Wolfgang Emmerich: Zu Paul Celans Gedicht „Wolfsbohne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Wolfsbohne“ aus dem Band Paul Celan: Die Gedichte. Neue Kommentierte Gesamtausgabe. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Wolfsbohne

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa…. o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall, an dem
Das Licht sich prüfet, wenn             Deutschland

Hölderlin, „Vom Abgrund nämlich…“

 

wie an den Häusern der Juden (zum Andenken
des ruinirten Jerusalems’s), immer etwas  u n-
v o l l e n d e t  gelassen werden muß…

Jean Paul, „Das Kampaner Thal“

 

aaaaaLeg den Riegel vor: Es
aaaaasind Rosen im Haus.
aaaaaEs sind
aaaaasieben Rosen im Haus.
aaaaaEs ist
aaaaader Siebenleuchter im Haus.
aaaaaUnser
aaaaaKind
aaaaaweiß es und schläft.

(Weit, in Michailowka, in
Gaissin, in
der Ukraine, wo
sie mir Vater und Mutter erschlugen: was
blühte dort, was
blüht dort? Welche
Blume, Mutter,
tat dir dort weh
mit ihrem Namen?
Mutter, dir,
die du Wolfsbohne sagtest, nicht:
Lupine.

Gestern kam einer von ihnen und
tötete dich
zum andern Mal in
meinem Gedicht.

Mutter.

Mutter, wessen
Hand hab ich gedrückt,
da ich mit deinen
Worten ging nach
Deutschland?

In – –, sagtest du immer, in
– – an
der Elbe,
auf
der Flucht.
Mutter, es wohnten dort…

aaaaaDu, die du Wolfsbohne sagtest.
aaaaaSie, die die Wolfsschanze bauten. – Wer
aaaaalebt?
aaaaaAuf der Atemspur lebst du, auf
aaaaaAtemsuche, im
aaaaaGedicht.

Mutter, ich habe
Briefe geschrieben.
Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.
Mutter, ich habe
Briefe geschrieben an –
Mutter, sie schreiben Gedichte.
Mutter, sie schrieben sie nicht,
wär das Gedicht nicht, das
ich geschrieben hab, um
deinet-
willen, um
deines
Gottes
willen.
Gelobst, sprachst du, sei
der Ewige und
gepriesen, drei-
mal
Amen.

Mutter, sie schweigen.
Mutter, sie dulden es, daß
die Niedertracht uns verleumdet.
Mutter, keiner
fällt den Mördern ins Wort.

Mutter, sie schreiben Gedichte.
O
Mutter, wieviel
fremdester Acker trägt deine Frucht!
Trägt sie und nährt
die da töten!

Mutter, ich
bin verloren.
Mutter, wir
sind verloren.
Mutter, mein Kind, das
dir ähnlich sieht.)

aaaaaLeg den Riegel vor: Es
aaaaasind Rosen im Haus.
aaaaaEs sind
aaaaasieben Rosen im Haus.
aaaaaEs ist
aaaaader Siebenleuchter im Haus.
aaaaaUnser
aaaaaKind
aaaaaweiß es und schläft.

Mutter, Unverloren , mit uns,
den Unverlorenen,
siegst du.
Und mit uns Wahr und Gerecht und Gerade,
um
der versöhnenden
Liebe
willen.

 

Das zweite Deutschlandgedicht

Fünfzehn Jahre vergehen, bis Paul Celan dem Wort ,Deutschland‘ wieder einen Platz in einem Gedicht einräumt. Es ist das Gedicht „Wolfsbohne“, entstanden am 21. Oktober 1959 in Paris, wo der Autor nun seit mehr als einem Jahrzehnt lebt. Das Wort ,Deutschland‘ taucht hier zweimal auf: einmal in einem der beiden Mottos – dem von Friedrich Hölderlin – und einmal mitten im Gedicht:

Mutter.
Mutter, wessen
Hand hab ich gedrückt,
da ich mit deinen
Worten ging nach
Deutschland?

Jetzt wird offenkundig nicht ein „Meister aus Deutschland“ imaginiert wie in der „Todesfuge“. Vielmehr sagt der Sprecher des Gedichts „Wolfsbohne“, dass er mittlerweile selbst dieses Land betreten habe. Hernach taucht das Wort ,Deutschland‘ in Celans lyrischem Werk nie wieder auf.1 In einem Nachlassgedicht ohne Titel von 1965, das mit der Anrede „Mutter, Mutter“ beginnt und Parallelen zu „Wolfsbohne“ aufweist, begegnet das Adjektiv „deutsch“ in einer Verszeile mit „meisterlich“.
Es gibt wohl kein zweites Gedicht Paul Celans (außer dem von 1965, das mit „Mutter, Mutter“ einsetzt), in dem sich der Autor so direkt als Sprechender zu erkennen gibt. Hier, in „Wolfsbohne“, spricht nicht irgendein lyrisches Ich-Konstrukt, hinter dem sich sein Urheber versteckt. Nein, hier spricht der Mensch Paul Celan, vormals Antschel, kaum verhüllt; ein Empörter und zutiefst Verletzter; ein Jude. Und die, die ihn so tief verletzt haben, sind Deutsche. Sie bzw. einer von ihnen im Besonderen lassen sich in diesem Fall namentlich benennen. Was Paul Celan so erregte, war eine Rezension seines neuen Gedichtbands, Sprachgitter, von Günter Blöcker im West-Berliner Tagesspiegel vom 11. Oktober 1959, die Celan am 17. Oktober von einer Bekannten namens Edith Aron erhielt.2 Blöcker, 1913 geboren, wurde 1939 als Soldat eingezogen und war von 1942 bis Kriegsende als Dramaturg bei der Ufa tätig. Es ist nicht bekannt, wie er seinen „Austritt als Soldat“ der Wehrmacht im Kriegsjahr 1942 bewerkstelligen konnte.3 Nach 1945 etablierte er sich rasch als Literaturkritiker bei einigen Zeitungen und Rundfunkanstalten. Was hatte er geschrieben, dass Celan davon so verstört wurde? Unter der Überschrift „Gedichte als graphische Gebilde“ behauptete Blöcker schon im ersten Satz, dass der Titel des Gedichtbandes Sprachgitter „ungewöhnlich treffend und entlarvend zugleich“ sei. Das Wort „entlarvend“ in der Besprechung eines Gedichtbandes ist nicht nur „ungewöhnlich“. Vielmehr desavouiert dieser Gestus die Rezension von Beginn an als – ja, niederträchtig. Blöcker deklariert, dass Celans Lyrik

nur selten einem Objekt gegenübersteht. In der Regel entwickelt sie ihr verbales Filigran wie Spinnfäden gewissermaßen aus den Sprachdrüsen selbst. Celans Metaphernfülle ist durchweg weder der Wirklichkeit abgewonnen, noch dient sie ihr.

Diese „graphische[n] Gebilde“ folgten nicht der „Anschauung“, sondern „einer allzu selbstbesessenen Kombinatorik“, und ihr

Mangel an dinghafter Sinnlichkeit wird auch durch Musikalität nicht unbedingt wettgemacht. Zwar arbeitet der Autor gern mit musikalischen Begriffen: die vielgerühmte „Todesfuge“ aus Mohn und Gedächtnis oder, in dem vorliegenden Band, die „Engführung“. Doch das sind eher kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten – Augenmusik, optische Partituren, die nicht voll zum Klang entbunden sind.

Der Dichter habe, so der Kritiker weiter,

der deutschen Sprache gegenüber eine grössere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals verführt im Leeren zu agieren.4

Paul Celan reagierte auf diese Zuschreibungen (die für ihn zutiefst kränkende Anwürfe waren) umgehend. Er schrieb Briefe an Freunde und Kollegen, so an Ingeborg Bachmann und Max Frisch (den er noch nicht persönlich kannte), Rolf Schroers, Paul Schallück, Nelly Sachs, Hans Magnus Enzensberger, Peter Szondi und an seinen Lektor im S. Fischer Verlag, Rudolf Hirsch. In Paris sprach er mit Günter Grass, der Lektorin Elisabeth Borchers und Peter Hamm. „Nur Schroers, Sachs und Szondi antworteten rasch, Schroers schrieb zusätzlich an Blöcker, Grass rief ihn an“, so liest man bei Barbara Wiedemann.5 Die Nennung dieser Namen zeigt schon, wie viele und bemerkenswerte Kolleginnen und Kollegen Celan inzwischen kennengelernt hatte. Doch nicht alle verstanden, was ihn bis in den Kern seiner Existenz traf und buchstäblich niederwarf. Vor allem Ingeborg Bachmann und Max Frisch hielten Celans empörte Reaktion für übertrieben und sahen in ihr ein Zeichen verletzter Eitelkeit. Bachmann kannte kränkende Rezensionen, verstand aber zunächst nicht, dass Celan einen solchen Fall immer und immer wieder im Kontext des nazistischen Antisemitismus und seiner Gewaltverbrechen erlebte – und das zu Recht. Die Folge war eine immer weiter wachsende Entfernung Celans von der Frau, die zwei Jahre zuvor noch einmal seine Geliebte geworden war. Und die Folge waren Seelenqualen auf beiden Seiten.
Paul Celan kannte einige topische Figuren aus Blöckers Kritik bereits aus den Rezensionen zu seinem ersten offiziellen Gedichtband, Mohn und Gedächtnis von 1952. Dort war schon von „Etuden und Fingerübungen“ (Heinz Piontek) und „musikalische[n] Inventionen, kontrapunktische[n] Übungen“ (Andreas Donath) die Rede.6 Was den Autor an Blöckers Rezension verletzte, zeigt der Brief, den er am 23. Oktober per Einschreiben an die Feuilleton-Redaktion des Tagesspiegel in West-Berlin schickte. Er steht hier im vollen Wortlaut, weil er einen Paul Celan zeigt, der bislang so noch nicht erkennbar war: einen Polemiker, Sarkastiker und Ironiker von Graden:

Da ich, wie die Dinge in Deutschland nun einmal wieder sind, nicht annehmen kann, dass einer Ihrer hoffentlich zahlreichen Leser zu der in Ihrer Ausgabe vom 11. Oktober d.J. erschienenen Besprechung meiner Gedichte (Rezensent: Günter Blöcker) das gesagt hat, was dazu gesagt werden muss, tue ich es selbst: das mag, wie ja auch meine grössere Freiheit der deutschen Sprache – meiner Muttersprache – gegenüber, an meiner Herkunft liegen.
Ich schreibe Ihnen diesen Brief: der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet mich weniger als andere; ich agiere im Leeren.
Die „Todesfuge“, als deren leichtsinnigen Autor ich mich heute bezeichnen muss, ist tatsächlich ein graphisches Gebilde, in dem der Klang nicht bis zu dem Punkt entwickelt ist, wo er sinngebende Bedeutung übernehmen kann. Entscheidend ist hier nicht die Anschauung, sondern die Kombinatorik.
Auschwitz, Treblinka, Theresienstadt, Mauthausen, die Morde, die Vergasungen: wo das Gedicht sich darauf besinnt, da handelt es sich um kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier.
Es war tatsächlich hoch an der Zeit, denjenigen, der – das mag an seiner Herkunft liegen – nicht ganz gedächtnislos deutsche Gedichte schreibt, zu entlarven. Wobei so bewährte Ausdrücke wie „kombinationsfreudiger Intellekt“, „duftlos“ usw. sich ganz besonders empfahlen. Gewisse Autoren – das mag an ihrer Herkunft liegenentlarven sich übrigens eines schönen Tages selbst; ein kurzer Hinweis auf die erfolgte Selbstentlarvung genügt dann; worauf man unangefochten über Kafka weiterschreiben kann. Aber, werden Sie einwenden, unter „Herkunft“ z.B. versteht der Rezensent ja nichts anderes als den Geburtsort des Autors jener graphischen Gebilde. Ich muss Ihnen zustimmen: Blöckers Wirklichkeiten, nicht zuletzt die freundlichen Ratschläge am Ende seiner Rezension, sprechen unzweideutig für diese Auffassung. Dieser Brief hat also, werden Sie nun, einen Schlusspunkt setzend, sagen, mit der Besprechung nichts zu tun. Auch hier muss ich Ihnen zustimmen: Tatsächlich. Nichts. Nicht das geringste. Ich agiere im Leeren.
P.C.
(Paul Celan)

P.S. Alles in diesem Brief durch Unterstreichungen Hervorgehobene stammt aus der Feder Ihres Mitarbeiters Blöcker.7

Paul Celan markiert mit diesem Schreiben explizit zwei Strategien des Rezensenten Blöcker, die beide die Tendenz des Zunichtemachens in sich tragen. Nicht zufällig baut der Autor gegen Ende des Briefes die Wörter „Nichts. Nicht das geringste“ ein. Da ist zum einen der Versuch, die Gedichte Celans in eine möglichst große Entfernung zur Wirklichkeit zu rücken. Sie zielen auf eine Entwirklichung der Texte („graphische Gebilde“, „Kombinatorik“, „kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier“, „duftlos“), so dass sie für die Leser (denn für diese schreibt ein Rezensent) möglichst nichts mehr mit der Wirklichkeit der Vernichtungslager zu tun haben, von denen Celans Brief bewusst einige nennt. Die zweite Tendenz in Blöckers Besprechung geht noch einen Schritt weiter. Sie zielt auf die Entwirklichung des Autors. Ihm wird zugeschrieben, dass er die deutsche Sprache kaum zur Kommunikation gebrauche, vielmehr „im Leeren“ agiere, was wohl an seiner „Herkunft“ liege. Das Wort ,Jude‘ vermeidet Blöcker, das könnte als diskriminierend verstanden werden, kaum fünfzehn Jahre nach der Shoah.8 Aber „Herkunft“ tut es auch. Auf subtile Weise wird der Autor solcher Gedichte wie „Todesfuge“ und „Engführung“ aus der Gemeinschaft der ,normalen‘ Deutschen ausgeschlossen. Und die ,Normalen‘, das sind die, die weder etwas mit dem Massenmord an den Juden zu tun haben noch so fremdartige Gedichte wie die Celans lesen wollen. Natürlich ist Celans Brief der Text eines Gekränkten, aber seine Polemik trifft das verkappt Denunziatorische an Blöckers Rezension gleichwohl genau.
Das Gedicht „Wolfsbohne“, die eigentliche Antwort des Dichters auf Blöckers Text, beginnt mit einer Anrede des Sprechenden an sich selbst – oder an die Mutter seines Kindes (das ist nicht zu entscheiden), grammatikalisch in der Form des Imperativs. Das Leben im Haus muss geschützt werden: „Leg den Riegel vor“; außerhalb desselben gibt es offenbar Feinde, mögliche Eindringlinge, das Böse. Dabei wird das zu schützende, einträchtige Leben der kleinen Familie in diesem Haus – und das, was schützt – mit „Es sind / sieben Rosen im Haus“ jüdisch konnotiert; das zeigen spätestens die Verse 83/84:

Es ist
der Siebenleuchter im Haus
.9

Das Alarmierende des „Leg den Riegel vor“ wird am Ende der Strophe ein wenig zurückgenommen, wenn es von dem Kind heißt, dass es um diese Situation wisse und schlafe. Aber wenn man den Kontext, in dem dieses Gedicht entstand, nicht kennt, kann einen dieser Anfang des Gedichts durchaus alarmieren.
Das erste Schriftzeichen der zweiten Strophe, eine Klammer, markiert den Beginn eines über weite Strecken rückwärts, in die Unheilsgeschichte gerichteten Textes. Der Sprechende (wir wissen: es ist auch der Autor selbst) erinnert sich an die Ukraine mit ihren Todeslagern Michailowka und Gaisin, „wo / sie mir Vater und Mutter erschlugen“. Der selten gebrauchte Dativus ethicus „mir“ verdeutlicht das Einschneidende des Verlusts beider Eltern: ihm, der hier spricht, ist das geschehen, nicht irgendwem. Und direkt daran knüpft sich die Assoziation an das, was wohl dort in der Ukraine auf den Feldern geblüht haben mag, nämlich die auch in unseren Breiten häufige, stickstoffreiche, in verschiedenen Farben blühende, schön anzusehende Futterpflanze Lupine. Die ermordete Mutter hatte sie „Wolfsbohne“ genannt, nicht Lupine, wie in den meisten deutschsprachigen Regionen üblich. Der Bezug zum Wolf, zum Wölfischen = Tödlichen wohl auch, ist in beiden Wörtern gegeben, aber in dem Wort, das die Mutter gebrauchte, doch wohl offensichtlicher. Dachte Celan an den Bitterstoff in den Lupinensamen, der zu Atemlähmung führen kann? Assoziierte er diese Tatsache vielleicht mit den massenhaften Vergasungen in den Vernichtungslagern? Eine spätere Strophe (V. 37) assoziiert zur Wolfsbohne die ,Wolfsschanze“, Adolf Hitlers Kriegs-Hauptquartier in Ostpreußen, das freilich auch der Ort des missglückten Attentats von Graf Schenk von Stauffenberg war. Hitler hatte vor 1933 oft den Tarnnamen Wolf getragen, auf den ja sein Vorname Adolf zurückgeht. In der Wolfsschanze, der er selbst diesen Namen gegeben hat, hielt er sich seit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Juni 1941 als Oberbefehlshaber sehr häufig auf. Er verließ sie endgültig am 20. November 1944, als die Rote Armee nur noch 100 Kilometer entfernt stand.
In der folgenden Strophe „Gestern kam einer von ihnen und / tötete dich / zum andern Mal in / meinem Gedicht. // Mutter“ blendet das Gedicht abrupt zur Gegenwart des Sprechers über und setzt das vormalige Morden in der Ukraine „in eins“10 mit der Vernichtung, die er in der literarischen Kritik ,eine[s] von ihnen“ sieht. Ein komplexer Vorgang: Der Kritiker vernichtet mit einer Kritik, so die Vorstellung, das dem Andenken der Mutter gewidmete Gedicht, ihre „Grabstelle“, und indem er das tut, tötet er die Mutter „zum andern Mal“. Das ist das durchgehende Motiv des Gedichts: dass dieser Kritiker gleichsam einen Dreifachmord begehe: am Gedicht, an der verstorbenen Mutter und am Urheber des Gedichts. Sowohl aus der zeitlichen Nähe von 1959 als auch aus dem Abstand von nunmehr 60 Jahren wird man sagen dürfen, dass hier der Wirkkraft einer einzelnen Literaturkritik zu viel zugetraut wird. Und gleichzeitig hat Paul Celan recht, wenn er diese Zuschreibungen vornimmt. Er lebt in Paris, aber er besucht mittlerweile die Bundesrepublik recht häufig – und ist dabei immer umgeben von Hunderten und Tausenden deutscher Menschen, von denen die meisten fünfzehn, zwanzig Jahre vorher zumeist Mitläufer, wenn nicht Mittäter das Naziregimes waren. Und Täterschaft hatte viele Facetten, z.B. auch Berufe, in denen Akademiker oder Schriftsteller arbeiteten. Solche unvermeidlichen Assoziationen greift die nächste Strophe auf, in der der Autor sich fragt, „wessen / Hand [er] gedrückt“ habe, „da ich mit deinen / Worten ging nach / Deutschland?“ Man kann an Bertolt Brecht denken, der in zwei seiner Buckower Elegien im Jahr 1953 ebendieses banale, aber doch höchst folgenreiche Phänomen aufgriff, dass die Deutschen (und das gilt natürlich für beide deutsche Staaten) acht oder fünfzehn Jahre nach dem Ende des Hitlerregimes noch weitgehend dieselben waren, die sie gewesen waren:

VOR ACHT JAHREN

Da war eine Zeit
Da war alles hier anders.
Die Metzgerfrau weiß es.
Der Postbote hat einen zu aufrechten Gang.
Und was war der Elektriker?
11

Für Paul Celan, dem ein Händedruck viel bedeutete,12 ging es um mehr als um unvermeidliche Zufallsbegegnungen auf der Straße. Es ging ihm um Kolleginnen und Kollegen, von denen er manche für Freunde hielt – und die ihn enttäuschten; sei es, dass sie auf seine Briefe gar nicht reagierten (V. 43) und schwiegen (V. 62), sei es, dass sie eine Kritik wie die Blöckers für ein notwendiges, aber hinzunehmendes Übel des Literaturbetriebs hielten (wie Bachmann und Frisch auf unterschiedliche Weise). Dieses Schweigen wird von Paul Celan wahrgenommen als Duldung dessen, „daß / die Niedertracht uns verleumdet, / Mutter, keiner / fällt den Mördern ins Wort.“ V. 63–66) Eine starke Zuspitzung: Die schweigenden Kollegen werrden damit der Beihilfe zum Mord angeklagt, und damit werden Brücken abgebrochen, die hernach kaum wieder begehbar sind.
Die beiden voraufgehenden Strophen von „Wolfsbohne“ hatten zurückgeblickt auf die Erinnerungen der Mutter Friederike Antschel, die während des Ersten Weltkriegs in Aussig an der Elbe in Böhmen gelebt hatte – aus Furcht vor antisemitischen Pogromen, wie sie gehäuft in Bessarabien und der westlichen Ukraine geschahen. Die Verse 36 bis 41 der eingerückten Strophe stellen die entscheidende Frage:

Du, die du Wolfsbohne sagtest.
Sie, die die Wolfsschanze bauten. – Wer
lebt?
Auf der Atemspur lebst du, auf
Atemsuche, im
Gedicht.

Es ist ein geradezu optimistisches Moment, das sich in diesem ansonsten bitteren, ja, verzweifelten Gedicht Geltung verschafft:

Wer
lebt?

Es ist die Mutter mit ihrem Zauberwort Wolfsbohne; ermordet zwar, aber zu neuem Leben kommend „im / Gedicht“, wobei das Gedicht mit dem lebendigen Atem „in eins“ gesetzt wird; ein Konzept, das dem späteren Gedichtband Atemwende zugrunde liegt. Das heißt aber auch, dass denen, „die die Wolfsschanze bauten“, und allen ihren Nachfolgern (Literaturkritiker inbegriffen) kein Weiterleben zugebilligt wird. Soweit ich sehe, ist das in dem gesamten lyrischen Werk sonst nicht so unmittelbar zu finden: dass das Gedicht quasi zum Schauplatz eines Kampfes erhoben wird zwischen einem Bösen, das im Nazitum und seinem Weiterleben inkarniert ist, und einem Guten, das im Mutteridol und (stellvertretend) im Gedicht sich manifestiert. Aufs Ganze gesehen wird aber ebendas als Movens des Dichtens von Paul Celan generell erkennbar: Es ist der leidenschaftliche Versuch, dem fortgesetzten Verhängnis des mörderischen Nazitums das ganz Andere der Sprache des Gedichts entgegenzusetzen. Wieder und wieder.
Ab dem Vers 47 schaut der hier Sprechende auf die Gedichte schreibenden Kollegen und stellt die Behauptung auf, „sie schreiben Gedichte. / Mutter, sie schrieben sie nicht, / wär das Gedicht nicht, das / ich geschrieben hab um / deinet- / willen […]“. Natürlich ist hier „Todesfuge“ gemeint, das „Grab“ für die grablose Mutter. Stimmt die Behauptung? Oder ist sie nicht maßlos selbstbezogen und eitel? Doch, tatsächlich hat kein anderes deutsches Gedicht so wie „Todesfuge“ seit seinem Erscheinen in dem Band Mohn und Gedächtnis 1952/53 unter Lesern, vor allem aber auch unter den schreibenden Kollegen gewirkt – ob nun erschütternd oder als Ärgernis. Man könnte einen kleinen Band zusammenstellen mit direkten oder indirekten Reaktionen auf dieses Gedicht – bis hin zu dem erwartungsvollen Publikum, das Celan in Israel hatte und das darauf hoffte, dass er die „Todesfuge“ läse (was er nicht tat). Und irgendwann war das Gedicht tatsächlich auch „lesebuchreif gedroschen“, wie der Dichter selbst feststellte.13 Doch hier, in „Wolfsbohne“, geht es ihm erkennbar um diejenigen schreibenden Kollegen, die sich quasi von einem Gedicht und seinem schreckensvollen Inhalt ernährten:

Mutter, sie schreiben Gedichte.
O
Mutter, wieviel
fremdester Acker trägt deine Frucht!
Trägt sie und nährt
die da töten!

Die etwas dunklen Verse meinen wohl Folgendes: Ein deutscher Gedichteschreiber der Zeit um 1959, dessen lebensgeschichtliche Prägungen noch aus der NS-Ära stammen, ist der „fremdeste Acker“ gegenüber dem, was er sich da zu eigen macht, nämlich das schreckliche Schicksal der Mutter (und aller anderen Opfer der Shoah).14 Davon lässt er sich inspirieren (befruchten) und trägt das so Empfangene aus – in eigenen Gedichten oder in anderen, im Grunde parasitären Beiträgen (so der Vorwurf) zur Verwurstung des Schrecklichsten.15 Was dabei herauskommt, „nährt / die da töten!“ Für einen zufällig überlebenden Juden, der unter diese nichtjüdischen Zeit- und Schreibgenossen gefallen ist, eine verzweifelte Situation. Von dem nahezu triumphalen Gestus der Verse 37 bis 40 („Wer / lebt?“) ist Angesichts dessen nichts geblieben, wie die Verse 73 bis 78 zeigen:

Mutter, ich
bin verloren.
Mutter, wir
sind verloren.
Mutter, mein Kind, das
dir ähnlich sieht.)

Die Triade von Mutter, Sohn und dem Enkelkind, das seiner Großmutter ähnlich sieht, wird als „verloren“ bezeichnet. Kein „Verloren war Unverloren, / das Herz ein befestigter Ort“, wie es in dem knapp zwei Jahre später entstandenen Gedicht „Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle“16 aus dem Band Die Niemandsrose heißt. Doch dieser Hinweis zeigt, dass Paul Celan in diesen Jahren enormen psychischen Schwankungen ausgesetzt war. Eine einzelne veröffentlichte Kritik, die er als verkappt antisemitisch wahrnahm (und das mit guten Gründen), konnte ihn im Tiefsten erschüttern. Aber die Kräfte des Widerstehens waren noch vorhanden und kämpften sich wieder ans Tageslicht. Das Gedicht „Wolfsbohne“, das neunzehnmal die Mutter anruft, endet, nachdem der lange in Klammern gesetzte Text beendet ist, mit einer Wiederholung der ersten Strophe – und einer Ergänzung (Verse 79–87): Frieden, Sicherheit, Sinn bietet das Haus, in dem „der Siebenleuchter“ steht – die Menora, eines der ältesten und heiligsten Symbole jüdischer Religiosität. Freilich ist es dafür nötig, „den Riegel“ vorzulegen. Das Feindliche und Böse ist keineswegs endgültig gebannt. Das manifestiert sich in dem am 31. Januar 1965 geschriebenen Gedicht „Mutter, Mutter“, das sich wie eine Fortsetzung von „Wolfsbohne“ liest:

Mutter, Mutter.

Der Luft entrißne.
der Erde entrißne.

Herunter-,
Herauf-
gezerrte.

Vor die Messer
schreiben sie dich,
kulturflott, linksnibelungisch, mit
dem Filz-
schreiber, auf Teakholztischen, anti-
restaurativ, proto-
kollarisch, prä-
zise, in der neu und gerecht
zu verteilenden Un-
menschlichkeit Namen,
meisterlich, deutsch,
mannschmannsch, nicht
ab-. nein wiesen-
gründig,
schreiben sie, die
Aber-Maligen, dich
vor
die
Messer.17

Wieder ist es eine Literaturkritik, diesmal im renommierten Merkur und geschrieben von dem linksliberalen, des Antisemitismus eigentlich unverdächtigen Reinhard Baumgart (1929–2003). Und der Essay unter dem Titel „Unmenschlichkeit beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur“18 reflektiert auch schwerwiegende Probleme wie eben die Frage, ob Dichtungen zur Shoah von „jener Schönheit sein können, die das Unsägliche durch Kunstaufwand beredt macht, den Schrecken zur Ordnung ruft, einzirkelt und befriedet“. Eben dafür wählt Baumgart als Beispiel die „Todesfuge“ „etwa [!] und ihre Motive, die ,schwarze Milch der Frühe‘, der Tod mit der Violine[?!], ,ein Meister aus Deutschland‘, alles durchkomponiert in raffinierter Partitur.“ Daraus erwachse „schon zuviel Genuß an Kunst, an der durch sie wieder ,schön‘ gewordenen Verzweiflung.“19 Abgesehen davon, dass Baumgart mit dem Topos von raffiniert durchkomponierter Partitur auf einen der oft wiederholten Topoi der Kritik an Celans Lyrik (wie schon Blöcker) zurückgreift, so trifft sein Haupteinwand tatsächlich ein Problem, das den frühen Gedichten des Dichters immanent und zumal bei „Todesfuge“ unübersehbar ist: die staunenswerte Schönheit des Gedichts, die, da es „im Angesicht der Shoah“ geschrieben ist, die Frage unabweisbar macht, ob ebendieser hohe ästhetische Reiz den Leser nicht auf einen falschen Weg führen könne. Paul Celan hat es wohl im Lauf der späten 50er Jahre selbst ähnlich empfunden und darauf verzichtet, das Gedicht noch öffentlich zu lesen (was nicht heißt, dass er es verworfen hätte). 20 Das Dilemma liegt darin, dass hier tin nicht existenziell betroffener deutscher Intellektueller quasi von oben herab dekretierte, was in dieser Frage sein dürfe und was nicht. Was in der deutschen Öffentlichkeit noch der 60er Jahre erkennbar fehlte, das war eine Sensibilität für die naturgegebene Verletzbarkeit von Menschen wie Paul Celan, für die sich solche Fragen niemals akademisch abstrakt stellten. Zudem haben wir es im Jahre 1965 mit einem Menschen zu tun, der mittlerweile schwere psychische Krisen durchgemacht und auch schon einen Klinikaufenthalt hinter sich hat – im November desselben Jahres wird die Einweisung in eine psychiatrische Klinik für mehrere Monate folgen.
Dennoch gelingt mit diesem neuen „Mutter“-Gedicht ein anrührender Text. Wieder imaginiert er die Vergegenwärtigung der Ermordeten durch rücksichtslose Intellektuelle, die diesmal als „kulturflott“ und „linksnibelungisch“ charakterisiert werden; will sagen, nicht mehr als biedere und offensichtlich antisemitische Reaktionäre, sondern als up to date und quasi chic aufgemachte, nichtsdestotrotz messerscharf agierende professionelle Schreiber, die die Frage des Wie-Schreibens im Angesicht der Shoah, die doch niemanden mehr umtreibt als Paul Celan selbst, nicht existenziell angeht. Sie sind es für den hier Sprechenden, durch die die Mutter wieder die „[d]er Luft entrißne, / der Erde entrißne. // Herunter-, / Herauf- / gezerrte“ (V. 2–6) wird. Die Luft steht für den Rauch, die Erde für die Asche, die von der grablos Ermordeten als Einziges geblieben sind. Von dort oben und dort unten wird sie ein weiteres Mal gewaltsam heruntergerissen und heraufgezerrt wie vor ein Gericht, als ob sie selbst Schuld hätte. Das rätselhafte „linksnibelungisch“ taucht 1968 ein weiteres Mal in dem Gedicht „Port Bou – deutsch?“ auf;21 hier sei nur vermerkt, dass es für Celan eine Chiffre für rabiate israelkritische deutsche Linke geworden ist, wie sie in der 68er-Bewegung eine Rolle spielten. Reinhard Baumgart ist dieser Richtung nicht zuzurechnen, und die sarkastische Abfertigung seiner grundlegenden Dissertation über die Ironie im Werk Thomas Manns mit „mannschmannsch“ ist auch bei gutem Willen nicht als gelungen witzig einzuschätzen. Das Gleiche gilt für das Wortspiel „nicht / ab-, nein wiesen- / gründig“ mit dem ursprünglichen, vom jüdischen Vater Theodor W.[iesengrund] Adornos herkommenden Familiennamen des Frankfurter Philosophen, dem damit unterstellt wird, er habe sich aus Opportunitätsgründen von dem leicht als jüdisch zu identifizierenden Nachnamen getrennt. Und natürlich geht es auch um Adornos berühmtes Diktum, wonach es „barbarisch“ , wo nicht „unmöglich“ sei, „nach Auschwitz“ Lyrik zu schreiben.22 So verspürt man am Ende Bedauern: Es gelingt Paul Celan in dem zweiten „Mutter“-Gedicht – fünfeinhalb Jahre nach dem ersten – nicht überzeugend, das vorherrschende politische und kulturelle Klima in der Bundesrepublik Deutschland so präzise anzugreifen, wie das zu wünschen gewesen wäre. Er trifft Momente einer neuen Selbstgerechtigkeit von Intellektuellen, die sich tatsächlich anmaßt, darüber zu urteilen, wie die „Unmenschlichkeit“ quasi „neu und gerecht“ zu „verteilen[]“ und hernach darzustellen sei (V. 14f.). Doch macht er es sich mit der Brandmarkung dieser „Aber-Maligen“ als „meisterlich, deutsch“ zu einfach. Baumgart ist nicht Blöcker und schon gar nicht Holthusen.
Das Stichwort „meisterlich, deutsch“ kann uns aber zurückführen zu einem der beiden rätselhaften Mottos über dem Gedicht „Wolfsbohne“, und zwar zu dem von Jean Paul. Celan liebte diesen Autor, was schon daran erkennbar ist, dass er in Wien 1948 – als nun wirklich mittelloser Mann – eine vielbändige wertvolle Jean-Paul-Ausgabe erwarb, die er zeit seines Lebens in Ehren hielt. Es geht um den Halbsatz „wie an den Häusern der Juden (zum Andenken des ruinirten Jerusalems), immer etwas  u n v o l l e n d e t  gelassen werden muß“ aus der Erzählung „Das Kampaner Tal“. Die Erzählung von 1797 ist, so scheint es, einer wirklichen Reise in das schöne Pyrenäental von Campan gewidmet, aber eigentlich geht es um eine Disputation über die Unsterblichkeit der Seele – und beides sagt letztlich nichts dazu, warum Celan diese unscheinbare Anmerkung (mehr ist is nicht bei Jean Paul) ausgewählt hat. Es geht um die Aussage als solche: Juden folgen einem Gebot, an ihren Häusern „immer etwas „unvollendet“ zu lassen, und der Grund dafür ist die Pietät: dass niemals die Zerstörung des Tempels (das „ruinirte[] Jerusalem[]“) vergessen werden dürfe; also das „Andenken“ an etwas Ruiniertes, das ist: etwas Unvollendetes. Damit stellt sich dieses Motto entschieden gegen Blöckers Vorwurf der „gegliederten Sprachflächen“, der „Kombinatorik“ wider alle „Anschauung“ und „dinghafte […] Sinnlichkeit“, der „kontrapunktische[n] Exerzitien auf dem Notenpapier“, des „kombinationsfreudigen Intellekts“23 – alles ,meisterliche‘ Qualitäten, die Celan für sich ablehnt, weil er gerade das für sich in Anspruch nimmt: Anschauung, Sinnlichkeit, existenzielle Nähe zur vergegenwärtigten schrecklichen Wirklichkeit von Gewalt und Mord. Das impliziert naturgemäß, ,immer etwas unvollendet zu lassen‘ – bei Paul Celan weniger (aber auch) ,zum Andenken an das ruinirte Jerusalem‘, und umso mehr zum Andenken an die Shoah, das ,ruinierte‘ Judentum schlechthin. Somit verbirgt sich in dem Motto von Jean Paul eine poetologische Aussage: Dichtung „im Angesicht der Shoah“ wird nie rein rational, ausgedacht und zurechtkombiniert, ,perfekt‘ und ,nur schön‘ sein dürfen. Man ist hier schon sehr nahe an den Gedanken, die der Dichter im Lauf des Jahres 1960 bei der Ausarbeitung seiner Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis unter dem Titel „Der Meridian“ zu Papier bringt. Da heißt es z.B.

Wer nur der Mandeläugig-Schönen die Träne nachzuweinen bereit ist, der tötet auch sie, die Mandeläugig-Schöne, zum andern Mal. Den [Vergasten &] Krummnasigen, Kielkröpfigen, den Einwohnern der stinkenden Judengassen, den Mauschel-Mäulern – ihrer gedenkt das gerade Gedicht – das Hohe Lied […]24

Und dieses Gedenken muss der Forderung entsprechen, die Jean Paul in seiner beiläufigen Anmerkung notiert hat. Celan kommt in diesem Zusammenhang auf die zentralen Gedanken, die aber auch auf „Wolfsbohne“ schon zutreffen. Die negativ aufgeladenen Stichworte heißen jetzt „Artistik“, „Akrobatik“, „Kunst-Kunst“ oder „diverse keimfreie ästhetische Botschaften / synthetische Poesien /“; die „kybernetisch akkreditierte“ Pseudopoesie. Noch einmal polemisch zugespitzt:

Das Keimfreie ist das Mörderische; [] im formal designing ist der Faschismus heute.25

Das sind Gedanken, die Paul Celan bewegen, wenn er an das ,neue Deutschland‘ um 1959/60 denkt. Es ist deutlich, dass dieser Dichter nicht bei 1945 stehenbleibt, sondern die politischen, moralischen und ästhetischen Linien auszieht, wie er sie sieht. Sein Deutschlandgedicht „Wolfsbohne“, dieser so extrem subjektive Mutter-Anruf, ist nicht nur der Kränkung durch Blöckers Text geschuldet, er ist auch in sich selbst das Manifest einer Gegen-Ästhetik.
Bleibt noch der Versuch einer Erläuterung zu dem Friedrich Hölderlin entliehenen Motto. In ihm steht das Wort ,Deutschland‘ – wie auch in „Wolfsbohne“ selbst (V. 29); jedenfalls bemerkenswert, denn Celan hat das Wort – nachdem es in „Todesfuge“ sechsmal auftauchte, viermal in der Wendung „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ – seither in seiner Lyrik nicht wieder verwendet, und auch später nie mehr. In Briefen und anderen Lebenszeugnissen taucht das Wort sehr wohl auf. Es ist, als ob der Autor zumindest seine Dichtungen von dem kontaminierten Wort freihalten wollte. Doch im Zitat aus Hölderlins hymnischem Entwurf „Vom Abgrund nämlich“ scheint offenkundig ein anderes Deutschland auf; eines, dessen „Blüten“ das Herz dessen, der hier spricht, erheben und zu einem „[un]trügbare[n] Kristall“ werden lassen, „an dem / Das Licht sich prüfet, wenn“ – ja, wenn was? Das sagt das Fragment in der Handschrift Hölderlins aus dem sogenannten Homburger Foliobuch nicht mehr. Am unteren Rand des Blattes kommt nach einem freibleibenden Stück auf dem Papier nur noch das Wort „Deutschland“.26 Was der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin für Paul Celan bedeutet hat, soll an anderer Stelle genauer erörtert werden. Hier nur so viel: Der entscheidende Unterschied zwischen Hölderlins Vorstellungen von einem ,anderen‘ Deutschland als „Vaterland“ und Jenen Paul Celans liegt darin, dass Hölderlin vor der Shoah lebte und – so darf man unterstellen – sich so etwas wie den industrialisierten Massenmord an den Juden nicht einmal vorstellen konnte. Ja, Hölderlin lebte sogar noch um ein Weniges vor der bald um sich greifenden Ideologie vom Nationalstaat und vor dem Nationalchauvinismus à la Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn. Johann Gottlieb Fichte kannte und schätzte Hölderlin zweifellos, aber das war der Erkenntnistheoretiker der „Wissenschaftslehren“ und der Sympathisant der Französischen Revolution, nicht der Autor von „Der geschlossene Handelsstaat“ oder gar der „Reden an die deutsche Nation“. Kurz, Hölderlins Vision von Deutschland ist um das Jahr 1800 eine absolut unschuldige, so wie es in einem Entwurf von „Das nächste Beste“ heißt:

Viel sind in Deutschland

Wohnsitze sind da freundlicher Geister, die

Zusammengehören27

Ein solches Deutschland ersehnte auch Celan, wohl wissend, dass dies nach Hitlers Raubkrieg und dem Massenmord an den Juden nicht mehr möglich war.28 So ist dieses Motto mit Trauer besetzt, Trauer darum, dass das Bild von einem Deutschland, das schöne Blüten treiben könnte, obsolet geworden ist. Die Vorstellung vom Herzen als „Untrügbare[m] Kristall“ vermag Celan hingegen aufzunehmen. Die dritte und letzte Strophe des Gedichts, das beginnt „Weggebeizt“ etwa vier Jahre nach „Wolfsbohne“ entstanden), lautet:

Tief
in der Zeitenschrunde.
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.29

Das aus dem lebendigen Atem zum Eiskristall Gewordene als noch mögliches Zeugnis: Das ist das zeitgemäße Pendant zu Hölderlins „Untrügbare[m] Kristall“. Das ist der Status von deutscher Dichtung um das Jahr 1960. Das Dilemma der nahen und zugleich so fernen Fremde Deutschland hat sich im Vergleich zu 1945 entschieden verschärft.
Paul Celan war klar, dass „Wolfsbohne“ ein außergewöhnlich persönliches und dadurch sehr spezielles Gedicht war. Gleichwohl wollte er es zunächst im Einvernehmen mit seinem Lektor Rudolf Hirsch im Almanach des S. Fischer Verlags veröffentlichen. Vermutlich unter dem Einfluss des Freundes Klaus Demus, der meinte, „daß es eigentlich kein Gedicht sei“, bat der Autor seinen Lektor darum, das Gedicht „nun ganz ins Private zurückkehren zu lassen“.30 Das geschah dann auch, bis es 1997 in dem ersten Band mit Gedichten aus dem Nachlass publiziert wurde und unter Kritikern und sonstigen Lesern sofort Aufsehen erregte. Bekannt wurde durch diesen Band auch, dass Celan sein Gedicht am 25. April 1965 noch mit einem Zusatz versehen hatte, der bereits eingangs mit zitiert wurde:

Mutter, Unverlorene, mit uns,
den Unverlorenen,
siegst du.
Und mit uns Wahr und Gerecht und Gerade,
um
der versöhnenden
Liebe
willen.31

Das war des Dichters letztes, überraschend ,,versöhnendes“ Wort in der Causa Blöcker.

Wolfgang Emmerich, aus Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen, Wallstein Verlag, 2020

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