Wolf Wondratschek: Zu Jörg Fausers Gedicht „Der Zwang zur Prosa“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jörg Fausers Gedicht „Der Zwang zur Prosa“ aus Jörg Fauser: Trotzki, Goethe und das Glück.

 

 

 

 

JÖRG FAUSER

Der Zwang zur Prosa

Der Zwang zur Prosa, das ist der
Zwang zur Liebe, zum Rausch, zur
Metzelei, der rasende
Berserker greift zum Schlachtschwert
und zerlegt die Cafés von Angers,
es ist der Zwang zur Prosa,
der ihn berauscht, der den Poeten
mit spitzen Fingern das Pernodglas leeren
läßt und den Schlüpfer der Hure
an der Leine im Hinterhof streichelt,
es ist die Liebe zum Lamm,
die den Hirten niederbeugt in die Lache
der Erde, er trinkt das Blut, er badet
in Flüssen jenseits aller
Vernunft, jenseits der Bürger
und mäßigen Arbeiter, in seinen
Armen wiegt er das Kind
der heiligen Jeanne, er ist schutzlos,
ein Idiot mit Musik in den Muskeln,
er trinkt ihr Blut, er stirbt
den Tod der Ratte, unter Hausbesorgern
beißt er ins Gras, ein Mann
wie ein Rausch, ohne Zukunft, Berserker
ohne Bar ohne Frau ohne Schwert,
an der Loire ein Mann, er badet
in Bildern, in Prosa, in Wein,
er badet im Land, in der Sonne, im Blut
und tut alles unter der Fahne
des Winters, er weiß, es gibt
Liebe nicht so, Lämmer nicht so noch Heilige,
er sonnt sich in Schnäpsen, in Frauen,
in Prosa, in sanfter, vernünftiger
Metzelei…

 

Zum staunen

Der Zwang zur Prosa? Mir scheint dieses Gedicht von Jörg Fauser, der 1944 geboren wurde, von jener kollektiven Konsistenz zu sein, die wir am ehesten aus unseren Träumen kennen.
Das Gedicht beginnt mit einer Erklärung seines verblüffenden Titels, daß es sich bei dem Zwang zur Prosa um den gleichen Zwang handelt wie den zur Liebe, zum Rausch, zur Metzelei. Wahrlich, ein rasantes Tempo. Denn, bitte, was haben Metzelei und Liebe wohl gemeinsam? Die drei Behauptungen peilen knapp und eindeutig die Hauptfigur an, um die es hier geht: den rasenden Berserker. Er schafft den Zusammenhang, die Gemeinsamkeit, ohne daß sein Name genannt wird.
Wir erfahren, daß es sich nicht um einen ganz normalen Amokläufer unserer Tage handelt, sondern um einen Mann (der Geschichte offenbar), der mit dem Schlachtschwert ausgerechnet die Cafés von Angers zerlegt. Deutlicher braucht man es eigentlich nicht zu sagen, um ihn vor sich zu sehen: Gilles de Rais, ein Rasender, ein Berserker, Soldat, Geliebter, Kindsmörder. Immer schon eine Hauptperson in ganz besonderen Träumen. In dieser Radikalität verbleibt das Gedicht, wobei sich hier nur noch einer hinzugesellt: der Träumer selbst, der Poet.
Gilles de Rais also – und bei ihm (im Geiste dieser Vision) der schüchterne Poet, der seine Legende bis weit herüber holt zu den Symbolen der christlichen Reinheit. Aber für einen Pernodtrinker hängen eben auch im Garten Gethsemane die Schlüpfer der Hure auf der Leine. Wie die Poeten das machen? Ich kann selbst nur staunen. Und wie recht er hat, der Poet! Die Legende des Adeligen fließt wie ein schrecklicher Größenwahn zuletzt in die Wiederholungen und Variationen, die Wörter und die Bilder. Sanfte vernünftige Metzelei? Natürlich nur, wenn man Fausers Überzeugung teilt, daß der Zwang zur Prosa die einzige und wohl einzig wirkliche Errettung darstellt vor dem Elend unglaublicher Exzesse. Wird ein Gedicht um so besser, je eindeutiger wir es schließlich interpretieren können? Lernen nicht die Schüler Poesie erst dann hassen – freilich von allem Anfang an –, wenn man sie zu jener Art Vergewaltigung anregt, die darin gipfelt, das Objektive festzustellen? Oder wie es heißt: den Sinn?
Zum Beispiel könnte es sein, daß Fauser tatsächlich eines schönen Tages irgendwo am Flußlauf der Loire gelegen hat, berauscht vom Wein, von der Erinnerung an den Mann dieser Landschaft, den Schlachten, dem Morden und der Geschichte einer Erlösung, die auf sich warten läßt. Und daß ihm bei der Niederschrift seines Gedichts das „Objektive“ so restlos gleichgültig war wie einem Ertrinkenden die chemische Zusammensetzung des Wassers.
Ich finde an diesem Gedicht die artistische Seite interessant, den Versuch, sprachlich, rhythmisch, metaphorisch Vision und Gegenwart zu verschmelzen zu einem Eindruck, der – trotz allen Zwangs zur Prosa – so nur in der Poesie möglich ist.
Das vergleichsweise Außergewöhnliche dieses Gedichts ist ja, daß Fauser hier einen fast mittelalterlichen, gregorianischen Ton trifft und auch melodisch durchhält, der wie ein Psalm klingt, der Psalm eines Abendmahls mit Blut und Schnaps, Huren und Heiligen – und dem trunkenen Poeten dazu (auch wenn das schon beinahe ein selbstgefälliges Bild darstellt, das nur noch schwer zu akzeptieren ist). Er liegt am oder schon unterm Tisch. Was hat dann einer wie er, der nur Füße sieht, für eine Erleuchtung?
Er sieht keine Schlachten mehr, auch keine Flüsse in Blut, Jeanne d’Arc – auch von ihr mag er nur eine poetische Vorstellung haben. Also ist er ihr Bruder im Geiste, ihr Geliebter, zurückgekehrt in der Verwandlung des kleinen miesen Poeten, der nur im tiefsten Schatten sich einbilden mag, ein Sonnenkönig zu sein. Er ist kein Berserker, es sei denn, der Zwang zur Prosa höre auf, und zweifellos ist er kein Hirt – über welche Herde sollte er wachen?
Dieses Gedicht ist nicht rätselhaft und doch ein Rätsel; auch Träume, wie wir wissen, sind auf ihre Art wirklich. Die Hinterhöfe, sie grenzen manchmal tatsächlich auch an die Ufer jener Flüsse jenseits der Vernunft. Zum Staunen ist es schon.

Wolf Wondratschekaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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