DAS LETZTE
Ferne,
empfange den Obdachlosen,
öffne dein Tal.
Wie ist der Himmel heute?
Zeig mich den Sternen!
Unten
in tausend Kirchen
singt das trauernde All den Choral:
„Requiem Aeternam…“
Die vier in diesem Band vereinigten großen Gedichte gehören nicht nur zeitlich zueinander. Die „Wolke in Hosen“, „Die Wirbelsäulenflöte“, „Der Mensch“, „Krieg und Welt“ – das ist der russische Werther, von 1915 wohlgemerkt!, der zwar die Verzweiflung kennt, aber auch die höhnische Kampfansage an die Unterdrücker, der davon träumt, „auf die Stirn einen Schlußpunkt mit Blei zu setzen“, aber auch den Tag verkündet, „so herrlich, daß Andersens Märchen um seine Füße krochen wie junge Hunde“. In diesen vier Gedichten hat sich Majakowski endgültig in Marsch gesetzt, mit dröhnendem, bitterem Gelächter, schön und zweiundzwanzigjährig, wie er sich selber sieht, kein Jüngling mehr, sondern ein ganzer Mann, Mann des großen Gefühls und Zerreißer der Gefühlchen.
Majakowski hat erzählt, wie die „Wolke in Hosen“ entstand, und welche Schwierigkeiten ihm die zaristische Zensur bei der Veröffentlichung des Gedichtes machte. Zuerst drohte man ihm mit dem Zuchthaus, das er übrigens schon als Sechzehnjähriger kennengelernt hatte, wegen seiner Verbindungen zu den Bolschewiki. Sechs Seiten wurden gestrichen einschließlich des ursprünglichen Titels „Der dreizehnte Apostel“. Majakowski nannte das Gedicht nun „Wolke in Hosen“: auch im Titel noch suchte er sich zu definieren, die Synthese von Grobheit und Zärtlichkeit, die Majakowski hieß. Die Gesellschaftskritik erscheint hier als Literatur- und Religionskritik und ist auf eigentümliche Weise mit Ausbrüchen persönlichster Schmerzen verbunden. Kein Verleger wollte das Gedicht nehmen; die verstümmelte erste Fassung publizierten die Briks, Majakowskis Freunde, und erst die dritte Auflage im Frühjahr 1918 enthielt alle bisher von der Zensur unterdrückten Stellen. Die Reaktion hatte das Werk richtig eingeschätzt: es handelte sich nicht einfach um eine beliebige futuristische Dichtung, sondern um einen unüberhörbaren politischen Protestschrei. Die Regierungsclique erschrickt vor der Vision, die bereits das Jahr 1916 im „Dornenkranz der Revolutionen“ erblickt; sie steht mit kaltem Grauen vor dieser Manifestation unbändiger Kraft. „Loslassen! Ihr könnt mich nicht halten!“ heult Majakowski. Die ihn aber als Frechling und Zyniker abtun wollen, warnt er:
Diese wenig schmeichelhaften Bezeichnungen konnten nur entstehen, weil seine (Majakowskis) Werke mit bemerkenswerter Oberflächlichkeit gelesen und absolut nicht verstanden wurden.
Die „Wolke in Hosen“, die wahrhaftig wie eine Windhose auf die Religion losfährt (wie man weiß, hat die Kirche im alten Rußland eine besonders finstere Rolle im Kampf gegen die Revolution gespielt), wendet sich vor allem gegen die schwächlichen Dichterlinge von der Art Sewerjanins, die die Scheußlichkeiten der Gegenwart mit humanitärem Geschwafel zudecken wollen.
Das Leid Majakowskis ist wirkliches Leid. Selbst die Leute, denen der Ausdruck dieses Leids in den Frühwerken des Dichters auf die zarten Nerven ging, mußten die Realität dieser Schmerzen einer gefolterten Menschheit begreifen. Es gibt Stellen in diesen Gedichten, wo Majakowski, im zweiten Kriegsjahr, nur noch tränenlos und mit heiserer, fast unhörbarer Stimme hervorstoßen kann:
Mutter!
Ich kann nicht mehr singen!
Die Chöre des Herzens qualmen wie Lunte.
Darum gerade wird in den Gedichten, in denen persönliches mit weltweitem Leid verschmilzt, die Dichtung des Sozialismus geboren. Seine Arbeit ist für Majakowski eine ernste, eine tragische Sache: er erblickt sich selber, mit Worten auf Papier genagelt; aber er sieht in seiner eigenen nur die allgemeine Tragödie und wird zum Rebellen, und auch dann keineswegs zum verzweifelten Abenteurer, sondern zum verzückten Propheten, der, nachdem er die Verruchtheit des Imperialismus durchschaut hat, den kommenden Menschen besingt, jenen Menschen, der dem Reich „Leprosorien“ entronnen ist.
Im Oktober 1915 war Majakowski zum Militär eingezogen worden. Wir besitzen eine wichtige Äußerung von ihm über diese Epoche. „Eine lausige Zeit“, schreibt er, „ich winde mich durch und zeichne Vorgesetztenporträts. In meinem Kopf reift ,Krieg und Welt‘, in meinem Herzen ,Der Mensch‘.“
Der Kopf ist dem Herzen voraus. Was in der „Wolke“, der „Wirbelsäulenflöte“, im „Menschen“ anklingt, ist in „Krieg und Welt“ gedacht, gewußt. Majakowski hat gewisse Illusionen über den Charakter des imperialistischen Krieges – dem er übrigens von Anfang an mit Abscheu gegenüberstand – verloren; sein revolutionärer Optimismus ist gewachsen. Nirgendwo sonst finden wir eine so wuchtig-polyphone Abrechnung mit den Kriegsverbrechern, nirgendwo sonst begegnen uns hinreißender die Geschöpfe der Zukunft. Wir wissen, daß Majakowski in diesen Jahren sehr viel Whitman gelesen hat, und wir finden ohne Mühe Anklänge an den großen amerikanischen Dichter einer echten menschlichen Demokratie. Aber ich behaupte, daß Majakowski seinen Vorgänger bei weitem übertrifft in der Erkenntnis der realen Kräfte und Gegenkräfte der Zeit, in der Macht der poetischen Beschwörung, im Strahlen der Wirklichkeit werdenden Utopie. Von hier an darf Majakowski mit Recht von sich sagen, daß er ein „Bolschewist der Kunst“ sei; von nun an versteht es sich, daß Majakowski die Oktoberrevolution als seine Revolution ansieht und in den Smolny zur Arbeit geht. Von diesen Gedichten aus führt ein gerader Weg zu den Dichtungen „Wladimir Iljitsch Lenin“ und „Gut und Schön“, in denen Majakowski zehn und zwölf Jahre später sein Höchstes geben wird, in denen er einen neuen Abschnitt der Zukunft visiert. Jener Zukunft, deren er damals schon so sicher ist, daß er uns in den frühen Versen von „Krieg und Welt“ zurufen kann:
Wälz der Verzweiflung Lawine von der Brust,
Entfeßle den Tastsinn fürs kommende beßre Sein!
Stephan Hermlin, Vorwort
des jungen Majakowski. Ihre Entstehungszeit fällt in die Jahre des ersten Weltkrieges. Ihn attackiert der Dichter mit aller Stimmgewalt und Leidenschaft, die ihm zu Gebote stehen. Schon sie kennzeichnen Majakowski als eine sich außerhalb des Gewohnten und des herkömmlichen entfaltende Begabung und als den zukünftigen bedeutendsten Lyriker der Sowjetepoche. Mit ihrer sprachlichen Kühnheit, ihrem ungeheuerlichen Pathos und mit ihrer fast die Zeilen sprengenden Bildkraft sind die Gedichte ein Ereignis in der Entwicklung der sowjetischen Lyrik. Sie galten bisher als unübersetzbar. Die Leistung des Übersetzers, A.E. Thoß, mag daran ermessen werden.
Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1949
1
Majakowski hat nicht „Widmungskitt und Memoirenkitsch“ verhöhnt, damit wir die jetzt wieder unverdrossen an unsere „Gedächtnisgitter“ klatschen, Dem Denkmäler bauen? Aus welchem Material wohl? Und sowieso: „Ich legte drunter Dynamit…“ Es sei denn, man erinnerte sich, daß er den Ozean zum Freund hatte, den „älteren Bruder der Revolution“. Es sei denn, man nähme diesen Vers zum Entwurf:
Wär zufällig
aaaaaich
aaaaaaaadie Vendomesäule, –
ich heiratete
aaaaaden Konkordiaplatz.
Es sei denn, man hielte sich an sein Einverständnis mit einer Lösung, von der er schrieb:
Neu und schön fand ich das Cervantes-Denkmal, eine Kopie desjenigen von Sevilla. Ein erhöht gelegener Platz, rundherum steinerne Sitzbänke, in der Mitte ein Springbrunnen, sehr vonnöten bei der mexikanischen Hitze. Bänke und niedrige Wände sind belegt mit Fliesen; darauf einfache Darstellungen in der Art der Volksbilderbogen, die die Abenteuer Don Quijotes erzählen. Klein zu beiden Seiten – der Don und Sancho Pansa. Kein Bildnis des schnurr- oder spitzbärtigen Cervantes. – Statt dessen zwei Schränkchen mit seinen Büchern…
So nur – inmitten der Erfindungen seiner Phantasie, zu ebener Erde – werden wir mit Majakowski reden können. Er war nicht der Freund des Ozeans und als Vendomesäule nicht verliebt in den Konkordiaplatz, damit wir seine Riesengestalt anstaunen, sondern damit wir unsere Zaghaftigkeit aufgeben und mit ihm und vor allem mit uns nicht anders umgehen als er mit den Elementen, Bauwerken und Dichtern:
Ich weiß noch:
aaahier war ich einst
aaaaaaSchota Rustaweli
und liebte
aaadie Königin
aaaaaaTamara.
2
Majakowski ging gegen angesichts „kleiner Tatsachen Alltagstop“, gegen „Scheinliebe der Glucke. Kleinliebe des Kückens“ und gegen die üble Nachrede :
Merkt auf, ihr Leser!
aaaaaBleibt unverdorben!
Sagt jemand,
aaaaaich wäre mit Churchill intim
und hätte um Coolidges Tante geworben,
so bitt ich:
aaaaamißtraut nicht mir,
aaaaaaaaaasondern ihm!
Aber er hat die konkreten Schwierigkeiten seiner Tage nicht metaphorisch überrannt: sein Gedicht verhandelte die Angelegenheiten der Stunde, „Tamara und der Dämon“ (1924) zum Beispiel ist nicht nur (was viel wäre ohnehin) die grimmig-fröhliche Umkehrung der altes Legende von der männermordenden Fürstin, mündend in ein Gelage, an der auch Lermontow teilnimmt (der das Sujet vor neunzig Jahren schon einmal verwendet hatte), sondern gleich noch ein origineller Lokaltermin in den aktuellen Kunstdebatten. Jessenin kommt vor, der betrunken auf der Polizei krackeelt hatte. Pasternak – der „schreibtolle Exarch“. P.S. Kogan, der „Kunstwart“ – er war bis 1929 Präsident der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften. Und Lunatscharski, dem der Sprecher des Gedichts zutraut, er hätte den brausenden Terek, den „Heidenspektakel“ eigens „hier / organisiert / auf der Reise ins Bad“. Wir haben gut lachen. Die Leute lebten und waren im Amt.
Freilich gab es für diesen souveränen, gleichberechtigten Umgang eine Bedingung: man durfte mit sich selbst auch nicht zimperlich sein. Das höre man sich an:
Da steh ich,
aaavon Bedauern und Wut durchrauscht,
daß die wildschönen
aaaaaaaaaFelsregionen
in blöder Verblendung
aaaaaaaaaich
aaaaaaaaaaaaumgetauscht
gegen Rummel,
aaaRuhm,
aaaaaaRezensionen
Mein Platz
aaawär hier,
aaaaaanicht in Schöngeist-Revuen,
ich pfiffe
aaaauf Zeilenhonorare –
und heulte,
aaabis daß die Stirnadern glühn,
und risse
aaaam Draht der Gitarre.
Ich kenn meine Stimme:
aaaaaaaaaaaaein scheußlicher Ton,
doch ein unüberhörbares
aaaaaaaaaaaaRöhren.
3
Majakowski ging gegen die dämonische Attitüde, gegen die „religiöse Anbetung“ der Kunst, gegen die kleinliche Besorgtheit um das bißchen Originalität. Aber er hat die Poesie nie für rational auflösbar gehalten, und er hat verbissen gekämpft gegen lediglich angemaßte Poesie.
Sein Nachruf auf Welemir Chlebnikow, der sein Lehrer war und von dem er sagte, seine Biographie sei „ein Beispiel für die Dichter und ein Vorwurf für poetische Geschäftemacher“, schloß: „Hört – doch endlich auf mit den Hundertjahrfeiern und den Ehrungen in Ausgaben nach dem Tod! Aufsätze über die Lebenden! Brot für die Lebenden! Papier für die Lebenden!“
Majakowskis Parteilichkeit ist nicht zu trennen von seiner professionellen Bewußtheit. Die vielgerühmte Experimentierarbeit am Vers, das „Gebrumm“ des „Tonstroms“, die Suche nach dem „komprimierten, konzentrierten, sparsamen Wort“ – das alles ist so sehr an sein Gesamtverständnis von der Funktion des Dichters, von der unbedingten Öffentlichkeit aller Angelegenheiten der Gesellschaft gebunden, daß es nur ganz neu, das heißt auf anderen Wegen erreicht werden kann, wenn eine Majakowski-Nachfolge nicht im Sumpf der Epigonalität landen soll. Und die Anstrengung solcher Wege, ihr Risiko, ihre Ungebahntheit hat Majakowski uns beschrieben:
Unbekannt, woher dieses grundlegend dumpfe Getön kommt. Für mich bedeutet es jederlei innern Widerhall eines Tones, eines, Geräuschs, einer Schwingung oder sogar im allgemeinen den wiederholenden Nachhall einer jeden Erscheinung, welcher ich tönenden Ausdruckswert beimesse. Einen Rhythmus kann das Rauschen der immer wiederkehrenden Meeresbrandung auslösen, ebenso das Hausmädchen, das allmorgendlich die Tür zuwirft, was in ständiger Wiederholung lärmvoll durch mein Bewußtsein klappert; schließlich sogar die Umdrehung der Erde, die bei mir, wie in einem Laden für anschauliche Lehrbehelfe, karikierenderweise, mit dem pfeifenden Auf- und Abschwellen des hierbei erzeugten Windes behaftet ist.
Das Bestreben, die Bewegung zu organisieren, die Geräusche ringsum zu ordnen, ihren Charakter, ihre Eigentümlichkeit herauszufinden, ist eines der Hauptanliegen aller dichterischen Arbeit: die rhythmische Vorfabrikation.
4
Majakowski ging gegen die Einebnung der dichterischen Subjektivitäten. Er hat sein Licht nie unter den Scheffel gestellt. Seine Nachwirkung berechnete er auf „dreihundert Jahr“. Und im gleichen Gedicht – „Gespräch mit dem Steuerinspektor über die Dichtkunst“ – heißt es vernichtend:
Diese
aaaheutigen
aaaaaaOden und Gedichte,
umbrüllt vom Jubel,
aaaaaaaaavom Klatschen umkracht,
gehn einst
aaaals Spesen
aaaaaaein in die Geschichte
dessen,
aaawas zwei, drei von uns
aaaaaaaaavollbracht.
Und doch kam er nicht allein und kam nicht ohne Kämpfe. Heute sieht es gelegentlich so aus, als habe er angesichts des bedauernswerten Zurückbleibens von Legionen anderer Dichter allein die Bürde der Erneuerung getragen, Sicher: Schon die Zeitgenossen waren geneigt, in ihm, wie Boris Pasternak, den „Gipfel der poetischen Situation“ zu sehen (vor der Revolution), und selbst Anna Achmatowa, die Majakowski 1921 fast aus der russischen Poesie „hinausgesäubert“ hätte. schrieb 1940 im Gedicht „Majakowski im Jahr 1913“:
Was du berührtest. schien anders
Als es bisher war. An dessen Zerstörung
Du gingst, zerstört liegts, In jeglichem Wort
Pulste das Urteil.
(Deutsch von Rainer Kirsch)
Doch lebhaft sollten wir uns für die Situation interessieren, deren „Gipfel“ Majakowski war und für das, „an dessen Zerstörung“ er ging. Es war eine menschenfeindliche Welt. 1916 hieß es in „Billiger Ausverkauf“:
Ihr Leute!
Stampft, staubt! dürft Boulevards, Kornfelder zertreten
Rennt, lauft! von Ecken und Enden unsres Planeten:
denn heute grad
wird auf der Nadeshdinskaja
zu Petrograd
die kostbarste Krone gratis verkauft.
Nicht wahr?
als Preis für ein menschliches Wort –
spottbillig, zumindest!
Nun los, geh,
mach den Versuch
mach den Versuch,
tja, such:
wo du es findest!
Umgebung und Vorarbeit zeigen Majakowski in einem ständigen Austausch mit Gleichgesinnten und Kontrahenten. Dir Kunstarbeiter seiner Umgebung waren dabei keine „Unter-Majakowskis“, sondern selbständige, auf ihre Weise störrische und in ihre Sache verliebte Leute: Der Dichter und Maler David Burljuk, der frühe Futurist, der Majakowski „entdeckte“ und später in den USA sozialistische Kunst machte. Der Dichter Sergej Tretjakow, der nach 1930 den deutschen revolutionären Künstlern Brecht, Eisler, Heartfield, Piscator, Becher, Wolf und Graf durch die Demonstration der eigenen Arbeitsweise auch Majakowski handhabbar machte. Der Regisseur Wsewolod Meyerhold, der Stücke Majakowskis Stücke Mysterium buffo, Wanze und Schwitzbad inszenierte. Doch Verbündete hatte er auch bei den Fotomonteuren – Alexander Rodtschenko, bei den Dokumentaristen des Films – Dsiga Wertow, bei den Komponisten Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch, bei den Karikaturisten – die Kukryniksy, bei den Literaturwissenschaftlern – Viktor Schklowski und Juri Tynjanow (die freilich verkappte Schriftsteller waren).
Waren die Freunde schon anders, wie anders waren erst seine Opponenten. Und nicht um das Literatengezänk ging es da natürlich, sondern um die grundsätzliche Zugehörigkeit zur sozialistischen Literatur. Im Juli 1930 erschien Majakowskis Name nicht im Rapport der proletarischen Schriftsteller der RAPP (deren Mitglied der Dichter kurz vor seinem Selbstmord geworden war) an den 16. Parteitag der KPdSU. In dem in der Literaturnaja gaseta veröffentlichten Protest Bruno Jasienskis vom Internationalen Büro für revolutionäre Literatur gegen diese Diskriminierung wird zugleich darauf hingewiesen, daß eine parallel erschienene Bilanz der proletarischen Literatur ohne die Namen Demjan Bedny, Wsewolod Wischnewski, Majakowski, Besymenski und Gladkow sei. Doch auch unmittelbar unter den Dichtern gab es scharfe Debatten um den ergiebigen Weg. So warf zum Beispiel Ilja Selwinski Majakowski vor, er versäume über seiner Jagd nach Aktualität (slobodnewnost) das eigentlich Zeitgenössische (sowremennost), vernachlässige die philosophische Sinngebung der geschichtlichen Vorgänge.
Diese schwierigen Kämpfe um die Arbeitsweisen und das Selbstverständnis des sozialistischen Schriftstellers gehören zum Bild des Dichters und müssen um so genauer überliefert werden, je weiter wir uns von ihnen entfernen. Noch 1934 auf dem Ersten Unionskongreß der Sowjetschriftsteller war Majakowski heftig umkämpft. Nikolai Bucharin, der das Hauptreferat über die Entwicklung der sowjetischen Poesie hielt, orientierte auf die Sprachkultur Boris Pasternaks und Ilja Selwinskis. Die Freunde Majakowskis -Nikolai Assejew und Semjon Kirssanow, aber auch junge Dichter, etwa Alexej Surkow, widersprachen, 1935 erst übte dann Stalins Satz, Majakowski sei und bleibe der beste und begabteste Dichter der Sowjetepoche, den entsprechenden Eindruck aus. Man begreift das Komplizierte dieser Entscheidung, die mit der Durchsetzung Majakowskis auch seine Kanonisierung einleitete, wenn man sich erläuternder Sätze Boris Pasternaks aus seiner Autobiographie Menschen und Situationen erinnert:
Es gab zwei berühmte Sätze über die Zeit. Daß man besser, daß man fröhlicher lebe und daß Majakowski der beste und begabteste Dichter der Epoche sei und bleibe. Für den zweiten Satz dankte ich dem Autor in einem persönlichen Brief, weil er mich vor dem Aufblasen meiner Bedeutung bewahrte, dem ich Mitte der dreißiger Jahre zur Zeit des Schriftstellerkongresses ausgesetzt war. Ich liebe mein Leben und bin mit ihm zufrieden. Ich brauche keine zusätzliche Vergoldung. Ein Leben außerhalb der Verborgenheit und Unbemerkbarkeit, ein Leben im Spiegelglanz der Ausstellungsvitrine ist für mich undenkbar.
Majakowski wurde dann zwangsweise eingeführt, wie die Kartoffel zur Zeit Katherinas. Das war sein zweiter Tod. An dem ist er unschuldig.
Zugespitzt weist Pasternak auf das wichtigste Problem der Majakowski-Nachfolge: Wer ihn aus den Kämpfen seiner und unserer Zeit herauspräpariert, beraubt ihn seiner Kraft.
5
Majakowski war gegen das Geschäker mit der Tragik, aber für die große Ausbildung der Empfindungen. Er war nicht der Meinung, daß mit der Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft unsere Empfindungen und die unserer Dichter in einer lauen Mitte zusammenfallen würden, sondern immer kräftiger hervorzubringen seien. Dies zu verteidigen schrieb er seine Stücke Wanze und Schwitzbad, die bei uns zu wenig gespielt werden, und die Satiren der ausgehenden zwanziger Jahre, deren einige im ersten Band der fünfbändigen Majakowski-Ausgabe des Verlags Volk und Welt zu lesen sind, Stücke und Gedichte waren eine Verteidigung der revolutionären Phantasie gegen das „Grinsen“ alter und neuer Spießer, von dem Lenin 1917 in Staat und Revolution geschrieben hatte:
Vom bürgerlichen Standpunkt aus fällt es leicht, eine solche Gesellschaftsstruktur als ,reine Utopie‘ hinzustellen und darüber zu grinsen, daß die Sozialisten jedem das Recht zusichern, von der Gesellschaft ohne jegliche Kontrolle über die Arbeitsleistung des einzelnen Bürgers eine beliebige Menge Trüffeln, Automobile, Klaviere u.a.m. zu erhalten. Die meisten bürgerlichen ,Gelehrten‘ beschränken sich bis auf den heutigen Tag auf dieses Grinsen und verraten dadurch nur ihre Unwissenheit und ihre eigennützige Verteidigung des Kapitalismus.
Unwissenheit, denn es ist keinem Sozialisten je eingefallen, zu ,versprechen‘, daß die höhere Phase der Entwicklung des Kommunismus eintreten wird; die Voraussicht der großen Sozialisten aber, daß sie eintreten wird, hat nicht die heutige Arbeitsproduktivität und nicht den heutigen Spießer zur Voraussetzung.
Für diesen Kampf freilich bedürfe es der Integrität: Man habe, schrieb Majakowski 1926, mehr gegen das Wort „Bohème“ gekämpft als gegen die Sache, denn Karrierismus und Ränkemacherei lebten fort. Doch:
Sogar die Kleidung des Poeten, sogar die Art des häuslichen Gesprächs mit seiner Frau sollten anders sein, nämlich geprägt durch den Inbegriff seiner poetischen Produktion.
Das allein, diese Einheit von Mann und Vers, für die er mit dem Leben einstand, machte Majakowski zum Vertrauensmann der Sozialisten in seinem Land und in der Welt, der noch auf seinen Paß einen Vers machen konnte:
Mit Wolfszähnen wollt ich
aaaden Amtsschimmel
aaaaaafassen,
ich spotte
jedes gestempelten Scheins.
Jeden Aktenwisch
aaawürd ich dem Teufel überlassen
jedes Amtsformular.
aaaBis auf eins…
Das will ich
aaaaus breitem Hosenbausch
aaaaaaziehn –
meines Daseins
aaaunschätzbaren Lohn
Da, lest,
aaabeneidet mich,
aaaaaaseht,
aaaaaaaaawer ich bin:
Bürger der Sowjetunion.
Fritz Mierau, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1975
(…)
In diesem Jahr blieben wir lange in Puschkino, bis in die ersten Septembertage.
An den Abenden saßen wir auf der Bank vorm Haus, sahen dem Sonnenuntergang zu und dem kleinen Wau, wie er mit aufgestelltem Schwanz umherpirschte.
Der sonnige Abendhimmel bot immer ein neues prächtiges Schauspiel, das aber jedesmal unweigerlich damit endete, daß die Sonne hinterm Horizont verschwand.
Das ärgerte Majakowski, und er schrieb ein Gedicht darüber – „Seltsames Abenteuer Wladimir Majakowskis, sommers auf dem Lande“.
Beim Dichten ging Majakowski meistens spazieren, da schlenderte er durch die Ortsstraßen, am Waldrand entlang oder über die große Wiese, und Wau trottete hinter ihm her wie ein Hundejunges seiner Mutter.
Die Tage wurden merklich kürzer, die Abende unangenehm kalt. So hieß es zurück in die Stadt.
Die Sachen wurden am Morgen von einem Fuhrwerk geholt. Aber Wau nahmen wir mit auf die Bahn, und die ganze Fahrt starrte er wie gebannt aus dem Fenster.
Am Bahnhof stiegen wir in eine Droschke, und unterwegs stellte Majakowski Wau die Stadt vor. Wie ein Touristenführer erklärte er schallend:
Und das, Genosse, ist der Kasaner Bahnhof. Noch unter den Bourgois erbaut. Bedeutend durch seine architektonische Häßlichkeit. Schau weg! Sonst versaust du dir deinen an Majakowskis Versen geschulten Geschmack!
Wau riß den Kopf hoch, blickte Majakowski in die Augen, wandte sich ruckartig ab und betrachtete angelegentlich die andere Straßenseite.
Das ist die Mjasnizkaja. Hier wohnt unser Freund Ljowa. Ein wirklicher Mensch, so wie wir beide, und hier ist die Architektur schön!
Der Rote Platz! Es gibt nichts Erstaunlicheres auf dem ganzen Erdball!
So trudelten wir in der Poluektowa-Gasse, das heißt zu Hause, ein. Empfangen wurden wir von Muska, einer Hündin aus der Nachbarschaft – ein Beinahe-Foxterrier. Bei Waus Anblick führte sie einen wahren Freudentanz auf. Wau freute sich ebenfalls, war bei der Begrüßung aber ziemlich zerstreut – zuviel Neues auf einmal!
Wir haben
aaaaaaaaauf zwölf Quadrat-Arschin
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalogiert
(ein Arschin
aaaaaaaaaist noch lange kein Meter) –
Lilja,
aaaaOssja
aaaaaaaaaund ich –
aaaaaaaaaaa aaaaazu viert
mit unserem
aaaaaaaa aaalieben Köter.1
So beschrieb Majakowski in seinem Poem „Gut und schön!“ unser damaliges Leben.
Die Wohnung hatte viele Zimmer, die wir aber nicht heizen konnten. Wir rückten zusammen, verkrochen uns vor der Kälte alle in einem Raum, dem kleinsten. Die Wände und jeden Zentimeter des Fußbodens deckten wir mit Teppichen ab, damit es nicht zog. In einer Ecke waren ein Ofen und ein Kamin. Den Ofen benutzten wir selten, aber den Kamin heizten wir morgens, mittags und abends mit alten Zeitungen und Teilen von Holz- oder Pappkisten.
Wau ließ es sich auf dem Teppich vor dem Kamin wohl sein. Da kratzte es an der Tür. Wau blickte zur Tür, dann zu Majakowski. Majakowski sagte: „Bitte sehr, treten Sie näher!“, öffnete, und Muska spazierte herein. Sie begrüßte jeden einzelnen mit dem Schwanz, wanderte durchs Zimmer, alle Winkel inspizierend, und legte sich neben Wau vor den Kamin.
Sie hatten innige Freundschaft geschlossen, obwohl sie viel älter war als er. Sie besuchten einander und spielten zusammen auf dem Hof.
Sie waren ein urkomisches Pärchen. Er – groß, täppisch und unbeholfen umherspringend, mit einem Riesenrachen und einer ohrenbetäubenden Stimme, ausgesprochen kläfflustig; sie – klein, rundlich, still, elegant trippelnd.
Nachts schlief Wau zu Majakowskis Füßen. Er hatte einen tiefen Schlaf. Gemeinsam standen sie auf.
Eines Nachts fuhr Wau im Bett auf. Majakowski wurde davon wach und machte Licht. Wau saß hochaufgerichtet, starrte zur Tür, den Kopf geneigt, die Ohren in sichtlicher Unruhe gespitzt.
Wir schwiegen und lauschten auch. Tiefe Stille.
„Was hast du? Was ist los?“
Wau sprang vom Bett, lief zur Tür, bäumte sich und schlug mit den Vorderpfoten auf die Klinke.
Die Tür rührte sich nicht.
Waus Unruhe wuchs. Er wirbelte zwischen Majakowski und der Tür hin und her, bellte wild, wollte, daß wir die Tür öffneten.
Wie angespannt wir auch lauschten, außer Waus Bellen hörten wir nichts. Aus Sorge um die Nachtruhe der Nachbarn reckte sich Majakowski vom Bett aus zur Tür und öffnete den Haken.
Wau stürzte in die Diele, sprang an der Eingangstür hoch und bellte und tobte, gebärdete sich wie toll.
Majakowski brummte: „Das Biest ist verrückt geworden!“, zog die Hausschuhe an und schlurfte hinaus.
Wau bellte nicht mehr, sondern heulte und klagte, schickte Majakowski flehentliche Blicke, ohne einen Fußbreit von der Tür zu weichen. Majakowski schloß auf.
Im Hausflur kauerte Muska – blutüberströmt, mit verwundeten Lenden und gequetschter Pfote.
Sie winselte kaum hörbar. Wau lief zu ihr. Majakowski hob sie auf und trug sie ins Zimmer. Sie war offenbar in eine Straßenbalgerei geraten und mit knapper Not davongekommen.
Ich machte mich daran, mit dem abgekochten Restwasser aus dem Samowar ihre Wunden zu waschen. In Majakowskis Hände geschmiegt, schien sie sie mir geradezu hinzuhalten und winselte erschüttert und dankbar. Wau stützte sich mit den Pfoten auf Majakowskis Knie und schnellte immer wieder hoch, um uns zum Dank Gesicht und Hände zu lecken.
Brik machte Feuer im Kamin. Vor dem Kamin breiteten wir ein sauberes Handtuch aus und setzten Muska darauf. Sie begann ihre Wunden zu lecken. Wau gesellte sich zu ihr, legte sich so hin, daß er sie wenigstens mit einem Fleckchen seines Körpers berührte. Er zitterte immer noch, hob fortwährend den Kopf, doch als er sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war, sich Muska beruhigte, ließ er ihn endgültig sinken und schlief ein.
Wau war ein prima Junge! Fröhlich, zärtlich, klug und einfühlsam. Ein richtiger Freund.
Wenn einer von uns traurig war, spürte er es und tröstete ihn, so gut er konnte. Schlug Majakowski grübelnd die Hände vors Gesicht, so stellte sich Wau auf die Hinterbeine und versuchte, sie mit Schnauze und Pfoten wegzuziehen.
Eines Tages, nachdem er eine schwere Krankheit durchgemacht hatte, kam Ljowa Grinkrug zu uns, um sich in unserem stillen Gäßchen von der lauten, zentralen Mjasnizkaja zu erholen.
Wau hatte anscheinend noch Majakowskis Bemerkung über „unseren Freund Ljowa“ im Ohr, denn er kümmerte sich rührend um ihn, legte sich zu ihm aufs Krankenlager, begleitete ihn behutsam bei seinen ersten Spaziergängen.
In diesem Hungerwinter ging Majakowski zu Fuß zu seiner Arbeit auf dem Sretenski-Boulevard. Die Straßenbahnen verkehrten nicht, eine Droschke zu nehmen war undenkbar – fürchterliche Schlaglöcher!
Wau begleitete ihn stets bis zum Metzger an der Ecke zur Ostoshenka.
Gemeinsam betraten sie den Laden, und Majakowski kaufte ein Pfund Pferdefleisch. Gleich draußen gab er es ihm zu fressen, und er verschlang es blitzschnell. Das war seine Tagesration, mehr gab es nicht. Er verschlang es, wedelte mit dem Schwanz und trollte sich wieder nach Hause. Majakowski winkte ihm mit der Mütze und ging seiner Wege.
In diesem Winter mußten wir für einige Zeit verreisen, und Majakowski brachte Wau vorsorglich bei guten Bekannten unter.
Noch am Tag unserer Rückkehr fuhren wir ihn holen.
Wir klingelten, aber hinter der Tür blieb es still, kein fröhliches Begrüßungsgebell wie sonst. Dasselbe, als uns geöffnet wurde. Wau ließ sich nicht blicken.
Ohne abzulegen, ging Majakowski schnurstracks ins Eßzimmer vor. Wau saß auf dem Sofa, mager, daß alle Rippen zu sehen waren, den Kopf in unsere Richtung gewandt, die Augen matt. So stellt man sich die herrenlosen Hunde in den Gassen des alten Konstantinopel vor.
Majakowskis Gesicht in diesem Moment werde ich nie vergessen. Mit einem einzigen Riesensatz war er bei Wau, nahm ihn auf die Arme und drückte und wiegte ihn. Wau schmiegte sich zitternd an ihn.
Als wir in der Droschke saßen, sagte Majakowski:
So was darf man eben nicht machen – seinen Hund fremden, lieblosen Händen überlassen. Auch ihr, gebt mich niemals in fremde Hände! Versprecht ihr mir das?
Nach wenigen Tagen war Wau wieder wohlauf, er machte sich immer besser heraus. Mit der Verpflegung wurde es leichter. Wir fütterten ihn gut, wärmten und hätschelten ihn.
Man konnte zusehen, wie er wuchs. Er wurde ein stattlicher Bursche, unsere Promenadenmischung, sah mit seinem rötlichen Fell und seinen Hängeohren wie ein waschechter, nur etwas zu groß geratener Setter aus. Er war sehr anhänglich, fast zu sehr. Und über die Maßen lauthals und leutselig.
Viele auf dem Hof konnten ihn nicht leiden, ja hatten Angst vor ihm, weil er jedermann ansprang mit ohrenbetäubendem Gebell, sich mit den Vorderpfoten gegen seine Schultern warf, so daß er ihn fast umriß vor lauter fröhlichem Gefühlsüberschwang. Der Betroffene ergriff schreiend die Flucht und sah sich von diesem schrecklichen Ungeheuer auch noch verfolgt. Das „Ungeheuer“ hielt es nämlich für Spiel.
Majakowski warnte Wau. Das könne böse enden, erklärte er ihm, die schlechten, argwöhnischen Menschen begriffen solche Unmittelbarkeit nicht, hier kreuzten „alle möglichen“ auf, er solle zurückhaltender sein, sich in acht nehmen.
Wau sah Majakowski dabei so aufmerksam, mit so einsichtsvoller Miene an, als verstünde er alles Wort für Wort und nähme es sich zu Herzen. Sobald es dunkelte, kam er von selbst, ohne daß wir ihn rufen mußten, kam entweder allein oder zusammen mit Muska und meldete sich an der Tür mit beharrlichem Bellen.
Eines Abends war es schon dunkel, Wau aber noch nicht zu Hause. Wir wollten Abendbrot essen.
Majakowski setzte sich die Mütze auf und ging runter, nach Wau Ausschau halten. Aber auf dem Hof fand er ihn nicht. So, wie er war, ohne Mantel, lief Majakowski vors Hoftor, ging die Gasse auf und ab, schaute sich auf den Höfen um. Er rief, pfiff. Vergeblich!
Stundenlang klapperten wir die Straßen der Umgebung ab, suchten in den Nachbarhäusern, fragten Passanten, ob sie nicht einen rotbraunen, auffallend schönen Hund gesehen hätten.
Nachts konnte Majakowski nicht schlafen – kein Wau zu seinen Füßen!
Am Morgen bekam er keinen Bissen herunter, so sehr fehlte ihm Waus Gesellschaft. Wenn wir frühstückten, hatte er zwischen unseren Stühlen gesessen, eifrig bemüht, uns die eine oder andere Pfote zu geben. Ohne hinzusehen, ohne zu kauen, schlang er alles herunter, was wir ihm zuwarfen; ob es ein winziges Stückchen oder ein Riesenbissen war, er sperrte den Rachen auf und klappte ihn wie ein Nußknacker zu.
Uns war nicht bewußt gewesen, welch großen Platz Wau in unserem Alltag eingenommen hatte. Nun gab es niemanden mehr, der Majakowski bis zum Metzger an der Ecke begleitete; niemanden mehr, nach dem Majakowski sich umblicken konnte, um ihm mit der Mütze ein Tschüs zuzuwinken.
Wo war er? Was mochte ihm zugestoßen sein?
Wenn ihn jemand gestohlen und er ein freundliches neues Herrchen und satt zu fressen hatte – na gut. Aber wenn er überfahren oder von einem Hundefänger aufgegriffen worden war?
Schließlich erreichte uns das Gerücht, irgendein Fremder habe Wau angelockt und totgeschlagen.
Einfach so, aus Niedertracht.
Majakowski schwor, es dem Mörder heimzuzahlen, würde er seinen Namen herausbekommen.
Wenig später zogen wir um, so sollten wir nie erfahren, wer unseren Wau umgebracht hatte.
Elf ganze Monate war er auf dieser Welt gewesen.
Majakowski behielt Wau immer in Erinnerung. Wie kein anderer wußte er Freundschaft zu schätzen, und alte Freunde vergaß er nie.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie unsere Gespräche über den leidigen Alltag begannen. Nach den entbehrungsreichen, harten Revolutions- und Bürgerkriegsjahren kamen nach und nach die alten Lebensgewohnheiten wieder auf. Es war, als hielten mit den kleinen Weißbroten die alten Zeiten wieder Einzug. Häufig sprachen wir darüber, doch ohne daß wir zu einem Schluß gekommen wären.
Ich weiß nicht mehr, warum ich eher als Majakowski in Berlin war. Ich weiß nur noch, wie sehr ich ihn dort erwartete. Mir schwebte vor, daß wir gemeinsam all die neuesten Wunder von Kunst und Technik besichtigen gingen.
Wir stiegen im Kurfürstenhotel ab, wo Majakowski dann immer wohnte, wenn er in Berlin war.
Aber wir haben kaum etwas zu Gesicht bekommen. Majakowski machte ein paar Lesungen, und die übrige Zeit… Es stellte sich ein Spielkumpel ein, ein Russe, und Majakowski hockte Tag und Nacht auf dem Zimmer und pokerte mit ihm. Aus dem Haus ging er nur, um Blumen für mich zu bestellen – Riesenkörbe, die knapp durch die Tür paßten, oder Sträuße, die er gleich samt ihren Vasen aus dem Schaufenster des Blumengeschäfts bringen ließ. Die deutsche Mark galt damals nichts, so daß wir mit unserem Geld in unerwartetem Reichtum schwelgten.
Morgens nahmen wir unseren Kaffee auf dem Zimmer, und mittags und abends gingen wir zusammen mit Freunden und Bekannten, die zufällig in Berlin weilten, zu Horcher, einem der teuersten Restaurants, großartig speisen. Majakowski hielt alle frei, was mir etwas peinlich war, ich fand, er führte sich wie ein Kaufmann oder Mäzen auf. Herr Horcher und der Kellner sprachen ihn mit „Herr Majakovsky“ an und rissen sich schier ein Bein aus, um es ihm – ein reicher Kunde schließlich! – in allem recht zu machen. Zum Nachtisch brachte ihm der Kellner, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt, fünf Portionen Melone oder Kompott, etwas, was Majakowski vor den schweren Jahren stets in Unmengen gegessen hatte. Als wir das erstemal dort waren und jeder sein Dessert bestellte, trompetete Majakowski:
Iech fjünf Porzion Mjelon uund fjünf Porzion Kampott. Iech bien ajn ruussischer Djichter, bekaant iem ruussischen Laand, weniger darf ich nicht essen.
Von Berlin aus machte Majakowski einen Abstecher nach Paris, Djagilew hatte ihn eingeladen. Als er nach einer Woche zurückkam, ging alles von vorn los.
Wieder in Moskau, kündigte Majakowski zwei Veranstaltungen an. „Was ist Berlin?“ und „Was ist Paris?“ (So stand es, glaube ich, auf den Plakaten.)
Zu der ersten Veranstaltung wurde berittene Miliz vor dem Polytechnischen Museum zusammengezogen. Majakowski war früher gegangen und hatte versprochen, mich am Eingang abzuholen. Als ich hinkam, war er nicht da. Er hatte vor der Riesenmenge die Flucht ergriffen (nicht einmal Stehplätze gab es mehr) und beim Einlaß Bescheid gesagt. Aber ich schaffte es nicht, mich dorthin durchzudrängen. Schließlich bugsierte mich doch noch jemand hinein.
Der Saal war proppenvoll, jeder Platz doppelt besetzt; man saß auf den Stufen der Gänge und auf der Bühnenrampe. Im hinteren Teil und zu seiten der Bühne hatte man Stühle für Majakowskis Bekannte aufgestellt.
Majakowski wurde mit donnerndem Beifall begrüßt. Er begann zu erzählen, doch was er erzählte, waren alles Erlebnisse und Beobachtungen aus zweiter Hand. Erst hörte ich verwirrt und gepeinigt zu, dann hielt ich es nicht mehr aus und machte einige Einwürfe, kränkende vielleicht, die ich aber für gerechtfertigt hielt.
Ich saß mit auf der Bühne, ziemlich eingekeilt. Majakowski schielte erschrocken zu mir herüber. Komsomolzen, Jungs und Mädchen, vor mir auf der Bühnenrampe, die kein Wort von Majakowski verpassen wollten, zischten mich wütend aus. Dieses Bourgoisdämchen! mögen sie gedacht haben, was kommt sie zu Majakowski, wenn sie nichts von ihm versteht… So etwa drückten sie sich jedenfalls aus.
Dann war Pause. Majakowski sagte nichts, aber Dolidse, der Veranstalter, beschwor mich, um Himmels willen keinen Skandal zu machen. Als es weiterging, verbot er mir, die Garderobe zu verlassen. Aber ich hatte sowieso keine Lust, in den Saal zurückzugehen.
Mein Herz war so schwer, daß ich nicht einschlafen konnte. Ich schluckte Veronal und schlief bis mittags.
Majakowski kam mißmutig, düster zum Essen. Er fragte, ob ich zu der Veranstaltung morgen mitkäme.
„Natürlich nicht.“
„Was denn, soll ich absagen?“
„Mach, was du willst.“
Majakowski sagte die Veranstaltung nicht ab.
Am nächsten Tag riefen mich mehrere Freunde und Bekannte an:
„Warum waren Sie nicht dabei? Sind Sie krank? Aus Wladimir Wladimirowitsch war ja nichts herauszukriegen Er ist so finster… Schade, Sie hätten kommen sollen… So was von interessant, solch ein Erfolg…“
Majakowski war wie eine Gewitterwolke.
Wir hatten eine lange Aussprache, wurden heftig und bitterernst.
Beide weinten wir. Glaubten umzukommen. Alles aus und vorbei! Alles war zur Gewohnheit geworden – die Liebe, die Kunst, die Revolution. Alles war selbstverständlich geworden – daß wir einander hatten, daß wir Schuhwerk und Kleider hatten, im Warmen saßen. Und dann und wann Tee tranken. Wir versanken im Alltag. Sanken auf den Grund. Nie mehr würde Majakowski etwas Wirkliches schreiben…
Solche Aussprachen hatten wir in letzter Zeit des öfteren gehabt, aber keine Konsequenzen daraus gezogen. Doch jetzt, in dieser Nacht noch, faßte ich den Entschluß, mich wenigstens für ein, zwei Monate von ihm zu trennen. Damit wir uns darüber klarwurden, wie es mit uns weitergehen sollte.
Majakowski schien sich über diesen Ausweg aus der Ausweglosigkeit zu freuen, sagte: „Heute haben wir den 28. Dezember. Wir sehen uns also am 28. Februar.“ – und ging.
Am Abend danach kam ein Brief von ihm:
Lilchen,
ich sehe, Du bist eisern entschlossen. Ich weiß, ich setze Dir zu und tue Dir damit weh. Aber, Lilchen, was heute mit mir war, ist zu schrecklich, als daß ich nicht nach dem letzten Strohhalm greifen könnte, einem Brief.
So schwer habe ich es mit mir noch nie gehabt – vielleicht bin ich wirklich zu groß geworden. Früher glaubte ich an ein Wiedersehen, wenn Du mich weggejagt hattest. Jetzt fühle ich, daß ich vom Leben vollends abgetrennt bin, daß nichts mehr, nie mehr etwas sein wird. Ohne Dich ist kein Leben. Ich habe das immer gesagt, wußte es immer. Jetzt fühle ich es, fühle es bis ins Innerste. Alles, alles, woran ich mit Freude gedacht habe, ist heute gleich Null – entsetzlich.
Ich drohe nicht, ich will kein Verzeihen erzwingen.
Ich kann Dir nichts versprechen. Ich weiß, es gibt kein Versprechen, das Dein Vertrauen hätte. Ich weiß keinen Weg zu Dir, zur Versöhnung mit Dir, der Dich nicht schmerzen würde.
Trotzdem kann ich nicht anders, als Dir zu schreiben, Dich um Verzeihung für alles zu bitten.
Wenn Dir der Entschluß schwergefallen ist, im Kampf mit Dir selbst, wenn Du das Letzte wagen willst, wirst Du verzeihen, wirst Du mir antworten.
Doch auch wenn Du nicht antwortest – Du bist mein einziger Gedanke. Wie ich Dich vor sieben Jahren liebte, so liebe ich Dich in dieser Sekunde; egal, was Du wünschst, was Du befiehlst, ich werde es tun, mit Begeisterung tun. Wie grausam, sich zu trennen, wenn man weiß, daß man liebt und selbst schuld ist an dieser Trennung.
Ich sitze im Café und heule. Die Kellnerinnen lachen über mich. Schrecklich der Gedanke, daß mein ganzes Leben so sein wird.
Ich schreibe nur von mir, nicht von Dir; schrecklich der Gedanke, daß Du ruhig bist und Dich mit jeder Sekunde weiter von mir entfernst und mich nach noch ein paar Sekunden vergessen haben wirst.
Sollte Dir dieser Brief mehr als Schmerz und Abscheu bereiten, so antworte um Christi willen, antworte gleich, ich laufe nach Hause und warte. Wenn nicht – o schreckliche, schreckliche Trauer.
Ich küsse Dich. Ganz Dein
Ich
Es ist 10, wenn Du bis 11 nicht geantwortet hast, weiß ich, man kann nichts erwarten.
Zwei Monate hat Majakowski in seinem Freiwilligenkerker zugebracht. Er saß sie gewissenhaft ab, ohne sich zu verzeihen oder sich etwas vorzumachen. Manchmal strich er unter meinen Fenstern vorbei. Gab bei der Haushälterin Annuschka Briefe, Billetts („Billettgeplätscher“) und kleine Zeichnungen für mich ab. Das war das einzige, was er sich erlaubte – ein paar traurige oder scherzhafte Worte „zur Entlastung“, und selbst das klang wie eine Bitte um Entschuldigung. Auf dem Band 13 Jahre Arbeit, den ich zu dieser Zeit von ihm erhielt, steht handschriftlich:
Ihr laßt nicht mal Briefe an euch heran.
Das Köpfchens Diskus ging unter für immer.
Was ist das wohl? Briefwechsel dann und wann?
Mau-Mäuzchen, wau! Es ist Wechselgewimmer.
Damals schickte er mir auch seinen neuen Band Lyrik. Dieses Exemplar ist mir abhanden gekommen, seine Widmung weiß ich aber noch auswendig:
Verzeih, Lilik, Liebes – bettelbillig
die Sprachwelt von mir! Doch nimm ihn, den Band.
Zwar, Lilik, müßte er heißen „Lilik“,
nur hat er sich selber „Lyrik“ genannt.
Der Band war schlampig gemacht. Das schrieb ich Majakowski, er antwortete mit den Zeilen:
Ich küsse Dich, Mäuzchen: der Band kann so mies nicht sein, da ja „Für Lilja“ drinsteht und alles, was Dein ist. Dein Wau.
Vielleicht taucht auch dieses Exemplar einst wieder auf, so wie sich in der Abteilung für seltene Bücher der Leninbibliothek das Poem „Der Mensch“ mit der Widmung wiederfand:
Dem Autor meiner Verse Lilchen
Wolodja
Er schickte mir Briefe, Billetts, Zeichnungen, Blumen und Vögel in Bauern – Gefangene wie er. Einmal einen großen Kreuzschnabel, der Fleisch fraß, wie ein Pferd kotete und ein Gitter nach dem anderen durchbiß. Aber ich versorgte und pflegte ihn in dem abergläubischen Gefühl, daß, wenn er stirbt, Majakowski etwas zustoßen würde. Als wir uns wieder versöhnt hatten, schenkte ich all diese Vögel weg. Briks Vater besuchte uns, wunderte sich sehr, daß sie nicht mehr da waren, und fragte bedeutungsvoll:
Ja, im Grunde gesehen – wo sind die Vöglein geblieben?
Dies griff Majakowski in seiner „Kleinphilosophie“ auf:
Die Jahre sind Möwen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaZiehn in Zeilen und drehn
ins Wasser ab –
aaaaaaaaaaaaaFisch sich ins Bäuchlein zu schieben.
Man sieht sie nicht mehr.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaJa, im Grunde gesehn –
wo sind die Vöglein geblieben?
Er schickte mir Briefe, Billetts und Zeichnungen und schrieb ein Poem über dies alles, das Poem „Darüber“, das heißt über die Liebe und den Alltag, worüber er sich in den zwei Monaten klarwerden wollte. So hatte er ein Ziel – das Poem zu vollenden, mich wiederzusehen und einen neuen Anfang mit mir zu finden.
Er arbeitete Tag und Nacht, schrieb alles aus sich heraus – seinen Schmerz über unsere Trennung, seinen Zorn auf das Philistertum, auf die „Toteninsel“ in ihrem dekadenten Rähmchen, auf das seelenruhige Teetrinken, auf sich, weil er sich in dem, was er verabscheute, selbst versinken sah, wie auch auf seine Spiel- und Zechpartner.
Zuweilen konnte er sich nicht zurückhalten und rief mich an, da sagte ich ihm mal, er solle mir schreiben, wenn es ganz dringend ist.
Lilichen, ständig ist mir, als ob Du mich doch sehen möchtest, es nur nicht sagen magst: – schade.
Habe ich recht?
Wenn Du nicht möchtest, schreibe es gleich; sagst Du es mir erst am 28. (ohne mich gesehen zu haben), so werde ich das nicht überleben. Du mußt mich nicht lieben, nein, aber sage es mir bitte selbst. Natürlich liebst Du mich nicht, Du sollst es mir aber ein wenig lieb sagen. Manchmal glaube ich, mir wurde die Strafe zugedacht, zum Teufel geschickt zu werden am 28.
Kindchen, antworte (es ist nunmehr ,ganz dringend‘), Ich warte unten. Nie wieder, nie im Leben will ich so sein. Darf es auch nicht. Kindchen, wenn Du mir schreibst, bin ich schon, bevor der Zug da ist, beruhigt. Aber schreib ehrlich, die Wahrheit!
Ich küsse Dich
Dein Wau.
Als wir uns kennenlernten, gefiel es ihm, daß ich so viele Verehrer hatte. Ich weiß noch, wie er sagte:
Gott, wie ich das liebe – wenn einer vor Eifersucht umkommt, sich verzehrt, sich quält.
Beschlichen diese Gefühle ihn selbst, so versuchte er sie nicht zu unterdrücken, sondern gab sich ihnen bewußt hin, ja schürte sie.
Und jetzt, da ich ihm fern war, flammten sie mit aller Heftigkeit auf.
Liebes, teures Lililein,
als ich Dir heute den Brief sandte, wußte ich, daß Du nicht antworten wirst. Ossja sieht es, ich habe nicht geschrieben. Dieser Brief liegt im Tisch. Du wirst nicht antworten, weil Du schon einen Ersatz für mich hast, ich für Dich nicht mehr existiere. Ich will nichts erzwingen, doch, Kindchen, mit zwei Zeilchen kannst Du machen, daß mein Schmerz nicht gar zu groß ist. Er ist es! Sei nicht geizig, selbst nach diesen Zeilchen habe ich noch Möglichkeiten genug, mich zu quälen. Das Zeilchen bist ja nicht Du! Aber zu großer Schmerz muß nicht sein, Kindchen. Wenn das eifersüchtiger Quatsch ist, schreibe, bitte! Wenn es stimmt, schweige. Nur sag keine Unwahrheit – ich flehe Dich an.
Lilichen,
schreib wenigstens ein Wort auf. Gib es Annuschka. Sie bringt es mir runter.
Sei nicht böse.
In allem spüre ich eine bestimmte Bedrohung.
Dir gefällt bereits jemand. Du erwähnst nicht einmal meinen Namen. Du hast jemanden. Alle halten vor mir hinterm Berg…
Seine Antwort auf meine, wo ich ihm versichere, wie sehr ich ihn liebe:
Lilchen,
ich schreibe Dir erst jetzt, weil ich Dir in Koljas Beisein nicht antworten konnte. Ich muß es jetzt tun, damit mich meine Freude nachher nicht hindert, überhaupt noch was zu verstehen.
Dein Brief macht mir Hoffnungen, mit denen ich keinesfalls rechnen darf und es auch nicht will, weil keine Rechnung, die von Deinem alten Verhältnis zu mir ausgeht, aufgehen kann, erst eine, die entsteht, wenn Du mein jetziges Ich kennst…
Auch meine Briefelchen sollst und kannst Du nicht in Rechnung ziehen, denn erst am 28. soll und kann ich irgendwelche Entscheidungen zu unserem Leben (sofern es das geben wird) treffen. Das ist absolut richtig – denn wenn ich das Recht und die Möglichkeit hätte, schon in diesem Moment etwas endgültig zu entscheiden, wenn ich mich in Deinen Augen für die Richtigkeit dieser Entscheidung verbürgen könnte, würdest Du mich heute fragen und mir noch heute Deine Antwort sagen. Und ich könnte schon heute glücklich sein. Wenn ich diese Vorstellung verliere, sinken mir alle Kräfte und aller Glaube an die Notwendigkeit, dieses ganze Grauen auszuhalten. Mit knäbischer, lyrischer Tollheit klammere ich mich an Deinen Brief.
Aber Du sollst wissen, daß Du am 28. einen Dir gänzlich neuen Menschen kennenlernst. Alles zwischen Dir und ihm wird nicht aus den alten Theorien hervorgehen, sondern aus Handlungen, Deinem und seinem Verhalten.
Dies muß ich Dir schreiben, weil ich in diesem Moment eine nervliche Erschütterung erlebe wie noch nie, seit ich fort bin.
Du verstehst, von welcher Liebe zu Dir, welchem Empfinden für mich dieser Brief diktiert ist.
Sollte Dir ein wenig bange sein vor der riskanten Spazierfahrt mit einem Menschen, von dem Du einst nur vom Hörensagen wußtest, er sei ein recht lustiges, nettes Kerlchen, dann schreibe, schreibe.
Ich bitte und warte. Warte unten darauf, was Annuschka bringt. Ich möchte Deine Antwort haben, muß sie haben. Und antworten wirst Du wie einem penetranten Freund, der Dich vor einer gefährlichen Bekanntschaft „warnte“: „Hauen sie ab, was geht Sie das an! Ich will es so!“
Du sagtest, ich dürfe Dir schreiben, wenn es ganz dringend ist – das ist es jetzt, sehr.
Vielleicht fragst Du Dich: Warum schreibt er das? Es ist doch alles klar. Schön, wenn es so ist. Entschuldige, daß ich Dir heute schreibe, wo Du das Haus voll hast – ich möchte nicht, daß dieser Brief irgendwas durch die Nerven Verzerrtes hat. Und morgen wäre es so. Das ist der ernsteste Brief in meinem Leben. Kein Brief eigentlich, sondern:
„Existenz“.
Ich umarme von Kopf bis Fuß Deinen kleinen Finger.
Wau.
Mein nächster Brief kommt von einem jungen Menschen am 27.
Der Brief trug ein rotes Siegel mit dem Abdruck von Majakowskis Ring.
Ich haderte mit ihm und mit mir, weil wir uns nicht an die Abmachung hielten, brachte es aber nicht über mich ihm nicht zu antworten – zu sehr liebte ich ihn! So entwickelte sich zwischen uns richtiger „Briefwechsel“. Ein paarmal liefen wir uns zufällig über den Weg.
Fast täglich traf ein Brief von ihm ein.
Teures und geliebtes Lilchen,
ich habe mir strengstens verboten, abends an Dich zu schreiben oder mich Dir irgendwie bemerkbar zu machen. Das ist eine Zeit, in der ich immer ein wenig verdreht bin.
Nach Deinen Briefchen hatte ich eine „Entladung“, so kann und will ich Dir endlich in Ruhe schreiben.
Bei diesen Zusammentreffen gebe ich immer eine blöde Figur ab, kann ich mich selber nicht leiden.
Noch was: Ärgere Dich nicht, mein Lichtgesicht, daß ich Dir Liebesbeteuerungen abpresse. Ich weiß, Du schreibst sie mir vorwiegend deshalb, daß es nicht zu schwer für mich ist. Ich leite mir nichts daraus ab, keinerlei „Verbindlichkeiten“ von Deiner Seite, und mache mir keinerlei Hoffnung.
Gib auf Dich acht, Kindelchen, auf Deine Ruhe. Ich hoffe, Dir dereinst noch mal angenehm zu sein, jenseits aller Verträge und meiner wilden Ausfälle.
Ich schwör Dir bei Deinem Leben, Kindchen, daß ich bei all meiner Eifersucht, durch sie hindurch, über sie hinweg, mich immer unendlich freue, zu hören, daß Du frohen Mutes bist, es Dir gutgeht.
Kindchen, schimpf mich für meine Briefe nicht über Gebühr aus…
Moskau, Zuchthaus zu Reading 19/I 23
Mein teures Sonnchen, liebe, süße Lili,
hat Dir gestern der dumme Ljowa irgendwas von meinen Nervchen gesagt und Dir damit (gut, wenn ja!) Kummer gemacht? Sei fröhlich! Ich will es auch sein. Alles Blödsinn und Kleinkram. Heute hörte ich, Du seist etwas düster, nicht doch, Strahlchen!
Natürlich weißt Du, daß ein gebildeter Mann ohne Dich nicht leben kann. Doch wenn dieser Mann ein winziges Zipfelchen Hoffnung hat, Dich wiederzusehen, dann kann er froh und glücklich sein. Gern würde ich Dir ein zehnmal größeres Spielzeug schenken, nur daß Du lächelst. Ich habe fünf Fetzchen von Dir und liebe sie furchtbar, nur eins verstimmt mich, das letzte – da steht bloß: „Wolossik, danke“, aber die anderen haben Fortsetzungen, und gerade die liebe ich so.
Ärgern Dich meine dummen Briefe auch nicht zu sehr?
Wenn doch – nicht doch! Sie sind mir ein einziges Fest.
Ich reise mit Dir, schreibe mit Dir, schlafe mit Deinem Kätzchennamen und so fort.
Ich küsse Dich, sofern Du nicht fürchtest, von einem tollwütigen Hund zerrissen zu werden…
Liebes, denk an mich. Küsse den Kreuzschnabel von mir. Sag ihm, er soll nicht ausbrechen – ich tue das schließlich auch nicht!
(…)
Moskau 1956–1977
Lilja Brik, aus Lilja Brik: Schreib Verse für mich. Erinnerungen Majakowski und Briefe. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner und herausgegeben von Wassili Katanjan, Verlag Volk & Welt, 1991
Als ich ins Hotel kam, um ihn abzuholen, ließ er mich in sein Zimmer bitten. Dort stand er am Waschbecken und tat die letzten Striche mit dem (damals sehr modernen und daher sehr umstrittenen) Rasierapparat. Ein an Hals und Achseln weit ausgeschnittenes Netz-Unterhemd, wie Matrosen es tragen, umspannte den braunen, muskulösen Oberkörper. Man hätte den russischen Dichter für einen amerikanischen Sportsmann halten können. Mit dem Rasieren fertig, griff Majakovskij, ehe er sich weiter anzog, nach zwei Weinflaschen am Fußende des Bettes. Dort stand eine ganze Reihe. In jeder Hand eine, schlug er beide Flaschen gleichzeitig gegen die Kante des Waschbeckens, derart, daß die Hälse glatt absprangen. Er reichte mir die eine und führte die andere an seinen Mund. Ich tat dasselbe etwas vorsichtig, um mir nicht die Lippen zu schneiden. Seinem Beispiel folgend, setzte ich die Flasche erst ab, als sie leer war. Er stellte beide zu den andern zurück, von denen einige, wie mir jetzt erst auffiel, schon geköpft waren. Das ist wahrscheinlich ein russischer Brauch, dachte ich mir…
Mit dieser Anekdote schildert Wieland Herzfelde, Schriftsteller und Verlagsmensch, einen Poeten, der von Louis Aragon und Nazim Hikmet als deren wichtigster Lehrmeister bezeichnet wurde: Vladimir Majakovskij.
Ein Förstersohn, der 1893 in einem westgeorgischen Dorf geboren wurde, mit zwölf Jahren seinen Vater verlor, durch die Ereignisse der Revolution von 1905 Sozialdemokrat wurde und sich bereits drei Jahre später den Bolschewiki anschloß. Verarmt lebte seine Familie in dieser Zeit in Moskau. Der Kunststudent wird wegen Teilnahme an illegalen Manifestationen und Diskussionen mehrfach verhaftet. Majakovskij bewegt sich in den Kreisen der Kubofuturisten, die hier nach Marinettis Rußlandbesuch 1910 entstanden waren und nach neuen Ausdrucksformen suchten. Maler und Schriftsteller arbeiten eng zusammen: Majakovskij bürgerschreckt die zaristische Kulturszene mit seinen Freunden Vasilij Kamenskij, Velimir Chlebnikov, Aleksey Kruconych – der schon 1913, vor Ball, Hausmann und Schwitters, Lautdichtung schreibt. Mit von der Partie ist David Burljuk, der das futuristische Manifest der Gruppe, Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack, 1912, herausgibt. Hierin wird die „Vergrößerung des Wortschatzes in seinem Volumen durch willkürliche und abgeleitete Wörter“ gefordert.
Ein Augenzeuge beschreibt die Provokateure:
Wer Malewitsch mit einem großen Holzlöffel im Knopfloch sah, Krutschenik mit einem Kissen an einer Strippe um den Hals, Burljuk mit farbebeschmiertem Gesicht und Majakowskij im gelben Hemd, war häufig nicht im Zweifel, daß hier seinem Geschmack eine Ohrfeige verabreicht wurde.
Burljuk, dessen Frau Lilja der Dichter 1915 kennen- und (unerwidert) lieben lernte, ist es auch, der Majakovkijs erstes großes Poem Wolke in Hosen zuerst veröffentlicht. Aufgrund von Zensurschwierigkeiten kann erst 1918, drei Jahre nach der ersten Auflage, der vollständige Text erscheinen.
„Der Werther von 1915“ (Stephan Hermlin) legt hier nicht nur eine exzellente futuristische Dichtung vor: er zeigt sich als aggressiver Gesellschaftskritiker, der Religion und gängige Literaturauffassungen ebenso einfühlsam wie entschlossen attackiert. Das gilt auch für sein zweites Langgedicht, die Wirbelsäulenflöte, 1916 publiziert. War Vladimir Majakovskij 1913/14 als Vortragsreisender in Sachen Futurismus durch Rußland gezogen, so stellt er sich nach der Oktoberrevolution ganz in den Dienst des neuen Sowjetregimes.
Majakovskij arbeitet aktiv in der Nachrichtenagentur ROSTA, verfaßt politische Losungen, entwirft Plakate und tritt – zusammen mit Lilja Burljuk – als Schauspieler in Filmen auf. Als Rezitator seiner Gedichte wird er auch außerhalb der UdSSR bekannt. Seine Poesie, die er unter Verwendung des ,Zeilenbruchs‘ abfaßt, feiert „Lenin“ (1924), trommelt den „Linken Marsch“ (1918), feuert ständig die Arbeiterklasse an auf dem Weg zum Sieg des Kommunismus.
Trotz seiner ehrlichen Begeisterung für die marxistisch-leninistische Idee scheint der Dichter mit den inneren Ent- und Verwicklungen unter Stalin nicht zurechtgekommen zu sein. Seine Liebe zum Sowjetstaat war, wie die zu Lilja (die elegischen Liebesgedichte an sie gehören zum Schönsten, was Majakovskij geschrieben hat), tragisch. 1928 legt er die Verantwortung für die von ihm ’23 gegründete Zeitschrift LEF (Links) nieder. Zwei Jahre später, 1930, begeht Vladimir Majakovskij in Moskau Selbstmord. Die Gründe hierfür, so Enzensberger in seinem Museum der modernen Poesie, „sind bis heute dunkel geblieben“.
Im „Prolog“ der Wirbelsäulenflöte – also fünfzehn Jahre vor seiner Selbsttötung – fragt der Dichter:
Immer öfter denke ich:
Wär’s nicht gescheiter,
auf die Stirn einen Schlußpunkt mit Blei zu setzen?
DIE WIRBELSÄULENFLÖTE (1915)
2
Der Himmel vergaß
im Rauch alle Bläue.
Wolken ziehn wie in Lumpen gehüllte Wesen.
Erleucht sie, der letzten Leidenschaft Feuer,
so grell wie das Wangenrot der Tuberkulösen!
Überschreie, Freude, das Gebrüll der Menge,
der Menschen, die Äcker und Heime schänden! –
Leute!
Heraus aus der Schützengräben Enge!
Euren Krieg könnt ihr später beenden!
Selbst
wenn die Schlachten im Blutrausch schäumen
wie der trunkne Bacchus,
ist Liebe vonnöten. Ihr guten Deutschen!
Ich weiß, in euren Träumen
liebt ihr alle das Gretchen von Goethe.
Der Franzose geht lächelnd
im Kampf vor die Hunde,
stürzt ab, läuft in die Bajonette.
Sein Lächeln gilt
deinem brennenden Munde,
deinem liebenden Blick, Violetta.
Was schert mich aber die rosige Weichheit,
die von Jahrhunderten zerkaute, blaßfarbige?
Heute sollte man andere Beine streicheln.
Ich besinge
eine Geschminkte,
Rothaarige
Von der heutigen Zeit,
unheimlich wie Dolche
und wie tödliche Krankheit fiebrig,
bleiben einmal wahrscheinlich nur solche
wie du
und ich,
dich suchender, übrig.
(…)
(Übertragung: A.E. Thoß)
Thomas Kling, in Thomas Kling: Werke 4. Essays 1974–2005, Suhrkamp Verlag, 2020
MAJAKOWSKI IM JAHR 1913
Nicht dich im Ruhm kannt ich, ich erinnre
Mich an den Aufgang nur, deinen stürmischen, doch
Kann sein das ist mein Recht, ich lenk die Erinnrung
Auf jene Jahre, die fern sind.
Kraftvoller schlugen die Töne, neue
Stimmen schwirrten im Vers, die jungen
Hände, nicht faul: dräuende
Gerüste richteten sie auf.
Was du berührtest, schien anders
Als es bisher war. An dessen Zerstörung
Du gingst, zerstört liegts. In jeglichem Wort
Pulste das Urteil.
Einsamer du, selten zufrieden, du triebst
Das Schicksal voll Ungeduld, immer
Wußtest du: bald, heiter
Zogst du zum großen Kampf, frei.
Und schon, wir hörtens im Widerhall, dumpf brausend,
Trugst du Gedichte vor, Flut,
Zornig schielte der Regen, ungestüm
Gingst du mit der Stadt in den Streit.
Und, noch niemals gehörter, flog dein
Name, Blitz in den stickigen Saal;
Heute, vom ganzen Land bewahrt,
Tönt er wie ein Signal zum Kampf.
1940
Anna Achmatowa
Übersetzung: Rainer Kirsch
MAJAKOWSKI IM JAHRE 1913
Hab’ dich nicht gekannt in Ruhmestagen,
Kenn’ nur deinen stürmischen Beginn;
Heute aber möchte ich es wagen:
Rufe Tage auf, die lang schon hin.
Deine Verse härteten sich stetig,
Neue Stimmen strömten da zuhauf…
Deine Hände waren immer tätig,
Zogen drohend Baugerüste auf.
Alles, was berührt von deinem Finger,
Blieb nicht, wie es war vor deiner Zeit;
Was von dir zerstört – zerstört blieb’s immer,
Urteil sprechend stand dein Wort bereit.
Einsam oft und oftmals unzufrieden,
Sehntest du dein Schicksal rasch herbei,
Wußtest: bald nun würdest du dich üben
In dem großen Kampfe froh und frei.
Antwort kam schon von der Fluten Tosen
In den Versen, als du sie uns last;
Selbst der Regen schien sich zu erbosen,
Mit der Stadt hast du im Streit gerast.
Und dein Name, den noch niemand nannte,
Flog als Blitz in jenen schwülen Saal,
Bis man ihn im ganzen Lande kannte.
Heute tönt er als ein Kampfsignal.
3.–10. März 1940
Anna Achmatowa
Übersetzung: Kay Borowsky
WLADIMIR MAJAKOWSKIJ 1913
Kannt’ ich Dich auch nicht im Glorienscheine,
Wußt’ nur wie Du aufbrachst, sturmbereit,
Darf ich doch erinnern, wie ich meine,
Heut’ an jenen Tag aus ferner Zeit.
Kraftgeschwellte Töne sprengten Wände,
Neue Laute drängten sich zuhauf;
Unermüdlich türmten junge Hände
Ungeheure Baugerüste auf…
Das was Du berührt, verlor den Schimmer,
Nichts verblieb an seinem alten Ort;
Das was Du zerstörtest, blieb’s für immer,
Unerbittlich Urteil jedes Wort.
Einzelgänger warst Du, unzufrieden,
Triebst das Schicksal selbst zur Eile an;
Wußtest, eh der große Streit entschieden,
Trittst Du frei und heiter in die Bahn.
Und der Sturmflut Heulen, laut vernehmlich
Kündet jedes Wort, das Du uns sprachst;
Regen schielt’ aus schrägen Augen grämlich,
Als die Ruh’ der Stadt Du zornig brachst.
Und ein Name, unbekannt, ein neuer
Blitzgleich flog er durch den dumpfen Saal;
Heut bewahrt das ganze Land ihm Treue,
Damals dröhnt’ er laut – ein Kampfsignal…
(1940)
Anna Achmatowa
Übersetzung Xaver Schaffgotsch
Wladimir Majakowski: Ich selbst
Lew Kassil: Majakowskij – persönlich!
Christine Gölz: Wladimir Majakowski
Hugo Huppert: Die Poetik Wladimir Majakowskis
Alexander Uschakow: Majakowski und Grosz – Zwei Schicksale
Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978
Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.
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