– Zu Volker Brauns Gedicht „Zu Brecht. Die Wahrheit einigt“ aus Volker Braun: Gedichte. –
VOLKER BRAUN
Zu Brecht. Die Wahrheit einigt
Mit seiner dünnsten Stimme, um uns nicht
Sehr zu verstören, riet er noch beizeiten
Wir sollten einfach sagen wos uns sticht
So das Organ zu heilen oder schneiden.
Ein kräftiges: das ist es, und es kracht
Wenn nicht – (wie bei den Klassikern, die es halt gab)
Ein Eingeständnis, das uns Beine macht.
Das war sein Vorschlag blickend auf sein Grab.
So was ist noch auf dem Papier zu haben.
Wir haben ihn nicht angenommen, nur
Gewisse Termini und die Frisur.
Jetzt trägt man auch die Haare wieder länger.
Das Fleisch ist dicker, und der Geist enger.
So wurde er Klassiker und ist begraben.
„Zu Brecht. Die Wahrheit einigt“: So könnte eine Aktennotiz überschrieben sein. Tatsächlich weist Volker Brauns Sonett aus dem Februar 1975 auf ein Schriftstück, das dessen Urheber 1953 verfertigt und resigniert ad acta gelegt hatte. Für den jungen, zum „Training des aufrechten Gangs“ entschlossenen DDR-Poeten Volker Braun aber trägt der postum, im Jahr 1967, erstmals veröffentlichte Text den Stempel „Dringend“.
Daß Brechts Buckower Elegie „Die Wahrheit einigt“ nur der Obrigkeit der DDR „sozusagen zu innerem Gebrauch“ hätte dienen sollen, das läßt Braun nicht gelten. Er liest dieses Gedicht als Ratschlag für den Souverän der Republik. Die von Brecht als „Freunde“ und mit „ihr“ Angesprochenen, das waren und das sind für seinen Interpreten: „wir“ – die mündigen Bürger, ohne deren Mitwirkung kein Staat zu machen ist und schon gar keine sozialistische Demokratie. Fußnote: Spätestens seit seinem zweiten Gedichtband Wir und nicht sie (1970) war Volker Braun Stimme dieses seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewußten und politische Mitsprache verlangenden „Wir“ – das (vielleicht nur) die Wunsch-Mehrzahl seines eigenen Ichs gewesen ist.
Was Brecht mit eigenen Worten und mit denen des „Klassikers“ Lenin „uns“ geraten habe, sehr fürsorglich und „noch beizeiten“ (bevor es – für ihn? für „uns“? – zu spät gewesen wäre), das sagt Braun mit eigenen und mit Brechtschen Worten im Oktett, also in den ersten beiden, aus je vier Versen bestehenden Sonettstrophen. Und er besiegelt seine Darstellung mit einem scheinbar mißratenen Satz, in dem er die von Brecht so gern gebrauchte Form des Präsens-Partizips verwendet:
Das war sein Vorschlag blickend auf sein Grab.
Beckmesser würden da ein rotes A (Ausdrucksfehler!) an den Rand schreiben: Was, bitte, will der Dichter sagen? Daß der Vorschlag, mangels Erfolgsaussicht, seiner eigenen Beerdigung entgegengesehen hatte? Oder: daß Brecht, sich dem Tod nahe wissend, „uns“ mit diesem Vorschlag ein verpflichtendes Vermächtnis antrug? – Der scharf denkende Volker Braun schreibt auch als Poet nichts Unüberlegtes. Kein Zweifel, die „unklare“ Formulierung hat er gewählt, weil sie sich für beide Auslegungen anbietet. Und weil sich mit ihr obendrein der Bezug zu jener Inschrift herstellen läßt, die der fünfunddreißigjährige, keinen Grabstein benötigende Brecht 1933 (!) für den Fall, daß „ihr einen für mich benötigt“, entworfen hatte:
Er hat Vorschläge gemacht, wir haben sie angenommen.
„Wir haben ihn nicht angenommen“, kontert der zweite Vers des Sextetts. Und wieder sind zuerst der Vorschlag und sodann Brecht selbst gemeint. Das nachgestellte, den Vers zu seinem Reimpartner hin öffnende „nur“ mildert nichts. Im Gegenteil: Wenn sich Brechts Nachwirkung darin erschöpft hat, daß „wir“ für die kurze Zeit, in der es Mode gewesen ist, das Haar nach seiner Fasson trugen und „unsere“ Rede mit manchen seiner Begriffe und Spracheigenheiten schmückten, dann haben „wir“ den Dichter, der doch übers Grab hinaus unbequem bleiben wollte, nicht nur „nicht angenommen“, sondern ihn verharmlost und verraten.
Wie ein Abgesang im Namen zynisch gewordener Nachgeborener klänge dieses Sonett, hätte es nicht einer geschrieben, der von Brecht gelernt hat, die Dialektik zu lieben und Gegebenes mittels Verfremdung als das nicht Hinnehmbare anzuzeigen. Volker Braun ehrt 1975 den aus Trägheit und Geistesenge als Klassiker abgestempelten und als solcher begrabenen Brecht, indem er „uns“ zu nützen versucht. An den nicht angenommenen Vorschlag erinnernd, erneuert er ihn, auf daß er doch noch angenommen werde. Braun selbst hat ihn bereits angenommen. Ende 1974 nämlich, unmittelbar bevor er das Sonett schrieb, hat er die „Unvollendete Geschichte“ geschrieben, seinen bis dahin politisch brisantesten Text, und darin wird in der Tat „einfach“ gesagt, „wos uns sticht“. Denn noch will der Autor glauben, daß so das „Organ“ DDR zu heilen sei.
Dem Erstdruck der „Unvollendeten Geschichte“ (in Sinn und Form, Heft 5/1975) folgte deren Unterdrückung. Eine Buchausgabe wurde in der DDR erst 1988 genehmigt. Ein Jahr darauf geschah das, wovor Brecht und Braun vergeblich gewarnt hatten. Es krachte.
Wolfgang Werth, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002
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