– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Finnischer Tango“ aus Hans Magnus Enzensberger: Die Furie des Verschwindens. –
HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Finnischer Tango
Was gestern abend war ist und ist nicht
Das kleine Boot das sich entfernt
und das kleine Boot das sich nähert
Das Haar das ganz nah war ist fremdes Haar
Das ist leicht gesagt Das ist immer so
Der graue See ist doch der graue See
Das frische Brot von gestern abend ist hart
Niemand tanzt Niemand flüstert Niemand weint
Der Rauch ist verschwunden und nicht verschwunden
Der graue See ist jetzt blau Jemand ruft
Jemand lacht Jemand ist fort
Es ist ganz hell Es war halb dunkel
Das kleine Boot kehrt nicht immer zurück
Es ist dasselbe und nicht dasselbe
Niemand ist da Der Felsen ist Felsen
Der Felsen hört auf Felsen zu sein
Der Felsen wird wieder zum Felsen
Das ist immer so Es verschwindet
nichts und nichts bleibt Was da war
ist und ist nicht und ist Das
versteht niemand Was gestern abend war
Das ist leicht gesagt Wie hell
der Sommer hier ist und wie kurz
Der Tango ist als Tanz beinah obsolet. Doch als Begriff des nostalgisch Mollgetönten, des Wohlig-Gestrigen lebt er weiter. Der Titel ist hier das einzige ironische Element. In der Tat werden in diesem Gedicht die Gefühle nur tangiert, es lebt vom Verzicht, die Saiten der Psyche anzuschlagen. Was gesagt wird, wird „leicht gesagt“, es wird mit dem Verstand, wenn auch mit Befremden registriert und wieder weggewischt („Das ist immer so“) oder in Zweifel gezogen („Das versteht niemand“), und man ist dem Autor dankbar, daß er sich nicht gestattet, das Geschehen dem Traum zuzuordnen, der auch das Disparate legitimiert. Aber eben das ist wohl der Grund, weshalb Enzensberger sich seiner nicht bedient.
Bei der ersten Lektüre dieses Gedichtes kam es mir vor, als habe man dem Autor die Aufgabe gestellt, sieben kurze Substantiva – Boot, Haar, See, Brot, Rauch, Felsen, Sommer – in kausal schlüssige Folge zu bringen, auf vierundzwanzig Zeilen zu verteilen und unter Zuhilfenahme von „jemand“ und „niemand“ Kohärenz herzustellen, gleichzeitig aber hermetisch zu bleiben. Diese Aufgabe wäre hier optimal gelöst. Von der Ortsbestimmung und der Atmosphäre her ist das Gedicht unmittelbar zu erfassen. Das Geschehen aber enthüllt sich nur durch ein Wägen der Wörter und durch Messung der Pausen, die durch das Maß der Abstände zwischen den Wörtern markiert werden. Die „Niemande“ zum Beispiel werden ohne Pausen gezählt, vor den „Jemanden“ aber wird Atem geholt.
„Finnisch“ ist ein Schlüsselwort, es suggeriert eine bestimmte Landschaft. In ihr herrscht die Melancholie des Nordens, anders in Farbe, in Stimmung und Wirkung als die des Südens. Am Abend zuvor hat sich ein kleines Boot entfernt und wieder genähert, darin war die, deren fremdes Haar ganz nah war. Der See war grau, es war Rauch in der Luft, es wurde getanzt, geflüstert, sogar geweint. All dies ist noch da und gleichzeitig verschwunden. Das frische Brot von gestern ist hart (prosaischer: die Flaschen sind geleert), was halb dunkel war, ist jetzt hell, der Felsen – das einzige Element, das ich selbst nicht ins Bild bekomme – ist nun wieder zum Greifen, der See ist jetzt blau, es sind da mehrere, jemand ruft, jemand lacht, aber die mit dem fremden Haar ist fort, „das kleine Boot kehrt nicht immer zurück“.
Das Untröstliche herrscht und wird gleichzeitig beherrscht, „der graue See ist doch der graue See“; das „doch“ drückt das Erstaunen des Autors über sich selbst aus, es ist eine Art Selbstversicherung, daß alles so ist, wie es ist. „Das versteht niemand.“ Was versteht niemand? Was Zeit ist, natürlich. Ein Schauer der Wehmut wird unterdrückt, jede Aussage steht im Ton gefaßter Beschwichtigung, der Erlebende erlaubt sich keine Anrufung von Abstraktem, geschweige denn eine Metapher. Nur zum Schluß ein Ausruf, der den Verzicht bezeichnet und ihn gleichzeitig beschließt, indem er empfiehlt, das Geschehen jahreszeitlich-zyklisch zu deuten.
„Was gestern abend war“ ist zwar für andere und anderen gegenüber leicht gesagt, aber es wird nicht gesagt, weil es für den Autor nicht sagbar ist.
Wolfgang Hildesheimer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985
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