– Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Ballade des äußeren Lebens“ aus Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Gedichte, Dramen I. –
HUGO VON HOFMANNSTHAL
Ballade des äußeren Lebens
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.
Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhafte verdorrte…
Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?
Was frommt’s, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
Auf jeden Rausch folgt der Kater. Der noch nicht zwanzigjährige Hofmannsthal, der unter dem Namen „Loris“ bereits Furore unter den Wiener Schöngeistern des Fin de siècle gemacht hatte, berauschte sich am magischen Einklang von Seele und Welt, von innerem und äußerem Leben – das verwöhnte Ich als Schüssel zu allen Dingen. Jugendliche Grazie verband er mit uralter Abgeklärtheit. Ein genialer Zustand, aber sehr gefährdet.
Das vorliegende Gedicht – Hofmannsthal schrieb es mit zweiundzwanzig – kündet vom Ende der Euphorie. Hier ist Schluß mit der schönen Einheit, Schluß mit der traumwandlerischen Sicherheit. Hier geht die Welt in Stücke, aber ist sie je schöner zu Bruch gegangen? Die Konjunktion „und“, dieses Wort von biblischem Weltatem, das allein in den ersten vier Strophen siebzehnmal vorkommmt, verbindet ja nicht, sondern stellt die Dinge des „äußeren Lebens“ bezuglos und gleichgültig nebeneinander.
Eine große Müdigkeit und Vergeblichkeit bestimmt den Ton. Was gibt es Erschütternderes als den Tod von Kindern? Doch „alle Menschen gehen ihre Wege“. Was auch immer passiert: Es ist, als wäre nichts passiert. Aufwachen und Sterben, süße Frucht und Verfall werden in eins gesetzt, das Leben entschwindet im Zeitraffer. Grauen, fast wie bei Trakl, klingt an: „und fallen nachts wie tote Vögel nieder“. Eine traumartige Szenerie („Fackeln, Bäume, Teiche“) wechselt unvermittelt mit Albtraumhaftem: Orten, die „drohen“ und „totenhaft verdorrt“ sind. Aber alle Lust und aller Schrecken vergehen in der Zeit, relativieren sich zu nichts. Ewig weht der Wind, ewig geht das menschliche Gerede.
Ablehnung und Befremdung verschärfen sich mit der fünften Strophe. Die Welt mit ihrer verstörenden Vielfalt und Vielzahl ist „aufgebaut“, also Realität zweiten Grades, Kulisse, Schein. Auch das „innere Leben“ der Gefühle und Affekte – Lachen, Weinen, Erbleichen – wird hier zum „äußeren“ gerechnet, zum passiven Geschehen. Der Wechsel der Launen und Stimmungen kommt über einen wie das Wetter. Wozu das alles?
Hofmanntshal hat die Monotonie in die Form des Gedichts hineinkomponiert – und schon wird die Zumutung zum süßen Zauber. Die Verse gleiten dahin, im getragenen Rhythmus des fünfhebigen Jambus, getrieben vom sanften Ostinato des „und“, auf das die betörende Melodik der Vokale aufbaut. Die Terzinen haben etwas schwebend Leichtes und werden zugleich durch den Reim präzise und zart miteinander verschränkt. Keine gesuchte Formulierung stört den Fluß, einfache Verben und Hauptwörter herrschen vor. Sie geben kaum mehr als schattenhafte Konturen, passend zum Schattenspiel des Lebens.
In der sechsten Strophe ändert sich der Ton. „Was frommt uns das?“ – eine gravitätische Frage. „Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele“ schließlich klingt so künstlich, als hätte jemand sein geliebtes Latein ins Deutsche übertragen. Hier ist es vorbei mit der Einfachheit. Dieses sprachliche Umfeld macht klar, daß es sich bei dem „wir“ des Gedichts wohl doch nicht um eine demokratische Vokabel handelt. Hier fragt mit existentiellem Pathos ein „Ich“: der Dichter als „zielloser“ Beobachter des wirren Lebens.
Wird die zerfallene Wirklichkeit am Ende wieder harmonisch gerundet? Der Abendfrieden volltönend eingeläutet? Auf jeden Fall ist „Abend“ für Hofmannsthal eine großartige poetische Chiffre, eines jener tiefsinnigen Worte, vor denen das ganze verkehrte Wesen davonfliegt. Der Abend führt zusammen, was der Morgen trennt, er ist nicht nur Tages-, sondern auch Lebenszeit, Rekapitulation von Erfahrenem, Vergänglichkeit, die zu Honig wird – zum Beispiel zu einem Gedicht wie diesem.
Der edelsüße Schlußvers, der nach dem metrischen Bruch der vorletzten Zeile effektvoll zum „rinnenden“ jambischen Gleichmaß zurückfindet, nimmt das Motiv des äußeren Lebens noch einmal auf: dessen Einerlei kehrt wieder in den hohlen Waben, die nun einmal Voraussetzung allen Honigs sind.
Der lyrische Anfall von Pessimismus mündet in ein feines Bekenntnis zum „Spiel“ des äußeren Lebens – in ein „Dennoch“ von gehobener Trauer. Vielleicht hat kein Gedicht dem Lebensüberdruß so viel Wohlklang abgewonnen wie dieses.
Wolfgang Schneider, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003
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