Ruhm der Gegenwart und die Anerkennung der Zukunft. Ein abgeschlossenes, gewiß nicht abgerundetes, in seiner Gültigkeit aber unanfechtbares Werk war da, als der Lebensweg des Lyrikers endete. Wladimir Majakowski war die Trompete der Revolution. Von ihm zu reden, ohne die Revolution zu erwähnen, hieße, über Beethoven zu reden, ohne dabei an Musik zu denken. Es ist schwer, Majakowskis Lebenshaltung mit einem Satz zu bezeichnen. Der Poet hatte ein sicheres Gespür für die kommende, epochale Weltveränderung. Noch sicherer war sein Gespür dafür, erwartete Weltveränderungen in gedanklich wie formal überraschenden Gedichten zu formulieren.
Am 19. Juli des Jahres 1893 als Sohn eines georgischen Forstbeamten in dem Winzerdorf Bagdadi geboren, übersiedelte der 13jährige mit der Mutter nach Moskau. Die russische Metropole, eine Stätte der rigorosen Gegensätze, ließ eine Persönlichkeit von dem Naturell Majakowskis schnell wachsen. Die gerühmten wie gefürchteten Vernunftsentscheidungen des jungen Mannes brachten häufig heftige Diskussionen in den marxistischen Zirkeln in Gang, die der Student besuchte. Unterrichtet in der Malerei, Bildhauerei und Architektur, entdeckte der Eleve bereits während der Ausbildung, daß es für ihn außerhalb der bildenden Kunst bessere Ausdrucksmöglichkeiten gab. „Majak“ (der Leuchtturm), wie er sich gern nannte, fühlte eine unbezähmbare Leidenschaft für die Lyrik.
Die ersten Gedichte Majakowskis waren gefühlsstarke Spottgedichte, die vor allem den russischen Bourgeois aufs Korn nahmen („Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“). Gleich seinen Kollegen von der futuristischen Fraktion, die im vorrevolutionären Rußland den literarischen Ton angaben, legte Majakowski größten Wert auf den originellen künstlerischen Effekt. Ohne auf formale Originalität zu verzichten, war die Jahre später verfaßte „Revolutionslyrik“ („150 Millionen“, „Wladimir Iljitsch Lenin“, „Gut und schön“) von einer gedanklich viel weitergehenden, eindeutigen wie eindringlichen Prägnanz. Der Dichter versah seine Verse mit den neuen Formen und Inhalten, die den Ideen entsprachen, die seit dem Oktober 1917 von Rußland ausgingen. Das steht für Wladimir Majakowski, der die Begeisterung für die Revolution mit seinen Dichtungen um den ganzen Erdball trug.
Bernd Heimberger, Neue Zeit, 19.7.1983
(…)
Bei ihrem schon erwähnten Besuch in Petrograd trugen Pasternak und Assejew Gedichte von sich vor, die Majakowski mit viel Beifall bedachte und dann in Genommen aufnahm.
Oft deklamierte er in Pasternaks Tonfall:
In der Stadt, die kein Fuß je betreten hat, die
Hexen und Schneebräute nur betraten,
liegen Schneewehen, aufgewölbt, bleich und starr wie
Opfer mittnächtlicher Grauenstaten.
(„Schneesturm“)
Majakowski drückte vieles, was er fühlte, mit Versen aus. Trauer, Zorn, Ärger, Freude – für alles drängten sich ihm Verszeilen auf. Einige Jahre ging ihm nichts über Pasternak. Er nannte ihn einen sagenhaften Dichter „von Übersee“, war von seinem geheimnisvollen Wesen fasziniert, richtiggehend in ihn verliebt und wußte fast alles von ihm auswendig. Was er von ihm alles zitierte, ist kaum aufzuzählen, am häufigsten wohl „Über den Barrieren“, „Themen und Variationen“ und „Meine Schwester – das Leben“, dann noch „In Erinnerung an den Dämon“, „Über diese Verse“, „Die Stellvertreterin“, „Die Steppe“, „Für Jelena“ und „Improvisation“.
In dem Gedicht „Du Zweig im Wind, der die Zweige testet“ liebte er anscheinend besonders die Zeilen:
Die Tropfen werden wie Knöpfe schwer.
Der Garten erlischt zum Schemen –
Ein Fluß, erblindend am Himmelsheer
Zerprasselnder blauer Tränen.
Das Gedicht „Nicht berühren“ deklamierte er meistens ganz, wobei er die Strophe:
„Halt! Frisch gestrichen“ – unbekannt
Dem Herzen Vorsicht war.
Erinnerung nun von Aug, Wang, Hand
Gefleckt, vom Lippenpaar.1
hervorhob, indem er sie zu einer Melodie sang, zu derselben übrigens, wie aus dem rhythmisch genauso gestalteten Gedicht die Strophe:
Geschlagner Homo sapiens, ach,
Des Existierens Last!
Zehn Jahre hintern Gürtel steckt
Ein einziges weg, wie das.
Oft murmelte er erschrocken:
Schreckliches erzählten sie,
Nannten die Adresse…
und gleich darauf, im Brustton der Überzeugung:
Stille, o du Bestes, was
Wir zu hören kriegen.
Manchen grämt und graust es, daß
Manche Mäuse fliegen.
(„Sterne im Sommer“)
Mit Vorliebe deklamierte er auch das Gedicht „Geliebte – du Abgrund!“, die ersten beiden Strophen schienen ihm aus der Seele zu sprechen.
Geliebte – du Abgrund! Falls2 liebt der
Poet,
Ein Gott ist er, furiengehetzt.
Das Chaos, aus Höhlen hervor, aufersteht
Und breitet sich aus, hier und jetzt.
Von Nebelfluten tränt ihm der Blick,
Im Dunst als ein Mammut er steht,
So ganz aus der Mode: zur Urzeit zurück
Möcht höchstens ein Analphabet.3
Wenn er verdrossen, die Welt ihm verleidet war, knurrte Majakowski:
Lieber schlafen, schlafen, schlafen, schlafen,
Ewig, ohne Traum.
(„Das Ende“)
War er zärtlich gestimmt, so fiel ihm meistens der Schluß des vierten Gedichts von „Wintermorgen“ ein:
Wo auch du, mein Herzensbitter,
In Glace und Seal gepuppt,
In Galoschen trippel-schlitternd,
Winkst im Muffmeer mit dem Muff.
Aus dem Zyklus „Bruch“ zitierte er gern die ersten zwei Gedichte ganz, vom dritten die Strophe:
Wird heute die verfluchte Stadt mich schonen?
Ach, wüßten Sie, wie es den Brustkorb sprengt,
Wenn täglich hundertmal, wo Sie nicht wohnen,
Die Straße Sie an Ähnlichkeiten fängt!4
und vom neunten die letzten Zeilen:
Ich laß dich. Geh – dein Wohltätigsein ruft
(Der Werther ist geschrieben) – nun zu andern.
Den Tod bringt unserntages schon die Luft:
Das Fenster öffnend, öffnet man die Adern.
Eine Zeit beteuerte er mir fast täglich:
Ich schleppte dich in mir,5 vom Fuß bis zum Scheitel.
Ich wußte dich auswendig wie ein Tragöde
Vom Kleinstadttheater ein Drama von Shakespeare.
Ich lief durch die Stadt, dich für mich repetierend.6
(„Marburg“)
Ich glaube, er bedauerte, daß er diese vier Zeilen nicht selbst geschrieben hatte, so sehr gefielen sie ihm, so sehr fühlte er sich durch sie ausgedrückt.
Man könnte hier den ganzen Pasternak anführen, fast alle seine Gedichte sind für mich Wiederbegegnungen mit Majakowski.
In seinem Buch für Erwachsene hat Ilja Ehrenburg auch seine Erinnerungen an Majakowski festgehalten, sie sind nur kurz, aber sehr genau und bezeichnend. Bei seinem letzten Besuch in Paris habe Majakowski „finster in einer kleinen Bar bei einer Flasche Whisky White Horse“ gesessen und fortwährend gemurmelt:
Prima, dieses Pferd – White Horse:
Weiße Mähne, weißer Schwanz.
Wenn er außer sich war, so berichtet Ehrenburg weiter, sagte er Villons Verse her:
Ich bin Franzose, was mich bitter kränkt,
geboren bei Paris, das bei Pontoise liegt,
an einem klafterlangen Strick gehenkt,
und spür am Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.7
Manche fremden Verse modelte er um, verballhornte sie absichtlich. Ständig operierte er mit Versen, aber nur fremden, nie eigenen. Eigenes zitierte er so gut wie nie, allenfalls daß er es murmelte, wenn es entstand, oder daß er es vortrug, kurz nachdem es entstanden war.
Eine Zeile von Wertinski lautete bei ihm so: „Ein schauschwarzer Neger reicht Ihnen Ihr Cape.“ (Statt „blauschwarzer“) Und eine von Pasternak (aus Meine Schwester – das Leben): „… Und duftet nach nasser Hoseda der Rerizont.“ (Statt „nach nasser Reseda der Horizont“.)
Gute neue Verse merkte er sich auf Anhieb und zitierte sie ständig, freute sich über sie, pries sie. Manchmal lud er ihren Verfasser ein, ließ ihn vorlesen und bat uns, gut zuzuhören. So zum Beispiel Swetlow, nachdem er dessen „Grenada“, Selwinski, nachdem er dessen allererste Gedichte, und Marschak, nachdem er dessen Verse für Kinder gehört oder gelesen hatte.
Mit Swetlows „Grenada“ trieb er regelrecht einen Kult, deklamierte es zu Hause und auf der Straße, führte es bei Lesungen als Musterbeispiel an, prahlte damit, als hätte er es selbst geschrieben.
Eines Abends, ich glaube, 1926, kam er nach Hause und sagte, er habe Marschak zum Mittagessen eingeladen.
Weiß der Henker, was die alten Jungfern da mit ihm machen! Der Mann ist völlig fertig!
Lehrerinnen hatten Marschak zur Verzweiflung gebracht – er schreibe „nicht pädagogisch genug“.
Majakowski schätzte seine Verse für Kinder sehr. Wenn er jemanden einlud, sagte er:
Komm, wir bitten, Tante Pferd,
Unser Kindlein wiegen.
Oder wenn sein Gesprächspartner herumdruckste:
Sperrt der Karpfen auf das Mäulchen,
Doch man hört nicht, was er singt.
(„Märchen vom dummen Mäuschen“)
Einen diebischen Spaß hatte er an:
Blitzschnell geht das Fräulein am
Draht lang wie ein Telegramm.
(„Zirkus“)
Über ein Kind, das er lange nicht gesehen hatte:
Alles wächst auf Erden und gedeiht,
Auch die lieben Kinder mit der Zeit.
In einem Berliner Lokal bat er die Kellnerin: „Geben Sie ein Mittagessen mir und meinem Genius!“, wobei er das G von „Genius“ ukrainisch aussprach, wie H.
Majakowski bedauerte, daß er Heine nicht im Original lesen konnte. Oft bat er mich, ihm Heine in wörtlicher Übersetzung vorzulesen. Wie gefiel ihm das Gedicht „Allnächtlich im Traum seh’ ich dich“!
Jessenin zitierte er selten. Ich erinnere mich nur an:
Lieber, tumber Fohlenübermut!
Dieser Wettlauf, was soll er beweisen?
längst schon ists besiegt, das Pferd aus Fleisch und Blut,
Weißt dus nicht?, von Rössern, ganz aus Eisen!8
(„Vierzigtägige Klage“)
N.F. Rjabowa schilderte mir ihre Begegnung mit Majakowski Anfang 1926 in Kiew: Majakowski ging im Zimmer auf und ab und murmelte:
Der vorgezeichnete Abschied
Sagt die Begegnung voraus.
Sie korrigierte ihn:
„Nicht ,vorgezeichnete‘, Wladimir Wladimirowitsch, sondern ,vorherbenannte‘“, worauf er sagte:
Wenn Jessenin richtig an dem Gedicht gearbeitet hätte, hieße es ,vorgezeichnete‘.
Jessenin und er polemisierten gegeneinander, wußten sich aber zu schätzen. Leider haben sie sich das nie gesagt, aus Prinzip nicht.
Jessenin wich in diesem Punkte auf mich aus. Bei unseren Begegnungen nannte er mich „Beatricelein“, womit er auf Dante anspielte.
Die Lieblingsdichter meiner Generation waren nicht die Symbolisten, sondern Fet und Tjuttschew. Ich wüßte nicht, daß Majakowski sie je zitiert hätte. In Boris Eichenbaums Tagebuch ist unter dem 20. August 1918 zu lesen:
Majakowski hat Tjuttschew geschmäht, fand allenfalls zwei, drei Gedichte von ihm nicht übel: „Der donnerbrodelnde Pokal vom Himmel“ und „Auf die feurigen Wangen“.
Daß Majakowski Bely, Balmont oder Brjussow erwähnte, habe ich kaum erlebt. Als wir uns kennenlernten, betrachtete er sie schon als reine Vergangenheit.
Die Feier zu Brjussows fünfzigstem Geburtstag, 1923 im Großen Theater, habe ich leider nur undeutlich in Erinnerung.
Majakowski und ich saßen in einer Loge. Sicherlich gab es auch ein Präsidium und allerlei Drum und Dran aber ich erinnere mich nur an Brjussow – wie er mutterseelenallein auf der großen Bühne stand. Von seinen alten Mitstreitern war keiner mehr da, weder Balmont noch Bely oder Block. Block war gestorben, Balmont und Bely hatten Sowjetrußland verlassen.
Doch es gibt einen Bericht über diesen Abend, darin heißt es, Lunatscharski habe eine Einführung gegeben und mehrere Gedichte des Jubilars vorgetragen. Dann traten die Gratulanten an: vom WZIK, von der Akademie der Wissenschaften, vom Volkskommissariat für Bildungswesen und von verschiedenen Theatern. Es wurden Szenen aus von ihm übersetzten Stücken gespielt, Romanzen mit seinen Texten gesungen und so fort. Plötzlich beugte sich Majakowski zu mir und flüsterte erregt:
Komm, wir gehn mal zu ihm, dem muß jetzt übel sein.
Ich erinnere mich, daß wir lange umherirrten, das ganze Theater nach ihm absuchten. Endlich fanden wir ihn, er stand allein, und Majakowski sagte freundschaftlich:
Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Jubiläum, Valeri Jakowlewitsch!
Brjussow antwortete:
Danke, aber solch Jubiläum wünsche ich Ihnen nicht.
Äußerlich schien alles glattzugehen, so wie es sich gehörte. Aber Majakowski hatte untrüglich gespürt, wie Brjussow zumute war.
Bei vielen Dichtern entdeckte Majakowski gute Zeilen. Enthusiastisch wandte er sich jedem zu, dem er ein Fünkchen Talent oder auch nur guten Willen angemerkt hatte. Dann setzte er sich für ihn in den Redaktionen ein, ermutigte ihn, beschwor ihn, sorgfältig, gewissenhaft und zu den notwendigen Themen zu schreiben. Oder half ihm finanziell aus.
Welche Prosa Majakowski bevorzugte, kann ich nicht genau sagen. Er liebte Dostojewski. Stundenlang konnte er Tschechow und Gogol hören. Tschernyschewskis Was tun? war eines seiner Lieblingsbücher, auf das er ständig zurückgriff. Das darin dargestellte Leben hatte manches mit dem unsrigen gemein. Majakowski suchte bei Tschernyschewski gleichsam Rat für seine persönlichen Probleme und fand sich durch ihn bestätigt. Was tun? war vor seinem Tod seine letzte Lektüre.
Majakowski wurde aus unserer Gemeinschaftswohnung in der Wodopjany-Gasse hinausgesetzt, angeblich weil er noch ein Zimmer in der Ljubjanski-Durchfahrt hatte. Er klagte dagegen, kam aber nicht durch. So mußten wir nach Sokolniki ziehen, wo wir bis 1926 wohnten, da bekamen wir die Wohnung in der Gendrikow-Gasse.
In Sokolniki hatten wir drei Zimmer. Eins davon war schön geräumig, dort standen ein schweigsamer Konzertflügel und ein Billardtisch, an dem wir viel spielten.
Als wir umzogen, stiftete Majakowski diesen Tisch über einen Charkower Bekannten einem Charkower Arbeiterklub.
In Sokolniki starb unser Hund Schottchen, ein schottischer Terrier. Ihn hatte ich aus England nach Berlin mitgebracht, wohin Majakowski gekommen war, gemeinsam nahmen wir ihn dann nach Moskau mit. In Sokolniki brach Majakowski zu seiner Amerika-Reise auf. Eigentlich wollten wir zusammen reisen, aber ich hatte gerade eine Peretonitis überstanden und war noch so geschwächt, daß ich ihn nicht mal zur Bahn begleiten konnte.
Statt einfacher Verlobungsringe trugen wir goldene Siegelringe. Majakowski hatte auf meinen außen „L.JU.B.“ gravieren lassen, so daß sich, hintereinander gelesen, ein endloses „LJUBLJUBLJUB“, LIEBLIEBLIEB, ergab, und innen „Wolodja“; ich dagegen auf seinen – außen die lateinischen Buchstaben M/W und innen „Lilja“.
Als es in der Sowjetunion unüblich wurde, Goldschmuck zu tragen, erhielt Majakowski bei seinen Auftritten den Ring betreffende Vorwürfe aus dem Publikum. Einmal einen Zettel:
Gen. Majakowski! Der Ring steht Ihnen nicht zu Gesicht.
Er antwortete, ebendeshalb trage er ihn nicht an der Nase, sondern an der Hand. Aber die Vorwürfe häuften sich, da zog er den Ring ab und hängte ihn, um ihn trotzdem immer bei sich zu haben, an sein Schlüsselbund.
Als er die Amerika-Reise antrat, ließ er die Schlüssel zu Hause. Erst auf dem Bahnhof fiel ihm ein, daß damit auch der Ring zu Hause geblieben war. So ging er das Risiko ein, die Abfahrt zu verpassen, womit das Ausreisevisum verfallen gewesen wäre, und kam noch mal zurück – keine Kleinigkeit damals, weil der Stadtverkehr nahezu lahmlag, weder Droschken noch Straßenbahnen fuhren. Doch ohne den Ring abzufahren hielt er für ein böses Omen. Einmal hatte er ihn vom Grund der Utscha, dem Flüßchen bei Puschkino, wieder heraufgeholt. Und ein andermal war er ihm in den Schnee gefallen, da suchte er beharrlich, bis er ihn wiederfand. Immer kehrte der Ring zu ihm zurück.
Neben dem Ring von mir hatte er noch ein anderes Amulett – ein altes silbernes Zigarettenetui von seinem Vater. Es enthielt einen kleinen Rahmen mit einem 1915 aufgenommenen Foto von uns beiden. Gelegentlich trug er das Etui in der Tasche des Jacketts, da aber zu wenig Papirossy hineinpaßten, lag es meistens im Schubfach seines Schreibtischs.
Nach seinem Tod schenkte ich es zusammen mit dem Foto Wesewolod Meyerhold zum sechzigsten Geburtstag. Meyerhold freute sich darüber, denn er hatte es oft bei Majakowski gesehen.
Die Wohnung in Sokolniki war sehr unangenehm und ungünstig – keine Badewanne, die Toilette eiskalt, dazu die lange Anfahrt. Majakowski bemühte sich um eine Wohnung in Moskau.
Nach vielen Anträgen und Bittgängen erhielt er die Einweisung in die Wohnung in der Gendrikow-Gasse. Diese Wohnung war so heruntergekommen, daß wir vorerst nicht umziehen konnten. An der Decke hingen schmutzige Papierfetzen, unter der uralten rissigen Tapete nisteten Wanzen. Doch damit sie uns keiner im Schutze der Nacht wegschnappte, mußten wir sie sofort in Beschlag nehmen. So rüsteten sich Brik und der Maler Lewin, einer unserer Freunde, mit je einem leeren Koffer aus und „zogen ein“, das heißt hielten sich mehrere Nächte in der Wohnung auf und schoben, auf den Koffern sitzend, Wache. Majakowski und Assejew lösten sie ab und schlugen sich die Nächte mit Sechsundsechzig um die Ohren. Aber schließlich hatten wir Handwerker gefunden und konnten mit der Renovierung beginnen. Wir ließen die ganze Wohnung umbauen, so daß sogar ein winziges Bad heraussprang, kurz, brachten sie in den Zustand, in dem sich heute das „Majakowski-Zimmer“, das Eßzimmer und die Diele befinden, nur daß wir freilich noch keine Zentralheizung hatten; die kam erst hinzu, als die Wohnung Museum wurde.
Doch dieser Teil – „Majakowski-Zimmer“, Eßzimmer und Diele – vermittelt einen falschen, unvollständigen Eindruck von Majakowskis Wohnverhältnissen. Wir hatten ein Eßzimmer und drei gleich große Zimmerkajüten. In meiner standen ein kleinerer Schreibtisch und ein recht großer Kleiderschrank Briks diente gleichzeitig als Bibliothek, dort befanden sich alle auch für Majakowski notwendigen Bücher. Dann hatten wir das besagte Bad mit der ersehnten Badewanne, unserem ein und alles. Erstaunlich, daß Majakowski darin überhaupt baden konnte, sie war für ihn viel zu klein. Dann gab es noch die „eigene Küche “, auch ein winziger Raum, dafür stets voller Leben. Das Treppenhaus ist heute „museumsschön“, damals standen auf unserem Treppenabsatz, auf den auch die Tür der Nachbarwohnung führte, zwei rohgezimmerte, mit Vorhängeschlössern versehene Schränke, in denen all die Bücher steckten, die wir in der Wohnung nicht untergebracht hatten. Der hübsche Garten und der solide Zaun haben damals noch nicht existiert. Nur ein paar Bäume und zwei, drei Holzschuppen für alle Mieter des Hauses. Die kläglichen Häuschen, die wir vom Fenster aus sahen, sind heute abgerissen. Kurz, alles stimmt und stimmt nicht. Etliche Spuren wurden verwischt…
Es machte Freude, zusammenzusuchen und -zukaufen, was wir für unsere neue Wohnung brauchten.
Als erstes ließ Majakowski ein Messingschild für die Wohnungstür machen, das so aussah:
BRIK
MAJAKOWSKI
Den Tisch und die Stühle fürs Eßzimmer kauften wir bei Mosdrew, doch die Schränke mußten wir anfertigen lassen, weil die im Handel erhältlichen zu groß waren. Den Flügel, ein wundervoller Kabinett-Steinway, verkauften wir aus Platzmangel. Wir boten ihn einem Pianisten an, der war davon so überrascht und beglückt und so in Furcht, wir könnten es uns anders überlegen, daß er noch am selben Tag ein Fuhrwerk organisierte und ihn in Windeseile abholte. Unser Einrichtungsprinzip entsprach ganz dem Gestaltungsprinzip bei der ersten Wolke-Ausgabe: nur das Nötigste. Keinerlei „Kulissenzauber“ – weder Holztäfelung, Bilder noch sonstiger Zierat. Nur daß wir über die Schlafcouch von Majakowski und über die von Brik die beiden aus Mexiko mitgebrachten Wandteppiche hängten und über meine ein seltsames Unikum von Läufer, auf dem eine mit Wolle und Perlen gestickte Jagdszene dargestellt war; ihn hatte mir Majakowski 1916, in seiner Futuristenphase, aus Jux geschenkt. Die Fußböden legten wir mit geblümten ukrainischen Teppichen aus. Die einzige „Dekoration“ in Majakowskis Zimmer wurden zwei Fotos von mir, die ich ihm im Jahr unserer Bekanntschaft zum Geburtstag geschenkt hatte.
Als 1928 der erste Band seiner Gesammelten Werke erschien, sagte Majakowski zu mir:
Alles, was ich geschrieben habe, gehört dir, alles widme ich dir. Darf ich?
Und er schrieb auf den Band „L.JU.B.“.
Alle seine Gedichte hat Majakowski in dieser oder jener Form mir gewidmet. Doch nicht nur die Gedichte, auch die größeren Sachen wie „Wolke in Hosen“; „Wirbelsäulenflöte“, „Der Mensch“, „Darüber“ und „Mysterium buffo“. Zu „Krieg und Welt“ schrieb er mir eine gesonderte Widmung. War ein bestimmtes Gedicht für eine Widmung nicht geeignet, so widmete er mir später das Buch, worin es erschien. Mit dem Gedicht „An alles“ in dem Sammelband Einfach wie Gemuhe widmete er mir im nachhinein auch alles, was vor unserer Bekanntschaft entstanden war.
Das Poem 150.000.000 gab er anonym heraus, wodurch sich natürlich ausschloß, es mir lauthals zu widmen. So bat er die Druckerei, drei Exemplare – für sich, Brik und mich – mit seinem Namen und der Widmung zu drucken.
Als sich herausstellte, daß diese Exemplare nicht zuerst gedruckt worden waren, ärgerte er sich, verlangte vom Druckereichef eine mit dem Stempel der Druckerei beglaubigte schriftliche Stellungnahme, klebte sie in sein Autorexemplar und schrieb auf den Vorsatz „Nr. 1“ und auf das Titelblatt:
Dieses Buch samt allem, was ich bin, ist dem lieben Lilchen gewidmet.
Hier die Stellungnahme der Druckerei:
An die Gen. L. Ju. Brik.
Das Autorexemplar von 150.00.000 mit dem Vermerk „L.JU.B“ hätte zuerst gedruckt werden müssen, doch mit Rücksicht auf mögliche Verzögerungen beim Druck, da ein Spezialsatz zu verwenden ist, wird es erst nach Erscheinen der gesamten Auflage gedruckt.
Instrukteur beim Staatl. Iso N. Korsunski.
Das Poem „Krieg und Welt“ ist buchstäblich vor meinen Augen entstanden. Allgemein wird gesagt, Gorki habe zu seiner Entstehung beigetragen. Wenn es so ist, dann höchstens in einer Weise, wie er damals fast alle progressiven Autoren beeinflußte.
Gorki war selten bei uns, und dann spielten wir eher Karten – meistens das Spiel „Tantchen“ –, als daß wir uns unterhielten.
Sein Verhältnis zu Majakowski war durchaus nicht so idyllisch, wie es uns mancher glauben machen will. Seine begeisterte Reaktion auf Majakowskis Verse, vor allem auf die „Wirbelsäulenflöte“ schmeichelte Majakowski natürlich. Aber beide wie Jesus und einen seiner Jünger hinzustellen, ist einfach unwahr. Zu keiner Zeit standen sie einander besonders nahe. In früher Jugend hatte sich Majakowski für Gorki interessiert, ihn, seine Art zu schreiben als neu und revolutionär empfunden. Er kam also nicht, wie vielfach behauptet wird, vom Futurismus zu Gorki, sondern umgekehrt – von Gorki zum Futurismus.
Als „Krieg und Welt“ vollendet war, gingen wir zu dritt – Majakowski, Brik und ich – zu Matjuschin. Dieser bat Majakowski, sein neues Poem vorzutragen, unterbrach ihn dann aber mitten im Text, und wir wurden Zeugen eines hysterischen Ausbruchs. Fast jagte er uns aus dem Haus. Er schrie, was das um Himmels willen überhaupt sei – Kunst etwa? Nein! Die reinste „Leonidandrejewerei“! Brik stritt sich mit ihm die Kehle heiser, konnte ihn aber nicht umstimmen.
Vieles spare ich in diesen Aufzeichnungen aus. Hauptsächlich das, was schon andere niedergeschrieben haben, manche in Versen, manche in Prosa. Zwar messen sie Majakowski nur nach ihrer eigenen Elle, aber mir scheint, hier ist nicht der geeignete Ort, um sie zu widerlegen.
(…)
Moskau 1956–1977
Lilja Brik, aus Lilja Brik: Schreib Verse für mich. Erinnerungen Majakowski und Briefe. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner und herausgegeben von Wassili Katanjan, Verlag Volk & Welt, 1991
MAJAKOWSKI
1
Nächtlich
Reißt sich der Mond
Ein Stück vom gefrorenen Himmel und geht
Über Steppen
Und Wälder.
Weiß ist die Nacht,
Weiß vom gefallenen Schnee,
Aus einem Holzhaus bei Moskau
Tritt Majakowski.
Moskau –
Es schläft
Mit seinen Türmen und Straßen.
Unhörbar geht
Majakowski.
Majakowski,
Der aus dem Wald kam,
Ein Baum
Im Dickicht der Dichtung.
2
Draußen vor seinem Haus
wuchsen die Bäume unmerklich empor.
Doch Majakowski war da,
Eines Tages in Moskau,
Bewohnte ein Holzhaus.
Ein Baum,
Der sich nicht bog,
Und der doch stürzte
Und immer noch stürzt
In unsere Zeit.
3
Zwischen Minsk und Mochaisk
Schimmert der Tag durch das Fenster:
Am Himmel ein Schrei,
Nachhall der Axt in den Wäldern,
Schrei der gefallenen
Bäume im Schnee.
4
Majakowski
Bewohnte in Moskau
Ein hölzernes Haus,
Selber ein Baum,
Der sich nicht bog.
Heinz Czechowski
Wladimir Majakowski: Ich selbst
Lew Kassil: Majakowskij – persönlich!
Christine Gölz: Wladimir Majakowski
Hugo Huppert: Die Poetik Wladimir Majakowskis
Alexander Uschakow: Majakowski und Grosz – Zwei Schicksale
Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978
Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.
Guten Tag,
schon mehrmals habe ich mich bemüht, über das Internet an das Gedicht” Die auf Sitzungen Versessenen” von W. Majkowski zu finden, leider erfolglos.
Und Bücher vom Autor sind antquarisch sehr schwierig und auch teuer zu erstehen.
Besten Dank für eine mögliche Hilfe mit ebensolchen Grüßen
Frau Speiser
Gartenweg 6
99610 SÖMMERDA
Tel. 03634-608802
Sehr geehrte Frau Speiser,
leider kann ich ihnen auch nicht mit dem gewünschten Gedicht weiterhelfen. Vielleicht jemand der diese Zeilen auch noch liest.
Eventuell meinen Sie dieses?
“Die Übersitzungsleute”
https://www.google.com/url?q=http://ciml.250x.com/archive/literature/german/majakowski/majakowski_aus_vollem_halse_gedichte.pdf&sa=U&ved=0ahUKEwiv6qPfj6faAhWDZVAKHaTuAoYQFggnMAY&usg=AOvVaw3Koxr9SWijgM3CoCIn60fN