Wolfgang Bächler: Gesammelte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolfgang Bächler: Gesammelte Gedichte

Bächler-Gesammelte Gedichte

KATA-STROPHEN

Was sind schon Kältewellen, Schneestürme,
aaaaaSchneeverwehungen,
Lawinen, steckenbleibende Autos und
aaaaaStraßenbahnen,
Zugverspätungen, Eiszeiten, eingefrorene Lastkähne,
erfrorenes Wild, Schneeschmelze, Dauerregen,
aaaaaÜberschwemmungen,
Sturzfluten, Sturmfluten, Sintfluten, Schiffsuntergänge,
Hitzewellen, Dürre, Heuschreckenplage, Waldbrände,
Steppenbrände, ausgetrocknete Bäche und Flüsse,
all diese Wasser- und Feuerkatastrophen,
diese gewaltsamen Veränderungen der Natur,
unter denen wir leiden,
oder die wir von ferne betrachten und lesen,

gegen eine so sanfte und leise Veränderung,
wenn die Erde eines Tages stillstünde
auf ihrem Weg um die Sonne,
wenn es eines Abends Tag bliebe,
nicht mehr dämmerte,
nicht mehr dunkel würde,
wenn wir immer der Sonne ausgesetzt wären,
einem Licht, das nur manchmal Wolken mildern?

Oder wenn es eines Morgens Nacht bliebe,
dunkel, wenn es nicht mehr dämmerte,
wenn auch mittags nur Mond und Sterne
ihr mattes Licht über die Dächer und Straßen streuten?

Da wir an Tag- und Nachtverhalten,
Sonnen- und künstliches Licht gewöhnt sind,
gäbe es nach dem ersten Schock und Abwarten
viele Umstellungen, Änderungen von Gewohnheiten,
Lebens- und Schlaf- und Arbeitsrhythmen,
Versorgungs- und Energieprobleme, aber kaum Unfälle
und Katastrophen. Nachtmenschen würden die ewige Nacht,
Tagmenschen den ewigen Tag zuerst freudig begrüßen.

Doch langsam nähmen die psychischen Krankheiten zu:
Seelische Gleichgewichtsstörungen und Verstörungen,
Depressionen und Aggressionen, Selbstmordversuche,
Alkoholismus und die Sucht und die Suche nach Drogen,
die künstlichen Tag oder künstliche Nacht herstellen würden.
Die veränderten Lichtverhältnisse würden das ganze Verhalten,
würden die Seele der Menschen ändern.

Nicht von heute auf morgen, langsam und erst unmerklich
würden sich auch die Veränderungen in der Natur
vollziehen, in der Vegetation, in der Tierwelt,
die Klimaveränderungen. Würde der Mensch ihrer Herr?
Was würde noch reifen in der Nacht,
was nicht verdorren am Tag?

Welche Pflanzen- und Tiersorten stürben aus,
welche nähmen gefährlich zu?
Was so idyllisch begann,
nach einem Jahr Nacht,
nach einem Jahr Tag
wäre die Katastrophe vollendet.

 

 

 

Nachwort

„Daß Bächler in die Geschichte der Nachkriegslyrik gehört, ist selbstverständlich, muß aber wohl wiederholt werden“, schrieb Heinrich Böll im April 1976 in seiner Besprechung des Bandes Ausbrechen in der Süddeutschen Zeitung. An das Selbstverständliche muss erinnert werden, und auch die erneuerte Erinnerung bedarf der Wiederholung. So kann man den Entschluss des S. Fischer Verlags, das lyrische Gesamtwerk Wolfgang Bächlers (1925–2007) in einer seiner bestechend schönen Kleinoktav-Ausgaben dem von Rose Ausländer, Hilde Domin, Reiner Kunze, Robert Gernhardt an die Seite zu stellen, nur freudig begrüßen. Schon Böll dankte dem Verlag, dass er die Wiederbegegnung mit Bächler ermögliche. Möge dieser Band nicht nur eine Wiederbegegnung, sondern für viele jüngere Leser auch eine Erstbegegnung mit dem großen Dichter herbeiführen. Und die Selbstverständlichkeit zur erregenden Erfahrung machen, dass Bächler mehr ist als ein Lyriker der Nachkriegszeit: Als die Sammlung von 1976 das „Ausbrechen / in die Freiheit des Schweigens“ verkündete, musste man befürchten, der Dichter könnte für immer verstummen. Aber 1982 folgte Nachtleben, ein Band mit 64 neuen Gedichten. Ein Gesang, der 1950 mit soviel mitreißender Verve einsetzte, konnte nicht mit dem Ende der Nachkriegsjahre abreißen, eine so herzbewegende Stimme nicht von Restauration und Wirtschaftswunder erstickt werden.
Wer Bächler einmal eines seiner Gedichte vorlesen gehört hat, und ich hörte ihn oft, verlor diesen Tonfall, diesen Rhythmus kaum mehr aus dem Ohr.

Ein Tonfall wird
zum Fall aus der Zeit.

Die Sprache dehnt sich,
sie bricht und denkt,
ritzt ihre Zeichen
in die leeren weißen Schneisen,
fährt mit uns aus,
fährt mit uns heim
auf den Strömen der Welt.

Schon der zwanzigjährige Kriegsheimkehrer scheute in seinen Versen das Pathos nicht, nicht in der Wahl der Worte, der Bilder, des Reims, der Metrik. Man beklopfe sie, behorche sie – eine hohle Stelle wird man nicht finden. Immer fühlt man den Puls eines leidenschaftlich gesteigerten Daseins.
Das Debüt des Fünfundzwanzigjährigen, die im damals tonangebenden Lyrikverlag Bechtle in Esslingen 1950 erschienene Zisterne mit ihrem schwarzweißen, karg-geometrischen Umschlag (von Martin Andersch), erwarb ich drei Jahre später, achtzehnjährig zum Studium nach München gekommen, in der „Buchhandlung an der Briennerstraße“, wo schon Thomas Mann eingekauft hatte; der Band wurde mir zum Kultbuch, gleich das erste Gedicht, „Die Fontäne“, prägte sich für immer ein.

Kühn steige ich und falle
zerstäubt vom Überschwalle
nur immerzu in mich.
Ich baue Zaubertürme.
Durch Wind und Wetterstürme
aufwirbelnd tanze ich.
Zersprühende Gewalten
sich neu in mir gestalten
und Sonnen spiegeln sich.

Objekt und Subjekt, Bild und Ich verschmolzen zur untrennbaren Einheit. Das Element – Wasser und Sprache waren eins – ballte sich zur Gestalt des neuen Gedichts. Der Beginn dieses lyrischen Sprechens klingt für mich noch heute wie die ersten Takte der c-Moll-Symphonie von Brahms: die Paukenschläge, die den Hörer übergangslos in eine absolute Erlebnis- und Ausdrucksdimension stoßen, und wirklich existierte ja eine gewisse physiognomische Ähnlichkeit des Dichters mit dem Komponisten, die offenbar schon früh bestand. Sonst hätte der Autor der „Pariser Erinnerungen“ (im Prosaband Stadtbesetzung) nicht vermerken können, dass die wegen ihrer Frechheit berühmten Straßenjungen des 18. Arrondissements ihm weder Brahms noch Marx noch Däubler noch Hemingway nachriefen, sondern sich mangels musikalisch-literarischer Bildung auf Fidel Castro beschränkten.
1943 war der achtzehnjährige Augsburger in den Krieg eingezogen worden.

Als ich Soldat war, schrieb ich kein Gedicht.
Auf Schmerz und Tod gab’s nur den alten Reim.
[…]
Die Verse schliefen irgendwo daheim.

Es ist das alte, hier aber am eigenen Leib, an der eigenen Stimme erfahrene Motiv des „Inter arma silent Musae“. Gleichzeitig konnte man die Verse, eben weil sie Verse waren, umgekehrt lesen: Als ich kein Soldat mehr war, wurde ich Dichter. Nach der Ebbe die doppelt mächtig zurückkehrende Flut. „Immer noch trägt uns die ewige Strömung“, heißt ein hymnisches, Stephan Hermlin gewidmetes Gedicht. Wie anders setzt die Bächlersche Lyrik ein als die auf Reichweite sich beschränkende Bestandsaufnahme, die tastende Zurückgewinnung von Wirklichkeit und Sprache in dem berühmten „Inventur“-Gedicht von Günter Eich („Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen. // […]“), das so gern als exemplarischer Auftakt einer neuen Literatur nach dem Krieg zitiert wird. Wolfgang Bächlers Gedichte, nicht weniger als die von Günter Eich, dem in der Zisterne ein Stück gewidmet ist, Signale eines überlebenden – Bächler war 1944 in den französischen Alpen lebensgefährlich verwundet worden –, sprechen eine ganz andere Sprache und bezeugen, dass auch diese Antwort auf die Katastrophe möglich und legitim und die Rede vom Kahlschlag nur teilweise richtig war. (Dass Bächler andererseits Kahlschlag-Prosa schreiben konnte, bewies er mit dem ebenfalls 1950 erschienenen Roman Der nächtliche Gast.) Die Erde bebt noch: Dieser Titel versammelte 1982 die ersten drei Lyrikpublikationen des Dichters: neben der Zisterne die Bände Lichtwechsel (1955) und Türklingel (1962). Das Gedicht „Die Erde bebt noch“ war am 28. April 1947 in der Neuen Zeitung erschienen und wurde mit seinen vier fünfzeiligen gereimten Strophen (abaab) und seiner an expressionistischen Vorbildern geschulten Sprache zu einem der exemplarischen deutschen Nachkriegsgedichte:

Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten.
Die Wiesen grünen wieder Jahr für Jahr.
Die Qualen bleiben, die wir einst erlitten,
ins Antlitz, in das Wesen eingeschnitten.
In unsren Träumen lebt noch oft, was war.

Unvergesslich auch die dritte Strophe:

Die Städte bröckeln noch in grauen Nächten.
Es weht noch Asche unterm Blütenstaub.
Die Toten stöhnen manchmal in den Schächten.
Und auf den Märkten stehen die Gerechten
und schreien, schreien ihre Ohren taub.

Als ich vor einigen Jahren für den C.H. Beck Verlag die von Ludwig Reiners 1955 herausgegebene Lyrik-Anthologie Der ewige Brunnen aktualisieren sollte, war es für mich gar keine Frage, dass in die Rubrik „Aus der Geschichte“ „Die Erde bebt noch“ hineingehörte. Bei Reiners waren Drittes Reich und Nachkriegszeit nur durch ein langes Gedicht von Werner Bergengruen vertreten, das problematischerweise Deutschlands Leiden als stellvertretende Sühne für die Schuld der „Völker der Erde“ deutete. Um den zeitgeschichtlichen Charakter der Verse des zweiundzwanzigjährigen Wolfgang Bächler zu betonen, wählte ich die ursprüngliche Fassung aus der Neuen Zeitung, die ich Hilde Domins Anthologie Nachkrieg und Unfrieden. Gedichte als Index 1945–1970 (Sammlung Luchterhand, 1970) entnahm. Sie weicht an neun Stellen von der schon drei Jahre später in der Zisterne veröffentlichten Gestalt ab. Ich fand, daß das „Beben“ in dieser Urfassung noch deutlicher vernehmbar sei, auch wenn oder gerade weil formal manches etwas unbeholfener wirkte. Zum Vergleich die dritte Strophe:

Die Städte bröckeln noch in den Gewitternächten.
Der Wind weht Asche in den Blütenstaub
und das Geröchel der Erstickten aus den Schächten.
Doch auf den Märkten stehen schon die Selbstgerechten
und schreien unsere und ihre Ohren taub.

Besonders auffällig war die Verletzung des jambischen Rhythmus in der ersten Zeile: Statt „Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten“ hieß es „Die Erde bebt noch unter den Stiefeltritten.“ Das „unter“ war unmittelbarer, plastischer, gewaltsamer.
Zu meiner Bestürzung erfuhr ich von einem gemeinsamen Bekannten, dass der achtzigjährige Bächler sehr unglücklich sei über die „fehlerhafte“ Wiedergabe des Gedichts im Ewigen Brunnen. Inzwischen steht es in einer neuen Auflage in seiner autorisierten Gestalt da: in dem ausdrücklich als „2. Fassung“ bezeichneten Wortlaut der Ausgabe von 1982, die allerdings gegenüber der ersten Fassung in der Zisterne wieder zu einigen Formulierungen der Urfassung des Zeitungsabdrucks zurückgekehrt ist. Trotzdem ging mir an diesem Beispiel die starke Formbewusstheit des Dichters auf, die unablässige Anstrengung, Erfahrungen, die den anderen den Boden unter den Füßen wegziehen, ihnen die Sprache verschlagen, seinem Wort gefügig zu machen. Dies lässt sich ja auch den verschiedenen Fassungen mancher seiner andern Gedichte ablesen. Die „Herbstvariationen“ aus der Zisterne tauchen sogar ein drittes Mal – nach der Lichtwechsel-Fassung – in Türklingel auf. Diese Neufassungen entspringen nicht nur, wie gesagt, dem Willen des Autors zur Vervollkommnung seiner Gebilde, sie sind auch eindringliche Indikatoren der Kontinuität des lyrischen Frühwerks. In veränderter Gestalt wird die Klanggewalt des Anfangs auch in „Türen aus Rauch“ aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre hörbar:

Die gelben Mauern des Sommers ergrauten.
Türen aus Rauch gingen auf
in den Traum von Ernten,
die ich nicht einbringen konnte,
die faulten, bevor sie reiften.
Türen aus Rauch fielen zu,
gingen auf in den Wald,
lösten sich auf in den Kuppeln.
Doch sah ich kein Feuer.

Hier wird die Trauer angesichts des poetischen Scheiterns große Poesie.
Wo sonst in den Versen jener Jahrzehnte die skelettierte Strophe, der ausgeblutete Vers, das in undurchdringliche Chiffren verkapselte, hermetisch abgeriegelte Gedicht oder, auf der anderen Seite, das Parlando einer rückhaltlos mitteilsamen, oft nur geschwätzigen Lyrik sich schmal- bzw. breitmachen, findet sich bei Bächler bis in die Nachtleben-Gedichte hinein mitreißende Melodik, eine Himmel und Erde umspannende Sprachgebärde. Wir haben es mit Schöpfungen zu tun, die aufs Große und Ganze gehen, die es sich leisten können, die kühne Metapher zu wagen. Da bespringt der Wind die Küste, hat die Flut Schaum auf den Lippen, reißt die Erde ihre Augen auf, stoßen Vogelgeschwader gegen die Maschen des ungeheuren Netzes der Strahlenspinne Sonne. Katzenaugen schlüsseln die Nacht auf, der Morgen schneidet den Schläfer mit blankem Messer aus dem Tuch des Traums. Eine zweite Sintflut überschwemmt das Gebirge, wäscht die verseuchte Erde rein und erneuert den Kindheitstraum von der Fahrt in der Arche:

Die wilden Tiere gezähmt
zu freundlichen Reisegefährten, –
sie nehmen dich auf den Rücken,
sie fressen dir aus der Hand,
sie reiben ihr Fell an deiner Haut,
sie tauschen mit dir den Blick und die Wärme,
sie teilen mit dir das Mahl,
sie sprechen mit dir
eine plötzlich verständliche Sprache.

In einer segmentierten Wirklichkeit sterben die Bilder ab. Bei Bächler ist der Zusammenhang der Welt – soll man sagen: noch einmal? – gewahrt, die Lebendigkeit der Dinge bemisst sich nach ihrer Verwandlungsfähigkeit. Plötzlich entwurzelte Bäume fliegen über das Wasser, ein Baum wächst dem Träumer aus der Brust, verzweigt sich, die Wurzeln umklammern sein Herz. In Raum und Zeit entfernte Orte gehen ineinander über: fränkischer Hain und Bois de Boulogne. „Verzweigungen“ heißt ein Gedicht aus dem Band Nachtleben:

Die letzten Wälder wachsen zu einem Baum zusammen,
der seine Äste über die Erde verzweigt.
Wo er nicht hinreicht,
sind Wüsten und Meere.

Bei aller Variationsbreite, über die dieses lyrische Sprechen verfügt, gibt es doch einen spezifischen Bächler’schen Rhythmus, der seine Welt gewissermaßen im Innersten zusammenhält. Es ist der Wechsel von zweisilbigen und dreisilbigen Metren, der Spannung und Lösung ineinander verschränkt und einer lapidaren Schlusszeile entgegentreibt.

Alles, was leicht war an mir
tragen die Möwen ins Meer.

Das sind zwei aus jeweils zwei Daktylen symmetrisch gebaute Anfangszeilen („Bretonischer Abend“). Das Gedicht endet in verkürztem Rhythmus mit einer definitiv klingenden Schlusszeile:

Aus der Mühle der Uhr
fällt das Stundenmehl
über Stühle und Tisch,
mein Bett und dein Haar.

Der Peter Huchel gewidmete „Herbst im Vaucluse“ beginnt ebenfalls daktylisch locker:

Der letzte Bauer
schließt seine Scheuer,
sattelt sein Maultier
und reitet den Himmel hinunter.
Über die Erde
gleitet sein Schatten.

Wieder steht am Ende der Jambus wie ein letzter Glockenschlag:

Rot tropfen die Trauben
den Weinberg hinab.

Wenn die Kraft der poetischen Anverwandlung einmal nicht ausreicht, sie vor einem ihrer mächtigen Gegenstände kapituliert, bleibt immer noch die via negativa, die nicht nur Theologen und Philosophen, sondern auch den Dichtern zugänglich ist, wie Bächlers Gedicht „Die Stadt“ bezeugt:

Ich wohne draußen vor den Toren.
Es nützt mich nichts,
die Stadt zu untergraben,
zu überfliegen,
zu belagern,
in sie einzudringen,
auf den höchsten Turm zu steigen:
Sie ergibt sich nicht.

Aber auch die via negativa führt nicht immer ans Ziel.
Der Verwandler kennt auch die Qual der Vereinzelung, das Gebanntsein an den Ort, wo der „Baum nicht hinreicht“ und der dadurch zur Wüste wird. Bächler weiß nicht nur von, sondern auch aus dieser Wüste ein Lied zu singen – und öfter noch weiß er es nicht mehr, er hat dann „Schreibverbot“, verweigert die Aussage. Ein Text in der „Stadtbesetzung“ beginnt mit dem Satz:

Zur Zeit kann ich weder lesen noch schreiben.

Man hat alle Ursache, diese Mitteilung nicht als poetisches Paradox, sondern ganz wörtlich zu nehmen – auch wenn das „zur Zeit“ damals noch kurze Intervalle enthielt, in denen wenigstens die Verlautbarung der Stummheit möglich war. Nach dem Erscheinen der Türen aus Rauch (1963) hat Bächler erst dreizehn Jahre später wieder neue Gedichte veröffentlicht. In der Zwischenzeit publizierte er ein einziges Büchlein: die Traumprotokolle (1972). Es handelt sich um die Niederschriften der Träume, die der unter schweren Depressionen leidende Dichter seinem Therapeuten erzählte. Wir haben es nicht etwa mit einer Materialsammlung für angehende Psychoanalytiker zu tun, sondern mit hochkarätiger Literatur. So machen wahre Dichter aus ihrer tiefsten Lebensnot eine künstlerische Tugend. Bächlers Depressionen hatten ihre endogene Ursache und waren insofern des Protokollisten privates Unglück. Sie sind aber auch eine höchst allgemeine Angelegenheit, unser aller Sache. Bekanntlich hat Freud, wenigstens zunächst, Träume als Wunscherfüllungen gedeutet. Sonderbare Wünsche, die bei diesem Dichter-Träumer in Erfüllung gehen. Ein Ich, das nahezu Nacht für Nacht auf der Flucht ist, verfolgt, aus- und aufgespürt, verhaftet, verhört, geschunden wird, das ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht, in einen bergenden Bezirk: ein Haus, eine Stadt hinein- oder aus einem Belagerungszustand herauszukommen – ein solches Ich ist wohl weniger ein Wunsch-Ich als das von allen traumatisierenden Wirkungen der Zeit gezeichnete.
„Wir sind die Söhne gnadenloser Zeit“, heißt es schon in der Zisterne – eine Wahrheit, die sich nicht nur in diese, nicht nur mit dieser Zeile bannen ließ, auch deswegen nicht, weil die Zeit in den Jahrzehnten nach dem Krieg weiterhin mehr oder weniger gnadenlos blieb. So brachte sie, in unaufhebbarem Wiederholungszwang, Träume hervor, und diese Träume verwandelten sich in Zeilen. Die schmerzhafte Genauigkeit von Bächlers Sprache hat hier ihren Ursprung. Sein Gedicht ist, ohne je zum bloßen Gebrauchsgegenstand abzumagern, scharf genug, auch als Messer zu dienen. Durch die Jahrzehnte hat es sich als widerspenstig gegen jeden Vereinnahmungssog, gegen jede Form von Herrschaft erwiesen. Mit diesem Werk ließ sich kein Staat machen, das sichert sein Überleben.
Wolfgang Bächlers Sprachkunst, die nie etwas von ihrer beschwörenden Inbrunst verlor, steht im Dienst eines unermüdlichen Wiederbelebungsversuchs an einer von Eiseskälte bedrohten, der Erstarrung anheim fallenden Welt, zu der auch die eigene Gefühlszone gehört. Unter den Atemstößen seiner Verse werden die Dinge, werden Ich und Du ins Leben zurückgerufen, wenn auch vielleicht nur für die Augenblicksdauer des Gedichts, das seinerseits der immer neuen Erweckung durch den Leser bedarf.

Die Liebe, die vor zweitausend Jahren
in Delphi begann, eine Schulbank,
die unbeschriebene Tafel,
eine Grammatik der griechischen Sprache,
das Haupt der Medusa Rondanini,
ein Atlas, in dem das Meer so blau war
wie du es später nie mehr gesehen.

Das bei Meeresglätte „fragende Segel“, das die „Antwort des Windes“ erwartet, ist auch eine Metapher für das Gedicht selbst, das unsere Antwort erwartet.

Albert von Schirnding, Nachwort

Nachbemerkung zu dieser Ausgabe

Dieser Sammelband folgt in seiner Aufteilung und Chronologie grundsätzlich Wolfgang Bächlers Gedichtbänden Die Zisterne (1950), Lichtwechsel (1955; zweite, überarbeitete Auflage 1960), Türklingel (1962), Türen aus Rauch (1963), Ausbrechen (1976), Nachtleben (1982), Ich ging deiner Lichtspur nach (1988) und Wo die Wellenschrift endet (2000). Hinzu gesellt sich der Kalender der Eremiten-Presse aus dem Jahr 1977, der eine Auswahl von Bächlers Nonsens-Versen enthält. Ein früher Druck mit drei Gedichten, betitelt „Tangenten am Traumkreis“ nach einer Zeile aus den „Herbstvariationen“ und erschienen 1950 bei der Eremiten-Presse in Frankfurt am Main (oder zumindest angekündigt und in der Verlagsbibliographie verzeichnet), muss als verschollen gelten.
Der Band Ausbrechen erschien zunächst mit dem Untertitel „Gedichte aus 30 Jahren“ und präsentierte neben neuen Gedichten eine Auswahl aus Bächlers ersten vier Lyrikbänden; unter dem gleichen Titel Ausbrechen, aber mit dem Untertitel „Gedichte aus 20 Jahren“ erschien 1981 eine Taschenbuchausgabe, die die ersten drei Gedichtbände nicht mehr berücksichtigt.
Diese ersten drei Bände Die Zisterne, Lichtwechsel und Türklingel sammelte dann noch einmal der 1982 im Bechtle Verlag erschienene Band Die Erde bebt noch. In diesen hat Wolfgang Bächler einige Gedichte aus Die Zisterne nicht aufgenommen; gleichzeitig hat er den gesamten Band um einige Texte ergänzt. Die vorliegende Ausgabe der gesammelten Gedichte bringt erneut sämtliche Texte aus Die Zisterne und berücksichtigt zugleich die späteren Neuaufnahmen.
Ich ging deiner Lichtspur nach, herausgegeben von Peter von Becker, stellt die Liebesgedichte Wolfgang Bächlers zusammen und enthält neben einigen neuen Gedichten auch Prosatexte, die bereits 1979 in dem Band Stadtbesetzung erschienen waren (und von denen zugleich unveröffentlichte lyrisch umbrochene Fassungen existieren). Angesichts der Besonderheit und Bedeutung solcher Prosagedichte für Wolfgang Bächler – Anfang der 90er Jahre dachte er sogar an eine entsprechende Buchveröffentlichung – sammelt der vorliegende Band alle infrage kommenden Texte aus Stadtbesetzung in einem eigenen Kapitel.
Für den Auswahlband Wo die Wellenschrift endet, im BABEL Verlag herausgegeben von Kevin Perryman zum 75. Geburtstag des Autors, hat Wolfgang Bächler einige seiner alten Gedichte geringfügig überarbeitet. Für die vorliegende Ausgabe wurden diese Fassungen letzter Hand berücksichtigt; auch generell wurden spätere Textänderungen von den Herausgebern als maßgeblich betrachtet. Gedichte, die in relevant voneinander abweichenden Versionen vorliegen, sind mehrfach abgedruckt. Anmerkungen und Hinweise bei den entsprechenden Texten geben – soweit im Rahmen dieser Leseausgabe möglich – darüber Aufschluss.
Zusätzlich zu den in Buchform veröffentlichten Gedichten Bächlers sammelt der vorliegende Band verstreut Veröffentlichtes und macht auch einige Texte aus dem Nachlass zugänglich. Die Anordnung folgt in beiden Fällen der Chronologie, auch wenn genaue Entstehungsdaten der Texte selten zu ermitteln sind. An der Auswahl der nachgelassenen Texte sollte sich vor allem die Breite und Vielfalt von Wolfgang Bächlers lyrischem Schaffen ablesen lassen, die versuchshalber und im Stillen beschrittenen Wege, die letztlich unrealisiert gebliebenen Möglichkeiten.
Die Herausgeber danken der Monacensia für die gewährten Einblicke in den Nachlass sowie dem Lyrikkabinett in München für die sachkundige Unterstützung der Recherche.

Jürgen Hosemann

 

Inhalt

Er war das jüngste Gründungsmitglied der Gruppe 47, hochgelobt von Dichtern wie Thomas Mann, Gottfried Benn und Heinrich Böll. Er schrieb Liebesgedichte, in denen die Liebe nicht benannt wird, und die vorsichtigsten und zerbrechlichsten Verse der deutschen Nachkriegsliteratur. Zeit seines Lebens blieb er ein Autor für Kenner und Eingeweihte, ein immer im Verschwinden begriffener Riese. Sein lyrisches Werk wuchs in die Tiefe statt in die Breite und liegt nun – ergänzt um bisher unveröffentlichte Texte und ein Nachwort von Albert von Schirnding – mit diesem Band erstmals gesammelt vor.

S. Fischer Verlag, Ankündigung

 

Riesenknie

– Wolfgang Bächlers Lyrik. –

Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten.

Mit dieser Diagnose, deren rhythmisches Ebenmaß perfekt dem beschriebenen militärischen Gleichschritt entspricht, traf der junge Wolfgang Bächler den lyrischen Geschmack der Nachkriegszeit; noch heute kann man sie in Gedichtanthologien finden. Mit achtzehn wurde der bayerische Abiturient 1943 zum Arbeits- und Kriegsdienst eingezogen, nach schweren Verwundungen in Frankreich erlebte er das Kriegsende im Lazarett. Bald darauf war er der jüngste Teilnehmer beim ersten Treffen der Gruppe 47, wo seine Lyrik – ganz im Stil der Vorkriegsdichtung: ein bisschen Rilke, ein wenig George und recht viel Pathos – große Zustimmung fand.
„Als ich Soldat war, schrieb ich kein Gedicht“, bekannte Bächler 1950 in seinem ersten Gedichtband Zisterne, der der Erfahrung des Krieges antithetisch die einst vertraute bürgerliche Welt entgegenstellt. Allein der Wohlklang des Reims schien geeignet, den erlebten Schrecken zu bannen:

Die Verse schliefen irgendwo daheim.
Das Blut floss stumm, gerann zu schwarzem Seim.

Was für heutige Ohren schlicht und recht epigonal klingt, rief damals breites Echo hervor; Bächler galt als ein großes dichterisches Talent in der jungen Bundesrepublik.
Später fand der früh so Gelobte zu einem selbständigeren und originelleren Ton; die Begegnung mit den Gedichten Gottfried Benns und die Übersiedlung nach Frankreich, wo er von 1956 bis 1966 lebte, lösten ihn aus den strengen Formzwängen. Diese Entwicklung lässt sich in der gediegenen Ausgabe verfolgen, die fünf Jahre nach Bächlers Tod nun erstmals seine gesamte Lyrik präsentiert. Es ist eine willkommene Zusammenstellung, zumal Bächler heute nur noch wenigen bekannt sein dürfte. Die Ausgabe ermöglicht zudem erstaunliche Entdeckungen.
Das große freirhythmische Gedicht „Erinnerungen an Budapest“ etwa, das im Dezember 1956 entstand und den „verhafteten ungarischen Freunden und Gastgebern gewidmet“ ist, erzählt in ausholenden ruhigen Satzbögen von Besuchen Bächlers bei ungarischen Intellektuellen. Besonderen Charme entfaltet dieser autobiographische Bericht durch die urbane Lässigkeit, mit der hier im Parlando-Stil Sprachen gemischt werden. Deutsch, Ungarisch, Französisch, Italienisch und Griechisch vereinen sich zum Idiom moderner Europäer, die sich nicht durch die politische Wirklichkeit einengen lassen wollen:

Budapest
das waren für mich die Ufer der Donau, Ballada,
Tema con variazoni, das Tátrai-Quartett,
die Ady-Lieder von Bartók, der blinde Sänger Ungár Imre,
hereingeführt auf die Bühne, und Báthy Anna:
„Allein mit dem Meer – Három öszi könnycsepp“
„Nem mehetek hozzád – Ich kam nicht zu dir“
„Az ágyam hivogat“ und „Duók két hegedüre“.
In der Pause sein Schüler Kosma, der Heimweg
Mit Georg Lukács und seiner Gattin. Budapest!

Es kostete Wolfgang Bächler später offenbar immer größere Anstrengung, zu dieser heiteren Leichtigkeit seiner mittleren Jahre zu finden. Jahrzehntelang litt er an schweren Depressionen und veröffentlichte seit den achtziger Jahren kaum noch neue Texte. Schon früh war in Bächlers Gedichten häufiger vom Herbst als vom Frühling die Rede, auch die Kirchen als traditionelle Stätten des Trostes wurden dem Verfall preisgegeben:

Durch Wiesenschaumkraut und Weizenwogen
treibt das Wrack eines Kirchenschiffs
mit zerbrochenem Mast und geborstenem Bug
aus gotischer Zeit in unsere Zeit,
von Priestern und Betern verlassen.

Beständiger als alte Verheißungen vom Glück sind für Wolfgang Bächler die Tröstungen, die der Sprache innewohnen; hierin ist er sich über die Jahre hinweg treu geblieben. Klang und Rhythmus vermögen dort noch etwas Halt zu geben, wo andere Mittel versagen:

Mit verdorrten Händen liege ich da, mit verholztem Körper
und verwachsenem Mund,
verriegelt, versiegelt,
ein Riesenknie auf der Brust.

Es ist beklemmend zu verfolgen, wie sehr sich Bächler gegen die erdrückende Erfahrung der Melancholie immer wieder schreibend zur Wehr zu setzen versuchte, obwohl er die Verlockung des Verstummens oft verspürte: „Ausbrechen / in die Freiheit des Schweigens“, lauten die programmatischen Schlussverse des Bandes Ausbrechen, der 1976 erschien. Die Ängste freilich kehrten zurück:

Der Raum vergewaltigt uns.
Wird uns die Zeit befreien?

Diese bange Frage stellte er sechs Jahre später.
Gegen die Schatten der Depression, deren Folgen Wolfgang Bächler in immer neuen Bildern darzustellen versuchte, vermochte die Zeit offenbar nur wenig auszurichten. Viele seiner Verse haben jedoch die Prüfung durch die Zeit überstanden, sie wirken heute noch erstaunlich unverbraucht. Ein weithin vergessener Lyriker ist mit dieser Ausgabe neu zu entdecken.

Sabine Doering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.1.2013

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Jürgen Broĉan: „Ausbrechen in die Freiheit des Schweigens“
fixpoetry.com, 2.6.2012

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Verena Nolte: Erinnerung an einen lebenden Dichter
Neue Rundschau, Heft 1, 2005

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLGIMDb +
Kalliope + Archiv
Porträtgalerie: akg-images + Brigitte Friedrich Autorenfotos
Nachruf auf Wolfgang Bächler: die horen

 

„Eines Nachts“ – Musik: Ralf Buchmüller, Text: Wolfgang Bächler.

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