Wolfdietrich Rasch: Zu Gottfried Benns Gedicht „Ein Schatten an der Mauer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Ein Schatten an der Mauer“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Ein Schatten an der Mauer

Ein Schatten an der Mauer
von Ästen, bewegt im Mittagswind,
das ist genügend Erde
und hinsichtlich des Auges
genügend Teilnahme
am Himmelsspiel.

Wie weit willst du noch gehn? Verwehre
doch neuen Eindrücken
den drängenden Charakter −

stumm liegen,
die eigenen Felder sehn,
das ganze Rittergut,
besonders lange
auf Mohn verweilen,
dem unvergeßlichen,
weil er den Sommer trug −

wo ist er hin −?

 

Zweifelhafte Altersweisheit

Ein spätes Gedicht, das das Bewußtsein der Spätzeit des Lebens zu seinem Thema macht, Herbstlichkeit als Reduktion zu bejahen sucht, kann vielleicht am ehesten den nach dem Zweiten Weltkrieg so schnell zu neuem, spätem Ruhm gelangten, dann um so schneller fast vergessenen Gottfried Benn als einen dennoch Überlebenden erkennen lassen. Denn der Anfang ist sehr stark, diese an ein Haiku erinnernden ersten drei Zeilen, und auch die weiteren drei Zeilen, die die Anfangsstrophe zu Ende bringen, sind souverän hingesetzt, sparsam im Wort, prägekräftig.
Für die Kommunikation des Ichs mit der Welt genügt ein winziges Stückchen an Gegenständlichkeit, an „Erde“, ja eine bloße Spiegelung von Gegenständlichem im Schattenbild, das das „Himmelsspiel“ des Lichtes an die Mauer wirft. Dieser Schatten vermittelt das Feste, Erdhafte sowohl wie das Unkörperliche des Lichtes, das „Himmelsspiel“.
Daß ein winziges Stückchen Wirklichkeit für den totalen Weltbezug genügt, wird in der ersten Strophe noch nicht als spezifische Erfahrung des Alters bezeichnet. Doch in der zweiten Strophe wird die Alterssituation angedeutet: „Wie weit willst du noch gehn?“ Der nüchtern prosaische, sich dem Melos verweigernde Ton, der mit dem „hinsichtlich“ angeschlagen war, wird aufgenommen in der Selbstermahnung des Alternden, sich neuen Eindrücken nicht gerade ganz zu verschließen, aber sie doch nicht sehr nahe kommen zu lassen, ihren „drängenden Charakter“ abzuwehren. Hier wird spürbar, daß das, was in der ersten Strophe als Überlegenheit erscheinen konnte, auch eine Schwäche ist, verminderte Aufnahmekraft, ein ermüdetes Sensorium, das der Bedrängnis durch die Fülle neuer Erfahrungen nicht mehr gewachsen ist.
Es macht die Qualität des Gedichts aus, daß Benn die Altersreife nicht einfach als Vorzug behauptet. Die Fähigkeit, im unscheinbarsten Stückchen Wirklichkeit den totalen Weltbezug zu gewinnen, wird als Kehrseite eines Mangels fühlbar, und es bleibt in der Schwebe, ob der Gewinn größer ist als der Verlust.
Die Fülle, so Strophe drei, läßt sich nicht mehr angemessen neu aufnehmen, sondern nur noch wiedererkennen als das, was man sich bereits früher zugeeignet hatte: „stumm liegen, / die eigenen Felder sehn“. Leise wechselt die Tonart in Moll, der Besitz wird nicht eben mit Zufriedenheit empfunden, auch wenn sich der Besitzende so zu geben scheint. Ironie fällt ein: „das ganze Rittergut“. Woher kommt das im Kontext befremdliche Wort? Wahrscheinlich aus einem beliebten Schlager der zwanziger Jahre, in dem es (rhythmisch identisch) hieß: „Ich hab’ kein Rittergut.“ Auch der Alternde hat kein Rittergut; wenn er seinen Erlebnisbesitz so nennt, verspottet er ihn als fiktiv. Der Blick auf die „eigenen Felder“, auf den Mohn nimmt nicht mehr dessen gegenwärtiges Dasein auf wie früher, sondern nur noch die Erinnerung an dieses Früher. Das sichtbar Wirkliche verwandelt sich auf fatale Weise in nur Erinnertes. Aber das Erinnerte ist verloren, kein besessenes Rittergut. Der Mohn ist unvergeßlich, „weil er den Sommer trug“. – Hier erscheint erstmals das Imperfektum, hart, endgültig.
Das Ende des Gedichtes scheint sehr viel schwächer als der bezwingende Anfang; die Formspannung hat nachgelassen, die letzte Strophe mündet in einen der ältesten Topoi herbstlicher Vergänglichkeit, schon hinabgesunken in Trivialtexte („Sag mir, wo die Blumen sind?“). Die mißtrauischen Benn-Leser werden wohl sagen: Da ist wieder dieser Beiklang von Dehmel oder Liliencron, den Benn bei aller Artistik nicht los wird.
Aber solche Kritik würde das parodistische Element überhören, den kalkulierten Einsatz des allzu gängigen Topos, der damit einen Ausdruckswert gewinnt. Er besagt etwa: Wenn der Altgewordene sich stark machen möchte für weise Reduktion der Welterfahrung, für den Wert der Bescheidung auf das unscheinbarste Stückchen Wirklichkeit und auf den Rückblick – gerade dann entgeht er nicht der Sentimentalität.

Wolfdietrich Rasch, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00