Wolfram Malte Fues: dual digital

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolfram Malte Fues: dual digital

Fues/Schemel-dual digital

DIESER NUR vor-
fallende Schnee
zweihellig, unschwer, nachbar
von wrach wie von wrahr
schwärt nicht schwärmt nicht
schwillt nicht schliert nicht, taut
schmutzlos zurück in die Luft
wo er den Sommer durch klein war, schmilzt
den Blockzeit-Verleihern
wie Streustunde unter den Preisstufen weg
schiebt sich den Zeitweilern, die
auf ihm gehen
wie auf papierdünnem Eis
zwischen Sohle und Fuß, legt
schrittweise Datenfühlfelder an, liegt
wo er Frierden verspricht
auf der Zunge, ganz
nach ihrem Geschmack.
Von der Zungenspitze
bis zur Schuhspitze
stiebt er als zahlloses Feuerwerk
um die Fräsen für Herbststraßenkehricht
Konfetti in allen
wünschbaren Farben
außer in Weiß.
Stundenweit liest er
sich auf wie ein Flugblatt
über die Freuden der Schollen-Verschiebung
Botenstoff-, Stoffwechsel-, Speichel-Flüsse
diese Art Schnee
nimmt Halbwertzeichen in Zähnung.

Klima-Wechsel
zwischen Zahndamm und Lippe.
Seine Art Schnee wird gereicht
auf tektonischen Platten, Mund-
rat für immer einen
wachen Kurier-Stern
wahren Furier-Stern
wracken Fourier-Stern
unter Gaumensegel.

 

 

 

Nachbemerkung

Sich auf den Weg in das buchstäbliche, das lexikalische, grammatische, semantische und rhetorische Dickicht der Fues’schen Versgebilde zu begeben, sich auf ein Gelände zu wagen, für das es keine Karte und keinen Routenplaner gibt, ein Terrain, vor dem selbst Google und Wikipedia kapitulieren, in dem man fast Schritt für Schritt auf Tretminen, steinige Hindernisse, unbeschilderte Kreuzungen und Abgründe stößt, ohne dass ein Cicerone zur Verfügung stünde – ein solches Vorhaben ist, um es milde auszudrücken, ein schwieriges Vergnügen.
Das war Poesie, wird man sagen, immer. Das war sie schon zu Zeiten Petrarcas und Shakespeares, das war sie bei Hölderlin und Baudelaire, und das ist sie im Grunde nach wie vor, selbst bei auf den ersten Blick mühelos lesbaren Texten von Ferreira Gullar, Tomas Tranströmer oder Durs Grünbein. Wolfram Malte Fues unterscheidet sich von diesen Dichtern vor allem dadurch, dass er es darauf anlegt, aus einem schwierigen Vergnügen ein noch schwierigeres, kräftezehrenderes, aufreibenderes zu machen, eines, das den, der liest, fortwährend mit den Grenzen des Verstehens konfrontiert. Er sucht der Leserin/dem Leser die Überflieger-Launen einer von ökonomischer Effektivität und Zeitnot gegängelten Gesellschaft auszutreiben, sie auf den fast schon verlorenen Boden des Wort-für-Wort zu verpflichten – und für jene akribische Lektüre, jene lecture appliquée zurückzugewinnen, von der Roland Barthes einst gesprochen hat.
Der Hang zur Entautomatisierung, der von Viktor Sklovskij dem poetischen Akt zugeschrieben wurde, führt bei Fues zu einer immer von neuem versuchten Sprengung von Sprach- und Erwartungsmustern, einer lyrischen révolution permanente. Es scheint, als stelle der Versuch einer radikal individualisierten Sprache, die den allgemeinen Begriff zugleich zitiert und vom Podest stößt, aufnimmt und zerbricht, nicht zuletzt auch eine poetische Antwort auf jene Philosophie des parasite und der corps mêlés dar, wie wir sie von Michel Serres und Bruno Latour kennen. Man darf zudem an die manieristische und die hermetische Poesie denken, an Paul Celan ebenso wie, in neuerer Zeit, an Friederike Mayröcker, Oswald Egger, Thomas Kling, Ulf Stolterfoht oder Franz Josef Czernin. Und dennoch, wie das bei Vergleichen eben meist so ist, sie hinken – Wolfram Malte Fues dreht die Schraube noch eine Runde weiter. Er verfremdet und erfindet Wörter, er schneidet Vorsilben ab – „Vor- / silben mit Pfau-“ zum Beispiel –, bewegt sich „zwischen be- und er-“ oder treibt sein Spiel gar mit einzelnen, von allem Zusammenhang losgelösten Buchstaben. Er tut all dies, ohne schlichtweg ,konkreter‘, ,experimenteller‘ Poet zu sein und in diesem Sinne eine ,Methode‘ zu haben, an der man ihn wiedererkennt. Finden sich doch auch Sätze wie diese:

Die Kirschen sind gegessen.
Die Aprikosen stehen bereit.
Die Birnen liegen im Korb

Man atmet ein paar Verse lang auf.
Dann wieder zeigt dieser Autor, was er wie kaum ein zweiter kann. Er zerlegt Komposita in ihre Einzelteile und montiert sie auf eine derart ungewohnte und zugleich stimmige Weise wieder zusammen, dass man sie in dieser Form schon gelesen zu haben glaubt: imaginäre, verstörende Déjà-vus. Da mag man sich fragen, wo sich denn „Schießtulpen“ finden oder „Softair-Guns“, was man wohl in „Snapshot-Kapellen“ betet, wo eine Pflanze mit dem anziehenden Namen „Jetztzeitlose“ wächst, wo ein „Drehstillvertrag“ geschlossen oder wo ein „Konsens-Streifen“ beobachtet wird – faszinieren können diese kleinen Sprachschöpfungsakte stets von neuem: „Amsel-Module“, „Fruchtknotenpunkte“, „Eis- / sternbrevier“… Schon in Fues’ letztem Band Vorbehaltfläche überforderte der Titel die Wörterbücher, obwohl er so klang, als dürfe er in den Verwinkelungen des schönsten Bürokratendeutsch ganz bestimmt nicht fehlen (er fehlt auch nicht, bezeichnet nach wie vor in der Leipziger Straßenbahn die Fläche für Rollstühle und Kinderwagen). Aber bitte – wo findet eigentlich so etwas wie eine „Hochquappenjagd“ statt? Wo um Gottes willen gelingt es schlichtem Mobiliar („Tisch, Bett und Stuhl“), „von aztekischem Tennis / zu träumen“? Wo träfe man den „Dracula“, der sich bereit erklärte, dem „Christkind / die Wimpern“ zu „stutzen“?
Angesichts eines zusehends sich ausweitenden Geschwaders lexikalischer Exzentrizitäten und Syntax-Pretiosen hört man entweder, vollends ratlos geworden, auf mit der Lektüre – oder man wird im Gegenteil gerade durch den permanenten Verstehens-Aufschub zum Weiterlesen angestachelt. In diesem Fall bleibt man bei der Sache. Statt um jeden Preis ,begreifen‘ zu wollen, erliegt man bereitwillig dem Sog der Texte, lässt sich von Wort zu Wort, von Zeile zu Zeile treiben, genießt das Flanieren in den Downtowns der Poesie und lernt mehr und mehr zu akzeptieren, dass man sich in einem anarchischen Bereich jenseits der Normen der Verständlichkeit und des Erlaubten aufhält. In einem sorgfältig ,gewebten‘, geschriebenen Text, nicht in einem, der das Parlando der SMS-Kultur und der Polit-Talkshows imitiert. „Bleib auf dem Teppich“, heißt es einmal.

Schieb
Tisch und Stühle beiseite
verirr’ Dich äußerstenfalls
in die Finger-Zeig-Fäden überm Parkett

Nur, wer sich auf diese unabsehbaren, in keinem hermeneutischen Handbuch dechiffrierten Webe-Prozesse einlässt, kann „aufsteh’n und gehn. / In Sätzen / aus Kette und Schuss“. Dass einen dabei Schwindelgefühle überkommen können, wundert wenig; sie gehören hier ebenso mit dazu wie bei der Fahrt mit der Kirmes-Achterbahn. Auch der „Erdachse“ scheint ja zu schwindeln „vom Kreis um den kreiselwegs nicht / zu erreichend errichteten Pol“, wie Fues an anderer Stelle betont. „Jedem / dem es mit mir / schwindlig sein will“, so verspricht der Autor, gebührt „sein Becher / Sternlicht vom frisch / angestochenen Mond“.
In einem Lyrik heute überschriebenen Statement spielt Wolfram Malte Fues auf eine Formulierung Günter Eichs aus dem Hörspiel Träume an: Ein Gedicht, das vor dem „immer wieder neu totalisierenden Anspruch“ der gegenwärtigen Gesellschaft „weder fliehen noch ihm verfallen“, das „Sand, nicht Oel im Getriebe dieser Welt sein“ möchte – dieses Gedicht darf sich nicht einfach widersetzen. Es darf nicht schlichtweg gegen das anschreiben, was es für das falsche Ganze hält, gegen eine Welt, in der „bald […] nichts mehr als Tag sein“ wird, gegen die allgegenwärtige Homogenisierung, auf die schon Adorno die modernen Gesellschaften zusteuern sah. Vielmehr muss es diesen anmaßenden Anspruch „an- wie aufnehmen“ und es muss sich zugleich „gegen ihn behaupten“.
Das will sagen: Fues’ Gedichte beziehen nicht schlichtweg Position außerhalb des ,Betriebs‘, das Etikett Elfenbeinturm verfehlt sie. Trotz ihrer Tendenz, eine andere Welt als die vermeintlich ,wirkliche‘ herzustellen, eine nur sprachlich machbare und buchstäblich mögliche, wissen sich die Gedichte doch auch als Teil dieser Welt. Aber sie verfallen den Verlockungen der Mediengesellschaft nicht, sie unterwerfen sich nicht jenem Modell des dual digital, das dem Band den Namen gibt. Vielmehr kehren sie ihre Fundstücke gegen den Zusammenhang, aus dem sie stammen, durchkreuzen die Logiken, in denen sie funktionieren, unterlaufen sie, höhlen sie aus. Statt immerfort neue Informationen und Kommunikationen hervorzubringen und Verse für leicht verwertbare Botschaften zu nutzen, teilt uns der Autor durch seinen Anrufbeantworter mit:

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Ulrich Johannes Beil, Nachwort

 

Wolfram Malte Fues’ neuer Gedichtband

erweist sich einmal mehr als lyrische Forschungsexpedition in ferne Wortwelten, die uns doch viel näher sind als geglaubt. Dichotomien werden dabei zu Diversitäten erweitert, führen dadurch zu Dialogen und wieder darüber hinaus. 12 Tuschezeichnungen und eine Nachbemerkung komplettieren das Werk.

Passagen Verlag, Klappentext, 2011

1 – 0. Ja – nein.

Wahr – falsch. Gut – böse. Schön – hässlich. Sinn und Wert entstehen aus Gegen-Sätzen. Löschen wir den Gedankenstrich und den Punkt. Weiten wir 0 und 1 in eine Zeichenfolge aus, die aller möglichen Gegen-Sätze auf der Oberfläche aller möglichen Sätze mächtig ist. Überall und irgendwo. Plötzlich und zufällig. Beinahe und bei-ferne. Eine Welt. Eine Welt? Das Digitale sprengt das Duale, um es über sich auszustreuen. Das Duale geht im Digitalen auf, um es als seine Sphäre zu entdecken. Diesem mit jedem Zeichenschritt sich neu ziehenden Grenzweg folgt dual digital.

Passagen Verlag, Klappentext, 2011

 

Diskrete Texte

Diskret nennt man die Fähigkeit in der Wahrnehmung zu unterscheiden; diskret ist aber auch das Verschwiegene, das im Gegensatz zum leeren Geschwätz steht. Beide Arten der Diskretion finden sich in Wolfram Malte Fues avanciertem, neuen Gedichtband dual digital. Schrift, Sprache, Zeit, Geld, DNA und Digitalität können diskret sein. Bei der Berechnung der Spracheinheiten werden sie aufgelöst in Signale. Diese Signale bestehen in einer Reihe von Punkten, von denen jede eine poetische Umgebung besitzt, eine doppelte, duale zumal.

In Satzkästchen verschachtelt flektiert Fues mit linguistischem Spürsinn die sprachliche Freude an Leben, Wort und Ding („wachen Kurier-Stern / wahren Furier-Stern / wracken Fourier-Stern“). Das Gedicht berechnet die Kreiszahl, die sowohl Umfang als auch Peripherie meint; so wird das Ganze hier durch das am Rande Gelegene beschrieben.
In seinem vierten, im Wiener Passagen Verlag erschienenen Band widmet sich Fues dem poetischen punktum, das mit großer Nähe an die Leserschaft herantritt. Wie die „Nähnadel liest“, so ist der Text Geflecht, ist „Gewebe I & II“. Fues verleugnet nicht die poetischen Vorgänger, weiß, Neues entsteht nicht durch Ignoranz, sondern durch Machen, das die eigentliche Poïesis ist.
Damit setzt das Gedicht sich in Verbindung zur Welt und zur Poesie oder was davon noch übrig ist:

Ihr, trotz Heftstich
zerfallt. Wir
Kante auf Kante gesteppt
zerfallen noch nicht
Bald ins ein oder andere Fadenspulspiel
mit des Zeilenbruchs neuen Kleidern.

Wort an Wort wickelt sich der Text auf, die Buchstaben befeuern sich aneinander, reiben sich reimend und setzen sich in sich selbst autopoetisch fort:

Anschick
vorschiebend scherbeln sie
von der aus Langstreckenschlaf
Schrecken erweckenden Acht
die Endlosschleife ab, als empfänden sie
Binnengebete nicht schlüpfrig genug, für gestauchte Systeme

Wissen und Mythos beliefern das Gedicht, wie Alain Badiou in seiner InÄsthetik der Poesie eine eigene Wahrheit zuschreibt, entwirft Fues eine Ideenlandschaft, einen künstlerischen Kosmos aus Worten mit eigenem Maß und poetischen Gesetzmäßigkeiten. Ein „Schlupfwinkel-Ich“ spricht selbstreflexiv in den Gedichten, stellt Subjektposition und Adressaten zur Disposition, wie auch die Bilder, die es schafft:

Das Licht kommt vom Licht
hinter ihm untreuen Augen
beispiellos gleichlos, als wäre
was es woraufzeigt
eine Währung weiter

und der Zeit, in der es stattfindet:

Kein Vor und Nach
staut im Während.

In der zyklischen Struktur liegt das Bewusstsein für das Fehlen von Anfang und Ende, aber nicht im nihilistischen Sinne – „Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Wissen würgt“ (Nietzsche) –, sondern im Aufzeigen der diskreten Umgebungspunkte und dem Kontextualisierungswissen, das zu einem Dichten führen kann, das „zwischen A und O“ oder „vor A bis Z“ einen kritischen Unterschied macht und die Poesie weiterführt. Das kann in Form von Aneignung und Zitat, Reflexion und Wiederholung stattfinden und damit im Prozess eines tatsächlich zeitgenössischen Gedichts, das von sich selbst weiß, weiter spricht und damit zur Lektürenotwendigkeit wird.

Swantje Lichtenstein, die horen, Heft 248, 4. Quartal 2012

 

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