DIE KUNST DES KOLLEGEN
Unser Dichter – was ist los mit ihm?
Findet er keine Duse mehr im Telefonbuch?
Sinkt keine Schönheit schockiert auf die Knie?
Gibt es noch welche,
die so tief leiden an ihrer Bedeutungslosigkeit,
daß sie Gedichte lesen?
Ist er am Ende?
Soll er verrückt werden, wenn er in Hochform ist?
Er kennt die Weisheit des Ostens, er hat in New York
im Taxi gesessen, wie erklärt sich diese Langeweile?
In seiner Schlaflosigkeit entladen sich Vulkane.
So lebt er unter uns und wäre am liebsten schon tot.
Die Gegenwart ist sein Niemandsland, die Metapher
sein Gnadenbrot. Visionen enden in der Grammatik.
Seine Faust zerschlägt Mückenschwärme.
Er haßt Bestseller wie Blondinen, die ihm seine Glatze
übelnehmen könnten. Er weiß, er ist nur dann perfekt,
wenn es um nichts geht.
Die Zukunftsaussichten sind übel. Das Laster
der Einbildung macht ihn krummbeinig. Wenn er das Wort
DICHTER hört, wird er böse, als habe jemand
seine Männlichkeit angezweifelt.
Er schreibt, aber kein Wort soll ihn verraten.
Er leistet Unterschriften. Er meint alles ernst,
auch sein Lachen.
Aber wenn er im Frühling in seinem Zimmer sitzt
und den Stuhl etwas näher ans Fenster rückt,
dann weiß er, daß auch er nur ein Arschloch ist,
unglücklich, voller Scheiße, ein kalter Furz,
eifersüchtig auf ungeschriebene Sätze.
Er besingt keine Revolutionen.
Autounfälle, Ungerechtigkeiten, Schicksale –
was geben sie her?
Warum denn Gedichte gegen Sauerstoffmangel,
wenn man sie doch nur zustandekriegt,
indem man zwanzig Zigaretten pafft?
Nietzsche küßte den Pferdehuf. Hölderlin saß weggeträumt
im Turm. Rilke reiste und litt, vom Leben abgeschirmt
durch Sehnsüchte, die sich nie erfüllten.
Dann kamen die Praktischen. Brecht. Benn.
Dann die Werbung. Schlager. Der Rest an Poesie
schrie sich heiser in immer kürzer werdenden Gedichten.
Plombierte Echokammern. Das ausbruchsichere Paradies.
Da kam er nicht mit. Er weiß wie es sich anhört, wenn
Taubstumme reden. Das ist es. Das ist es.
Die Intellektuellen träumten über Megaphone gebeugt,
als seien sie endlich aufgewacht. Zuhause lagen Vierzeiler
und Schlagstock beieinander.
Killerlaune, Romantiker. Haß und Liebe.
Was wollte er? Was blieb ihm? Den Zeiten angepaßt
das Zeitlose tun?
Liebe ist ein Wort und jeder Buchstabe wird einzeln
verhökert. Kaputte Seelen melden sich brillant zu Wort.
Was tun in einer Welt, in der es lächerlich geworden ist,
nicht zu töten?
Er lebt bescheiden, als sei er was Besonderes.
Was er schreibt, versteckt er in Büchern. Soll er
den Regenbogen rot anstreichen? Soll er öffentlich weinen?
Es geht ihm schlecht, aber das hält er für eine
Grundvoraussetzung, ohne die er hilflos wäre.
Es wäre schlecht um ihn bestellt, gäbe es nicht
dieses schöne, alte, altmodische Wort DICHTER.
Es ist wie ein Atmen, wie eine unendliche Wiederholung
unter wechselnden Bedingungen –
bis ihm ein Verrückter den Hals umdreht,
ohne daß eine letzte Zeile sein Ende verklärt.
Tagsüber ist ihm nichts anzusehen. Er wirkt eher
armselig. Nur manchmal, zum Beispiel auf Friedhöfen,
lebt er auf.
– Selbstbild mit russischem Klavier: Ein neuer Roman von Wolf Wondratschek – und eine Neuausgabe seines Werks zum 75. Geburtstag. –
Wie er vom popkulturellen Muskelprotz zum hochkulturellen Feingeist werden konnte, ist eine der seltsamsten Verwandlungen der jüngeren Literaturgeschichte. Wenn man als Wendepunkt die vier Erzählungen nimmt, die Wolf Wondratschek 2001 in dem Band Die große Beleidigung zu einem Panoptikum alternder Künstlerfiguren versammelte, bietet sich eine einfache Erklärung an. Früher oder später musste er den Berufsjugendlichen in Rente schicken. Für ihn war es eben mit 58 Jahren an der Zeit, die ewige Lederjacke gegen ein Sakko zu tauschen.
Die Zukunft überließ er seinem damals zehnjährigen Sohn, dem er über die Jahre schöne „Raoulito-Gedichte“ gewidmet hat. Die Hoffnung auf eine würdevolle Altersrenitenz zog er aus der Begegnung mit dem 80-jährigen George Tabori. Zwölf Monate lang, von Januar bis Dezember 2004, widmete er ihm im Playboy jeweils ein Gedicht. Daraus entstand der Zyklus „Tabori in Fuschl“. Und doch fällt es schwer, im Autor des ebenso sterbensmüden wie munter intonierten Selbstbildnis mit russischem Klavier, dem Roman, der zu seinem 75. Geburtstag am 14. August nun eine Neuausgabe seines Gesamtwerks im Ullstein Verlag eröffnet, den Dichter zu erkennen, dessen lakonische Zeilen Mitte der siebziger Jahre hunderttausendfach zuvor poesieabstinente Schichten erreichten.
Wondratschek traf mit seiner auf lyrisches Cinemascope aufgeblasener Empfindsamkeit ein Lebensgefühl. Amerika quoll dabei aus jeder Ritze – vor allem in den ersten seiner mittlerweile 13 Gedichtbände. Damals streifte er mit seinem Alter Ego Chuck durch ein urbanes Nirgendwo-Deutschland. Heute, in einem zutiefst europäischen Kosmos verankert, bewegt er sich durch ein zumindest in Umrissen erkennbares Wien, wo er seit über 20 Jahren zu Hause ist. Damals führte er William Burroughs, Bob Dylan, Velvet Underground oder die Frühvollendeten „James, Jimi und Janis“ im Munde. Heute hört er Bach, Schubert und Schnittke und spiegelt sich im melancholischen Greisentum eines fiktiven russischen Pianisten namens Suvorin.
Und erst vom Ton her: „Jetzt schreiben sie alle / einen ziemlich flotten Stil“, heißt es in einem selbstironischen Gedicht aus Männer und Frauen (1978), „knallhart, anbetungswürdig, banal, / mit ein paar eingestreuten surrealistischen / Tatsachen, ein paar Kleinigkeiten / in Lebensgröße und, ohne viel Worte, / jede Menge Übertreibungen. // Hauptsache, / es klingt nicht besser als die Zeitung / und du verstehst, was ich meine.“ Mit der Reverenz, die er nun Russlands größter Dichterin Anna Achmatowa erweist, verträgt sich das nicht:
Das Schweigen als Erkennungszeichen
Das insgeheim uns eint als Gleiche unter Gleichen.
Wenn man hinter dem offensichtlichen Bruch allerdings die heimliche Kontinuität sucht, ergibt sich ein schlüssigeres Bild. Biografisch ist es die lang eingeübte Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren. Sie ermöglichte es ihm schon vor bald 40 Jahren, einerseits mit Hamburgs legendärer Hure Domenica („Wenn sie mit ihrem Hintern wackelt, fließen die Flüsse bergauf“) am Boxring zu sitzen und anderseits in München „Musica viva“-Konzerte zu besuchen. Er konnte „Tabarin-Johnny“, einen Halbweltkönig von der Isar, in dem Heldenepos „Einer von der Straße“ (1992) besingen und sich daneben für die Zenkunst des Dirigenten Sergiu Celibidache bei den Münchner Philharmonikern begeistern.
Diesen Horizont erkannten auch zeitgenössische Komponisten. Wolfgang Rihm vertonte 1988 mit den „Lowry-Liedern“ einige seiner „Mexikanischen Sonette“ – und fünf Jahre später in den „Abschiedsstücken“ ein „Requiem“ auf Wondratscheks Partnerin, die Cutterin Jane Seitz, die sich das Leben genommen hatte. Detlev Glanert nahm sich in den „Carmen-Gesängen“ (1990) einiger Texte aus „Carmen oder Bin ich das Arschloch der achtziger Jahre“ an.
Literarisch liegt die Kontinuität in einem nichtauthentischen Schreiben und Sprechen. Den existenziellen Schmerz, den es verhandelt, hält es sich durch Rollen, Posen und Spiegelgestalten vom Leibe. Im breitbeinigen Western-Pathos der frühen Gedichte machte das, das drohende Ersaufen im gefühlstriefend Heroischen eingeschlossen, einen Teil seiner Modernität aus. In späteren Zyklen wie „Das Mädchen und der Messerwerfer“ (1997) mit der Zirkuswelt als Hintergrund gelangen Wondratschek geradezu magische Töne.
Der Ich-Erzähler von Selbstbild mit russischem Klavier dagegen mogelt sich, indem er seine ganze Verzweiflung an den Protagonisten delegiert, über jede eigene Bitterkeit hinweg. „Ich bin, was den Tod angeht, ein Feigling“, erklärt er in einem sentenzenreichen Kurzsatz-Parlando und verschwimmt dabei immer mehr mit Suvorin, einem trockenen Trinker auf den letzten Metern seines Lebens. Die Einsamkeit, die er ertragen muss – die Frau hat ein Bus überfahren, die erwachsenen Kinder sind unerreichbar – reicht auch bei ihm nur für bescheidene Weisheiten:
Ich bin, teilte er mir mit, ein Mann, der zu langsam stirbt. Ich habe, was ich haben wollte, gehabt, und was mich hätte umbringen können, überlebt.
Selbstbild gibt sich todestrunken, ist von seinem Thema aber bestenfalls beschwipst. Ohne einmal den Ton zu wechseln, kommt es ihm richtungslosen Dahinplaudern nicht vom Fleck. Aufgefüllt mit Anekdoten, die den Eindruck einer prallen Biografie erzeugen, und angereichert mit Schlaglichtern aus dem sowjetischen Jahrhundert, erzeugt es allenfalls das Trugbild eines Meisterpianisten. Das hat auch damit zu tun, dass der Musikenthusiast Wondratschek an das Wissen einer solchen Figur nicht heranreicht. Nicht jeder ist ein eloquenter Alfred Brendel. Aber wer in der Londoner Wigmore Hall oder in der Pariser Salle Pleyel Triumphe feiert, hat mehr intellektuelle Substanz zu bieten als ein mit Allerweltsweisheiten gespicktes Namedropping, wie es Wondratschek betreibt.
Svjatoslav Richters berüchtigte Langsamkeit, die Todsünde, Schubert „perfekt spielen zu wollen“, Bach als tägliche, dem Zähneputzen vergleichbare „Hygiene“ des Pianisten: Über solche Partikel geht es nicht hinaus. Am farbigsten erzählt er noch von dem verstorbenen Cellisten Heinrich Schiff, dessen Stradivari-Instrument Mara er mit ähnlichem Hang zur bloßen Oberfläche 1992 zum buchstäblichen Erzähler seiner gleichnamigen Erzählung machte.
Wondratscheks Selbstbild fehlt eine Radikalität, deren Mangel in seinen Gedichten nicht weiter auffiel, weil ihr großmäuliges Sentiment das Gegenteil zu beweisen schien. Sie besaßen nie die Gewalt von Gottfried Benn oder den Mut zur Hässlichkeit, wie ihn Rolf Dieter Brinkmann pflegte. Wondratscheks nächster literarischer Verwandter, dem er 1975 mit „Er war too much für Euch, Leute“ einen langen poetischen Nachruf widmete, war im Zweifel bereit zu jeder Selbstverletzung. Wondratschek taucht seine Leiden lieber in ein romantisierendes Licht. Als Dichter, dessen Texte auch im Ungereimten oftmals Songcharakter haben, hat er dennoch eigene Qualitäten.
Ob das für eine Renaissance reicht, wie sie Brinkmann schon mehrfach zuteil wurde, entscheidet sich nicht nur daran, dass in diesen lyrisch personal- und stimmenreichen Zeiten weit und breit niemand in Sicht ist, der ähnlich schamlos das Lebensgefühl des unaufhaltsam fortschreitenden 21. Jahrhunderts zu packen bekäme. Das hat auch mit einer Multiplikation von Milieus zu tun, die schon 18-Jährige je nach Konsumgewohnheiten unterschiedlichen Erlebniswelten zuteilt.
Die Polarität von Kultur und Gegenkultur hat sich aufgelöst, die Geschlechterordnung verkompliziert. Mit seinen archetypischen Mann-Frau-Konstellationen ist Wolf Wondratschek, der damit schon immer zu provozieren vermochte, jedenfalls nicht der Sänger der Stunde. Er ist aber ein ideales Riechfläschchen, mit dessen Hilfe die genderpolitisch Überkorrekten, die schon bei Eugen Gomringers „Avenidas“ in Ohnmacht fallen, auf einen Schlag wieder zu Sinnen kommen würden. Mehr noch: Sie könnten etwas von der Lust an einer Stilisierung erfahren, die ihm selbst schon antiquiert vorkam.
„Frauen, Frauen, Frauen / und Männer, Männer, Männer. / So war das mal“, beginnt ein Gedicht aus dem Jahr 1986.
Frauen, die wie Träume schauen
und Männer, die dabei Kaugummi kauen.
Wie schön das Leben sein kann.
Ein kleines, schmutziges Hotelzimmer
irgendwo am Rande der Welt.
In der Tür steht ein Mädchen
und sagt zu dir: Liebe, nix Geld.
Ist das große Lyrik? Sicher nicht. Ist das womöglich sogar fürchterlicher Kitsch? O ja. Welches Schicksal ihm mit solchen Gefühlslagen droht, stand ihm vor Augen. Denn er fährt fort:
In meinen
glücklichen
Augenblicken
fühle ich mich
vom Aussterben
bedroht.
Machen wir Wolf Wondratschek also noch für eine Weile glücklich.
Vertonte Gedichte aus Chuck’s Zimmer Interzone: Letzte Ausfahrt
Alke Lorenz: Musikalische Flaschenpost aus dem Jahr 1979
rbb24.de, 16.3.2019
Harry Nutt: Ich hänge in der Luft und du kannst fliegen
Berliner Zeitung, 16.3.2019
Das vergessene Album von Interzone
Weltpremiere: West-Berliner Band Interzone bringt nach 40 Jahren verschollenes Album raus.
Gepostet von radioeins am Montag, 11. März 2019
In der Podcastreihe Weekly Wondratschek vom Ullstein Buchverlag lesen Schauspielerinnen und Schauspieler aus den gesammelten Gedichten von Wolf Wondratschek.
Helmut Hein: Der dichtende Rebell aus Wien
Mittelbayerische Zeitung, 8.8.2018
Arno Widmann: Ein Liebhaber der Grenzüberschreitung
Frankfurter Rundschau, 14.8.2018
Knud Cordsen: Die Welt anrempeln: Kultautor Wolf Wondratschek wird 80
BR24, 14.8.2023
Willi Winkler: Dichter in Volksausgabe
Süddeutsche Zeitung, 13.8.2023
Rose-Maria Gropp: Dieser unverwechselbare Ton
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.2023
Albert Otti: Der einstige Rock-Poet schlägt leisere Töne an
Badische Zeitung, 14.8.2023
Sven Trautwein: Kultautor Wolf Wondratschek wird 80 – Alles Gute zum Geburtstag
24books.de, 15.8.2023
Daniel Dubbe: Hier darf man noch rauchen
junge Welt, 15.8.2023
Frank Schäfer: Der Rest ist Poesie
nd, 15.8.2023
Volker Weidermann: Letzte Schusswunden
Die Zeit, 16.8.2023
gero von boehm begegnet… Wolf Wondratschek am 8.7.2003 Teil 1/4.
gero von boehm begegnet… Wolf Wondratschek am 8.7.2003 Teil 2/4.
gero von boehm begegnet… Wolf Wondratschek am 8.7.2003 Teil 3/4.
gero von boehm begegnet… Wolf Wondratschek am 8.7.2003 Teil 4/4.
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