Wladimir Majakowski: Vers und Hammer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wladimir Majakowski: Vers und Hammer

Majakowski-Vers und Hammer

DAS BESTE GEDICHT

Aus dem Saale
aaaaaaaaaaaaaregnets
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaverfängliche Fragen,
man beschießt mich mit Zetteln,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaman schont mich
aaaaanicht.
„Genosse Majakowski,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaabitte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanoch was vorzutragen,
sprechen Sie bitte
aaaaaaaaa aaaaaaIhr bestes Gedicht.“ –
Auf den Tisch gestützt,
aaaaaaaaaaaaaaa aaaaadenk ich:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaNun lies –
und wähl was Würdiges,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchönes!
Doch welches verdient den Vorzug?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDies?
Oder nein,
aaaaaaaaavielleicht jenes?
Ich krame
aaaaaaaaaim Vers-Vorrat
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahin und her,
der Saal blickt
aaaaaaaaaaaaawartend
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaempor;
da kommt
aaaaaaaaades „Nordarbeiters“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaZeitungssekretär
und flüstert mir
aaaaaaaaa aaaaawas
aaaaaaaaaaaaaaaaaaains Ohr…
Da schnarr ich
aaaaaaaaaaaaaa(mein lyrischer Ton ist mißraten)
als schmetternde
aaaaaaaaaaaaaaaJericho-Schalmei:
„Genossen!
aaaaaaaaaavon Kantoner
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaArbeitern und Soldaten
erstürmt ist
aaaaaaa aaaSchanghai!“
Wie wenn man
aaaaaaaaaaaaaain Händen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDachblech knüllt,
kracht Klatschen
aaaaaaaaaaaaaaaund Beifalls-Braus.
Eine Viertelstunde
aaaaaaaaaaaaaaaaaist lärmerfüllt
vom Jaroslawler
aaaaaaaaaaaaaaaApplaus.
Nach China
aaaaaaaaaaastürmts
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaüber Tausende Kilometer
als Antwort
aaaa aaaaaaauf Chamberlains Geschrei.
Sein Dreadnought,
aaaaaaaaaaaaaaaaanoch droht er,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanein, schon dreht er
den Stahlrüssel weg
aaaaaaaaaaaaaaaaaavon Schanghai.
Ich sage:
aaaaaaaadas gesamte
aaaaaaaaaa aaaaaaaaaMusengeseich
samt schönstem Dichterruhm
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaist Quatsch.
Mit der schlichten
aaaaaaaaaa aaaaaaZeitungsmeldung –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakein Vergleich
wenn Jaroslawl
aaaaaaaaaaaaaaihr derart
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBeifall klatscht.
O Solidarität!
aaaaaaaaaaaaKitt der Arbeiterschaft,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaastärker
als der Bienen
aaaaaaaaaaaaaGemeinde
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaim Juni-Juli!
Klatsch Beifall, Jaroslawler
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaTuchweber und Ölmühlenwerker,
dem unbekannten
aaaaaaaaaaaaaa aaBruder –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadem chinesischen Kuli!

 

 

 

Bibliographische Notiz

Dem vorliegenden Band liegt der 1959 im Arche Verlag unter gleichem Titel erschienene zugrunde. Der von dem Musikkritiker und Übersetzer Willi Reich übertragene Text „Wladimir Majakowski. Tragödie in zwei Akten“ und die kleinen Schriften waren dort wohl zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Der von Siegfried Behrsing übersetzte Aufsatz „Wie macht man Verse“ erschien erstmals 1949 im Verlag Volk und Welt, Berlin (DDR). Für die Gedichte verweist die ursprüngliche Arche-Ausgabe auf den Band Ausgewählte Gedichte und Poeme in der Nachdichtung von Hugo Huppert, 1953 ebendort erschienen. Huppert hat seine Übertragung der Gedichte inzwischen überarbeitet. Der vorliegende Band übernimmt diese Änderungen mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main und folgt damit Band I (Gedichte) der Werke Wladimir Majakowskis, die, herausgegeben von Leonhard Kossuth, 1969 bei den Verlagen Volk und Welt, Berlin (DDR) und Insel, Frankfurt am Main, als Gemeinschaftsausgabe erschienen sind.

Luchterhand Literaturverlag, Nachwort

Über dieses Buch

Im Zentrum dieser Auswahl von Schriften und Gedichten Majakowskis: „Wie macht man Verse“ – ein Text, der, 1926 entstanden, das politisch-poetische Programm Majakowskis vorstellt:

das Wesentliche der gegenwärtigen Arbeit an der Literatur besteht nicht in der Beurteilung dieses oder jenes fertigen Produkts vom Standpunkt des Geschmacks aus, sondern in der richtigen Methode, den Produktionsprozeß an sich zu erlernen…

Selbstauskunft bietet die „Tragödie in zwei Akten: Wladimir Majakowski“ – das erste Bühnenstück Majakowskis, eine satirisch überhöhte Auseinandersetzung mit der traditionellen Rolle des „Dichters“. Abgeschlossen wird der Band mit Gedichten und kleineren Schriften des „Technikers der Wortbearbeitung“ – Beiträge zur Revolutionierung der sprachlichen Produktionsmittel im Zeitalter von Kino und Fotografie.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1989

 

„Wenn ich sterbe, werden Sie mit Tränen der Rührung

meine Gedichte lesen“

Er war ein Himmelsstürmer, der fünfzackige rote Sterne in das russische Firmament schoß – und er war ein verletzlich Liebender, der um Zuneigung bettelte; er war ein poetischer Gigant, der mit seinem dröhnenden Baß Riesensäle füllte – und er war ein zarter Lyriker ohne Fortune; er war hochberühmt, sein Stück Das Schwitzbad wurde von Meyerhold inszeniert im Bühnenbild von Malewitsch und mit der Musik von Schostakowitsch – und er war der infamst angefeindete sowjetische Schriftsteller seiner Zeit, vor allem Lenin verwahrte sich:

Ist es nicht eine Schande, für die Herausgabe von Majakowskis 150 Millionen in fünftausend Exemplaren zu stimmen? Es ist unsinnig, dumm, eine Erzdummheit und Anmaßung. Meiner Meinung nach sollte man von zehn solchen Sachen jeweils nur eine und in nicht mehr als 1.500 Exemplaren für Bibliotheken und Sonderlinge drucken. Und Lunatscharskij sollte man für seinen Futurismus verhauen.

Wladimir Majakowski, 1893 in Georgien geboren und 1930 – siebenunddreißig Jahre jung – sich von eigener Hand tötend, war Heros und Herostrat zugleich. Wie kein anderer polarisierte er seine Zeitgenossen. Während er etwa im weißen Marmorsaal des Pressehauses am Moskauer Nikitskij-Boulevard gegen Schrei-Orgien und Tätlichkeiten ankämpfen mußte, erkannte sein Kollege Boris Pasternak ihn genau:

Die Triebfeder seiner Unverschämtheit war eine trotzige Verschämtheit, und hinter seiner vorgetäuschten inneren Sicherheit verbarg sich eine phänomenale ängstliche, zu grundloser Schwermut neigende Unsicherheit. […] Auch die beabsichtigte Provokation seines gelben Jacketts war trügerisch. Er kämpfte mit dessen Hilfe durchaus nicht gegen die Röcke der Spießer, sondern gegen den schwarzen Samt seines eigenen Talents […]. Er war ein Koloß.

Während Lenin abwägend-skeptisch zu Gorki sagte:

Er krakeelt immerzu, erfindet windschiefe Ausdrücke, und was er tut, ist nicht das, was not tut, meine ich – nicht das Richtige und wenig verständlich. Ein Durcheinander, schwer lesbar. Begabt? Sogar hochbegabt? Hm, hm, man wird ja sehen!

bejubelte Sergej Tretjakow in ihm „das Mundstück der Zukunft“, und porträtierte ihn Ilja Ehrenburg:

Groß, mit einem schweren Unterkiefer, mit Augen, die zwischen Traurigkeit und Härte schillerten, laut, ungelenk, jederzeit bereit, in eine Rauferei einzugreifen, halb Athlet, halb Träumer, die Kreuzung aus einem mittelalterlichen Jongleur und einem fanatischen Ikonen-Stürmer.

Der Schriftsteller Viktor Schklowski hielt der 1921 in Petrograd gebildeten Literatenvereinigung Serapionsbrüder, die von Majakowski als traditionelle Idylliker verachtet wurden, entgegen: „Majakowski wird Euch in den Ruhestand versetzen, denn ihn hat das Jahr 2000 als Personalchef engagiert“, und er erzählt in seinen Erinnerungen an Majakowski von dessen frühem Ruhm:

Die Kutscher kannten ihn.
Einmal stritt er in einer Kutsche mit einem Verleger, ob er ein berühmter Autor sei. Der Kutscher wandte sich um und sagte zum Verleger:
Wer kennt denn Wladimir Wladimirowitsch nicht?

Als einmal eine Zeitung ihn um ein Foto bat – vermutlich der berühmten gelben Jacke wegen; die muß zu einer Zeit, da auch linke Intellektuelle von Heinrich Mann bis John Dos Passos streng bürgerlich gekleidet und ohne Krawatte und Weste undenkbar waren, besonders schockierend gewirkt haben –, legte Majakowski der Aufnahme die ironische Beschreibung bei:

Ich bin ein Flegel, dessen höchstes Vergnügen es ist, in einer enganliegenden gelben Jacke ins Gewühl der Menschen zu stürzen, die ihre Bescheidenheit und ihren Anstand vornehm unter artigen Gehröcken, Fracks und Jacketts behüten.
Ich bin ein Zyniker, der alleine schon durch seinen Blick, auf welchen Anzug er auch immer trifft, Fettflecken von der Größe annähernd eines Desserttellers hinterläßt.
Ich bin ein Droschkenkutscher, der, läßt man ihn ein Wohnzimmer mit dem Jargon dieses für die Salondialektik wenig geeigneten Berufes sogar die Luft wie mit schweren Äxten verhängt.
Ich bin reklamesüchtig, einer, der tagtäglich fieberhaft jede Tageszeitung durchstöbert, ganz voll Hoffnung, seinen Namen zu finden
[…].

Doch wäre das bloß Attitüde; Haltung ist es noch nicht. Die leitet sich von seinem Wort ab, von der schier maßlosen Emphase einer Zeit, deren Geschichtsoptimismus er Sprache gab. Dem historischen Aufbruch entsprach Majakowskis Aufbrechen des Gedichts. Sein Vokabelrausch entsprach dem Technikrausch der Epoche: Wenn in Amerika die Häuser die Wolken zu kratzen begannen, wollte El Lissitzky, der revolutionäre Architekturfuturist, auf seiner gigantisch den Himmel stürmenden Tribünenleiter Lenin schier ins Universum heben. Was in Amerika der Fließbandrhythmus des Fordismus war, sollte in der jungen Sowjetunion die Elektrifizierung sein: Tempo und Produktion, Telegraf und Flugzeug, rasende Züge auf weltumspannenden Schienennetzen und die Maschine als Ende der Arbeitssklaverei: so buchstabierte sich der Glaube an die Machbarkeit der Welt, an den Weg zu Freiheit und Fortschritt. Nicht zufällig nahm Majakowski früh den Begriff „Futurismus“ für sich in Anspruch, den doch zugleich der Italiener Marinetti in seinem „Futuristischen Manifest“ geprägt hatte – alsbald ein Wegbereiter des Faschismus.
Anfangs waren Dynamik und Pathos des antibürgerlichen Affekts noch ganz unspezifisch; der Kunstkommissar von Witebsk, Marc Chagall, hißte als revolutionäres Symbol eine Fahne mit einem fliegenden Pferd. Einige der deutschen Expressionisten schlossen sich – wie Johannes R. Becher – den Kommunisten an, andere – wie Gottfried Benn – den Nationalsozialisten; aus dem innigen Freundespaar Bertolt Brecht/Arnolt Bronnen wurden politische Feinde. André Breton schrieb im „Surrealistischen Manifest“: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit dem Revolver auf die Straße zu gehen und blind in die Menge zu schießen“, und bald hieß es bei Majakowski im „Linken Marsch“:

Entrollt euren Marsch, Burschen von Bord!
Dem Zank und Geflunker jetzt – Pause.
Still, ihr Redner!
Du
hast das Wort,
rede, Genosse Mauser.

Doch am Anfang stand auch bei Majakowski die Boheme-Revolte, erst später klärte sich das Lebensziel, das Viktor Schklowski in seinen Erinnerungen an Majakowski benannte:

Die Oktoberrevolution rettete Majakowski.
Die Revolution genoß er physisch.
Er hatte sie sehr nötig.

Der Schüler Majakowski, der sich nach seiner Don Quichotte-Lektüre aus Holz ein Schwert und einen Harnisch geschnitzt hatte, erlebte die Revolution von 1905 eher als romantischfarbenprächtiges Ritterspiel:

Keine Lust zum Lernen. Kriegte Fünfen. Wurde nur darum in die Vierte versetzt, weil ich (bei einer Rauferei am Rion) von einem Steinwurf ein Loch in den Kopf gekriegt hatte und man beim Nachexamen Mitleid mit mir hatte.
Für mich begann die Revolution folgendermaßen: mein Kamerad Isidor, Koch bei einem Geistlichen, sprang vor Freude barfuß auf den Herd: General Alichanow war umgebracht! Der Unterdrücker Georgiens. Demonstrationen und Kundgebungen gingen los. Ich ging gleichfalls los. Es war herrlich. Erlebe es malerisch: in Schwarz die Anarchisten, in Rot die Sozialrevolutionäre, in Blau die Sozialdemokraten, in den übrigen Farben die Föderalisten.

Der frühe Tod des Vaters, 1906, und der Umzug der Witwe mit den drei Kindern nach Moskau, die Lektüre des Gymnasiasten – „Unterm Pult: Anti-Dühring“, – und der Kontakt zu illegalen Revolutionären, die bei der verarmten Familie zur Untermiete wohnten, waren eine harte Schule. Die Examina hießen Verhaftung – die erste 1908, bei der Majakowski, gerade der Partei der Bolschewiki beigetreten, das Taschenbuch mit den Adressen von Druckern, Setzern, Verteilern auffraß und bei der er sich der Haft durch schlaue Dummheit entzog:

Kommissar Woltanowski (hielt sich offensichtlich für schlau) ließ mich nach Diktat schreiben: war verdächtigt, eine Proklamation geschrieben zu haben. Vermurkste heillos das Diktat. Schrieb: „sotziahldimokritisch“. Sie fielen wohl drauf rein. Setzten mich gegen Bürgschaft auf freien Fuß.

Die nächste Verhaftung brachte ihm elf Monate ein – und das erste Interesse an Belletristik; vorerst mit verheerenden Folgen in Form von Versen, die Majakowski selber später geschraubt und trübselig nannte:

Wälder in Purpur- und Goldgloriolen,
Kirchturmkuppeln im Sonnenglanz.
Hunderte Tage, von Monden verhohlen,
harrte ich aus unterm Leidenskranz.

Füllte mit derlei Zeug ein ganzes Heft. Meinen Dank den Gefängniswärtern; sie haben es bei meiner Entlassung beschlagnahmt. Sonst hätt ich’s womöglich noch drucken lassen!

Es folgen Revoluzzer-Jahre. Majakowski ist Kunststudent, er erfindet sich die gelbe Jacke, streunt mittellos umher, zumeist mit seinem Freund, dem Maler David Burljuk, von dem er später sagt, „er hat mich zum Dichter gemacht“, weil er ihm diese Anekdote zuschreibt:

Spreche Burljuk die Verse vor. Füge hinzu: von einem meiner Bekannten. David blieb stehen. Faßte mich ins Auge. Fuhr mich an: „Das haben Sie doch selber verfaßt! Sind ja ein genialer Poet! […]
Am Morgen darauf schon, als Burljuk mich jemandem vorstellte, sagte er im Baßton: „Sie kennen den nicht? Mein genialer Freund, der berühmte Poet Majakowski.“
Puffte ihn in die Seite. Doch Burljuk ist unbeugsam. Noch im Weggehen knurrt er: „jetzt greifen Sie zur Feder. Sonst bringen Sie mich in eine saudumme Lage“.

Bereits auf den Ausbruch des Krieges, 1914, reagiert Majakowski mit der Tagebucheintragung „Erstarkt ist das Bewußtsein vom Herannahen der Revolution“ und mit der Arbeit an seinem ersten Poem Wolke in Hosen, dessen Titel schon das sehr Wolkige seiner Utopie kennzeichnet, obwohl er später behaupten wird, die Zeile sei ihm eingefallen, als er in einem Eisenbahncoupe eine mitreisende Dame über sein ruppiges Äußere beruhigen wollte, indem er sich mit dem Satz „Ich bin nur eine Wolke in Hosen“ zu verharmlosen suchte. Zeitlebens ärgerte sich Majakowski, wenn dieses Poem neben der gleichzeitig entstandenen „Wirbelsäulenflöte“ als sein gelungenstes benotet wurde; aber daß es ihm schon während der Arbeit wichtig war, zeigt der Umstand, daß er ins finnische Mustamäki reist, um Gorki daraus vorzulesen:

Las ihm Teile der „Wolke“ vor. Gorki, in tiefe Rührung geraten, weinte mir die Weste voll. Hatte ihn mit Versen aus der Fassung gebracht. In mir regte sich leiser Stolz. Bald aber stellte sich heraus, daß Gorki jedwede poetische Weste vollzuheulen pflegt.

Die Grundgebärde des Poems ist aufgeschlüsselt in den Zeilen:

Hört zu! –
hier predigt
(sich wälzend, wehklagend)
des heutigen Tags Brüllmaul Zarathustra!

Schrei, Predigt, Klage, heidnische Götzen-Hoffart (aus der später Führerkult wird) – wie in einem Kaleidoskop, in dem über die folgenden Jahrzehnte hinweg die spitzen Scherben immer neu ineinander- und gegeneinandergeschüttelt werden, finden sich hier die Versatzstücke der Poesie Wladimir Majakowskis. Er war eine aggressive Mimose, ein nihilistischer Visionär, Verwerfer und Entwerfer von Welt in einem:

Rühmt mich!
ich reich nicht an höhere Wesen;
auf alles Geleistete setz ich
mein ,nihil‘.

[…]

Stumm wälzte der Straßendamm Drangsal einher.
Ein Aufschrei strebte, dem Schlund zu entrutschen.
Im Kehlloch sträubten sich, stellten sich quer
weichpolstrige Taxis und klapprige Kutschen.

Schwindsüchtige Plattbrust,
gequetscht unterm Massenpassanten,
dem Trabfluß.

[…]

Ach, Regen beschluchzte die Bürgersteige,
ein Gauner, umzwängt von Pfützen,
leckt den Leichnam der Straßen, katzenkopfgesteinigt.
Von ergrauten Wimpern
(jawohl!),
von Wimpern hangender Eiszapfen spritzend,
enttauen dem Augschatten Zähren
(jawohl!),
als ob Dachrinnen gesenkte Leidblicke wären.

Die Schnauze des Regens schien
jeden Fußgänger abzulutschen;
fettschimmernde Kraftmeier
protzten sich blähend in Kutschen;
durch und durch verfressen,
platzten Übersättigte förmlich;
ihr Schmer rann vom Wagen runter durch Risse,
vermischt mit durchspeicheltem Weißbrot
und gekauten Koteletten, erbärmlich
zu dicken Güssen.

Er war auch ein ertrinkender Schwimmer. Während der Arbeit an Wolke in Hosen, im Juli 1915, hatte Majakowski die beiden Menschen kennengelernt, die das Zentrum seiner Existenz werden sollten, seine große Liebe, doppelgestaltig: das Ehepaar Lilja und Ossip Brick. Er wird – zum Entsetzen der prüden sowjetischen Moralwärter – fürderhin mit beiden leben und kaum einer der leidenschaftlichen und sehnsuchtsvollen Briefe an Lilja von einer seiner vielen Reisen endet ohne ein „Küsse Ossjka auf den Schnurrbart“, oder „Schrecklich küsse ich Ossik“. Es war die klassische – und vertrackte – Liebe zu dritt, zu der Majakowski sich bekannte und die er stolz-trotzig verteidigte:

[…] denn die Heuchler waren es, ihre klotzige Empörung gegen meine ,Unmoral‘ in der süßlichen Mohrrübensoße eines vorgetäuschten Mitleids mit mir zu servieren: „ach, armer Majak, was mußt du erdulden, wie mußt du innerlich darniederliegen, […]“.

Sein deutscher Übersetzer Hugo Huppert, der Majakowski gut kannte, geht in seinen Erinnerungen auf das Wagnis, dieses Glücks ein, das die drei Menschen in einem knapp zehn Quadratmeter großen Zimmer hüteten:

In einer nach geistigen Begriffen so vielschichtigen Gemeinschaft dreier Menschen zu leben, wie Majakowski mit dem Ehepaar Brick, heißt zunächst: bürgerliche Normsitten aufzugeben, in einer stillen Verschwörung gegen das Muckertum sich häuslich einzurichten wie in einer belagerten Festung, eine ungemeine, ja extreme Daseinsweise auszuprobieren, aber auch alle Verwicklungen und Verwirrungen zu bewältigen, die sie mit sich bringt. […] –„Mit Majakowski hat mich meine Schwester (Elsa Triolet) 1915 in Moskau bekannt gemacht“, schrieb Lilja, „als ich einmal aus Petrograd, wo ich damals lebte, zu unserm kranken Vater gereist kam. Bald siedelte Majakowski nach Petrograd über, besuchte mich, und zum erstenmal hörte ich seine Verse, es war die Wolke in Hose –, und es war wundervoll […]. Seitdem haben wir uns nicht mehr getrennt.“
Und beide haben sich seltsamerweise auch von Liljas Mann Ossip Brick nicht getrennt; dieser wurde sogar Majakowskis bester Freund. Der Dreibund bewährte, rechtfertigte, beglaubigte sich, in seiner Gültigkeit ausdauernd, vielleicht gerade dank seiner für Außenstehende kaum begreifbaren psychischen Problematik.

[…] Es war eine unkontigentierte Raserei am Werk, die nur für eines keinen Sinn hatte: simple Liebesrivalität, in Eifersucht verkleidete Ichsucht. – „Es gibt ein vorfabriziertes Modell zeitgenössischer Liebes- und Ehenöte, wie geschaffen für leicht ansprechbare Kinobesucher und für die tiefenpsychologisch orientierte Auslebe-Praxis des kleinköpfig-glattfrisierten Amerikanertyps mit der Shagtabakpfeife im Mundwinkel…“, so ungefähr waren Majakowskis erbitterte Worte, als er mir einmal, mitten im Menschengewühl und Basarrummel der Petrowka-Passage stehenbleibend, vorm Flatterlicht einer Schaufensterfront den Charakter des versteckten Kampfes auseinandersetzte, den gewisse Kreise gegen seine vermutliche ,Liebe zu dritt‘ führten, welche geeignet wäre, den schon ohnehin durch die Promiskuitätswerbung der Alexandra Kollontai erschütterten Leumund des Sowjetlebens noch weiter zu gefährden.

Majakowski war kein Besitzstandwahrer; er wollte alles von sich geben und möglichst alles nehmen; er hatte den großen Hunger nach allem; er sparte sich nicht auf, nicht seinen mächtigen Körper, den er mit unzähligen öffentlichen Auftritten, mit Wodka und Kettenrauchen strapazierte – und nicht seine Seele, die er preisend preisgab: Ein männlicher Mann, der sich hingab. Deswegen tauchen in dem Augenblick, in dem er Glück zu horten beginnt, die Schatten auf. In seinem ersten Liebesgedicht „Lilitschka!“ ist bereits vom „meine Schläfe kühlenden Pistolenlauf“ die Rede und im Prolog zur „Wirbelsäulenflöte“ heißt es „setzt man nicht am besten den Schlußpunkt mit einer Kugel ins Herz?“ – genau das, was er fünfzehn Jahre später, am 14. April 1930, tat: mit eben dem Mauser, den er 1915 als Stummfilmschauspieler in dem Eisenstein-Streifen Nicht fürs Geld geboren bediente, den er im „Linken Marsch“ besang. Einstweilen irrt Majakowski in seinem Lebensmäander umher. Im Oktober 1917 notierter: „Das war meine Revolution“ und besingt sie in wuchtigem Ton:

Poltert auf Plätze den Marsch der Empörung!
Hoch, stolzer Häupter wogendes Feld!
Wie einer zweiten Sintflut Verheerung
waschen wir wieder die Städte der Welt.

Träger Tage Trott:
der Jahre Büffelgespann.
Wettlauf rührt als Gott
des Herzens Trommel uns an.

Doch schon 1918 sind seine Reflexionen von der Skepsis eines Heinrich Heine:

Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hat andere Sorgen als Kunst. Für mich aber ist gerade sie die Sorge. […] Auf dem Felde der Kunst und des Unterrichts einstweilen nur Kompromißler. Mich würde man sicher zum Fischfang nach Astrachan schicken.

Wenig später schickt sich Majakowski gleichsam selber „zum Fischfang“. Er verabschiedet das Gedicht als literarische Form, deklariert es zum Instrument der Revolution. Vor dem Wort Propaganda hat er keine Scheu, er besetzt es positiv und ist stolz darauf, daß die in Petersburg stürmenden Matrosen seine Zeilen auf den Lippen hatten:

Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn.
Mußt bald deinen letzten Seufzer tun.

Ein Spalt beginnt sich zu öffnen, der schließlich zum Abgrund wird, in dem der Dichter Majakowski eines Tages verschwindet: Natürlich merkt er selber, daß diese zwei Zeilen nur die umgewendete Verführungsformel der Reklamesprache sind, eine verkehrte Genußmittelwerbung – Drohung statt Lockung. Der Großartigkeit seines „Linken Marsches“ entbehrt das ganz und gar:

[…]
Genug vom Gesetz aus Adams Zeiten.
Gaul Geschichte, du hinkst…
Wolln die Schindmähre zu Schanden reiten.
Links!
Links!
Links!

He, Blaublusen!
Nach vorn!
Stürmt Ozeane!
Oder
ist im Hafen der Sporn
der Panzerschiffe vermodert?!
Laßt
den britischen Löwen brüllen –
kronefletschende Sphinx.
Keiner zwingt die Kommune zu Willen.
Links!
Links!
Links!

Dort
hinter finsterschwerem
Gebirg liegt das Land der Sonne brach.
Quer durch Not,

über bittre Meere
stampft euren Schritt millionenfach!
Droht die gemietete Bande
mit stählerner Brandung rings –
Rußland trotzt der Entente.
Links!
Links!
Links!

Adleraug sollte verfehlen?!
Altes sollte uns blenden?!
Kräftig
der Welt an die Kehle,
proletarische Hände!
Wie ihr kühn ins Gefecht saust!
Himmel, sei flaggenbeschwingt!
He, wer schreitet dort rechts aus?
Links!
Links!
Links!

Majakowskis These – die er 1926 in dem Essay „Wie macht man Verse“ ausführlich erläutert – lautet jetzt:

Poesie fängt da an, wo Tendenz ist.

Er ist stolz darauf, weder Jamben noch Trochäen zu kennen und folgt der Theorie der Arbeiterkorrespondentenbewegung, die schließlich in Deutschland ihre wichtigsten Interpreten fand – nicht zuletzt mit Friedrich Wolfs zur These zugespitztem Aufsatz „Kunst ist Waffe“. Bei Majakowski hört sich das so an:

1. Wir müssen Schluß machen mit dem albernen Gerede von der „Entrollung epischer Gemälde“ während der Barrikadenkämpfe; denn solche Kämpfe würden die entrollte Leinwand wohl rasch in Fetzen reißen;
2. der Wert des Tatsachenmaterials (daher auch das Interesse für die Berichterstattung der Arbeiter- und Bauernkorrespondenten) während der Revolution muß höher, darf keineswegs niedriger eingeschätzt werden als ein sogenanntes ,poetisches Erzeugnis‘. Eine eilfertig unternommene ,Poetisierung‘ ist nur geeignet, das Material zu verfälschen und seines Gehaltes zu berauben.

Majakowskis Existenzentwurf der Unermeßlichkeit – er sieht sich als irdischen Prometheus, der den Menschen nicht das Feuer, aber Brot, Glück und Frieden bringt – hat die eigene Maßlosigkeit zur Konsequenz: Es ist heute kaum noch zu verfolgen, in wievielen Veranstaltungen an wievielen Orten er nahezu gleichzeitig auftrat bis an den Rand der physischen Erschöpfung – Odessa, Jalta, Simferopol, Jewpatorija, auch Prag, Warschau, Berlin, Paris; die Briefe an Lilja gleichen oft einer Flaschenpost aus dem Fliegenden Holländer.

Am 15ten lese ich in Jalta, dann am 19 und 21 Jewpatorija und Simferopol, und ich denk vom 1ten bis zum 10ten Kaukasus, von dessen Gipfeln nach Moskau.

Die zweite Konsequenz ist poetisches Unmaß: Majakowski verläßt bewußt die Ebene – und damit auch die Qualität – der Literatur. Ab September 1919 arbeitet er neunundzwanzig Monate lang – für die Russische Nachrichtenagentur ROSTA, deren nationale und internationale Informationen er in atemberaubender Geschwindigkeit in Agitationsverse, Karikaturen, Appelle, Spottgedichte und Kampfaufrufe umsetzt:

Ich Majakowski
genial oder nicht,
sage euch…
weil ich den unnützen Quatsch gelassen
und jetzt für die Rosta schreib, für die Massen –
ich sage,
bevor sie euch mit Kolben verjagen,
hört auf.
Hört auf!
Vergeßt.
Speit darauf,
auf die Reime,
die Arien
und den rosenfarbenen Strauch
und ähnliche Gespinste
aus dem Vorrat der Künste.

Es war nicht nur die Epoche der Interventionskriege, während derer englische, französische und amerikanische Truppen gelandet waren, um – verbündet mit antirevolutionären russischen Armeen – die Sowjetunion niederzuringen; es war auch die Zeit größter Armut, des Hungers und – unter anderem – der Papierknappheit. Deswegen hatte die ROSTA in Moskau große Schaufenster eingerichtet, vor denen sich – wie zeitgenössische Fotos belegen – Menschentrauben drängten, um die neuesten Nachrichten zu lesen und – da viele Menschen des Lesens nicht kundig waren – zu sehen. Majakowski nämlich zeichnete Parolen, Plakate und Karikaturen – revolutionäre Comicstrips; übrigens in ihrer skelettierten Einfachheit noch ganz stark im abstrahierenden Stil des Futurismus, vergleichbar dem heute gesuchten und teuren Revolutionsgeschirr. Der sowjetische Literaturwissenschaftler Wiktor Duwakin schildert plastisch das soziale wie politische Umfeld dieser spektakulären Propagandaaktion und ihre Wirkung:

Das Moskau des schweren Damals – das waren düstere Häuser, aus deren Fenstern in phantastischsten Formen und Größen die Rohre provisorischer Öfen aus altem Eisenschrott ragten, den man unter Ruinen hervorgesucht hatte, welche als Brennstoff für Holzhäuser taugten. Die schmutzigen, seit langem nicht instandgesetzten Mauern und Gesimse nahe diesen Rohren starrten vor schwarzem Ruß. Die wenigen Passanten stapften auf zertrümmerten Trottoiren und Fahrdämmen, den Blick auf den Boden geheftet, um den Weg zu wählen. Ihre Aufmerksamkeit hemmten keineswegs die zerrissenen Straßenbahnleitungen, die leeren Schaufenster, deren von zweijähriger Staubschicht mattes Glas nur so flimmerte von Löchern und Rissen: Spuren noch der Oktoberkämpfe von 1917. All das nahm man als etwas Gewohntes hin, als Alltagsdetail.
Aber aus unerfindlichem Grund bleiben da plötzlich auf der Twerskaja (der jetzigen Gorkistraße, die damals noch eng und gewunden war) alle stehen. Unweit des Moskauer Sowjets, bei einem Schaufenster des schon längst leeren Konditorladens unter dem bereits blinden Aushängeschild
Abrikossow, Söhne & Co., ist hinter dem riesigen Fensterglas ein Mensch zu sehen, der etwas hinlegt, etwas aufhängt. Er entfaltet ganz große Bogen Papier. Da sieht man plötzlich einen dicken Bourgeois, und da auf dem traditionellen weißen Roß einen wutschäumenden Häuptling in Hosen mit Generalsstreifen, und aus den Hosen guckt eine Wodkaflasche, indes der hohe Herr mit einer Lanze auf einen verwundeten Arbeiter einsticht. Und ein Arbeiter aus der Zuschauermenge trommelt, mit einem lustigen Fünkchen in den Augen, heftig ans Fensterglas, formt dann ein Sprachrohr aus seinen Handflächen und ruft überlaut: „Rechts etwas höher, links etwas runterlassen!“ Michail Tscheremnych (nach dessen Anweisung jenes Bild hergestellt ist) hat nun schon Kontakt mit den Betrachtern; sie unterhalten sich bereits und erteilen mit Gesten und Blicken allerhand Ratschläge, vor allem natürlich mit den Händen, da man ja durch das Glas nicht schreien kann. Schließlich ist mit vereinten Kräften alles richtig angebracht, „alles in Butter“.

Zu den Postern gab es knappe Texte wie

Willst Du? Tritt ein!
1. Willst die Kälte bezwingen?
2. Willst den Hunger bezwingen?
3. Willst essen?
4. Willst trinken?
Schnell in die Stoßgruppe
vorbildlicher Arbeit!

Majakowski notiert 1920 in seinem Tagebuch:

Widme Tage und Nächte der ROSTA. […] Habe an die dreitausend Plakate und an die sechstausend Bildtexte zustande gebracht.

Viktor Schklowski erinnert sich des Furors und des Tempos dieser Agitationsarbeit:

Er sagte: „Ich muß mir bis an dieses Haus vier Zeilen ausdenken.“
Ich beobachtete ihn bei seiner Arbeit. Eine große Anspannung. Er trug einen kurzen Überzieher und eine kleine Mütze, die er sich weit ins Genick zurückschob; er war flink. Doch mußte er nicht bloß gehen und atmen, sondern auch Einfälle haben.
In der ROSTA stand ein kleiner Kanonenofen, der Rauch hing gerade immer in Höhe meiner Hasenfellmütze. Majakowski kann sich vor Rauch kaum mehr aufrichten. Man arbeitet auf dem Fußboden. Majakowski entwirft ein Plakat, andere fertigen Schablonen an, machen Ausschnitte aus Karton, wieder andere vervielfältigen zu Hause nach den Schablonen. Auch Lilja malt tüchtig mit, in einem Kleid aus einem grünen, gerippten Samtvorhang, besetzt mit Eichhörnchenfellen.

Majakowski wurde berühmt – und begann zu scheitern. Er verstand sich als Künder einer politischen Revolution und zugleich als Initiator einer ästhetischen; er wollte die Einheit des Neuen: der neuen Gesellschaft eine neue Sprache verleihen. Die Kunstkommissare wollten genau das nicht – sie forcierten den sozialen Umbruch, dem sie aber das Gewand der traditionellen Kunst zu erhalten suchten. Dieser Widerspruch ist der Widerspruch aller marxistisch inspirierten Revolutionsbewegungen. Schon Altvater Marx bezog seine ästhetischen Kriterien nicht etwa von Gustave Flaubert, sondern aus den elendskritischen Schundromanen des Eugène Sue. „Schiller für den Arbeiter“, aber nicht für den Avantgardisten Erwin Piscator (der in der Weimarer Republik am heftigsten von der Roten Fahne bekämpft wurde). Wie der Eisenacher Parteitag der SPD sich empört gegen den Naturalismus als die Kunst des Krassen und Ekelhaften wandte, so blieben in Deutschland Künstler wie Bertolt Brecht oder Hanns Eisler, Ernst Bloch oder Otto Dix von der KPD zumindest beargwöhnt. John Heartfield war noch in der DDR arbeitslos.
So war auch in der jungen Sowjetunion das Aufbrechen des ästhetischen Kanons von Beginn – also: von Lenin – an unerwünscht, und die kühnen Architekturentwürfe El Lissitzkys oder Mies van der Rohes blieben Skizze, das Theater Meyerholds wurde immer wieder verboten, die Musik von Schostakowitsch nicht aufgeführt und die Bilder von Malewitsch wurden abgehängt. Die Bilder der europäischen Moderne – Georges Braque und Fernand Leger, Pablo Picasso und Henri Matisse –, nirgendwo so früh und so vollständig gesammelt wie in Petersburg und Moskau, verschwanden in den Depots. Erwünscht und gefördert wurden Türmchen-Architektur und Wohllaut, realistischer Roman, braver Reim und jener heroische Arbeiter, der bald zu Hunderten in Bild und Skulptur die öffentlichen Plätze belegte. Nicht die Geburt einer eigenen, neuen Klassik war das Programm, sondern die Wiedergeburt eines umgebackenen Klassizismus:

In ,Gesammelte Werke‘
aaaängstlich sich duckende
Klassiker flennten.
aaaKein Mitleid!
aaaaaazu spät!
Vergeblich beschirmt sie
aaaGorki, die Gluckhenne,
mit den Flügeln
aaaeiner verschlissenen Autorität.
Futuristen:
aaamit Stahlträger-Beinen
aaaaaaKilometer fressend,
mit Greifhand-Kränen die Wege entrümpelnd,
zertrümmern Altvätrisches,
aaawert des Vergessens,
schubsen
aaain alle vier Winde
aaaaaapapiernes
Kultur-Gestümper.

Dieser Gesang Majakowskis mit dem von Walt Whitman entlehnten Tenor „Ich singe die Massen“ war aber mehr Wunschvorstellung als Beschreibung der sowjetischen Realität. Majakowskis LEF-Bewegung, um die sich alle Avantgarde-Künstler geschart hatten, galt in Wahrheit als linkes Sektierertum, und seine Widmung in der Buchausgabe des Poems Hundertfünfzig Millionen „Dem Genossen Wladimir Iljitsch mit kommunistischem Futuristengruß“ nützte gar nichts. Die Idee, das anfangs ohne Autorenangabe gedachte Buch – es sollte gleichsam ein Kollektivprodukt der hundertfünfzig Millionen Sowjetbürger sein – in einer Massenauflage herauszubringen, scheiterte am massiven Widerstand der Bürokratie. Das 1923 von Majakowski formulierte Programm der LEF (und der Neuen LEF von 1927) war inzwischen Häresie geworden:

LEF bedeutet die Meisterung eines umfassenden sozialen Themas mit sämtlichen Mitteln des Futurismus. […] Eine der Parolen, eine der großen Errungenschaften des LEF ist die Entästhetisierung der gewerblichen Künste, der Konstruktivismus. Poetische Zutat: Agitationskleinkunst und Wirtschaftsagitation, die Reklame. Ungeachtet johlender Entrüstungsstürme der Poeten betrachte ich „Käufer! komm / zum ,Mosselprom!‘ als Dichtkunst höchsten Gütegrades.
Grundhaltung:
gegen das Ausgedachte, gegen Ästhetisierung Psych-Erlogenheit in der Kunst; für Agitation, für hochwertige Publizistik und Aufzeichnung des Zeitgeschehens.

Majakowski lebte diesen Widerspruch bis zum Zerreißen. Er füllte riesige Säle, in denen er mit schnellem Witz und prankensicherer Schlagfertigkeit die obligaten Angriffe abwehrte – aber er mußte einen Windmühlenkampf um die Publikation seiner Texte führen. Schon 1921 schreibt er aus Moskau:

Hier heißts in derartiges Gezänk einsteigen, daß man sich den Mund fußlig reden muß. Von Arbeiten kann kaum die Rede sein: nichts als Zank, Agitation und dergleichen fressen mich samt der Leber von innen auf.

Es gab wohl auch einen anderen, einen inneren Widerspruch. Majakowski war nicht nur der Lauthals-Barde und der dröhnende Agitationskünder, er war auch ein leiser Lyriker, dem die Gebärde des Bittens und Abbittens nicht fremd war. Brechts berühmtem „O Falladah, die du hangest“ ähnlich ist sein zartes Gedicht „Gute Behandlung der Pferde“:

Winde rieben,
beschuht vom Eise,
die schlüpfrige, steile
Straße ab.
Da kracht auf die Kuppe
einer der Gäule.

Am Kusnezki-Most
staun sich schon gaffende Mäuler.
Die Hosen schlappern ihr Glockenmaul,
Gelächter klimpern
vor Langeweile:
„Ein Gaul ist gestürzt!“
„Gestürzt ist ein Gaul!“

Der Kusnezki lachte.
Nur ich allein
trat hin
und tat keinen Ton ins Geheule.
Ich schaute
in die Augen des Gauls hinein…
Und kopfstand, umstürzend, die Straßenzeile…

Trat hin, sah:
Träne um Träne träuft,
rinnt über die Backen,
versiegt in der Mähne…
Und tierische Schwermut,
die überläuft,
brach strömend aus mir
in vertauschender Strähne.

„Mein Pferd, nicht weinen,
Ich kenne die Beschwerde –
Wer sagt Ihnen denn, Sie sei’n weniger wert?
Kindchen,
wir alle sind ein wenig Pferde,
jeder von uns ist auf seine Art Pferd!“

Dieser Zwiespalt zwischen Faust-Attitüde und Streicheleinheit wird am schärfsten akzentuiert in Majakowskis Beziehung zu dem großen Rivalen Sergej Jessenin. Mit ihm verband ihn schon seit vorrevolutionären Zeiten eine freundlich-distanzierte Neck- und Kosebeziehung – bis zu Jessenins Selbstmord im Jahre 1925. Majakowski hatte den schweren Alkoholiker noch kurz zuvor im gemeinsamen Verlag getroffen und reagierte entsetzt auf diesen Tod; entsetzter noch auf das Abschiedsgedicht mit den beiden unvergeßlichen Schlußzeilen, das Jessenin mit dem Blut aus seinen aufgeschnittenen Pulsadern auf den Spiegel geschrieben hatte:

Sterben ist im Leben wenig neu,
doch auch Leben, freilich, ist nicht neuer.

Majakowskis fundamentale Auseinandersetzung mit diesem Gedicht ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Position; sie beginnt mit den Worten:

Nach diesen Versen war Jessenins Tod zu einer Tatsache der Literatur geworden.
Sogleich mußte einleuchten, daß dieses starke Gedicht, eben als Gedicht, eine gewisse Anzahl schwankender Menschen zum Strick und zum Revolver greifen lassen würde.
Und keinerlei, aber auch wirklich keinerlei Pressekommentare waren imstande, dieses Gedicht zu entkräften.
Gegen dieses Gedicht konnte und mußte mit einem Gedicht vorgegangen werden,
nur mit einem Gedicht.

Schon der Ton dieses Aufsatzes zeigt: Hier geht es um ihn, hier ist Majakowskis zentraler Lebensnerv getroffen – der ein Todesnerv war. Nur der Dichter kann sich auf diese Herausforderung einlassen; nicht etwa der Propagandist, der Pamphletist. Nicht „eine gewisse Anzahl schwankender Menschen war gefährdet“ – sondern er, Wladimir Majakowski, der verzagte Optimist, der zweifelnd Hoffende, der gejagt Ruhmreiche. Daß er in den Mittelpunkt seiner einzigen poetologischen Überlegung diese Auseinandersetzung mit Jessenin, dessen Tod und Abschiedsgedicht rückt, um seine Position zu untersuchen und zu klären, die Position des Lyrikers Wladimir Majakowski, ist kein Zufall. Gleich eingangs proklamiert er sein Antwortgedicht zum „wirkungsvollsten meiner Gedichte aus jüngster Zeit“ und analysiert – fast einem Hochschullehrer ähnelnd – Struktur, Tempo, Reimprinzip und Rhythmus der eigenen Arbeit, zu der er bekennt: „Von den Versmaßen kenne ich kein einziges“:

Rhythmus ist die Urkraft, der Hauptantrieb des Verses. Erklären kann man ihn nicht; man muß sich darauf beschränken, ihn so abzuhandeln wie den Magnetismus oder die Elektrizität. Magnetismus und Elektrizität sind Erscheinungsformen der Energie. Der Rhythmus kann in vielen Gedichten, ja sogar im ganzen Lebenswerk eines Dichters ein und derselbe bleiben, doch wird das sein Werk nicht eintönig machen, weil Rhythmus dermaßen verwickelt und knifflich ausgeformt sein kann, daß man auch anhand mehrerer größerer Poeme seine Durchtriebenheiten nicht aufzulösen vermag.

Die großartigen Schlußzeilen von Majakowskis „An Sergej Jessenin“, eine pathetische Antwort, haben die Geste des Fortscheuchens heranschleichender Schatten:

Sterben
aaist hienieden
aaaakeine Kunst.
Schwerer ists:
aadas Leben baun auf Erden.

Es wird nur noch vier Jahre währen, bis Majakowski den Versuch aufgibt, das Leben auf Erden zu bauen, bis er der Armee der Schatten erliegt. Diese Schlußzeilen wirken wie der Schrei eines Ertrinkenden zu dem Freund: „Du gehst ja unter.“ Deswegen wohl hat Majakowski an diesen wenigen Worten Monate gefeilt, ungefähr sechzig Varianten der zwei Zeilen ausprobiert:

Während meiner ganzen Arbeit an diesem Gedicht dachte ich unausgesetzt an diese Zeilen. Die übrigen Teile formulierend, kehrte ich immer wieder zu ihnen zurück, bald bewußt, bald unbewußt.

Sogar das in die Mitte des Gedichts eingerückte Hoffnungsangebot für den Kollegen, der sich einsam im Hotel Angleterre das Leben nahm, klingt wie ein Zuruf an sich selber:

Vielleicht,
aawär im
Angleterre
aaaaSchreibzeug gewesen,
hätten Sie sich nicht
aadie Adern
aaaaaufgeschnitten.

Schreiben also als Überlebenshilfe. Das Gedicht „An Sergej Jessenin“ ist ein Rezept, das Majakowski sich selber ausstellt. In dem blutverschmierten Spiegel sieht er das eigene Gesicht, Gerinnsel seines Schicksals, bis hin zu den konkreten Details von Vorschußnöten und Biernächten, die ihm ja nicht fremd waren:

Sie sind weg,
aawie’s heißt:
aaaain eine andere Welt.
Leerer Raum…
aaFlugs – zu den Sternenlichtern!
Keinen Vorschuß,
aaBier und Bar entfällt.
Nüchtern…
Nein, Jessenin,
aamir gelingt
aaaakein Lächeln, –
Schmerz,
aanicht Spott,
aaaahält mich beim Hals gepackt.

Majakowskis Klage um den toten Rivalen ist auch Definition der Würde des Dichters – und damit expressis verbis Anklage gegen die unsäglichen Aufpasser und Richtliniengeber. Vor dieser sehr realen Armee floh er.
Tatsächlich wirken Majakowskis zahlreiche Auslandsreisen wie lauter kleine Fluchten, bei denen man bekanntlich die eigenen Bedrückungen nie los wird; diese schwarzen Raben saßen ihm auf den Schultern – ob in Mexiko oder Paris, Berlin oder New York. Es waren sehr einsame Reisen. Was für uns heute, mit unseren Erfahrungen der internationalen Kongresse und kosmopolitisch arrangierten Konferenzen verblüffend wirkt: Majakowski kannte kaum einen seiner ausländischen Zeitgenossen – und kaum jemand kannte ihn; es sei denn, als Gerücht. Er ist Brecht nie begegnet, hat in Berlin oder Frankfurt nie einen einzigen der kommunistischen oder links stehenden deutschen Intellektuellen getroffen – nicht Walter Benjamin, nicht Erwin Piscator, nicht Kurt Tucholsky, weder den Kreis um die Linkskurve noch den um den Malik Verlag oder die Leute des Münzenberg-Konzerns. Zwar sagte Johannes R. Becher 1940 rückblickend:

Von den Wellen der großen russischen Revolution herangetragen, brach sein Name über uns herein. Man erzählte einander von seinen Versen, irgend jemand hatte sie gelesen und gab das Gelesene weiter. Diese Erzählungen erschienen damals unwahrscheinlich, nahezu legendär […].

Aber er benutzte nicht zufällig die Begriffe Erzählungen und legendär; er selber hat – ohne Russisch zu können – vier Gedichte Majakowskis übertragen, doch die deutsche Buchausgabe von Hundertfünfzig Millionen in seiner Nachdichtung war mehr Becher als Majakowski:

Geschoßhagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus.
Feuerböen geschleudert zickzack,
Schlagwetter, Tretminen –
Plätze platzen
Haus hüpft an Haus…

Im Jahr 1925 gab es neun Gedichte von Majakowski auf deutsch; wohl eine Folge des Berlin-Besuchs im Jahr 1924, wo er sich in der Wohnung des Schauspielers Alexander Granach mit Künstlern des Max-Reinhardt-Theaters getroffen hatte. Majakowski rief eher in bürgerlichen Avantgarde-Kreisen ein Echo hervor als in proletarisch-kommunistischen; Ivan Goll präsentierte ihn in der Zeitschrift Menschen, Josef Kalmer in der Aktion oder in seiner Anthologie Europäische Lyrik der Gegenwart, in deren Programm es hieß, Gedichte seien ein Genußmittel, „mit dem Strohhalm zu saugen“. Mehr berauscht, als argumentierend schrieb Der Querschnitt über Hundertfünfzig Millionen:

Wenn man dies gelesen hat, bleibt der Simultaneindruck der Massenversammlung, unserer Maschinenzeit, ihrer Verulkung und Bewunderung, und über ihr die roten Fahnen.

Erst 1929 – ein Jahr vor Majakowskis Tod – erwarb der Malik Verlag von ihm „das alleinige Verlags- und Bühnenvertriebsrecht auf die deutsche Übersetzung sämtlicher […] Werke des Autors“. Eine größere Ausgabe jedoch kam nie zustande. Majakowski sprach keine internationale Sprache – so blieb er stets und ausschließlich im Bereich russischer kultureller Einrichtungen, mal dem der sowjetischen Botschaft in Berlin und mal dem von russischen Emigranten in Paris (deren Presse ihn gar verwundert lobte). Seine Reisen – der Kulturkommissar Anatoli Lunatscharski hatte ihm ein rühmendes Empfehlungsschreiben mitgegeben – wurden von der WOKS organisiert, der Unionsgesellschaft für Kulturverbindung mit dem Ausland. Und wenn etwa Arbeiter in der Berliner „Hasenheide“, die kein Wort Russisch konnten, dennoch, von der Dynamik seines Auftritts mitgerissen applaudierten, nachdem er mit tief dröhnender Stimme den „Linken Marsch“ geschmettert hatte, bemerkte er hinterher dankbar:

Ah, sie haben mich verstanden, weil sie gemerkt haben, daß ich einer von ihnen bin und mit ihnen teile, was ich habe!

Er konnte sich also in New York so wenig verständigen wie in Paris, wo er lediglich zu Louis Aragon engeren Kontakt fand, weil er dessen Frau Elsa Triolet – die Schwester von Lilja Brick – seit Vorkriegszeiten kannte. Dennoch bleibt fraglich, ob Aragons späteres Zeugnis aus dem Jahre 1935 nicht eher ein nachträglich stilisiertes, pariserisch übertriebenes Ruhm-Zertifikat ist als wirkliche Auskunft über den Einfluß Majakowskis auf ihn. Die Verständigung mit dem Russen, von dem nicht eine Zeile ins Französische übersetzt war, mußte über eine Dolmetscherin geschehen, als Aragon ihm am Abend des 5. November 1928 im Pariser Montparnasse-Café La Coupole begegnete:

Das war die Minute, die mein ganzes Leben verändern sollte. Der Poet, den der revolutionäre Wellenkamm emportrug, sollte zum Bindeglied zwischen der Welt und mir werden. Damit schloß sich das erste Glied der Kette, die ich akzeptiere und heut allen zeige; einer Kette, die mich aufs neue mit der äußern Welt verbindet. Gewisse Philosophen lehrten mich, die Welt zu leugnen. Der Poet Wladimir Majakowski lehrte mich: man müsse sich an die Millionen Menschen wenden, an jene, die diese Welt verwandeln wollen.

Den sprachlichen Barrieren entsprechend mickrig-oberflächlich sind Majakowskis lyrische Reportagen aus den bereisten Ländern, die sich von einem Klischee zum anderen hangeln, „Das Fräulein und Woolworth“ und „Die Pariserin“ besingen oder banalste Keksdosenreimerei nicht verschmähen:

In Deutschland
aavorm Anfang
aaaajedes Beginnes,
summt allenthalben
aader Name
aaaaStinnes.

Das wahre Ziel jeder Reise, ob nach Nizza oder nach Cuernavaca, hieß: Moskau. Kaum ein Brief von unterwegs, in dem er nicht die Sehnsucht nach Rußland betont und die Freude an dem Gedanken herbeiruft, bald wieder zu Hause zu sein. Was soll er auch auf der Brooklyn Bridge, am Kurfürstendamm oder im Spielcasino von Monte Carlo, all das erlebt er doch nur aus der Distanz eines Zoobesuchers. Er kennt niemanden in Amerika, nicht John Dos Passos oder Theodore Dreiser, nicht John Steinbeck oder Erskine Caldwell, kennt wohl auch deren Arbeiten überhaupt nicht. Die Adern im Marmor der Gesellschaftsstrukturen fremder Länder kann er nicht erkennen, weiß nichts von der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, dem französischen Antisemitismus oder der beunruhigenden Umschichtung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft, weg von der KPD und hin zu den Nationalsozialisten; seine enthusiastischen Zuhörer aus der Berliner „Hasenheide“ haben ja wenig später im Sportpalast dem Herrn Goebbels applaudiert. Die heimatlichen Querelen dagegen kennt er.
Denn Querelen vor allem sind es, in die er sich stürzt, deren Wellen ihn mehr und mehr zu verschlingen drohen. Die von ihm und seinen futuristischen Freunden 1923 gegründete LEF, wie sich die Linke Front der Künste nannte, und ihre bis 1925 erschienene Zeitschrift LEF, in den Jahren 1927 bis 1928 abgelöst von der Neuen LEF, wurde immer schärfer von der offiziellen Kulturpolitik attackiert. Deren Plattform waren nicht nur die großen Zeitungen wie die Prawda, sondern bald auch die offiziöse Gegengründung zur LEF, RAPP, die Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller, eine organisatorische Vorform des Dogmas vom sozialistischen Realismus. Ihnen galt Majakowski als Mitläufer, und seine Erklärung vom März 1930, kurz vor seinem Freitod, „Ich stehe nicht abseits der Partei und halte mich für verpflichtet, alle Resolutionen dieser Partei zu befolgen, obwohl ich kein Parteibuch in der Tasche habe“, hatte ihm nicht genützt; auch nicht seine Schlagfertigkeit, mit der er 1928, auf einer Konferenz, pariert hatte: daß er der wahre proletarische Dichter sei und die Autoren dieser Gruppe seine Mitläufer. Die literarische Antwort – ein dem eigenen Poem „Gut und schön“ entgegengesetztes Gedicht „Schlecht“ – blieb lediglich ein Plan. Auch das spärliche Lob Lenins, der sich in typischer Funktionärsmanier als literarisch inkompetent erklärte, um dann prompt ein Gedicht zu beurteilen, war kein Zeugnis für den revolutionären Dichter Majakowski gewesen; dem 1922 entstandenen Gedicht „Die auf Sitzungen Versessenen“ hatte Lenin ein Attest verliehen, als handele es sich um ein Parteigruppenreferat:

Ich gehöre nicht zu den Verehrern seines dichterischen Talents, obwohl ich meine Inkompetenz auf diesem Gebiet gern zugebe. Aber schon lange habe ich vom politischen und administrativen Standpunkt aus kein solches Vergnügen empfunden. In seinem Gedicht macht er sich weidlich lustig über die vielen Sitzungen, verspottet die Kommunisten, die immerzu Sitzungen und abermals Sitzungen abhalten. Ich weiß nicht, wie es in dem Gedicht um die Poesie bestellt ist, aber was die Politik angeht, so verbürge ich mich, daß das vollständig richtig ist.

Doch seit 1924, nach dem Tode Lenins – dem Majakowski ein ergreifendes Poem widmete – verschärfte sich der Kampf. Die anfangs zünftlerische Polemik, schreibt sein Übersetzer und Biograph Hugo Huppert, „war schließlich in förmliche Hetze ausgeartet“. Majakowski füllte zwar noch die größten Säle – allein in den letzten vier Jahren seines Lebens hatte er neben seinen Auslandsveranstaltungen mehr als zweihundert Lesungen in fünfzig Städten der Sowjetunion gehalten –, aber seine Briefe zeigen in zunehmend bitterem Ton einen sinistren Kampf gegen die Kulturbürokratie. Der Druck seiner Bücher wird verschoben, Verlagsleiter lassen sich verleugnen, seine Manuskripte verschwinden, und weder die Selbsttröstung –

Mit Wolfszähnen wollt ich
aaaaaaaaaaaden Amtsschimmel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafassen…

noch der Aufschrei – „Ich fordere fünfzehn Minuten im Rundfunk. Ich fordere, lauter als die Geiger, das Recht auf die Schallplatte“ – brachten irgendeine Hilfe.
Majakowski war der berühmteste und zugleich der ohnmächtigste Dichter des Landes – das seine Stimme mehr und mehr erstickte. Gnadenlos wurde Meyerholds Schwitzbad-Inszenierung verrissen. Eine große Ausstellung, „20 Jahre Arbeit“, die mit Büchern, Fotos, Plakaten, Zeitschriften Majakowskis Lebenswerk dokumentieren sollte, wurde Anfang März 1930 geradezu klandestin veranstaltet – die Öffnungszeiten waren falsch ausgedruckt und es erschien kein einziger offizieller Vertreter des Leningrader Schriftstellerverbandes zur Eröffnung. Ossip und Lilja Brik waren verreist, nach England zu Liljas kranker Mutter, was den empfindlichen und verstörten Majakowski zu Hilferuf-Telegrammen trieb:

[…] ich begreife nicht, wem ihr schreibt – jedenfalls nicht mir.

In dieser Notsituation war Liljas kühle Replik: „Laß Dir, bitte, einen neuen Text für Deine Telegramme einfallen“, nicht hilfreich. Die Beziehung war intakt geblieben, aber dünn geworden; vielleicht auch perforiert durch Majakowskis zahlreiche Amouren, die von beiden Briks zwar akzeptiert wurden, ihre Bindung aber wohl nicht intensivierten.
Eine Vernichtungslawine löste sich. Wenige hatten begriffen, wie bloß die Nerven des scheinbar so Souveränen, die Massen Mitreißenden tatsächlich lagen, der auf Podien mit erhobener Stimme kämpfte und dessen Pose der geballten Faust als Zeichen unerschütterlicher Kraft mißdeutet wurde. Einer der wenigen Klarsichtigen war Lunatscharski, bis 1929 noch Volkskommissar für Bildung:

Um Poet zu sein, muß man sensibel sein. Auf Grobheit, Kälte, Verhöhnung reagiert der Poet, vielleicht nicht wahrnehmbar für die Menge, vor der er seine unabhängige Haltung wahrt, mit einem zuweilen verhängnisvollen Zusammenzucken und Erbeben des Herzens. Jawohl, Majakowski trug es mit Bitterkeit, daß als Antwort auf seine Hingabe, auf den Einsatz all seiner Kräfte fürs Proletariat, ihm oft genug nur ein argwöhnischer Blick, ein ausweichendes Urteil und kaltes Festhalten am Althergebrachten begegneten […].

Als Anfang April 1930 die Zeitschrift Presse und Revolution mit einer Grußbotschaft an den „hervorragenden Revolutionär der poetischen Kunst“ erschien, wurde auf Befehl des Staatsverlagsleiters Chalatow aus den bereits ausgedruckten Exemplaren das Bild Majakowskis mit der Grußbotschaft herausgeschnitten; ein Mitarbeiter erinnerte sich:

Er [Leiter des Staatsverlages] wetterte Blitz und Donner, wie denn die Presse und Revolution sich erdreistete, den ,Mitläufer‘ Majakowski einen großen revolutionären Dichter zu nennen, und forderte, unverzüglich den Namen des Mitarbeiters bekanntzugeben, der diese ,empörende Grußbotschaft‘ in Satz gegeben hatte […].

Eine Woche später, am 9. April, lief Majakowski auf einer Großveranstaltung im Plechanow-Institut in ein Sperrfeuer wütender Angriffe. Studenten warfen ihm vor, seine Gedichte seien für Arbeiter unverständlich, einer schrie: „Was hat das alles mit der Revolution zu tun? Es ist alles persönliches Zeug. Alles unbegreiflich“; der Protokollführer konnte nur noch schreiende Frauenstimmen notieren, bis er samt Wasserkaraffe vom Podium flüchtete; Majakowski brüllte: „Setzen, setzen, ich werde Sie zum Schweigen bringen“, doch selbst auf seinen todernsten Satz:

Wenn ich sterbe, werden Sie mit Tränen der Rührung meine Gedichte lesen.

erntete er nur schallendes Gelächter. Als ihn am nächsten Tag ein Freund finster und tief deprimiert im Foyer des Meyerhold-Theaters stehen sah und auf einen etwas gerechteren Prawda-Artikel hinwies, sagte Majakowski:

Jetzt ist es trotzdem schon zu spät.

„An alle“ hatte Lenins berühmtes Telegramm gelautet, mit dem er der Welt den Sieg der Revolution verkündet hatte; „An Alle“ hieß die Botschaft des Poems der Hundertfünfzig Millionen:

An Alle!
aaAn Alle!
aaaaAn Alle!

An Alle,
die völlig kaputt sind!
Gemeinschaftlich raus,
aaaaaaaaaaaaagemeinsam
raus aus den Häusern!
und vorwärts! macht mit!

Jetzt saß einer, der einst geschrieben hatte:

Allein ist man töricht,
aaaaaallein ist man Nichts

vereinsamt in seinem Arbeitszimmer in der Lubjanski-Gasse. Er schrieb, datiert Moskau, 12. April 1930, sein letztes „An alle!“ – seinen Abschiedsbrief, der mit den Zeilen beginnt: „Ich sterbe, macht niemand dafür verantwortlich, und bitte kein Gerede. Der Verstorbene haßte das“, und der mit seinem letzten Gedicht endet:

Wie man so sagt –
aa„der Fall ist jetzt erledigt“,
das Liebesboot
aaam Alltagskram zerschellt.
Ich bin mit dem Leben quitt,
aaes ist nicht nötig,
daß man sich Not
aaund Qual
aaaaentgegenhält.
aaaaaaDen Hinterbliebenen Glück.
aaaaaaWladimir Majakowski
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa12/IV 30

Veronika Polonskaja, eine Schauspielerin am Moskauer Künstlertheater, die Majakowski während ihrer Mitarbeit an Lilja Briks Film Das Glasauge kennen- und schätzengelernt hatte, und die manche für seine letzte Geliebte, andere für eine Vertraute halten, die aber weder die komplizierte Struktur seiner Persönlichkeit noch die Bedrohlichkeit der akuten Krise begreifen konnte, war der letzte Mensch, der Majakowski lebend sah. Sie besuchte ihn am Morgen des 14. April, wollte nur kurz und in Eile vorbeischauen, weil sie vormittags zur Theaterprobe eingeteilt war, und widersetzte sich seiner immer dringlicheren Bitte, ihn nicht allein zu lassen. Selbst der ihr unklaren Andeutung, es hinge gar zu viel davon ab, daß sie bliebe, hielt sie die dringende Theaterverpflichtung entgegen; wer nun einmal eine so fesselnde wie ehrenvolle Tätigkeit wie die Arbeit am Künstlertheater erreicht habe, könne und dürfe das nicht am Beginn einer Karriere hinwerfen. Polonskaja schreibt:

[…] Ich bat ihn, doch zu überlegen: der unmotivierte Schritt müßte in erster Linie ihn selbst in Verlegenheit bringen. Wer im Leben je eine so fesselnde Aufgabe kennenlernt wie die Arbeit im Künstlertheater, der könne nicht plötzlich dazu übergehen, ab heute nur noch als die Gattin ihres Mannes zu existieren, wäre er auch ein so großer Mann wie Majakowski. […] Ich ging, schloß die Tür und tat im Flur einige Schritte aufs Haustor zu, als hinter mir ein Schuß krachte.

Vorwärts, Genosse Mauser – im Lauf war eine einzige Kugel gewesen. Mit ihr hatte sich Wladimir Majakowski ins Herz geschossen. Der Titan einer Epoche war sich selber nur mehr ein „Zwischenfall“ gewesen. Die Arbeiter einer Moskauer Maschinenfabrik ehrten ihn mit einem groben wie zugleich innigen Pathos, das bewies, daß Majakowski nicht über ihre Köpfe hinweg gesprochen hatte: mit einem Kranz aus Hämmern, Gewindekurbeln, Zahnrädern und Stahllaschen mit der Aufschrift „Dem metallenen Dichter ein Metallkranz“. Anatoli Lunatscharski, später zum Botschafter in Madrid ernannt und auf dem Wege dorthin 1933 in Menton gestorben, ehrte ihn, der nicht nur Metall gewesen war, am verständnisvollsten:

Alles Irdische, Körperliche, von heißem Blut Umspülte, von unmittelbarer Daseinsgier Erfüllte empfand er mit größter Stärke und empfand es als den Majakowski-Organismus und als die diesem Organismus entsprechende Majakowski-Psyche. Einem solchen Poeten war die Welt nicht beklemmend. Das heißt nicht, daß er das Universum als eng empfunden hätte. Nein, das Universum gefiel ihm, es war sehr groß, und er wollte ihm sehr nah sein: er lud die Sonne zu sich ein, und die Sonne kam zu ihm und unterhielt sich mit ihm unter vier Augen. Aber die Sonne kam zu ihm nur im Traum. Jene Menschen hingegen, denen er in der Wirklichkeit nah war, und jene, denen er sich mit aller Kraft anzunähern trachtete, waren ihm nicht gewachsen. Daher die gewaltige Schwermut und die gewaltige Einsamkeit Majakowskis […]
All diese Elemente, die Majakowski in sich nicht abgetötet hatte, lebten bei ihm in den Formen einer starken Fähigkeit, Menschen zu verstehen, und einer starken Sehnsucht, verstanden, mitunter getröstet, geliebkost zu sein […]. Unter dem metallenen Harnisch, in dem sich eine ganze Welt widerspiegelte, schlug nicht nur ein heißes, nicht nur ein zartes, sondern ein gebrechliches und leicht verwundbares Herz […].

Fritz J. Raddatz, aus Fritz J. Raddatz: Lebenfresser, Europäische Verlagsanstalt, 1996

Erinnerungen

(…)

Das Poem „Darüber“ ist autobiographisch. Majakowski hat es freilich chiffriert. Im Manuskript steht: „Lilja im Bett. Lilja liegt.“ Im Buch: „Sie im Bett, sie liegt.“ Im Manuskript heißt die Widmung: „Lilja und mir“, im Buch – „Ihr und mir“. Er wollte vermeiden, daß das Ganze zu wörtlich genommen würde oder man die „Spiel- und Zechpartner“ identifizierte.
Das Poem „Darüber“ klingt an das sieben Jahre zuvor entstandene Poem „Der Mensch“ an. Daher heißt ein Kapitel „Mensch hinter sieben Jahren hervor“. In „Der Mensch“ hatte Majakowski seinen Krieg mit der Banalität und dem Philistertum begonnen, in „Darüber“ führte er ihn fort. Nein, der Anfang liegt noch weiter zurück, schon bei der „Tragödie“. Erinnern Sie sich?

Ich suchte sie,
die Seele sondergleichen…
Und habe, en passant gesagt,
sie mal gefunden.
Sie kam heraus
in blauem Morgenmantel
und sagte: „Nehmen Sie
doch Platz! Ich hab Sie
längst erwartet. Möchten
Sie nicht ein Gläschen Tee?

Schon in der „Tragödie“ hatte er dem „Teetrinken“ den Kampf angesagt, ihn setzte er bis zuletzt, buchstäblich bis zu seinem Tode, fort:

Ich hoffe, glaube, daß die schändliche Vernunft mich bis in alle Ewigkeit nicht einkriegt.

Nach seinem Tod fand ich in seinem Schreibtisch in der Gendrikow-Gasse einen Stoß Briefe und einige Fotos von mir. Beides lag eingeschlagen in einen in der Zeit von „Darüber“ an mich geschriebenen, inzwischen vergilbten Tagebuch-Brief. Davon hatte er mir nie etwas gesagt.
Einige Passagen aus diesem Brief:

„Sonngesichtchen Lilchen!
Heute ist der 1. Februar. Seit einem Monat will ich diesen Brief anfangen. Genauer – seit 35 Tagen. Das waren mindestens 500 Stunden ununterbrochenes Nachdenken!
Ich schreibe, weil ich einfach nicht länger nachdenken kann (der Kopf platzt, wenn ich es nicht ausspreche), weil jetzt, wie ich meine, sowieso alles klar ist (relativ freilich) und drittens, weil ich fürchte, mich bei unserem Wiedersehen so rasend zu freuen, daß Du das alte Zeug bekommst, das heißt, daß ich es Dir in der Verpackung von Freude und Witz andrehe. Ich schreibe diesen Brief mit großem Ernst. Ich werde nur morgens schreiben, wenn der Kopf noch rein ist, noch unberührt von der Erschöpfung, Gereiztheit und dem Grimm des Abends.
Für alle Fälle lasse ich einen breiten Rand, daß ich anmerken kann, was ich mir anders überlegt haben sollte.
Ich werde mich bemühen, alle Art ,Emotionen‘ und ,Klauseln‘ zu vermeiden.
Dieser Brief enthält nur, was ich genau erwogen und in diesen Monaten revidiert habe – nur Fakten… Du wirst ihn lesen und ein Augenblickchen lang an mich denken. Ich bin über Dein Dasein, über alles, was Du bist, selbst wenn es in keiner Beziehung zu mir steht, so unendlich froh, daß ich nicht glauben mag, ich meinerseits sei Dir ganz unwichtig.

[…]
Was mit dem ,Alten‘ machen?
[…]
Kann ich ein anderer werden?
Es will mir nicht in den Kopf gehen, daß ich so geworden bin.
Ich, der
[vor einem] Jahr sogar die Matratze, sogar das Bänkchen aus dem Zimmer geschmissen hat, ich, der dreimal solch ein ,nicht ganz normales‘ Leben wie dies jetzt geführt hat – wie konnte ich es wagen, mich so von der Wohnungsmotte zerfressen zu lassen.
Das soll keine Selbstrechtfertigung sein, Sonngesichtchen, es ist nur ein neues Indiz gegen mich, neues Zeugnis dafür, daß ich es war, der sich fallenließ.
Doch, Kindchen, welche Schuld ich auch trage, meine Strafe reicht für eine jede aus.
Jetzt gibt es für mich weder Einfachvergangenes noch Längstvergangenes mehr, es gibt nur ein einziges, bis auf den heutigen Tag andauerndes, unteilbares Grauen. Grauen ist kein Wort, Lilchen, sondern ein Zustand – allen Variationen von Menschenleid gäbe ich jetzt ein Bild in Fleisch und Blut ab. Ich nehme meine Strafe als verdient an. Aber ich will keine Gründe haben, ihr von neuem ausgesetzt zu werden. Das Vergangene in Hinblick auf Dich bis zum 28. Februar – existiert nicht mehr, weder in Worten, Gedanken noch Handlungen.
In keiner Weise, keiner Sekunde, keinem Falle wird wieder dieser Alltag sein! Nichts von den alten Dingen wird wieder aufkommen,
dafür verbürge ich mich. Wenigstens das garantiere ich Dir. Wenn mir das nicht gelingt, sehe ich Dich nie wieder, selbst wenn Du mich wiedersehen und Dich mir wieder zuwenden solltest – wenn ich wieder den Beginn eines Alltags sehe, laufe ich weg (lustig für mich, so etwas jetzt zu sagen, für mich, der zwei Monate allein dafür lebte, Dich am 28. Februar um 3 Uhr zu sehen) […].
Das Wichtigste – mein Vorsatz, durch nichts, nicht einmal einen Atemhauch, Dein Leben zu schmälern. Daß es Dir nur einen Monat, nur einen Tag ohne mich besser als mit mir geht, das ist ein guter Hieb.
So mein Wunsch, meine Hoffnung. Wie groß meine Kraft ist, weiß ich jetzt nicht. Sollte es an der lieben Kraft um ein Geringes fehlen – hilf, Kindchen. Wenn ich ganz zum Lappen werde – wischt mit mir den Staub von Eurer Treppe. Mit dem alten Zeug ist Schluß.
(3. Februar 1923 1 Uhr 8)
Heute (immer am Sonntag) bin ich nicht gut drauf, noch von gestern her. Besser, ich schreibe nicht. Was mich noch bedrückt: Was den Abschluß meines Poems betrifft, habe ich Osschen irgendwie dumm geantwortet, jetzt sieht es so aus, als wollte ich ein ,Verzeihen‘ erpressen – eine blöde Situation. Ich mache das absichtlich – schließe das Poem
[in diesem] Monat absichtlich nicht ab! Außerdem ist das auch wieder poetisches Alltagszeug – daraus einen besonderen Belang zu machen.1 Wer von dem Poem spricht, denkt sicherlich – da hat er sich aber eine schöne Möglichkeit der Intrige einfallen lassen. Ein alter Trick! Verzeih, Lilchen – wohl aus schlechter Laune bin ich auf das Poem gekommen.
[…]
(4.2.)
Heute bin ich sehr ,guter‘ Laune. Vorgestern dachte ich noch, schlimmer kann es nicht werden. Gestern habe ich gesehen, daß es noch schlimmer sein kann – also ist es vorgestern nicht ganz so schlecht gewesen.
Ein Gutes bei alledem: die letzten Zeilen, mir bis gestern ein Rätsel, sind fest und unumstößlich geworden.
Über mein Sitzen.
Bis auf den heutigen Tag sitze ich minutiös ehrlich, ich weiß, so werde ich bis 3 Uhr des 28. sitzen. Warum ich sitze? Weil ich liebe? Weil ich
mich verpflichtet habe? Wegen Beziehungen?
Keinesfalls!!!
Ich sitze, weil ich es will, weil ich über mich und mein Leben nachdenken will.
Selbst wenn es anders wäre, ich will und werde glauben, daß es so und nicht anders ist. Sonst hätte das alles weder einen Namen noch eine Rechtfertigung.
Nur in diesem Glauben kann ich Dir, ohne mich zu verzerren, schreiben, daß ich ,mit Vergnügen sitze‘ usw.
Kann man überhaupt so leben?
Man kann, aber nicht lange. Wer allein diese 39 Tage so zugebracht hat, darf sich kühn das Zeugnis seiner Unsterblichkeit ausstellen lassen.
Darum kann ich zur Gestaltung meines künftigen Lebens auf der Basis dieser Erfahrungen noch nichts aussagen. Keinen dieser 39 Tage werde ich in meinem Leben wiederholen.
Sprechen kann ich nur von den Gedanken, Überzeugungen und Annahmen, die sich bis zum 28. bei mir formieren, um den Punkt zu bilden, von dem alles andere ausgeht, einen Punkt, von dem aus ich soviel Linien ziehen kann, wie ich Lust habe und wie ich will. Wenn Du mich vorher nicht gekannt hättest, wäre dieser Brief überflüssig, würde sich alles durchs Leben entscheiden. Weil sich aber, wie Du findest, bei unserem einstigen Gepaddel Millionen Krebse an mich gehängt haben – Gewohnheiten und sonst
[iger] Unrat –, brauchst Du außer meinem Namen bei einer Empfehlung noch diesen Wegweiser.
Nun davon, was geschafft wurde.

Liebe ich Dich? (5.2.23)
Ich liebe, liebe Dich, allem zum Trotz und allem zum Dank, ich habe Dich geliebt, liebe Dich und werde Dich lieben, gleich, ob Du grob oder zart zu mir bist, mir oder einem andern gehörst. Ganz gleich – ich liebe Dich. Amen. Komisch, es aufzuschreiben, weil Du es weißt.
Ich wollte hier furchtbar viel schreiben. Habe extra einen Tag pausiert, um noch mal genau zu überlegen.
Aber heute morgen ist mir, als ginge Dich das alles nichts an – ein unerträgliches Gefühl.
Nur weil ich für mich Protokoll führen wollte, sind diese Zeilen entstanden.
Ich glaube kaum, daß Du das hier jemals lesen wirst. Mit mir selbst muß ich aber nicht lange polemisieren. Wie schwer, daß gerade um die Tage, wo ich gern stark für Dich wäre, dieser unendliche Schmerz auch am Morgen da ist. Wenn ich gar nicht mehr weiterkann, höre ich mit dem Schreiben auf.
(6.2.23)
[…] Noch mal von meiner Liebe. Von meiner vermaledeiten Tätigkeit. Schöpft die Liebe alles für mich aus? Alles, nur anders. Liebe ist Leben, das Wesen. Aus ihr entwickeln sich die Gedichte, die Taten und alles andere. Die Liebe ist von allem das Herz. Wenn es zu arbeiten aufhört, stirbt alles andere ab, wird unnütz, sinnlos. Wenn es aber arbeitet, wird dies überall zum Ausdruck kommen. Ohne Dich (nicht ohne Dich ,auf Reisen‘, innerlich ohne Dich) höre – ich auf. So war es immer, so ist es auch jetzt. Doch ohne  ,Tätigkeit‘ bin ich tot. Bedeutet das aber, daß ich so oder so sein kann, nur um mich an Dich ,zu klammern‘? Nein. Eine Situation wie die, von der Du beim Abschied sagtest:  „Was tun? Ich bin keine Heilige, ich finde  ,Teetrinken‘ schön“ – so was ist bei Liebe absolut ausgeschlossen.
[…]
Ich werde nur tun, was meinem Wünschen und Wollen entspringt.
Ich fahre nach Pieter.
Ich verreise, weil ich zwei Monate gearbeitet habe und erschöpft bin, ich will mich erholen und zerstreuen.
Die überraschende Freude dabei – dies entspricht auch dem Reisewunsch einer Frau, die mir furchtbar gefällt. Ob zwischen uns etwas sein kann? Kaum. Überhaupt ist sie viel zu unaufmerksam zu mir. Aber ich bin ja auch keine Kleinigkeit – ich werde ihr zu gefallen versuchen.
Wenn aber doch, was dann? Man wird sehen. Ich hörte, diese Frau kriegt alles schnell über, Scharen Verliebter leiden um sie, einer hat kürzlich fast den Verstand verloren. Vor solchem Zustand muß ich mich hüten.
Damit meine Hand im Spiel bleibt, lege ich von vornherein die Rückreise fest (Du wirst denken, egal, womit sich das Kind tröstet, Hauptsache, es weint nicht, was solls, ich fange damit aber an). Am Fünften bin ich wieder in Moskau, ich mache alles so, daß es gar nicht anders geht, als am Fünften wieder in Moskau zu sein. Du wirst das verstehen, Kindchen. (8.2.23)
[…]
Liebst Du mich?
Für Dich eine seltsame Frage wahrscheinlich. Daß Du liebst, ist klar. Aber liebst Du mich? Und liebst Du mich so, daß ich es ständig fühlen kann?
Nein. Das habe ich Ossja schon gesagt. Deine Liebe ist nicht Liebe zu mir, sondern Liebe überhaupt, zu allem. In ihr habe auch ich einen Platz (vielleicht sogar einen großen), wenn ich aber sterbe, scheide ich wie ein Stein aus dem Bach aus, und Deine Liebe fließt über alle anderen hin. Ist das schlecht? Nein, für Dich ist es gut, so würde ich gern lieben.
[…]
Kindchen, Du liest das und denkst – alles falsch, er hat nichts begriffen. Strahlchen, selbst wenn es anders wäre, so wird es jedenfalls von mir
empfunden. Gewiß, Kindchen, Du hast mir Petersburg geschickt, aber wie konntest Du nicht bedenken, Kindchen, daß dies ein halber Tag Haftverlängerung ist! Überleg doch, man ist zwei Monate auf Reisen, braucht zwei Wochen für die Rückfahrt – und muß einen halben Tag auf das Einfahrtssignal warten!
[…]
14.2.23
Lilja-Kind – all das schreibe ich Dir nicht zum Vorwurf, sollte es anders sein, liebend gern würde ich alles noch mal umdenken. Ich schreibe, damit es Dir klarwird und – damit Du ein wenig an mich denkst.
Wenn ich nicht ein wenig ,Leichtigkeit‘ bekomme, bin ich für keine Art Leben mehr tauglich. Dann kann ich nur sitzen, wie jetzt, und mit einer sonderbaren physischen Mühe meine Liebe beteuern.
[…]
Ideale Ehen gibt es nicht, alle Ehen platzen. Aber vielleicht – ideale Liebe. Und Liebe läßt sich nicht abstellen durch ein ,Muß‘ oder ein ,Unmöglich‘ – nur durch den freien Wettstreit mit der ganzen Welt.
Ich will dieses ,
muß kommen‘ nicht!
Ich liebe es unendlich, wenn ich nicht kommen muß, um unter Deinen Fenstern zu lungern oder zu warten und wenigstens einen Härchenschimmer von Dir hinter der Autoscheibe zu erhaschen.
[…]

Der Dichterberuf ist ein gefährlicher Beruf. Er pumpt die Seele aus und das Herz und die Nerven!
Oft muß ich an eine Sentenz von Brik denken: Reich ist nicht, wer viel, und arm nicht, wer wenig Geld hat. Der Reiche hat mehr Geld, als er braucht (er braucht drei Rubel und hat fünf), und der Arme – weniger, als er braucht (er hat drei Tausender und braucht zehn).
Und bei Brik ist nachzulesen: 

Majakowski versteht unter Liebe dies: Wenn du mich liebst, heißt das – du gehörst mir, bist mit mir, bist für mich, immer, überall, unter allen Umständen. Du kannst nicht gegen mich sein, niemals, egal, ob ich im Unrecht, egal, wie ungerecht oder verletzend ich bin. Du wirst immer für mich stimmen. Jede noch so kleine Abweichung oder Schwankung ist Verrat. Deine Liebe muß unumstößlich sein wie ein keine Ausnahme kennendes Naturgesetz. Ausgeschlossen, daß ich auf die Sonne warte, die Sonne aber nicht aufgeht. Ausgeschlossen, daß ich mich nach einer Blume bücke und die Blume wegläuft. Ausgeschlossen, daß ich eine Birke umarme und die Birke sagt: Laß mich.
Seiner Auffassung nach ist Liebe kein Willensakt, sondern ein Zustand des Organismus, wie Gewicht oder die Schwerkraft.
Hat es Frauen gegeben, die ihn so liebten? Ja. Hat er sie geliebt? Nein! Er nahm sie zur Kenntnis. Hat er selbst so geliebt? Ja, aber er war genial. Seine Genialität hat alle Schwerkraft überwogen. Wenn er Gedichte sprach, hob sich die Erde, um besser zu hören. Freilich, hätte er auf einem für Gedichte unempfindlichen Planeten gelebt… Aber so war es nun einmal nicht!

In der Tat, so war es nicht. Doch er redete sich das Gegenteil ein – um darüber zu schreiben, um sich selbst ins Gefängnis zu sperren, der „schändlichen Vernunft“ zu widerstehen.
Majakowski war einsam, ja, doch war er dies nicht, weil er keine Liebe, keine Anerkennung gefunden oder keine Freunde gehabt hätte. Man druckte ihn, las ihn, hörte ihm in hellen Scharen zu. Zahllos die Leute, die auf ihn schworen, ihn liebten. Aber das alles war für ihn wie ein Tropfen auf den heißen Stein, für ihn, in dessen „Seele ein unersättlicher Räuber“ saß, der von denen, die ihn nicht lasen, gelesen, von denen, die ihn nicht beachteten, beachtet, von denen, die ihn angeblich nicht liebten, geliebt sein wollte:
Da kann man nichts machen!
Um 3 Uhr des 28. Februar lief unsere Trennungszeit aus, um 8 Uhr abends ging unser Zug.
Als ich zum Zug kam, konnte ich Majakowski auf dem Bahnsteig nicht finden. Er stand auf dem Trittbrett unseres Abteils.
Als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, sah er mich zärtlich und forschend an, lehnte sich an die Tür und trug mir sein Poem „Darüber“ vor. Dann weinte er erleichtert…
Oft in diesen zwei Monaten hatte ich mir Vorwürfe gemacht, weil er unter der Einsamkeit litt, ich aber weiterlebte wie vorher, mich mit Bekannten traf, ausging. Jetzt war ich froh. Das Poem wäre nicht entstanden hätte ich nicht in Majakowski mein Ideal und ein Menschheitsideal sehen wollen. Das mag übertrieben klingen, aber so war es. 

Liebe, Eifersucht, Freundschaft waren in Majakowski ins Hyperbolische gesteigert, aber Gespräche darüber mochte er nicht. Er dichtete immer, unentwegt, und in seine Dichtungen flossen seine Empfindungen unvermindert ein.
Hätte er, sagen wir, irgendwelchen Mädchen beim Spaziergang am Meer großartig erzählt: So und so sah der Dampfer Theodor Nette aus, als er im Hafen einlief, so und so habe ich diesen Anblick erlebt, das und das dabei empfunden, ein vorzügliches literarisches Thema!, dann hätte er vielleicht als unterhaltsamer Gesprächspartner gegolten, aber das Gedicht wäre nicht entstanden, das es auslösende Gefühl wäre verpufft gewesen. Majakowski war witzig und geistreich wie kein zweiter aber alles andere als ein „Gesprächspartner“. Bei Spaziergängen konnte er stundenlang schweigen.
Thema seiner Gedichte waren fast immer seine eigenen Empfindungen. Das gilt selbst für Gedichte wie „Nur bei Mosselprom“. Nicht nur, daß er andere dazu agitierte, auch selbst kaufte er nicht bei Einzelhändlern. Viele seiner Gedichte „aus Anlaß“ sind bis heute lebendig, wir lesen sie mit Vergnügen oder Trauer, je nach Art des „Anlasses“.
Lediglich das Wort zu ergreifen, sich lediglich zu äußern, auch wenn im Vers, genügte Majakowski nicht.
Er wollte überzeugen. Wenn er meinte, es nicht geschafft zu haben, verdüsterte er sich und verfiel in mißmutiges Schweigen. Wenn man nach seinem Vortrag, ohne sich mit längeren Debatten aufzuhalten, zu Abend essen ging oder sich dem Tee zuwandte, wurde er schwärzer als eine Gewitterwolke.
Es heißt immer, als er jung war, habe er kompliziert geschrieben, mit den Jahren sei er „immer einfacher“ geworden. Das stimmt nur halb. Er wußte, daß die vielbeschworene „Einfachheit“ keine Errungenschaft, sondern Banalität war. Und nichts fürchtete er mehr als Banalität. Mit gewissen „Vereinfachern“ und „Verkomplizierern“ der Poesie lag er sein Leben lang in Fehde.
Ein junger Dichter las ihm seine neuesten Gedichte vor, gute Gedichte. Majakowski mochte ihn. Er hörte aufmerksam zu, sagte dann aber gereizt:

Diese Tricks habe ich einfach satt. So kann man nicht mehr schreiben, ich mache das jetzt anders, schreibe wie keiner vorher, daß was ganz Neues rauskommt.

Diese Bemerkung habe ich mir damals notiert, sie fiel am 9. September 1929.
1932 sah ich in Berlin einen alten amerikanischen Tonfilm. Auf deutsch heißt er Das Mädel aus Havanna. Bertolt Brecht hatte ihn mir empfohlen. Als ich wieder in Moskau war und immer von neuem Majakowskis Manuskripte durchsah, stieß ich auf eine Notiz, mit der ich vorher nichts anfangen konnte. Sie war eindeutig der Inhalt dieses Films. Ein außergewöhnliches Faktum. Außer Verszeilen, die ihm eingefallen waren, und Adressen und Telefonnummern hat sich Majakowski grundsätzlich nichts notiert.
Hier die Notiz:

Schlägerei
Gefängnis
    stürmische Jugend.
Braut
Exzentrische Art der Bekanntschaft.
Skandal bei der Polizei.
Mädchen rennt weg.
Exotische Liebe (mit Beischlaf?).
Wird zurückbeordert – sonst Deserteur.
Schmerzlicher Abschied.
Solides Leben – Ehefrau.
Das Lied – jähe Erinnerung.
Trinkt. Hält es nicht mehr aus.
Läuft zum Hafen (Rückkehr der Jugend), fährt los.
Für die bürgerliche Ideologie ist das Mädchen gestorben.
Findet seinen Sohn.
Glückliches Ende.
Eigentlich müßte er seine Frau sitzenlassen und mit dem am Leben gebliebenen Mädchen zurückkommen.

Der Inhalt ist ziemlich simpel. Ein junger Matrose wird, kurz bevor sein Schiff nach Havanna ausläuft, wegen einer Schlägerei aufs Polizeirevier gebracht. Seine Braut, die er nach seiner Rückkehr heiraten will, kommt sich von ihm verabschieden. In Havanna fährt er mit seinem Ford versehentlich einen mit Nüssen beladenen Eselskarren an, auf dem ein Mädchen, die Nußhändlerin, steht und singt, um Kunden anzulocken. Der Karren kippt um. Das Mädchen macht Krawall, schleppt ihn zur Polizei und läuft weg. Er sucht sie, und es entspinnt sich zwischen ihnen eine leidenschaftliche Romanze. Exotische Natur, ein Bach im Wald. Doch der Matrose muß in die Heimat zurück, sonst gilt er als Deserteur. „Schmerzlicher Abschied.“ Er fährt heim. Zu Hause: „Solides Leben – Ehefrau.“ Es vergehen mehrere Jahre. In einer Spelunke hört er das Lied des Mädchens von Havanna wieder. „Jähe Erinnerung.“ Er läuft zum Hafen („Rückkehr der Jugend“) und nimmt das erstbeste Schiff nach Havanna. Dort erfährt er, daß das Mädchen vor kurzem gestorben ist, aber einen Sohn (ihren und seinen) hinterlassen hat. Er sucht ihn und nimmt ihn zu seiner Frau mit, die ihm verzeiht und den Jungen annimmt.
Warum war Majakowski von diesem Film beeindruckt? Der Film ist mit höchster Meisterschaft gemacht, ohne daß man sieht, wie. Die künstlerischen Mittel sind so fein, daß man sie gar nicht bemerkt. Jede Einstellung, jeder Schnitt, jede Bewegung, jeder Laut sind so außerordentlich gut, daß man keinerlei Technik spürt. Man spürt weder den Regisseur, den Ausstatter, den Kameramann noch den Darsteller. Man wohnt einem fremden Leben bei, ist von ihm gepackt. Der Film zwingt, alles so zu erleben, wie seine Autoren es wollen, ohne daß einem das mindeste aufgedrängt, auf irgendwas mit dem Finger hingewiesen wird. Der Zuschauer würde nicht auf die Idee kommen, zu sagen: „Hervorragend, die Aufnahme am Bach“ oder: „Die Schauspielerin in der Abschiedsszene – einfach perfekt!“ Nein, am Bach im Wald ist ihm angenehm kühl, fühlt er sich wohl, beim Abschied leidet er so mit, daß er lange daran zurückdenken muß. Dennoch gibt es da keine Spur Naturalismus – kein schmerzverzerrtes, von Glyzerintränen nasses Schauspielergesicht in Großaufnahme oder dergleichen. Der Film ähnelt unserem Tschapajew – den Majakowski nicht mehr gesehen hat – und den heutigen Filmen aus Italien. Von der gleichen Art sind auch Majakowskis letzte Gedichte.
Seit Jahren frage ich Fachleute über diesen Film aus. Alle meinen – ausgeschlossen, daß Majakowski ihn gesehen hat, er kam erst nach seinem Tode heraus. Aber ich werde weiterfahnden. Ob er ein Buch gelesen oder ein Stück oder eine Operette gesehen hat mit dieser Fabel? Unwahrscheinlich. Die Fabel ist eigentlich nicht interessant genug, um Majakowskis Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht das Drehbuch ist hier der Angelpunkt, sondern die Machart. Ich habe mir den Film mehrmals angesehen. Fühlte mich von ihm angezogen wie von einem echten Kunstwerk.
Vor kurzem sah ich ihn noch mal in unserer Filmothek. Heute würde er wohl keinen Hund hinterm Ofen mehr vorlocken. Die Filmtechnik ist inzwischen ein ganzes Stück weiter. Aber damals fanden ihn sowohl ich, Brecht und seine Freunde als auch Boris Berner, der gerade ebenfalls in Berlin war, einfach erstaunlich. Daß er erst nach Majakowskis Tod abgeschlossen wurde, erkennt man übrigens an einer Aufnahme, in der ein Kalender von 1931 zu sehen ist.
Möglicherweise stimmt Wassili Katanjans Vermutung, daß man Majakowski den Filminhalt erzählt hat und die Dialoge in Auftrag geben wollte. Um diese Zeit entstand auch sein Libretto Das Ideal und die Decke. Es ist bekannt, daß er in Paris Kontakte zu Filmleuten hatte.
Doch zurück zu Majakowskis angeblicher „Einfachheit“ oder „Kompliziertheit“. Erst schimpften die Philister, er schreibe unverständlich, dann rieben sie sich schadenfroh die Hände, weil er angeblich die Suche nach neuen Formen zugunsten der „guten alten Jamben“ aufgegeben hatte.
Weder das eine noch das andere trifft zu. Majakowskis „Unverständlichkeit“ ist das bei jeder Rekonstruktion entstehende scheinbare Chaos. Der Ochotny rjad wurde aufgebaggert, und die Passanten fanden sich nicht mehr zurecht, fanden nicht mehr auf den Twerskoi-Boulevard hinaus. Inzwischen haben sie sich an die Gorki-Straße gewöhnt, als hätte sie schon immer so geheißen.
Majakowski ließ es gewissermaßen beim Ochotny rjad nicht bewenden, er zog den Kreis weiter – versetzte die Häuser, baute die Gassen so radikal um, daß die alten Zentralstraßen wie Gassen aussahen. Erst entrüsteten sich die Philister: „Frechheit! Unser Mütterchen Poesie ist nicht wiederzuerkennen!“, dann schickten sie sich darein. Doch da kam Majakowski mit seiner nächsten neuen Ordnung. Die Philister, die sich gerade mit Ach und Krach an das andere gewöhnt hatten, wetzten von neuem die Zungen – er sei reumütig zum klassischen Vers zurückgekehrt, habe kapituliert –, übersahen aber dabei, daß da kein „guter alter Jambus“ war, sondern eine neue hohe Stufe der Meisterschaft, der man keinerlei Arbeitsmühe mehr anmerkte.
Da meint nun der in Jamben schreibende junge Dichter, ein Suchen nach Neuem sei Unsinn. Hat Majakowski nicht gesucht und gesucht und ist er schließlich nicht auch auf das Alte gekommen? Fange man also an, wo Majakowski angelangt ist – man lege in die von Majakowski amnestierte alte Form einen neuzeitlichen Inhalt, und man hat den neuen Vers. Ein Irrtum, denn man hat keinen Vers, sondern irgendein „Reim-dich-oder-friß-dich“, etwas Laues, Blutarmes, das keinen überzeugt und allen längst bekannt ist.

Fremde Verse pflegte Majakowski auf Schritt und Tritt und aus verschiedenstem Anlaß zu zitieren. Die einen, weil sie ihm besonders gefielen (Lermontows „Stelldichein“, Blocks „Unbekannte“, Chlebnikows „Auf der Insel Esele“, Swetlows „Grenada“, sehr, sehr oft Pasternak), die anderen, um sich über sie lustig zu machen. Manche führte er in der Polemik als Beispiele an, wie man Verse machen soll und wie nicht.
Aber meistens untermalte er mit ihnen seine augenblickliche Stimmung. Seine Steckenpferde wechselten dabei mit der Zeit, doch auf Bestimmtes griff er immer wieder zurück, so auf „Die Unbekannte“ oder vieles von Pasternak.
Warum weiß ich noch so genau, was Majakowski bei welcher Gelegenheit zitierte? Das meiste weiß ich ohnehin noch, aber manches habe ich aus der verschütteten Erinnerung wieder heraufgeholt, als ich über Majakowskis Verhältnis zu fremden Versen zu schreiben begann. Da nahm ich mir alle Dichter, die Majakowski im Munde geführt hatte, noch mal vor, las sie von A bis Z und stieß dabei auf die entsprechenden mir vertrauten Gedichte, Strophen oder Zeilen.
Oft konnte man sich nach dem, was er ewig und unendlich wiederholte, denken, was ihn gerade beschäftigte. Wenn er von früh bis spät – beim Essen, beim Spazierengehen, beim Kartenspiel oder mitten in einem Gespräch – murmelte:

Ich weiß, wie er getröstet war,
Als gestern ungeniert
Wie ein Besessner der Tatar
Nach Hause galoppiert
.2
(Lermontow: „Stelldichein“) 

– wußte ich, daß er eifersüchtig war.
Genauso, wenn er zur Melodie irgendeines Gassenhauers seinen eigenen Vierzeiler trällerte:

Der Liebe und die Liebe,
zwei Liebe, die sich lieben.
Die Liebe hat den Lieben
ins liebe Grab getrieben.

Man konnte sicher sein, daß er gekränkt war, wenn er sagte:

So viele Bitten hat die Geliebte,
Die nicht mehr Geliebte hat keine mehr…

(Achmatowa)

Natürlich war er verliebt, wenn er sich zum Trost sagte:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaa… O warte,
Das kann einem jeden geschehen!

(Pasternak: „Mit ruhenden Rudern“) 

Oder wenn er säuselte:

Erzähle, wie du geküßt wirst,
Erzähle, wie küssest du.

(Achmatowa: „Der Gast“) 

Gern hörte er Brik vorlesen, und so verbrachten wir manche Nacht bei gemeinsamem Gedichtelesen – Puschkin, Block, Nekrassow, Lermontow, alles hintereinander.
Danach wirbelte ihm das Gehörte im Kopf herum, sprach er immer wieder dies und das vor sich hin.

Drum muß, so hilflos ich verderbe,
Soll nicht zu früh mein Hauch vergehn,
Mir jeder Morgen, eh ich sterbe,
Gewißheit schenken, Sie zu sehn
3
(Puschkin: „Eugen Onegin“) 

Diese Zeilen haben freilich sein Leben lang seinem seelischen Befinden entsprochen.
Als wir uns 1915 kennenlernten, verehrte er niemanden so sehr wie Block. Viel Eigenes hatte er noch nicht geschrieben. Die Wolke, eben abgeschlossen, las er allen Bekannten vor und verfiel spornstreichs wieder auf Block.
Alle lasen und deklamierten wir damals Block, so daß ich nicht genau sagen kann, was Majakowski im einzelnen bevorzugte. Jedenfalls, bei der „Unbekannten“ sagte er immer statt „ohne Begleiter – allein“: „unter den Säufern allein“ und bestand darauf: das passe viel besser, „allein“ sei sonst überflüssig, außerdem spiele das Ganze in einer Spelunke, also unter Säufern. Wenn Gäste sich verabschiedet hatten und gegangen waren, brummte er: „… und versanken in Ozean und Nacht“ oder: „Nie werde ich ihn vergessen (war dieser Abend, war nicht?)“. Ernsthafte Erörterungen über Gott, Christus und die Engel konnte er nicht ausstehen, und die letzten beiden Zeilen des Blockschen Poems „Die Zwölf“, wo es heißt, voran gehe Jesus Christus „im Kranz aus weißen Rosen“, wandelte er ständig ab: „Und im Kranz aus weißen Röschen, Lunatscharski, Narkompröschen“, „Und im Kranz aus weißen Röschen, leisen Tritts Abram Efröschen“ usw.
Wenn er verliebt war, kamen ihm unweigerlich Achmatowa-Verse in den Sinn. Da leierte er manchmal lyrischste, innigste Zeilen zu einer ganz unpassenden Melodie, was jedoch nicht besagte, daß er sich über die Verse lustig machte – Achmatowa schätzte er sehr –, sondern nur anzeigte, daß er seinen überschwenglichen Gefühlen einen ironischen Dämpfer aufsetzen wollte. Strophen aus „Spazierfahrt“ hörten sich bei ihm dann ungefähr so an:

Die Feder streifte das Tuch des Verdääcks.
Und ich sah seine Augen im ernsten Gesiiecht.
Mein Herz erschrak, doch den Grund dieses Schrääcks
Und der Trauer dann wußte es niiecht.

[…]

Benzingeruch und der Duft von Jasmiien,
Und die Stille um uns, wie ein Bogen gespaannt.
Und von neuem regt sich auf meinen Kniien
Seine nahzu nicht bebende Haand.

Sehr oft hörte ich von ihm:

Ich hab nur dies eine Lächeln –
Die kaum hörbare Regung des Munds. 

wobei er aus Achmatowas „kaum merkliche“ ein „kaum hörbare“ machte.
Wenn wir Wein tranken, erklärte er „mit Achmatowa“, nur die Geschlechter des Redenden und Angeredeten vertauschend:

Geh mir, mit dir trink ich keinen Wein,
Weil du keck wie eine bist,
Die sich, Liebe schwörend Stein auf Bein,
Unterm Mond mit jedem küßt.

Als er noch allein wohnte, empfing er mich, wenn ich zu Besuch kam, mit den Worten:

Bin dem Dichter Gast geworden.
Es ist Mittag. Es ist Sonntag
.4

Zu dieser Zeit beschäftigte sich Majakowski mit Achmatowa besonders viel.
Bei seinen Lesungen führte er oft lakonische, wortspielerische Verse von Chlebnikow als Beispiele einer mustergültigen Sprachform an.
Majakowski liebte das Wort als solches, als Material. Merkwürdigste, unsinnigste Wortkombinationen konnten ihn allein wegen ihres Klangs hell entzücken. Das Wort war für ihn dasselbe wie für den Maler die Farbe – die Farbe an sich, noch auf der Palette.
Ein geradezu teuflisches Vergnügen hatte er daran, wohlartikuliert Sewerjanin-Verse zu sprechen und sie damit fast ins Absurde zu ziehen.
Manches von Sewerjanin benutzte er gewissermaßen als Wurfgeschoß für die jeweilige Zielscheibe seines Spotts, die er übrigens nicht selten selber war. Wenn ihm auf der Straße eine gar zu „erlesene“ Dame begegnete, trällerte er: 

In Schwarz ganz, ganz Sterlet, ganz – Pfeil…
(„Müßiggängerin des Südens“) 

1915/16 hatte er eine „Sascha-Tschorny-Phase“. Von Sascha Tschorny wußte er fast alles auswendig, er hielt große Stücke auf ihn. Am häufigsten deklamierte er „Der Sucher“ und „Kleiner Umstand“. Mit oder ohne Grund konnte er in ein Gespräch einflechten:

Es lebte mal ein Anarchist,
Der hatte ’nen gefärbten Bart,
’nen deutschen Schatz bei Petrograd
Und war zu allem noch Sadist.

(„Der Anarchist“) 

Hatte ihn jemand in der Straßenbahn angerempelt, so ließ er ihn wissen:

Jemand hat mich rechts beglückt –
Sich mir auf den Arm gesetzt.

(„Auf der Galerie“) 

In einem Gespräch mit einem Kunstbanausen erklärte Majakowski:

Die Vasen, lieber Theophil,
Sind reiner frühionischer Stil.

(„Stilisten“)

Erzählte er von irgendeinem turbulenten Vorfall, so schloß er mit:

Alles lief zusammen. Ich lief auch.
Mordio schrie alles. Ich schrie auch.

(„Kulturarbeit“)

Der Satiriker Majakowski hat bei Sascha Tschorny viel gelernt.
Anzügliche Erotik mochte er nicht, so was las er weder, noch versuchte er je zu schreiben.
Oft deklamierte er fremde Verse auf der Straße, im Gehen.
1915/16 waren dies meistens solche, die er und Burljuk „wilde Lieder unserer Heimat“ nannten. Wir sangen sie zusammen und marschierten dazu im Takt.
Burljuks Verse etwa (nach der Melodie von „Lange Jahre, lange Jahre, rechtgläubiger russischer Zar“):

Furchtbar gerne fraß er Fliegen
Mit recht fettem Hinterteil
Und besang dies Freßvergnügen
Mit den Freunden alleweil.

Oder:

Schlachter alle klugen Kälber,
Kälber stilln den Appetit.

Achmatowas „Grauäugiger König“ wurde nach der Melodie von „Fuhr ein waghalsiger Kaufmann“ gesungen:

Ruhm dir, ewigwährender Schmerz!
Der grauäugige König ist nicht mehr
5

Wenn Majakowski dies sang, wußten wir, daß er ein wenig verliebt war.

(…)

Moskau 1956–1977

Lilja Brik, aus Lilja Brik: Schreib Verse für mich. Erinnerungen Majakowski und Briefe. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner und herausgegeben von Wassili Katanjan, Verlag Volk & Welt, 1991

 

 

MAJAKOWSKI IN PARIS

Lily Brik liegt auf der Brücke,
von Autos plattgefahren,
unter Sohlen, unter Reifenpaaren
glitzern die Pupillen wie Zehnpfennigstücke!

Leute werfen, was man an Kleingeld hat…
Und wie eine Wunde
ist Majakowski, der beklemmend Frühzeitige,
der Brücke aufgemalt,
ein gerahmtes Spielkartenblatt.

Wie fühlen Sie sich, Dichter und geliebte Frau?
Mit dem Schicksal durchzugehen – das ist genau –,
damit das Antlitz
aaaaaaaaaaaaaaawie ein Hiroshima
aus dem Pflaster schau.

Über ihre Brüste eilt die Menge,
die Seine plätschert Ihren Rücken an,
und das marienkäfrige Buskind,
lustig brummelt es heran,

das ergreift Ihre Herzen!
Die Brücke, duftgebogen,
hat nachts in ihre
aaaaaaaaaaaaaaaAsphaltporen
Paris wie Flieder eingesogen.

Genie, Prasser. Rübenfuturist.
Kuschelte sich an Brücken. War der WELT-Kurier.
Majakowski,
aaaaaaaaaaaes ist nie
aaaaaaaaaaaaaaaaaajemand in Ihrer Ausstellung gewesen?
Wir wären gekommen, wir.

Sie sollten uns etwas lesen.
Verflucht, wir vermissen Sie!

O mit der kleinen Bleiplombe nachts
versiegelte Lippen…
Ihre Wirbelsäule ist keine Flöte,
ist Aluminiumflug der Brückenrippen!

Majakowski, Sie gleichen einer Brücke.
Wie ein Turner über der Zeit
berühren Sie mit den Handflächen uns,
mit den Schuhen: ROSTA-Vergangenheit.

Ihr Platz – eine Brücke.
Autoschnell sprudelt aus dem Tunnelbau,
Majakowski
aaaaaaaaaazu Füßen,
Majakowski,
aaaaaaaaaaIhr Moskau.

Für Sie das dunkle Sprachgewirr der Stadien.
Wie denkt es sich hier?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaWie läßt sich’s atmen?
Majakowski, Genosse Brücke?

Brücke. Paris. Sternlauerblicke.

Am Horizont hat sich das Abendrot geduckt.
Den Himmel ritzt
rote
aaaFlugzeug-
aaaaaaaaaaaspur:
mit der Klinge über das Gesicht gezuckt!

Andrej Wosnessenski
Übersetzt von Bernd Jentzsch

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Instagram +
ErinnerungInternet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

 

Wladimir Majakowski: Ich selbst

Lew Kassil: Majakowskij – persönlich!

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

Hugo Huppert: Die Poetik Wladimir Majakowskis

Alexander Uschakow: Majakowski und Grosz – Zwei Schicksale

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zum Autor + InstagramIMDb +
ErinnerungenTributePennsound + Internet Archive 1 & 2 +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

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