DER ASCHENBECHER
Alles, was verbrannt,
sammelt sich
von geordneter Hand bewogen:
Im Aschenbecher.
Rund bleckt er seine verrauchte Zunge
uns entgegen,
uns,
die wir ihn schätzen
wegen seiner stillen Dienstbarkeit.
Einst wird das All auch
in einen Aschenbecher fallen und
vom freundlichen Husten Gottes
in alle Winde
zerstreut werden.
Im gelben Aschenbecher liegt Indiens Weisheit,
die Zigarette ist in ihm ausgedrückt.
– Schlechte Kunst bei Wolfgang Bauer und Bob Dylan. –
Einleitung
Selfportrait und Das stille Schilf
„What is this shit?“ Mit diesem „denkwürdigen Einleitungssatz“ eröffnete 1970 der Rolling Stone-Kritiker Greil Marcus seine Rezension zu Self Portrait, Bob Dylans eben erschienenem zehntem Studioalbum. Obwohl oft zitiert, wurde Marcus Frage bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet. Zwar gilt Selfportrait – ein Doppelalbum mit 24, meist gecoverten Songs – dem Mainstream der Rockhistorik seither als eines der schlechtesten, wenn nicht gar das schlechteste Dylan-Album aller Zeiten. Doch was „diese Scheiße“, um bei Marcus Formulierung zu bleiben, tatsächlich sollte (bzw.: was es mit ihr auf sich hat), darüber gehen die Meinungen in der Dylanologie nach wie vor auseinander.
Während die einen ein „lieblos zusammengestoppelte(s) Sammelsurium“, „das Eingeständnis einer Niederlage“ oder gar „das Ende von Dylan“ beklagen, vermuten andere (wenige) einen verkappten Geniestreich.
Für zusätzliche Verwirrung sorgten die Erklärungsversuche Bob Dylans. Erstens erfolgten sie mit rund eineinhalb Jahrzehnten Verspätung (erstmals in einem Interview mit dem Rolling Stone 1984), zweitens in einer Art und Weise, die das Hitparadendenken des Pop-Diskurses heillos überforderte: „Selfportrait wurde veröffentlicht“, so Dylan etwa, „weil es mich zu der Zeit einfach störte, dass ich so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Also haben wir dieses Album herausgebracht, um mir die Leute vom Hals zu schaffen. Sie sollten mich nicht mehr gut finden. […] Und das taten sie auch.“
Ob es nun wirklich so war, wie Dylan sagt, oder nicht – jemand (wie ich), der mit dem Schaffen des 2005 verstorbenen österreichischen Dichters Wolfgang Bauer vertraut ist, wird bei einer solchen Erklärung auf jeden Fall hellhörig. Schließlich erinnert die oben geäußerte Absicht, bewusst zu missfallen, frappant an jene irritierende künstlerische Strategie, die Bauer „schlechte Kunst“ oder „Ästhetik des Missglückten“ genannt und in seinem Gedichtband Das stille Schilf (erschienen 1969) vor- und durchexerziert hat. Diese Gedichte Bauers sind dermaßen gekonnt schlecht gemacht, dass man sie schon wieder als gut bezeichnen muss! Neben dem beträchtlichen satirischen Potenzial (Parodie auf Leserbriefgedichte, allzu hermetische Lyrik etc.) ist Bauers verquerer Poetik auch ein utopischer Zug eigen: durch den völlig unreflektierten, unbedarften sprachlichen Gestus scheint die Sehnsucht danach, „Gefühle, Empfindungen, Absichten (…) wie im kindlichen Bewußtsein direkt und spontan entfalten zu können“. Indem sie vorführen, wie kläglich dieser Versuch scheitert, wohnt den schlechten Gedichten nicht zuletzt auch ein subtiler sprachkritischer Aspekt inne.
Jemandem wie mir (mit Bauers Gedichtband vertraut, mit Dylans Äußerung konfrontiert) stellt sich damit folgende Frage: Wäre es nicht möglich, dass sich hinter dem viel gescholtenen Album Selfportrait ein ähnlich geglückt missglücktes Meisterwerk – und damit: ein Bauers „schlechter Kunst“ vergleichbares ästhetisches Konzept – verbirgt?
1 Das Gegenteil von schlecht ist schlecht gemeint
„Die Qualität eines solchen Gedichts“, schreibt Jörg Drews in einem Aufsatz über Das stille Schilf, „stellt sich erst und nur dann ein, wenn das Mißlungene als absichtlich angesehen wird bzw. angesehen werden kann. Der Witz steckt in der Inszenierung des Mißlingens.“
Tatsächlich ist die Intention des Künstlers, etwas Schlechtes zu produzieren, das wohl einzig brauchbare Kriterium, um „schlechte Kunst“ (im Bauer’schen Sinn) von schlechter Kunst (im herkömmlichen Sinn…) zu trennen: nur das, was absichtlich schlecht gemacht wird, kann – unter gewissen Umständen – gute „schlechte Kunst“ sein.
Als Das stille Schilf 1969 bei Bärmeier und Nikel erscheint, lässt Wolfgang Bauer nicht den geringsten Zweifel an seinen Absichten aufkommen.
Schon der Untertitel des Gedichtbands ist unmissverständlich: Ein schlechtes Meisterwerk: schlechte Texte mit schlechten Zeichnungen und einer schlechten Schallplatte. Dazu gesellen sich ein „reißerisches“ Etikett auf der Titelseite: „Das Schlechteste von Wolfgang Bauer“ – und ein Statement des Autors auf der Rückseite des Buchs:
Ich habe die Nase voll von der Suche nach dem Guten, weil immer dann, wenn ich das Gute gefunden habe, einer kommt und behauptet, es wäre schlecht. Aus diesem Grund schrieb ich Das stille Schilf: Schlechte Texte mit schlechten Zeichnungen und einer Schallplatte mit schlechter Musik!
Dass diese Absichtserklärungen für das richtige Verständnis von Bauers Gedichtband unerlässlich sind, zeigt sich, sobald sie fehlen.
1985, als Das stille Schilf mit dreizehn neuen Gedichten, aber ohne den Zusatz Ein schlechtes Meisterwerk – im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei neu aufgelegt wird, erntet Bauer etwa in der FAZ einen bitterbösen Verriss von einem offensichtlich nicht im Geringsten in die Geheimnisse der „schlechten Kunst“ eingeweihten Karl Krolow.
Und auch im Band 5 der Bauerschen Werkausgabe, Gedichte (Droschl 1992), wird die den Texten zugrunde liegende Poetik nur am Rande, im Nachwort, erwähnt. Ich erinnere mich daran, als jugendlicher Leser jahrelang einen Bogen um Wolfgang Bauers Gesamtwerk gemacht zu haben, nur weil mir manche Gedichte in diesem Buch so ungeheuer schlecht erschienen…
Eben das ist der Effekt, auf den Bob Dylan bei Selfportrait (angeblich) setzt. Auf dem Cover fehlt jeglicher mit den Bauerschen Erklärungen vergleichbare Vermerk – schließlich will Dylan Ende der 1960er ja, zumindest laut seiner späteren Darstellungen, dass die „Leute“ einen Bogen um seine Musik (bzw. sein Privatleben) machen.
Wie er in dem erwähnten Interview 1984 und (weitaus ausführlicher, doch inhaltlich übereinstimmend) in seinen 2004 erschienen Memoiren, Chronicles. Volume One, dargelegt, habe er sich ab 1966 – als frischgebackener Familienvater und nach einem Motorradunfall längere Zeit rekonvaleszent – von Fans und Medien zunehmend bedrängt und als „Obermufti“ der Protestbewegung missverstanden, ja, missbraucht gefühlt. „Wenn wir nach Hause kamen“, berichtet er über die „finstere und deprimierende Zeit“ Ende der 1960er, „waren Leute im Haus, Leute kamen aus den Wald, zu jeder Tages- und Nachtzeit klopften sie an die Tür.“ Oder:
Die ganze Nacht über brachen schräge Vögel bei uns ein […] radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung […], die einen draufmachen und die Küche plündern wollten […]. Egal, worum es bei dieser Gegenkultur ging, ich hatte genug davon.
Nachdem mehrere Umzüge (von Dylan als „Flucht“ bezeichnet) nichts an diesen, besonders für seine Frau und seine Kinder belastenden Lebensumständen geändert hätten, habe er beschlossen, schreibt Dylan in den Chronicles, zu „taktische[n] Maßnahmen“ zu greifen:
Ich würde Störsignale aussenden müssen. […] Meine Außendarstellung würde ein bißchen verwirrender werden müssen […]. Als erstes muß jede künstlerische Form dran glauben, die einem am Herzen liegt. […] [Ich] nahm […] ein Album auf, das wie eine Country & Western-Platte daherkam, und ich achtete darauf, dass sich auch alles schön zahm und stubenrein anhörte. […] Außerdem sang ich mit einer anderen Stimme. […] Ich stellte ein Doppelalbum zusammen, indem ich alles, was mir einfiel, an die Wand warf, und das veröffentlichte, was klebenblieb. Dann kratzte ich alles zusammen, was heruntergefallen war, und schob es hinterher.
Bei der zahmen „Country & Western-Platte“ handelt es sich um Nashville Skyline (1969). Der anschließend erwähnte, doppelte ästhetische Scherbenhaufen aber meint Selfportrait.
Dylans Bekenntnis zum bewussten Misslingen lässt im Grunde an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Trotzdem wird es von der Dylanologie bis heute heftig angezweifelt. Bob Dylan habe wohl kaum von Anfang an die Absicht gehabt, ein schlechtes Album zu machen, so der Grundtenor, sondern sei – wenn überhaupt – erst dann darauf verfallen, als seine „monatelangen Bemühungen, etwas Unerhörtes und zugleich musikalisch Bedeutungsvolles hervorzubringen, fehlgeschlagen sind. Präsidenten stehen manchmal nackt da“, höhnt etwa Paul Williams unter Abwandlung eines Dylan-Zitats, „und auch ein Bob Dylan hat gelegentlich nichts zu bieten.“
Schon wahr: in der Regel sind vom Künstler selbst stammende Interpretationen des eigenen Werks (und um nichts anderes handelt es sich bei den oben zitierten „schlechten Absichten“) für Philologen aller Art ein wenig verlässlicher Leitfaden… Doch auf dem trügerischen Gelände der schlechten Kunst sind sie nun einmal der einzige Halt, der sich bietet. Wenn Bob Dylan also Selfportrait als absichtlich misslungen gestaltete Arbeit deklariert, dann erfüllt das Album auch die eingangs skizzierten Definitionskriterien eines „schlechten Kunstwerk“ (im Bauer’schen Sinn).
Als solches muss ihm allerdings auch mit völlig anderen (Qualitäts-)Kriterien begegnet werden, als dies bisher (etwa bei Williams) geschehen ist – wer weiß, vielleicht hat der nackte Bob Dylan ja mehr zu bieten, als seine Kritiker für möglich halten.
2 Schlechte Qualitäten
„Der Witz steckt in der Inszenierung des Mißlingens.“ Drews Satz taucht deshalb ein zweites Mal in diesem Essay auf, weil in ihm noch eine zweite, für die Ästhetik des Missglückten eminent wichtige Aussage enthalten ist. In dieser Formulierung bedeutet er nämlich nicht nur: „Der Witz steckt darin, dass das Misslingen inszeniert ist“, sondern auch: „Der Witz steckt darin, wie das Misslingen inszeniert wird.“ Denn es reicht eben nicht, sich einfach nur irgendwie peinlich zu produzieren. Gut ist (bewusst) schlecht gemachte Kunst erst dann, wenn sie im Leser/Hörer/Seher (der um die Absicht des Künstlers weiß bzw. diese, auch wenn das zu viel verlangt ist, selbständig erkennt) trotz, nein: wegen ihrer Unzulänglichkeit jene „perverse Lust am Dilettantischen“ zu wecken vermag, die sich meist in einem (mehr gequälten als erlösenden) Lachen äußert.
Bei Bauers Gedichten stecke dieser spezielle „Witz“, so Drews, „im bewußten Ansatz eines großen Sprechens, das sich aber verheddert, ins Stolpern gerät, nur unter Verlusten über die Runden kommt und mehr schlecht als recht das Ende erreicht.“ – Die Songs auf Dylans Selfportrait „funktionieren“ nach einem verblüffend ähnlichen Schema.
Denn wenn Bob Dylan – mit krampfhaft gefühlvollem Timbre, zu einer etwas verstimmten Gitarre, unterstützt von einem bluhuhuenden Frauenchor und einer kratzigen, etwas zu lauten Solo-Violine – eine schon von Frank Sinatra, Dean Martin und Elvis Presley tot gespielte Schnulze wie „Blue Moon“ intoniert, dann birgt das nicht weniger komisches Potential in sich, als wenn Wolfgang Bauer sein lyrisches Ich in „Die Mondlandung“ aufjaulen lässt: „Mond, Mond, Mond! / Stiller Genosse im All / Erreicht bist Du, erreicht!“ – oder in „Der Dichter“ folgendes „Selbstporträt“ zeichnet:
Seine Augen sind Kraken
seine Ohren Stethoskope –
sein Bleistift der rasende Körper Gottes,
sein Körper ist von Geist
gespeist.
Sind es bei Bauer „schauderhaft schiefe Metaphern“, unstimmige Katachresen (Bildverschränkungen), „sich […] selbst überanstrengende Hyperbeln“ und andere stilistische Unpässlichkeiten, die zum glücklichen Misslingen beitragen, so stehen Dylan zu diesem Behufe Gestaltungsmittel wie „nicht beständig gut[er] Gesang, unharmonisches Zusammenspiel der Begleitband, überladene Geigenarrangements à la Mantovani, Schlagerchöre u.a.m. zur Verfügung.“
Auf formaler Ebene entspricht diesem immer wieder ins Trudeln geratenden, stilistischen „hohen“ Ton die (ungeschickte) Verwendung altehrwürdiger Formen – denen ja auch eine beträchtliche Fallhöhe innewohnt.
Bauer vergreift sich dabei an Gattungen wie der Ode (s.o.) oder dem Epigramm („Woran denkst du des Morgens, / wenn / du deinen / Kakao trinkst? // Wohl an die Hand die ihn brockte?“) bzw. an traditionellen lyrischen Stilmitteln wie Metrum und Reim:
Nichts ist grüner als der Steirer
gsund und lustig, stark und froh
hochintelligent: sowieso!!!
Feier er! Feier er! Feier er!
Dylan für seinen Teil covert sattsam bekannte Oldies und Schlager („Blue Moon“, „Let It Be Me“ u.a.), Traditionals („Little Sadie“, „Belle Isle … ), Blues-Standards (z.B. „Alberta“) und aktuelle Hits wie Paul Simons „The Boxer“ – oder liefert schlechte Versionen seiner eigenen Klassiker ab. So findet sich auf Selfportrait mit dem Live-Mitschnitt von „Like A Rolling Stone“ „die schwächste Leistung“ des „insgesamt reichlich uninspirierten und unsicheren Auftritt[s]“ auf der Isle Wight 1969. „Es mag vielleicht mutig sein“ bemerkt hierzu Williams, „eine Live-Version eines der beliebtesten eigenen Stücke zu veröffentlichen, bei der man den Text vergessen hat, aber besonders erbaulich ist es nicht.“
Eine weitere Gemeinsamkeit und grundlegender Bestandteil des Puzzles, dessen nicht zusammenpassende Einzelteile bei Bauer wie Dylan ein so überzeugend missratenes Ganzes ergeben, besteht in etwas, das man vielleicht ganz gut mit „Verstellen der Stimme“ umschreiben könnte.
Wolfgang Bauer etwa klingt in Das stille Schilf mitnichten wie Wolfi Bauer, der „Bürgerschreck“, sondern viel öfter wie einer jener poetischen Amateure, die er in einer sehr witzigen (Zeitungs-)Glosse einmal als „Leserbriefschriftsteller“ bezeichnet. Wie diese stürzt er sich auf „Fragen der Jahreszeit“ (November), patriotische Bekenntnisse („Österreich“, „Heimatgedicht“… ) und v.a. Tagesaktualitäten („Die Mondlandung“, „Heutige Jugend“, „Die Hippies“ etc.), die er – ein krasser Gegensatz zum Dramatiker Bauer – penetrant moralisierend kommentiert.
Bob Dylan hingegen singt auf Selfportrait durchwegs mit seiner „Country-Stimme“, die statt Heiserkeit und Nasalität auf einen volleren, die Brust bzw. den gesamten Körper als Resonanzraum nützenden Klang setzt. Im dylanologischen Mainstream wird diese Stimme Dylans, die nur von 1968 bis 1970 zu hören ist meist als „affektiert“, „knödelig“ oder „schmalzig“ beschrieben – kurz: Bob Dylan klingt auf Selfportrait wie ein Schlagersänger.
An Dylans Stimme zeigt sich letztlich aber auch jene seiner wie auch Bauers schlechter Kunst innewohnende grundsätzliche Ambivalenz, die nicht zuletzt die Qualität dieser Arbeiten ausmacht: das was einen, abseits des bloßen „Witzes“, „so absolut fertig“ macht – das, was uns (zwar „peinlich“, aber doch) „berührt“.
Denn Tatsache ist: bei diesem so gekünstelt wirkenden Brustton handelt es sich um Bob Dylans „normale“ Stimme. Und jener „grummelnde Altmännerblueston, die überhelle Prophetengeste, das virtuose Kifferparlando“, die damals wie heute als wahre Stimme Dylans galten, „war insgeheim Effekt eines komplizierten Darstellungs- und Verstellungsspiels“. Die „taktische Maßnahme“ zur Verwirrung des Publikums, als die Dylan sein kurzfristiges Singen „mit einer anderen Stimme“ in den Chronicles bezeichnet, war somit, sich nicht zu verstellen!
Damit aber befinden sich die Songs auf Dylans Selfportrait im selben Spannungsfeld zwischen „utopischem Anspruch“ („des Kindes, das von der kulturellen Tradition nichts weiß“) und „formaler Verlogenheit“ des Erwachsenen (der nur zu gut weiß, dass „Kunst […] nie unmittelbar und spontan ist, sondern diesen Anschein stets „der Inszenierung von Unmittelbarkeit, Spontaneität und Lockerheit“ verdankt), wie Gerhard Melzer es für Das stille Schilf konstatiert hat. – Anders gesagt: Zwar ist, in Dylans wie Bauers „schlechter“ Kunst, „Falschheit und Hohlheit des Pathos nicht zu verkennen“, doch: „zugleich steckt hinter diesem Pathos eine wirkliche Sehnsucht, ein Verlangen nach einem nicht-entfremdeten Zustand und der Möglichkeit großen, ausgreifenden, bewegten und bewegenden Sprechens“ – bzw. Singens: „unverstellt“, „schön“, „rein“ Singen, wie die Idole aus Bob Dylans Kindheit, Frank Sinatra, Dean Martin oder Elvis Presley es (vielleicht) noch konnten…
3 Über das Bukolische und Banale zum Schlechten
Ein Künstler, der bewusst schlecht gemachte Arbeiten präsentiert, stellt nicht nur die gewohnten ästhetischen Regeln auf den Kopf, sondern stößt auch sein Publikum vor denselben: schließlich wird damit eine der elementarsten Erwartungen an ein Kunstwerk – das, was Politiker meinen, wenn sie „Kulturgenuss“ sagen – vorsätzlich nicht erfüllt.
Eine solche, auf unsere Erwartungshaltungen abzielende „Kulturkopfnuss“ kann, wenn sie gekonnt inszeniert ist, weit über bloße Provokation hinausreichen: schließlich werden erst durch die (Ver-)Störung des Rezeptionsapparats jene antrainierten, einengenden Gewohnheiten sichtbar, die unsere Wahrnehmung von Kunst (und Welt!) ausmachen – eine Entdeckung, in der allein bereits ein Hauch von Befreiung liegen mag.
In Wolfgang Bauers Gesamtwerk trifft man immer wieder auf derartige Spiele mit den Rezeptionsgewohnheiten seiner Leser/Zuseher, besonders charakteristisch sind sie aber für seine frühen, in den 1960ern entstandenen Arbeiten.
Neben den Mikrodramen (1962/63), die durch ihre Titel gezielt Erwartungen wecken, um sie dann ostentativ nicht einzulösen (z.B. sind die „Dramen“ großteils unaufführbar), ist dieses Verfahren etwa auch in den (um 1965 entstandenen) „happisierten“ Prosatexten erkennbar. Diese blenden all das, was gemeinhin als für Leser „spannend“ (und somit „interessant“) angesehen/empfunden wird – sprich: Konflikte, Aggressionen oder gar Gewalt – konsequent aus, um stattdessen ein (oft pathologisch) realitätsfern anmutendes Glück zu behaupten.
Aber auch Bauers bekannteste Werke, die an Andy Warhols Pop Art-Filmen orientierten „realistischen“ Stücke wie Magic Afternoon (geschrieben 1967), treiben auf ihre Art und Weise ein Spiel mit dem Zuseher. Bieten sie doch, statt etwas Außergewöhnlichem, höchst Gewöhnliches: „fast schon ins Lächerliche gehende, minutiöse Schilderung[en]“ (W. B.) banaler Vorgänge, die, wie Peter Handke 1968 begeistert feststellt, „keine Bedeutung über sich hinaus“ haben.
Die zwischen 1967 und 1968, also direkt nach Magic Afternoon, entstandenen „schlechten Gedichte“ stellen in Bauers Werk schließlich den Höhe- und Endpunkt in der Entwicklung dieser mit Störungen von Rezeptionsgewohnheiten arbeitenden Strategien dar: nach 1969 setzt er derartige Verfahren zwar noch hin und wieder, sozusagen als Stilmittel, aber nicht mehr zum Selbstzweck ein.
Wie unter Punkt 1 erwähnt, will Bob Dylan (ohnehin Profi in Sachen [Publikums-]Bewusstseinserweiterung – man denke nur an seine „Elektrifizierung“!) Ende der 1960er seine aufdringlichen Hippie-Fans durch eine „verwirrende Außendarstellung“ vergraulen. Zu diesem Zweck greift er zu denselben „taktischen[n] Maßnahmen“, die auch Bauer – aus anderen Beweggründen, aber mit derselben Absicht: das Publikum irritieren – anwendet: Dylan „stürzt“ sich, wie er es in Chronicles ausdrückt, „auf das Bukolische und Banale“.
So erinnern viele Songs dieser Epoche, etwa jene auf der bewusst „zahm und stubenrein“ produzierten „Country & Western-Platte“ Nashville Skyline, an Bauers Happy Art. Hier wie dort werden verdächtig makellose Idyllen entworfen, hier wie dort überschreiten diese die Grenzen des Möglichen („Throw my ticket out the window / throw my suitcase out there, too“) in Richtung einer irgendwo zwischen Utopie und Ironie schwankenden Übertreibung:
throw my troubles out the door,
I don’t need them any more
(„Tonight I’ll be staying here with you“).
Und als Beleg dafür, dass Dylan damals ebenso wie Bauer die Möglichkeiten von etwas, das man „Ästhetik des Banalen“ nennen könnte, ausreizt, mag folgende Gegenüberstellung eines frühen Bauer-Gedichts („zwischen 1960 und 1966 entstanden“) und Dylans Songtext zu „Clothes Line Saga“ („© 1970“) genügen:
Er ging
die Straße entlang
bis zur Haustür.
Er öffnete die Haustür
und verschwand im Haus
Im Haus
machte er Licht
und lief die Treppe empor.
Bei Nr. 10 hielt er
und klingelte mehrmals.
Seine Frau öffnete die Wohnungstür
und ließ
ihn
eintreten.
Das Nachtmahl stand auf dem Tisch
und zwar gab es
Eierspeis mit Salat.
Um elf löschte er das Licht
und begab sich mit ihr
zu Bett.
Im Bett puderten sie noch eine
Zeit lang, dann
entschliefen sie
und erwachten zugleich
um 7 Uhr
als der Wecker schellte.
*
After a while we took in the clothes,
Nobody said very much.
Just some old wild shirts and a couple pairs of pants
Which nobody really wanted to touch.
Mama come in and picked up a book
An’ Papa asked her what it was.
Someone else asked, „What do you care?“
Papa said, „WeIl, just because.“
Then they started to take back their clothes,
Hang ’em on the line.
It was January the thirtieth
And everybody was feelin’ fine.
The next day everybody got up
Seein’ if the clothes were dry.
The dogs were barking, a neighbor passed,
Mama, of course, she said, „Hi!“
„Have you heard the news?“ he said, with a grin,
„The Vice-President’s gone mad!“
„Where?“ „Downtown.“ „When?“ „Last night.“
„Hmm, say, that’s too bad!“
„Well, there’s nothin’ we can do about it,“ said the neighbor,
„It’s just somethin’ we’re gonna have to forget.“
„Yes, I guess so,“ said Ma,
Then she asked me if the clothes was still wet.
I reached up, touched my shirt,
And the neighbor said, „Are those clothes yours?“
I said, „Some of ’em, not all of ’em.“
He said, „Ya always help out around here with the chores?“
I said, „Sometime, not all the time.“
Then my neighbor, he blew his nose
Just as papa yelled outside,
„Mama wants you t’ come back in the house and bring them clothes.“
Well, I just do what I’m told,
So, I did it, of course.
I went back in the house and Mama met me
And then I shut all the doors.
Nach einer Weile holten wir die Wäsche rein,
Keiner sagte viel.
Nur ein paar alte Hemden und ein paar Hosen,
Die eigentlich keinem mehr gefielen.
Mama kam rein und holte sich ein Buch,
Und Papa fragte „Was liest’n da?“
Jemand sagte „Warum interessiert dich das?“
Papa sagte: „Na eben darum.“
Dann gingen sie nacheinander raus und hängten
Sie wieder an die Leine, die Dinger.
Es war der dreißigste Januar,
Und alle waren bester Stimmung.
Am nächsten Morgen kaum waren wir wach,
Schauten wir nach, ob die Wäsche trocken sei.
Die Junge bellten, ein Nachbar kam vorbei,
Mama, versteht sich, sagte „Tach!“
„Schon davon gehört?“ fragte er und grinste,
„Der Vizepräsident hat durchgedreht!“
„Wo?“ „Downtown.“ „Wann?“ „Letzte Nacht.“
„Hmm, tja, wies halt so geht… “
„Tja, da kann man eben nichts machen“, sagte der Nachbar,
„Kommt immer mal vor, daß einer verrückt spielt.“
„Tja, sieht so aus“, sagte Ma.
Dann fragte sie mich, ob sich die Wäsche immer noch naß anfühlt.
Ich langte hoch, befühlte mein Hemd,
Und der Nachbar sagte: „Sind das deine Sachen?“
Ich sagte: „Ein paar davon, ja, nicht alle.“
Er sagte „Tust du dich zuhause immer so nützlich machen?“
Ich sagte: „Nicht immer, aber ab und zu.“
Dann holte der Nachbar sein Taschentuch raus
Und schneuzte sich, und Papa schrie
„Mama möchte die Wäsche! Hol sie runter und bring sie ins Haus!“
Well, ich tu immer, was man mir sagt,
Also tat ichs auch diesmal, natürlich.
Ich trug das Zeug rein, und Mama nahm mirs ab,
Und dann machte ich die Türen dicht.
(Übersetzung: Carl Weissner)
Wie Selfportrait zeigt, erreicht auch bei Bob Dylan diese Art von Publikumsirritation mit der Ästhetik des bewusst Misslungenen ihren Gipfel- und ihr Ende. Schon sein Folgealbum New Morning „erfüllt […] die vorhersehbaren Erwartungen seines Publikums?“ wieder – manche empfinden diese Platte sogar als „Entschuldigung“ an den Fans.
Dass sich Dylan jedoch die „schlechte Kunst“ auch nach Selfportrait als „taktische Maßnahme“ in seinem Repertoire bewahrt hat, zeigt sich sporadisch, aber doch, und bezeichnenderweise immer bei denselben Gelegenheiten: schlecht benimmt sich Bob Dylan immer dann, wenn er sich (wie etwa Ende der 1960er, vor Erscheinen von Selfportrait, als die Hippie-Protestbewegung ihrem Höhepunkt zusteuert und ihn zu ihrem „Prinzen“ erkoren hat!) übergroßen Erwartungen gegenüber sieht – Publikumserwartungen, die er (vielleicht, weil er annimmt, ihnen ohnehin nicht gerecht werden zu können) provokativ deutlich enttäuscht.
Ein gutes Beispiel dafür ist etwa sein Auftritt beim Live-Aid-Concert in Philadelphia 1985: bei diesem Mammutbenefizevent (zugunsten der Hungerleidenden in Äthiopien), das die Crème de la crème der internationalen Rockszene auf die Bühne bittet und „live in über fünfzig Länder mit geschätzten eineinhalb Milliarden Zuschauern übertragen“ wird, soll Bob Dylan als abschließender Höhepunkt und Krönung eines rundum gelungenen Abends auftreten. Die Art und Weise, wie sich dieser Hauptact dann jedoch präsentiert, erinnert eher an die Anti-Pointen bzw. „Implosionen“, die Drews in Bauers „schlechter“ Lyrik am Werk weiß:
Zusammen mit Keith Richards und Ron Wood von den Rolling Stones betritt Dylan die Bühne, die drei sind ganz offensichtlich ziemlich betrunken, ihre Gitarren sind nicht gestimmt. Ihr Gitarrenspiel scheint völlig ungeprobt, jeder spielt für sich selbst in seiner eigenen Welt, und so liefern sie drei Stücke […] in einer Weise ab, die jedem Straßenmusiker die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Zudem leistet sich Dylan den Fauxpas, just bei dieser Gelegenheit an die notleidenden US-Farmer zu erinnern. Damit steuert er das ernüchternde und peinliche Ende des historischen Rock-Events bei […]
Frappierend ähnliche Beispiele für „poetische“ Akte wie diesen sind Dylans unsichere gesangliche Leistung bei den Aufnahmesessions zum Benefiz-Song „We Are The World“ 1985, seine seltsam stockende Dankesrede bei der Verleihung des Grammy Awards für sein Lebenswerk 1991 oder sein weniger berauschender als vielmehr berauschter Auftritt beim Anniversary Concert von Columbia Records 1992.
In diesem Verhaltensmuster Dylans zeigt sich zu guter Letzt, was die „schlechte Kunst“, so provokativ (und dadurch aufrüttelnd) sie sich dem Rezipienten gegenüber gebärden mag, für den Künstler selbst bedeutet: einen Zufluchtsort in bedrohlich wahrgenommenen Situationen, eine Art ästhetischer Notraum, in dem man sich auch dann noch künstlerisch artikulieren kann, wenn einem alle anderen Möglichkeiten (ausgenommen die des Verstummens…) verschlossen scheinen.
Bob Dylan hat diesen Schutzraum mehrfach in biographischen Notlagen aufgesucht – in den Jahren 1969/1970, zur Zeit der Entstehung von Selfportrait, als der Mensch Bob Dylan verzweifelt nach einem vor den Zustellungen von Fans und Reportern sicheren Zuhause für seine Familie Ausschau hielt, bedeutete er dem Künstler Bob Dylan womöglich sogar so etwas wie Heimat.
Der junge Wolfgang Bauer hingegen scheint im Zuge einer künstlerischen Ausweichbewegung auf die Ästhetik des Missglückten gestoßen zu sein: „bei Ionesco und Beckett“, berichtet er über seine frühen Idole, „sah [ich], das endet. Ich verfolgte das auch in der Malerei und sah, das ist ja alles furchtbar, wenn da einer konsequent ist, endet er vor einem leeren Bild“… Als Alternative zu diesem Szenario repräsentieren die jenseits aller hohen Ansprüche (und der damit verbundenen Konsequenzen) operierenden „schlechten“ Gedichte, so misslungen sie dadurch auch erscheinen mögen, tatsächlich eine Art Rettung – nicht nur für den vom Verstummen bedrohten Dichter, sondern auch – wie Bauer im Vorwort zu Das stille Schilf (zwar schauderhaft pathetisch, aber doch…) erläutert – für die (Dicht-)Kunst an sich:
„Nach Hiroshima und der Atombombe ist kein Gedicht mehr möglich“, verkünden hochtrabend die Herren Literaturkritiker und auch manche sogenannte Dichter selbst. Wie pervers, daß es einem von der sogenannten „literarischen Welt“ als „moderner Dramatiker“ abgestempelten Dichter (mir) obliegt, diesen Satz zu widerlegen. Meine in diesem Band vorliegenden Gedichte schauen nicht nach Hiroshima; sie kümmern sich nicht um hypermodernen Firlefanz. Meine Lyrik, meine philosophischen Sonette sowie meine Grafik sind ein Blick in mich selbst – und aus mir auf die Welt. Nur so kann ehrliche Dichtung (und Grafik) entstehen […] Ein Buch, das lehrreich ist, besinnlich zugleich – und ergötzlich. Denn es beweist, daß die Atombombe die Dichtkunst nicht auszulöschen vermochte.
Epilog
Beginnend mit Bruce Springsteen wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder Interpreten zu „neuen Dylans“ gekürt – manche davon, wie etwa der wohl nur noch Germanisten und deutschsprachigen Lyrikern bekannte Loudon Wainwright III, sind (wohl auch wegen der zu großen und falschen Erwartungen des Publikums) mittlerweile schon längst in Vergessenheit geraten.
Einer, den man jedoch mit Fug und Recht als „neuen Dylan“ bezeichnen könnte (auch wenn man damit der Unverwechselbarkeit und Eigenständigkeit seines Talents nicht gerecht wird), ist Ryan Adams.
Erinnerte doch gerade die ungeheure Produktivität des jungen Adams an den jungen Dylan – so soll er etwa allein im Jahr 2002 sechs Alben aufgenommen haben.
In einem Interview wurde Adams vor einigen Jahren die Frage gestellt, ob er denn nicht Angst davor habe, dasselbe Schicksal wie Dylan zu erleiden, sprich: ein phantastisches Album nach dem anderen zu veröffentlichen und dann mit Selfportrait zu enden. Daraufhin Adams:
I fuckin’ hope so because Selfportrait is a great album. What was that review in Rolling Stone? […] What is this shit? I hope the fucker who wrote that spins in his grave. He missed the point.
Wenn er einen Wienerwalzer tanzt, zieht er tiefe Furchen durchs Parkett. Er hat einen knallroten Kopf, er zischt und raucht, er juchzt. Damen in Ballroben drehen sich nach ihm um. Seine Leber möchte ich persönlich nicht kennenlernen. Ich bin allerdings ein Hypochonder, er nicht, er schlägt mit seiner Faust zu, bevor sich der Todesgedanke in seiner Seele auch nur bilden kann. Das kann er nun wirklich nicht ausstehen, dieses beständige An-den-Tod-Denken, da stemmt er schon lieber einen Wirtshaustisch hoch und läßt ihn einem Gast, einem Studiendirektor aus Kärnten, auf die Füße fallen. Wenn er zu Hause weinen muß, steckt er schnell den Kopf ins Waschbecken, so daß man Dusch- und Tränenwasser nicht mehr unterscheiden kann. Über seinem Schreibtisch hängt ein Punchingball aus getarntem Blei, damit die, die ihm beim Schreiben über die Schulter schauen und probeweise ein bißchen auf den Ball klopfen, sich die Finger brechen. Aber Herrgott, was ihm im Lauf eines Tages alles einfällt, zum Herrgott und zu anderen Themen. Wie er nur schon angezogen ist! Sein Anzug ist etwa so, als säße ich am Karfreitag mit einem Alphorn in der Hand in meiner Dorfkirche. Aus Frauen macht er sich nicht so furchtbar viel, aber er läßt es sich nicht anmerken. Darum fallen die walzertanzenden Damen in Ohnmacht, wenn er zu ihnen herübergrinst. Wir platzen fast vor Neid, wenn wir zusehen, wie er einen Fuß auf das Opfer stellt und sich fotografieren läßt, mit einer doppelläufigen Flinte in der Hand. Über der Mündung retouchiert der Fotograf dann später ein Räuchlein hinein. Böse Menschen mag er nicht. Andrerseits muß ja irgendjemand diese Welt erfunden haben. Er versucht, genau aufzupassen, wie sie es machen, aber es ist nicht ganz einfach, sich ihre Technik anzueignen.
Urs Widmer, Manuskripte, Heft 47/48, 1975
Gott schütze Österreich. Lesungen, Performances, Montagen: H.C. Artmann, Diana Brus, Aloisius Schnedel, Jodik Blabik, Alexander, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Günter Brus, Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm, Hermann Nitsch. Aufnahmen für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages um 1974.
ENDE. Ein Abend ohne Wolfgang Bauer und eine Hommage an Wolfgang Bauer.
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