Wolfgang Bächler: Nachtleben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolfgang Bächler: Nachtleben

Bächler-Nachtleben

NACH DER FLUT

Die Wellen der Verzweiflung
laufen in einer Strophe aus.
Der Schmerz verebbt in zwei Zeilen.

Dazwischen stehen die offenen Fragen,
Zersplittertes und Gespaltenes,
Auspizien aus Meeresfrüchten,
Schatten, die Mauern und Bäume,
Tische und Stühle werfen.

Die Gewässer weichen zurück
Der Wind stößt in das Haus.
Die Fensterflügel schlagen zu.
Die Tür fliegt aus den Angeln.

Das Morgenlicht tritt herein
quer durch das Zimmer auf uns zu,
greift nach den Armen und Schultern.
Vergebens verbirgst du dein Gesicht.

 

 

 

Wer mein Schweigen nicht annimmt,

dem habe ich nichts zu sagen.

Wolfgang Bächlers neue Gedichte sind wichtig, weil sie ehrlicher sind, als es uns lieb sein kann. Die Anordnung der Texte verkehrt die gewohnte Erwartung: zuerst die Gedichte, in denen das eigene Ich ergründet werden soll. Aber kaum etwas läßt sich festmachen; entdeckt werden die fallenden Tage, der abgelagerte Himmel, die Toten in uns, das ständige Strömen. Zurück bleiben Trauer und Angst und die verzweifelte Frage:

Vielleicht findet mich das Ziel?

Gründe hierfür sind die zerbrochenen Freiheitsentwürfe. Zeitkritik im Rückblick: Selbst die Farben haben sich verändert, und die Tiere kommen, um sich den Menschenzoo anzusehen. Jeder lebt in seiner eigenen Hölle, so daß Gott durch verlassene Dörfer gehen muß. In diesem Nachtleben sucht der Dichter das Du: im Warten aufeinander, im gemeinsamen Schweigen, im Schlaf:

So fern in der Nähe warst du mir
so nah in der Ferne.

S. Fischer Verlag, Klappentext, 1982

 

Die Lichtwechsel in der Nacht

Der Schriftsteller Wolfgang Bächler hat sein Thema schon sehr lange gefunden. Er hat es nicht, geschickt zwischen den Trends lavierend, ausgesucht, sondern im strengen Rahmen seiner subjektiven Wahrnehmung aufgegriffen und ausgestaltet. Wo andere Schriftsteller die Tageshelle nutzen, um etwas offensichtlich werden zu lassen, hat sich Wolfgang Bächler der Nacht verschrieben, ihren Gestalten, Träumen und Ängsten. So heißt es programmatisch in seinem neuen Gedichtband Nachtleben:

Wenn es dunkel wird, fangen die Blinden an zu sehen. In der Nacht sind die Blinden Könige, und wir Zweiäugigen und Einäugigen werden Bettler vor ihren Augen und Händen.

Man muß sich von diesen Nachtsehenden, gefühlsgeschärften Menschen einweihen lassen in die Geheimnisse der Nacht, auch um tagsüber und damit vielleicht: alltäglicher, präziser sehen zu können. Bächler nun hält dieses Wissen um die Erfahrungen der Nacht nicht zurück, sondern gibt es bewußt preis, wobei er ein Nach- und Nachtempfinden mit seinen differenzierten Aufnahmemöglichkeiten unterstützt oder gar erst aufbaut. So nannte er sein wohl bekanntestes Buch Traumprotokolle bewußt „Ein Auskunftsbuch“, um den Verdacht subjektiver Geheimhaltungstiraden erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Diese (scheinbar) enge thematische Begrenztheit seiner schriftstellerischen Arbeit reizt aber zugleich einen Reflex unserer literarischen Verkaufskultur, nämlich die geringe Rezeption seiner Bücher, auch bedingt durch seine bewußt auferlegten Publikationspausen. Er ist ein stiller Mensch, der zurückhaltend, aber bewußt auftritt, auch in seinen Gedichten. Und wenn er einem Gedichtabschnitt einen Zweizeiler voranstellt: „Wer mein Schweigen nicht annimmt, / dem habe ich nichts zu sagen.“, so ist dies keine Geste der Selbstgefälligkeit, sondern eine warnende Einladung an den Leser, sich Zeit und Ruhe zu nehmen.
Wenn jetzt aber ein Autor, der bereits nach Kriegsende als Lyriker auf sich aufmerksam machte, sechs Jahre nach seinem letzten Lyrikband neue Gedichte vorlegt und gleichzeitig unter dem Titel Die Erde bebt noch ein Sammelband mit früher Lyrik erscheint, so kann (und wird) diese Tatsache den Anlaß geben, beide Bände zu vergleichen. Völlig ungerechtfertigt. Nur soviel sei gesagt: die metaphorische Kraftgebärde der frühen Texte hat sich erschöpft und zur stilleren, unangestrengten Bildlichkeit zurückgefunden. Ein Ausdruck der selbstsicheren Besinnung.

Dieses „Nachtleben“ bleibt für Wolfgang Bächler aber nicht nur still und eingängig, es wächst sich auch zur Bedrohlichkeit aus:

Verschwörer kommen zu mir
und bald danach schon Erpresser,
denen ich Namen und Nachrichten preisgeben soll
für den Lohn eines ruhigen Schlafes,
Verfassungsschützer, die aus mir herauspressen wollen,
was ich gerade geträumt habe,
die mich über
meine Verfassung verhören
und über das, was ich drüber denke.

Und:

Und selbst im Traum kommt niemand zu mir,
der
mich beschützen will.
Wie soll ich den Tag nicht scheuen
nach einer solchen Nacht?

Das Bewußtsein der Schutzlosigkeit ist eine hauptsächliche Irritation, die aus Bächlers Gedichten herauszulesen ist. Der Rückzug des Einzelnen läßt den Dichter bindungslos zurück:

Die meisten sehnen sich
nach ihrer eigenen Hölle,
die sie für sich allein
besitzen wollen,
für ihre Frau und ihre Kinder.

Und im persönlicheren Bezug entsteht leise Melancholie:

So fern in der Nähe warst du mir,
so nah in der Ferne.

Eine Gefahr enthält dieses Reden mit verhaltener Stimme: in einigen Gedichten gibt Bächler dem lakonischen Erzählton den Vorzug, und fast in jedem Fall wirkt der Text zu schlicht, zu leichtfertig gesetzt, austauschbar. Wo er in einem Gedicht „Blau und Rot“ schreibt: „Ich habe dieses Blau satt. / Ich gehe in ein anderes Blau.“, hätte ich mir etwas von der Schärfe Rolf Dieter Brinkmanns gewünscht, bei dem es in einem Gedicht heißt:

… Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, das sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.

Der verhaltene Ton darf sich nicht der Beliebigkeit aussetzen, und das geschieht bei Wolfgang Bächlers Gedichten jeweils dort nicht, wo er die Lichtwechsel der Nacht beschreibt und sich dabei selbst jeweils anders beleuchtet findet. Hier verhelfen einige Texte der Enttäuschung über die erstaunlichen Schwächen manch anderer hinweg.
Wo sich aber die anklingende Resignation entspannt, findet Bächler auch für sich selbst eine poetische Öffnung, so in dem Gedicht „Erwartung“, einem der schönsten, in seiner ruhigen Bildkraft:

Die Schiffe fahren ohne mich aus.
Ich bleibe auf den Landungsstegen zurück,
umzingelt von Möwen.

Sie öffnen die Schwingen
wie Fenster,
durch die ich das Meer
mit anderen Augen sehe.

Langsam entfaltet der Himmel
ein mächtiges Segel
über dem Steg.
In der Abendbrise
beginnt die Fahrt
auch für mich.

Gerhard Bolaender, die horen, Heft 128, 4. Quartal 1982

 

Eine Landschaft für meine Schwermut

Wolfgang Bächler, 1925 in Augsburg geboren, gehörte in den fünfziger Jahren zu den großen lyrischen Begabungen der Nachkriegszeit. Seine ersten Gedichte Die Zisterne (1950), die folgenden Bändchen Lichtwechsel (1955), Türklingel (1962) und Türen aus Rauch (1963) bestätigen ihn als genuinen Lyriker. Gottfried Benn zählte ihn „zu den ganz wenigen neuen Lyrikern, die mich interessieren, an deren Weg ich glaube. Er hat persönliches Erleben und Mut zu offener, sammelnder wie zerstörerischer Form.“ Aber die frühe Anerkennung blieb ohne Nachhall. Zeitbedingte und persönliche Gründe machten Wolfgang Bächler zu einem fast Vergessenen. Er entzog sich der bundesdeutschen Literaturszene, lebte seit 1956 in Paris und im Oberelsaß und kehrte 1967 zurück nach München. Eine Mitte der fünfziger Jahre einsetzende quälende endogene Depression hindert ihn bis heute an kontinuierlicher Arbeit.
Dreizehn Jahre nach seiner letzten Veröffentlichung legte Wolfgang Bächler neue Gedichte vor, Ausbrechen (S. Fischer Verlag 1976), eine Wiederentdeckung und mehr als das. Der Band enthält Verse aus dreiunddreißig Jahren, Auswahlen aus den vier früheren Bänden und neue Gedichte aus den Jahren 1963 bis 1975. Die Sammlung zeigt einmal die konsequente Fortentwicklung eines Lyrikers, der in seinen ersten Versen das noch erinnerungsnahe Kriegserlebnis einholt, naiv und gereimt, der dann zeitweise sein geschärftes Empfinden nach der Weise der Naturlyrik in füllige Bilder steckt („Blau tropfen die Trauben / den Weinberg hinab“), der im letzten, im Titelgedicht sein „Ausbrechen“ in lakonischer Direktheit zum Programm macht:

Ausbrechen
aus den Wortzäunen,
den Satzketten,
den Punktsystemen,
den Einklammerungen,
den Rahmen der Selbstbespiegelungen,
den Beistrichen, den Gedankenstrichen
– um die ausweichenden, aufweichenden
Gedankenlosigkeiten gesetzt –
Ausbrechen
in die Freiheit des Schweigens.

Dieses Gedicht markiert allerdings nach Bächlers Anfängen eine überraschende und herausfordernde Betroffenheit. Doch wichtiger als die Entwicklung des Lyrikers, die zu dieser radikalen Selbstanzeige führte, auch wichtiger als die gewiß unterschiedliche Qualität einzelner Verse, scheint etwas anderes zu sein, das der Lyrik Bächlers eine eigentümliche Geschlossenheit gibt. Von Anfang an durchzieht die Gedichte eine Sensibilität, eine Leidensfähigkeit, die in der Person des Lyrikers gründet, doch das Persönliche allenfalls medial einbezieht, bis zur Ausweglosigkeit empfänglich für die aus der Zeit und Zeitgenossenschaft andrängenden Bedrohungen, Ängste und Todesahnungen. In den Gedichten vollzieht sich ein Prozeß der Beunruhigung, Verwundbarkeit, Schlaflosigkeit – bis zum Sich-selbst-Abhandenkommen, wie es in einem der letzten Gedichte, „Der Lift“, beklemmend deutlich wird:

Ich höre den Lift.
Er fährt durch meinen Körper
hinauf bis ins Gehirn.
Die Tür fällt zu.
Ich weiß nicht,
wer aussteigt.
Die Schritte verhallen
in meinem Kopf.

Andererseits reagiert Bächler konkret oder satirisch, immer aus persönlicher Betroffenheit, auf politische Zeitereignisse, auf den vergangenen und die neuen Kriege, Algerien, den Ungarnaufstand, Vietnam. Oder er warnt, beschwört („gib acht / auf die Zündschnur unter dem Staub!“), freilich nicht als politischer Agitator, sondern als Leidender, Geschlagener, der weiß, daß die Schüsse (in „Bürgerkriege“) ihn selbst verwunden, daß „Jeder Schuß tötet, / auch wenn er nicht trifft. / Das Gewissen der Welt / trifft er immer.“ – „Humanes Pathos“ könnte man vielleicht einigen der schwächeren Gedichte nachsagen, aber kaum als bestimmendes Element des Bächlerschen Gedichts bezeichnen. Auch in der lyrischen Bildlichkeit bleibt der Erfahrungsanlaß konkret, teilt sich das persönliche Betroffensein mit.
Mehrere Gedichte sind Landschafts- oder Reiseerlebnissen gewidmet, der Normandie, dem Elsaß, dem Süden Frankreichs, oder sie vermitteln eine scheinbar ungebrochene Naturlyrik wie in „Frühling“ mit dem Anfang:

Wo sind die Wolfsrudel jetzt,
die uns im Winter bedrohten?

Solche aufgehellten Gedichte beziehen geradezu eine Gegenposition zu der von Menschen verwalteten Welt.
Wolfgang Bächlers Gedichte tragen auf dem Hintergrund der eigenen Biographie eine von Unheil überschattete Zeiterfahrung und setzen doch, durch die Mitteilbarkeit der Sprache, Gegenkräfte frei, die der Hoffnungslosigkeit widerstehen. Auf sich selbst, sein Gedichteschreiben bezogen, sagte Bächler einmal:

Für mich ist es der einzige Weg zu Augenblicken des Glücks und der Befreiung, zu einer Ordnung und Lösung, die Freiheit schafft.

Es versteht sich, daß diesem Befund keine billige Harmonisierungsabsicht zugrunde liegt. Er legitimiert sich aus der Spannung zwischen „Umwelt und Innenwelt“, zwischen „Widerspruch und dessen Auflösung“, zwischen widerfahrener Verzweiflung, Depression, Existenzangst, Unruhe und der „Ruhe des Geformten“, der sinnlichen Anschauung im Gedicht.
Diese Spannung wird noch einmal gesteigert ausgetragen in den neuen Gedichten, gesammelt im Band Nachtleben (S. Fischer Verlag 1982), demonstrativ in den Verszeilen:

Nachts gärt die Zeit in mir,
kämpfen Partisanen in Gebirgen,
Dschungeln und Straßenschluchten,
marschieren Demonstranten durch meinen Körper.

Freilich, je mehr das Spannungsverhältnis aufgehoben ist in der „Ruhe des Geformten“, in sinnlicher Anschauung, im konkreten Bild, um so überzeugender gelingt ein Gedicht. Andernfalls erschlafft das Gewollte im allzu durchsichtigen Meinungshaften.
Wie sehr Bächler fähig ist, solche gelegentlichen Schwächen einzelner Gedichte zu überwinden, zeigt das geradezu programmatische, doch ganz in der lyrischen Imagination aufgehobene Gedicht „Der Fluß“ mit dem Anfang:

Der Fluß sagt schon alles,
was ich sagen wollte.
Der Dialog unserer Schritte auf dem Kies
klingt nur noch wie Zähneknirschen,
ein Verbeißen von Worten.

Später heißt es:

In andere Flüsse zu anderen Zeiten
wateten wir in die Tiefe hinaus,
ließen uns in die Strömung fallen,
ließen uns tragen, gaben uns hin.
Das Wasser gab uns wieder heraus.

Jetzt treten wir unter die Bäume zurück,
wurzeln uns ein,
einander sehr nahe, doch unverflochten.

Nichts anderes bezeichnet das Bild, das Sich-Einlassen auf die „Überredungsgewalt des Flusses“, als das Bekenntnis des Lyrikers zu seinem Tun, die Aufhebung des Gewollten in sinnlicher Anschauung, aber auch die Begrenztheit des Sich-Einwurzelns, „einander sehr nahe, doch unverflochten“.
Was in den Fluß-Versen aus der poetologischen Reflexion zum Bild wurde, verwirklicht ganz konkret und dicht eines der schönsten Gedichte des Bandes mit dem einfachen Titel „Kirschkerne“. Ein Gedicht, dessen nahtlose Verschmelzung von Bild und Gedanke, dessen gelassene Auffaltung bis hin zum Selbstbekenntnis des Dichters Wolfgang Bächler keines Kommentars bedarf.

Sie hat über ihrem Brief an mich
einen Kirschkern aufgebissen,
schreibt mir ein fremdes Mädchen.
Es sei eine kleine Frucht darin,
vertrocknet wie eine Rosine,
die nach nichts schmeckt,
nur nach bitterem Saft.
Die Mittelritze müsse man treffen,
damit der Kirschkern leichter zerspringt…

Bevor ich es las, hatte ich wieder
eine Landschaft für meine Schwermut entworfen
mit Seen,
die mitten im Sommer zufrieren.
Immerhin,
so kann man über das Wasser gehen
und Wiesen und Bäume grün sein lassen,
vielleicht auch am anderen Ufer
einen Kirschbaum erfinden.

Eberhard Horst, aus Eberhard Horst: Geh ein Wort weiter. Aufsätze zur Literatur, claassen Verlag, 1983. Erweitert nach Erstdrucken in: Neue Deutsche Hefte, Heft 3/1976

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Verena Nolte: Erinnerung an einen lebenden Dichter
Neue Rundschau, Heft 1, 2005

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Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos
Nachruf auf Wolfgang Bächler: die horen

 

„Eines Nachts“ – Musik: Ralf Buchmüller, Text: Wolfgang Bächler.

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