Wulf Kirsten – die Poesie der Landschaft

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wulf Kirsten – die Poesie der Landschaft

Kirsten–die Poesie der Landschaft

„ICH SCHREIBE WIE EIN QUARTALSSÄUFER“

– Ein Gespräch mit Wulf Kirsten. –

Wulf Kirsten: Ich bin kein Unterwegs-Schreiber, hin und wieder habe ich schon Notizen gemacht, aber nicht für Gedichte. Ich bin ein Schreibtischtäter. Für mich ist das Wichtigste das Speichern, wie aufgenommen wird, aber auf alle Fälle: Ich schreibe nicht unterwegs, ich brauche Schreibtisch, Schreibmaschine. Es gibt diese berühmte Anekdote von der vergessenen Erzgebirgsdichterin Martha Weber, da ist mal ein dichtender Journalist mit ihr draußen gewesen und sie war ganz aufgeregt und ruft: „Ein Gedicht, ein Gedicht und kein Papier!“ Also ich habe schon oft ein Notizbuch dabei, aber nicht um Gedichte draußen zu schreiben. Manchmal greife ich auf skizzenartige Texte zurück, wenn ich schon die Idee für ein Gedicht hatte, es liegt dann ewig und dann ist plötzlich das Gedicht da. Aber das geht erst aus der Arbeit am Wort hervor und dem Versuch, aus dem Gedicht ein Klangbild herauszuholen. Das muss für mich auch klingen. Das gelingt nun nicht immer gleichermaßen, aber man muss eben auch komponieren, weil ich der Meinung bin – das habe ich mir früh angewöhnt – das Pulver nicht mitten im Gedicht zu verschießen, sondern das muss durchreißen bis zu einem starken Schluss und mit dem starken Schluss schließen, so dass ich das gelungene Gedicht – nicht jedes Gedicht ist gleichmäßig, gleich stark gelungen – als ein kleines Kunstwerk sehen kann. Das Geschlossene ist mir wichtig. Es gibt ja Lyriker, die lassen ihre Gedichte offen – denken Sie mal an einen, der heute schon wieder weitgehend vergessen ist, Johannes Poethen – da sehe ich einen im Grunde fortlaufenden Text… 

Jan Röhnert: Oder der späte Celan. Oder die langen Gedichte, wenn man an Jürgen Becker denkt. Die Prozessualität.

Kirsten: Ja. Das Entscheidende ist, dass man ein Gleichnis ansteuert, dass man jeweils hinter der Oberfläche des Gedichts noch eine tiefere Schicht sucht, indem man dem Gedicht den Gleichnischarakter zu geben versucht. Bestenfalls muss der einfach da sein, aber ich denke in Gleichnissen – im biblischen Sinne.

Röhnert: Also ist es das, was Goethe das Symbolische nennt?

Kirsten: Wahrscheinlich. Aber da bin ich nicht ganz sicher.

Röhnert: Also das Besondere, das dann wieder etwas Allgemeines aufdeckt.

Kirsten: Ja, man kann natürlich auch sagen, das Mythische, aber Mythos ist kein zentrales Wort für mich. Ich sag es einfacher mit Gleichnishaftigkeit, also dass man den speziellen Fall verallgemeinern kann, wenn man will.

Röhnert: Aber dennoch – und das zeichnet auch die Stärke deiner Gedichte aus – sehe ich immer wieder Beobachtungen, Momente, Dinge in den Gedichten, die so nur aus einer sehr subjektiven Perspektive kommen können, die nicht ein Verallgemeinerndes, Allgemeines meinen, sondern wirklich auch den individuellen, durchdringenden Blick benötigen, damit sie überhaupt an die Oberfläche, überhaupt zur Sichtbarkeit kommen.

Kirsten: Ja, das ist schon der Ehrgeiz, den ich früh richtig trainiert habe, tatsächlich unverwechselbar zu sein, erkennbar zu sein. Das halte ich generell für wichtig in der Lyrik. In der Prosa wäre es das auch, aber da ist es noch schwieriger. Viele Lyriker sind mir nicht erkennbar genug – so wie sie könnte ebenso gut ein anderer geschrieben haben. So wahr es vom Stoff her, vom Stofflichen ist. Ich habe gestern Abend ein langes Telefonat gehabt mit einem ziemlich hohen Beamten ukrainischer Herkunft, den ich nicht kenne, der schickt mir Gedichte, hat noch nichts veröffentlicht. Der lebt literarisch gesehen so weit ab vom Schuss, ist natürlich promovierter Jurist und im Bundestag, Staatskanzlei, oder was weiß ich und ich habe ihm gleich gesagt: „Sie haben zu wenig gelesen.“ Also altmodisch – ich habe das ein bisschen bemäntelt, aber ich sagte ihm: „Da kommen Sie in den Literaturbetrieb überhaupt nicht rein, einen Band kriegen Sie auch so.“ Dann stellte sich heraus, soviel hat er auch noch nicht vorliegen.
Natürlich weiß ich, wenn ich anfange, wohin ich will. Es gibt ja welche, die fangen an und lassen das Gedicht dann einfach laufen, die haben manchmal – das kann ja sein – eine Melodie im Ohr, und dann ist für sie der Rhythmus da – das Liedhafte. Ich habe etwas gegen spruchhafte Gedichte. Die können sehr stark, sehr gut sein, aber bei mir ist das schon in der Volksschule verdorben worden, da spielte der Spruch der Woche eine große Rolle. Das ist bei mir negativ besetzt.

Röhnert: Obwohl es dann ja auch geschätzte Kollegen gibt wie Reiner Kunze, die in diese Richtung gegangen sind?

Kirsten: Da könnte ich speziell etwas sagen, ich habe lange gebraucht, um herauszukriegen, wo sein Gedichtmodell eigentlich hergenommen ist, das Skelettierte. Er ist ein Skelettierer, reduziert, er ist ein Reduktionist, und das geht auf ein bestimmtes Modell zurück, das man bei Brecht findet.

Röhnert: Und, bei Reiner Kunze, wenn ich das bei aller Wertschätzung sagen darf, geht das häufig auf Kosten der Bilder und bei dir finde ich die Bilder auch ganz stark, also das Gesehene, das Wahrgenommene, das Optische vor allem.

Kirsten: Gut, ich bin von Bildern beeinflusst, mein Gedicht ist zunächst einmal als Bild gesehen, aber es reicht nicht. Die Gedichte werden dann Bildchen, wenn man nur im Bild bleibt. Man muss aus dem Bild aussteigen, es müssen andere Dimensionen hinzukommen, die Möglichkeiten, die man handwerklich einsetzen kann, dass man zum Beispiel weiß, was ein Oxymoron ist, und wie man mit verschiedenen stilistischen Möglichkeiten Gedichte bereichert und anreichert, auflädt, und ich liebe – vielleicht etwas zu stark – das Narrative.

Röhnert: Aber das kann ja dem Gedicht nicht schaden, denn es gibt ihm ja auch den roten Faden.

Kirsten: Also ich weiß von Anfang an genau, was ich will. Natürlich kommen dann mitunter die stärksten Momente des Gedichts während des Schreibens erst rein. Ich behaupte schon, die Schreibmaschine denkt mit.

Röhnert: Das hat ja schon Nietzsche so ähnlich gesagt – „Das Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“

Kirsten: Bestenfalls muss man solange an einem Gedicht gedreht, gehandwerkt, handwerklich gearbeitet haben, dass es sich am Ende von selbst schreibt.

Röhnert: Heißt das, wenn wir jetzt von der Schreibmaschine sprechen, dass du auch genau dieses Medium, Aufschreibmedium brauchst oder wenn sie nicht da ist, kannst du dann ebenso schreiben?

Kirsten: Ja, ich brauche es. Ich fange selten mit Hand an und wenn ich eine Zeile herausspringen, also drucken lasse, sehe ich mehr, dann kann ich auch korrigieren und wenn da zu viele Korrekturen drauf sind, dann nehme ich ein neues Blatt und versuche es noch einmal. Manche Gedichte, die springen einen so an, dass man daran nicht mehr viel machen muss, das kommt aber selten vor, das ist der Idealfall, fertige Gedichte im Kopf zu haben. Das meiste ist wirklich Arbeit. Und für mich besteht die Hauptarbeit darin, die Worte so zu drehen und zu wenden, bis es dann am besten klingt. In einem Prosatext muss auch ein bestimmter Sprachrhythmus da sein, aber beim Gedicht ist das noch ein bisschen anders und manchmal sieht man, wenn man ein Gedicht eine Weile liegen lässt, dass dann ein Entfremdungsprozess einsetzt. Das Gedicht muss mehr oder weniger fremd werden, dann sieht man sich kritischer, denn eine große Gefahr ist die Selbstverliebtheit in sein eigenes Gedicht.

Röhnert: Aber es gibt auch die großen Vernichter, also die zu kritisch mit ihren eigenen Texten umgehen, das kenne ich auch.

Kirsten: Ich bekenne mich zu dem, was ich gemacht habe, ich habe natürlich das Recht, nicht alles herauszugeben und ich kann auch verwerfen, ich kann auch sagen, es sei nicht gelungen. Es muss aber Stoff da sein, und den habe ich in Hülle und Fülle, was ich Lebensstoff nenne, Erlebnisse: Plötzlich fällt einem ein – manchmal nach Jahrzehnten, aber auch manchmal nach ein paar Wochen – das, was ich da gesehen, erlebt habe, war ja ein Gedicht. Im Moment des Betrachtens hat man es nicht gemerkt, das kommt später und was seltsam oder verrückt ist, ist, dass ein Wort das Gedicht grundiert, dass ein Wort ein Gedicht auslöst.

Röhnert: Ist das der Titel zum Beispiel, ist der vorher schon da oder kommt er erst später hinzu?

Kirsten: Der wird wieder geändert. Manchmal ist er schon da. Das Schlimmste ist, wenn nur der Titel da ist und nichts hinzukommt.

Röhnert: Aber ich habe ja zum Beispiel auch von dir gelernt, dass ein Gedicht wirklich einen Titel braucht. Das ist ja eine lange Diskussion.

Kirsten: Das sage ich auch Leuten, die dem Gedicht keinen Titel geben und das hat natürlich mit meiner Vorstellung vom in sich geschlossenen Kunstwerk zu tun. Erstens ist der Titel einfach eine Lesehilfe für den Leser, aber auch für mich selbst, denn der Titel hält etwas fest und gibt dem Gedicht dann eine zusätzliche Kontur. Bei Lyrikern, denen der Titel nicht so wichtig ist oder nicht so wichtig scheint – manchmal springt mich, wenn ich von anderen ein Gedicht lese, der Titel ja regelrecht an –, zeugt das davon, dass sie das Gedicht nicht so sehen wie ich, dass sie auch nicht so streng komponieren, dass ein Ablauf vorhanden sein muss. Die Krechel hat mir einmal, als sie im Literaturinstitut war und mein Wintergedicht behandelt hat, etwas dazu geschrieben, wie dann gewissermaßen der drive entsteht, der in einem Gedicht bestenfalls drin sein muss, diese Bewegung, wie das durchreißt, es muss durchreißen, es darf dann nicht mehr stocken und es ist meiner Meinung nach nicht gut, wenn man so stottert, sprachlich stottert, also immer wieder neu ansetzt, das gibt es ja in vielen Gedichten. Also der Ehrgeiz besteht darin, durchzureißen… kannst du ein deutsches Wort für drive nennen, ich weiß keines, ich liebe das Englische nicht so, aber es passt…

Röhnert: Weil es aus einem Guss ist.

Kirsten: Aus einem Guss, ja. Ich brauche oft so einen Anlauf, vielleicht etwas zu viel Anlauf. Wunderbar finde ich es, wenn der Text sofort in das Gedicht hineinspringt.

Röhnert: Ich finde die Titel auch dann gelungen, wenn sie eine Spannung aufmachen zwischen dem Titel und dem Text. Das ist wie die gelungenen Unterschriften bei Bildern, wie man es extrem bei Beuys zum Beispiel hat.

Kirsten: Auf alle Fälle wichtig ist, dass das Gedicht einen Titel hat. Das hat natürlich mit meinem Bilddenken zu tun, dass ich in Bildern denke, wohl aber weiß, dass man aus den Bildern, aus dem Rahmen des Bildes aussteigen muss. Es fangen viele damit an, dass sie additiv denken und auch schreiben, also eins plus eins plus eins ergibt dann am Ende eine Summe, wenn es einigermaßen geht, manchmal kommt nicht mal eine Summe raus. So habe ich auch mal angefangen, aber das ist für mich eben nun gerade nicht das Ideale, für mich sind dann schon die Sprünge und Würfe, die in einem Gedicht vorhanden sein sollten, viel wichtiger.

Röhnert: Ja, und der Titel macht es unverwechselbar.

Kirsten: Das ist dann so ein Fall für sich. Was ist Wortarbeit? Dass ich eben schon gut überlege, wie wichtig bei mir die Verben sind und wie wichtig es zum Beispiel auch ist, dass ich in einem Landschaftsgedicht einen Weg einziehe, möglichst eine Diagonale, auf der ich den Leser hinter mir herziehen kann. Auch das hat mit Komposition zu tun, gelingt nicht immer, aber die Verben der Bewegung habe ich regelrecht trainiert. Gut, ich habe auch Gedichte, die zu statisch sind, in denen sich zu wenig bewegt, aber in Idealgedichten muss sich etwas bewegen.

Röhnert: Und da bin ich wieder bei dem Punkt, dass ja vor dem Schreibtisch – du hast es vorhin auch angesprochen – einfach das Leben selbst steht, in Form von Erinnerungen beispielsweise, mit all seinen Zufällen und Gelegenheiten, die es bietet, und ganz zentral scheint mir zu sein, dass die Bewegung, die das Gedicht erzeugt, doch vorher auch schon vorhanden sein muss im Lebensrhythmus.

Kirsten: Es muss was da sein und ich habe natürlich noch Möglichkeiten, ich weiß nicht, ob die Kraft, die Gestaltungskraft reicht. Im Moment sieht es nicht so aus, aber ich habe mich jetzt mit einem Berliner Maler beschäftigt, den niemand kennt, Dieter Gleisberg aus Altenburg hat ihn mir vermittelt, der heißt Reiner Schwarz, der malt oder stellt umgekippte Teereimer und Dinge dar, ein Ding-Maler, und ich habe es ja auch mit den Dingen, die für mich existentiell wichtig sind, wie in „werktätig“. Dort sind aber Tätigkeiten aufgezählt und ich möchte noch einmal ein Ding-Gedicht schreiben, dazu stachelt mich dieser Berliner Maler an. So wie er malt überhaupt keiner. Der hat es mit Handwagen – Handwagen sind natürlich ganz wichtig für Leute, die 1945 die Flucht erlebt haben, als die Mütter mit ihren Kindern und vollgepackten Handwagen auf die Flucht gehen mussten. Unser Handwagen war auch schon gepackt, aber in letzter Sekunde sind wir in unserem Dorf, in unserem Haus geblieben, dann sind wir in der letzten Nacht noch in die Mühle gegangen, das sind so Grunderlebnisse.

Röhnert: Also da wird das Besondere, das Unbeachtete dann zum Symbol?

Kirsten: Ich will dann noch auf was anderes wichtiges hinaus. Das, was man in der Landschaft, draußen im Freien oder auch in der Stadt sieht, aufnimmt – wie intensiv auch immer –, es gelingt niemandem, nicht einmal Fotografen, es eins zu eins umzusetzen. Die eigentliche Kunst, darüber hat Auerbach geschrieben, das Phänomen Mnemosyne, das ist mir auch von früh an klar gewesen, dass ich dabei anfangen muss, und dann muss man eine Landschaft darstellen, die es eins zu eins so nicht gibt. Da ist die Frage, wird’s pathetisch, idealisiert man oder wertet                ab, da setzen die künstlerischen Möglichkeiten, die Ironie ein. Wir hatten neulich in Weimar einen Lyriker, ohne jede Spur von Ironie, da fehlt mir was. Suche mal bei Christa Wolf die Ironie.

Röhnert: Ja, das ist das Problem. Es gibt aber auch Autoren, denen würde ich gestatten, dass sie keine Ironie haben dürfen, weil sie so stark für sich stehen, Hans Henny Jahnn zum Beispiel. Aber bei Christa Wolf Der geteilte Himmel, ist es doch sehr penetrant. Aber das ist vielleicht ein anderes Thema.

Kirsten: Ich hab immer gesagt, sie hat eine essayistische Konzeption. Sie schreibt essayistisch mit einer lyrischen Konzeption.

Röhnert: Diese Tendenz gibt es bei Aphoristikern oder Lyrikern, die zum Aphorismus neigen, ebenso stark.

Kirsten: Was bleibt einem Aphoristiker auch anderes übrig, als auf den Gag zu setzen? Und ich schrecke mitunter vor diesen Effekten auch nicht zurück, aber nur darauf zu setzen, das ist nicht gut.

Röhnert: Aber Ironie ist, finde ich, nur ein Mittel unter vielen, eine Form der Vergegenwärtigung der Zeitumstände unter vielen, wichtig ist, dass das, was gesehen ist, erst einmal ernst genommen wird. Das ist ja nicht bei allen Autoren zwangsläufig so.

Kirsten: Ja, es gibt von mir einige wenige Gedichte, von denen ich hoffe, dass der Schabernack oder der Spott so stark ist, dass man merkt, dass der Autor da etwas nicht ganz ernst nimmt. „Lob der Datenverarbeitung“ zum Beispiel. Das sind so Ausnahmen. Aber wenn ich Landschaft beschreibe, besteht dann schon die Vorstellung zu zeigen, dass sie zu meinem Leben gehört, dass ich ohne Landschaft nicht leben kann, dass das einfach zu meiner Existenz gehört, wie eigentlich alle Menschen noch etwas außerhalb ihres Körpers brauchen, um existieren zu können.

Röhnert: Oder die Berührung ihres Körpers mit dem, was außerhalb ihrer gewohnten Umgebung existiert.

Kirsten: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, das aufzunehmen, bei mir hat dafür das Studium der Prosa von Eduard Graf Keyserling entscheidende Anregungen gegeben. Auch wenn es bei ihm ästhetisch gemeint war, dass er die Außenwelt als eine erweiterte Haut sieht – für mich ist das Außen existentiell wichtig, lebenswichtig und ich sehe vor allem ökologische Probleme, ich sehe Zerstörungswut, Gleichgültigkeit und wie die Flächen, die Leben beinhalten, zerstört werden. Das sind für mich Dinge, die dann mit in meine Gedichte einfließen. Ich will nicht nur ökologisch besetzte, thematisch besetzte Gedichte schreiben, aber das gehört einfach dazu.

Röhnert: Das ist einfach Teil des Blicks auf die Landschaft.

Kirsten: Ja, und dann kann ich immer nur Fontane zitieren: „Man sieht nur, was man weiß.“ Vieles sieht man nicht, weil man es nicht weiß.

Röhnert: Aber kommt dann im Moment der Wahrnehmung des intensiven Gehens etwas hinzu, was man noch nicht wusste, oder im Moment des Schreibens dann noch einmal in der Vergegenwärtigung der Landschaft, ist dann etwas da, was du vorher auch nicht einkalkulieren konntest?

Kirsten: Beim Schreiben kann man den Blick erweitern, da hilft dann die sogenannte Schreibarbeit in der man versucht, starke Worte zu finden, die dann treffen also die Treffsicherheit. Und dann der Ehrgeiz, bei Adjektiven – das ist die gefährlichste Wortart, gerade in der Lyrik – was man da so im täglichen Leben, auch im Rundfunk von Sprechern hört, das ist so abschreckend. Dann muss man schon ein bisschen Hemingway und ähnliche Leute im Hinterkopf haben. Wie wichtig ist es, nichts Beliebiges zu schreiben, und Adjektive sind sehr oft beliebig, es ist ja der Ehrgeiz des Lyrikers, möglichst wenig Abgegriffenes einzubringen. Er sollte den Ehrgeiz haben, das, was er fühlt, was noch nicht gesagt wurde, voraussehend zu gestalten, das gelingt bestenfalls annähernd – ich bin ja auch kein Prophet. Aber Kito Lorenc hat mal gesagt und das zitiere ich immer wieder: „Ein Lyriker muss das Gras wachsen hören.“ Damit ist die Sensibilität gemeint, etwas zu sehen, was andere zwar fühlen, aber noch nicht aufgeschrieben worden ist, und das gehört eigentlich auch zur Poesie, dass man etwas erstmalig und neu sagt. Das neu Sagen setzt voraus, dass man etwas auch neu gesehen hat. Wie idealisiert oder das Gegenteil von idealisiert das Landschaftsbild oder das Bewusstsein, das man sprachlich dabei einbringt, auch immer ist: eins zu eins, das geht eben nicht, das schafft man nicht, das würde stinklangweilig. Denn das Schreiben ist ja ein Prozess des Raffens und des Verdichtens.

Röhnert: Und verschiedene Ebenen treffen aufeinander.

Kirsten: Das kann man mit Sprache eben alles machen, die verschiedenen Ebenen. Bei Bildern gibt es manchmal auch das Bild im Bild, aber im Großen und Ganzen hat der Lyriker andere Möglichkeiten als ein bildender Künstler und die muss er nutzen. Wenn er sich nur daran klammert, wie weit es ein Maler bringt, da gibt es auch erstaunliche Sachen. Es ist ein Unterschied, ob Caspar David Friedrich oder William Turner eine Landschaft malt, bei beiden braucht man nur das Bild zu sehen, und man kann sagen: „Aha, das ist Turner, das ist Caspar David Friedrich.“

hnert: Wenn wir auf den Ausspruch von Kito Lorenc zurückkommen, der Dichter müsse das Gras wachsen hören, dann hat das für mich aber eine entschieden seismographische Dimension.

Kirsten: Ja, Sensibilität würde ich heute sagen. Dass man den Ehrgeiz haben müsste, etwas zu formulieren, was bis jetzt noch nicht publik geworden ist, noch nicht dargestellt worden ist. Das habe ich ja nun vor allem bei der Droste herauszuarbeiten versucht. Da ist mir die Droste genauso wichtig wie Heinrich Heine, der für mich das Kunstzeitalter, das Goethe, Schiller und umliegende Ortschaften so propagiert und dargestellt haben, sehr rüde beiseite gelassen hat. Mit ihm beginnt etwas Neues, ein anderes Denken.

Röhnert: Wahrscheinlich wäre Baudelaire auch undenkbar ohne diesen Impuls von Heine, in die Gegenwart hineinzugehen.

Kirsten: Und wenn wir schon auf die Epochen zu sprechen kommen, auf das Epochendenken, dann muss man sich eben auch darüber Gedanken machen und im klaren sein, dass wir zu eigenen Stilprägungen gar nicht mehr fähig sind. Das ist eigentlich ein großes Manko.

Röhnert: Beim Seismographischen finde ich auch den Akt des Schreibens an sich wichtig, weil ja gerade im Fluss des Schreibens für mich erst eine Wahrheit zutage kommt, die für einen, während man das Gedicht begann, noch gar nicht vorhanden war und die aus der Sprache selbst kommt.

Kirsten: Es ist auch so, dass die eigentliche Idee, die poetische Idee, erst während des Schreibens kommt. Das geht mir auch so und manchmal ist man sich beim Schreiben dieser Idee gar nicht so bewusst. Ich hatte Glück, dass Theo Buck zwei Gedichte von mir interpretiert hat, exemplarisch, wie er Gedichte zu interpretieren weiß; da kenne ich keinen, der das gründlicher macht als er. Und ein Gedicht muss das Recht haben, dass ein anderer mehr aus dem Gedicht herausholt, als der Lyriker selbst hineingelegt hat.

Röhnert: Genau, insofern bleibt es ein offenes Kunstwerk trotz aller Geschlossenheit.

Kirsten: Ja, bei aller Geschlossenheit offen. Und dass es den Leser, den Rezipienten einlädt, im Subtext mitzudenken.

Röhnert: Oder ich denke jetzt an jemanden wie Jürgen Becker, wenn er das „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“, 1988 glaube ich, veröffentlicht, da hat er selbst auch nicht an eine konkrete Wiedervereinigung gedacht, aber dennoch gibt es dieses seismographische Moment…

Kirsten: Aber da würde ich sagen, er hat möglicherweise nicht konkret gedacht. Da müsste man mal mit ihm drüber intensiv reden, ihn in die Mangel nehmen, es würde mich auch interessieren. Ich habe ihn ja vorher erlebt und nachher, also nach der Wende und vorher, aber bei ihm denke ich mir, es spielt sein Thüringenbewusstsein, die Prägestempel, die er in Thüringen erhalten hat, das spielt auf alle Fälle in tiefen Schichten, intuitiv, mit hinein ohne dass er sich so intensiv Gedanken darüber gemacht hat wie Martin Walser.

Röhnert: Aber das ist ja jetzt ähnlich bei dir mit dem ökologischen Bewusstsein. In den 1970-er Jahren gibt es Gedichte wie „Der Bleibaum“, die Dinge…

Kirsten: Das kann ich nun aber genau sagen…

Röhnert: … festnageln, die vorher gar nicht in den Blick gekommen waren.

Kirsten: Ich hatte eben sehr früh Rachel Carson gelesen, The silent spring – Der stumme Frühling. Und dann hatte ich allerdings auch früher Robert Jungk gelesen, Die Zukunft hat schon begonnen. Robert Jungk hat man damals so hingenommen, man hat ihn nicht richtig einbetten können in eine Zukunft, in eine gefährliche Zukunft. Mit dem Buch von der Carson dann ja, leider ist das gar nicht mehr im Gespräch. Das hat mich dann schon in Bewegung gesetzt und nachdenklich gemacht. Dann habe ich die Ausstellung im Westen sehen können, die ist durch die gesamte Bundesrepublik gewandert, durch jede Stadt, Grün kaputt. Die hatten die Idee, mit positiven und negativen Beispielen zu arbeiten. Erfunden hat das Paul Schultze-Naumburg, Positives Negativem gegenüberzustellen, als er noch nicht diesen nationalistischen und rassistischen Fimmel hatte, aber er hat ja mal hervorragend angefangen. Da gibt es neun Schriften von ihm zum Naturschutz; wäre er mal dabei geblieben, aber er hat sich ja von mir nicht beraten lassen.

Röhnert: Oder wenn ich jetzt an Joseph Beuys denke, hast du so etwas wahrnehmen können aus der Weimarer Perspektive hier, also Kunstaktion von Beuys, die ja auch in diese Richtung ging?

Kirsten: Nicht so richtig. Da bin ich zu wenig anthroposophisch grundiert.

Röhnert: Ja, aber der hat nicht nur Anthroposophen angesprochen, damals.

Kirsten: Ich habe ihn nicht verachtet, ich habe schon eine Beuys-Ausstellung gesehen.

Röhnert: Die sind ja auch witzig, also gerade in der Spannung zu den Titeln.

Kirsten: Ich habe auch eine Beuys-Ausstellung gesehen, mir wurde es dann aber zu kultisch. In Leipzig habe ich die Beuys-Ausstellung gesehen. Dann will ich auch wissen, ob er wirklich was kann, und das habe ich dann gesehen, künstlerisch, was er konnte.

Röhnert: Das ist natürlich diese Erweiterung des Kunstwerk-Begriffs, die von ihm ausgeht.

Kirsten: Ich bitte um Nachsicht, dass ich mich davon etwas abgesetzt habe.

Röhnert: Ich suche einfach nach anderen Parallelen in der Literatur, in der Kunst.

Kirsten: Er hat gesehen, wie gleichgültig die Menschheit gegenüber vielen Dingen geworden war und hat dann auf so regelrechte Provokationen, auf Skandale gesetzt, um neues Denken, Nachdenken in die Welt zu setzen. Soweit geht mein Mitdenken schon und mein Respekt. Ich weiß natürlich auch um seinen kurzen Aufenthalt hier in Weimar, da gibt es einen Text von ihm aus dem Jahr 1942.

Röhnert: Oder auch Beuys als Figur der Fiktion, wie er zum Beispiel bei Marcel Beyer verfremdet wiederkehrt, sowohl in einem Gedicht, „Der westdeutsche Tierfilm“, als auch in Kaltenburg, dem Roman, wo er Beuys und Heinz Sielmann nach Dresden versetzt, wo sie eigentlich nicht waren, aber diese Freundschaft gab es ja wirklich, was ja auch schon bemerkenswert ist, ein Tierfilmer und ein künstlerischer Anwalt der Natur, die wirklich enge Freunde waren, aufgrund des Krieges wiederum.

Kirsten: Der Krieg spielt natürlich bei Beuys, das ist ja auch klar, eine ganz entscheidende Rolle.

Röhnert: Aber wenn ich an etwas denke, was du pflegst, das Spazierengehen, das emphatische Gehen, das ist ja ein Anachronismus, von heute aus gesehen. Wenn ich nach draußen gehe, sehe ich meistens inzwischen, in Braunschweig noch schlimmer als hier, Leute, die mit Wanderstöcken kommen, mit zwei Stöcken an der Seite, die dieses Nordic Walking betreiben. Das ist ja eine Form des Sports.

Kirsten: Die nenne ich dann auf der Flucht vor sich selbst.

Röhnert: Richtig, ja, das ist kein emphatisches Gehen, einen Lyriker kann man sich nicht mit Nordic Walking-Stöcken vorstellen.

Kirsten: Jetzt habe ich schon einen, den nehme ich mit. Ich habe ja auch so ein Gedicht geschrieben, als ich in Bergen-Enkheim weilte, weil es hanebüchen war, wie viele da hindurchgedonnert sind.

Röhnert: Die sehen ja nichts.

Kirsten: Ich brauche die Fußläufigkeit, natürlich habe ich auch daran teilgenommen, als sie eine politische Rolle gespielt hat, 1989, 1990 noch, aber insgesamt bin ich ein Wanderer, ein Wanderer, der stehen bleibt und sich etwas genauer ansieht, ob das jetzt ein Spinnennetz oder eine Pflanze, ein Baum ist. Ich habe schon eine starke Beziehung zu dendrologischen Dingen da mir Bäume wichtig sind und ich wissen will, was das für Bäume sind, da bringe ich schon einiges aus meiner Kindheit mit, da wusste man einfach, was da für ein Baum zu sehen ist, und dann kam der spezielle Fall der Obstbäume hinzu. Ich habe mich ein Jahr lang intensiv mit Elsbeeren beschäftigt, ein kaum bekannter Baum, der mir sehr nahe gerückt ist. Ich war in Klausur in Vollradisroda und in diesem Gebiet blühten sie in dem Jahr üppig und man sah sie von weitem, sie stehen meist an Waldrändern – nicht mitten im Wald. Sie wurden ja nie gepflanzt, sie pflanzen sich nur schwer fort, man kann sie nicht aussäen, das ist Wurzelbrut, die schlagen aus den Wurzeln aus.

Röhnert: Also etwas pilzartiges, wie ein Myzel?

Kirsten: Ja. Und dann gibt es Hybridformen, bei denen wissen selbst die Fachleute nicht immer genau Bescheid, da hört es bei mir dann auf. Ich stand mit dem König der Elsbeere in Verbindung, mit dem habe ich mich auch ausgetauscht, der hat ein Buch über die Elsbeere geschrieben. Es ist schon ein merkwürdiger Baum.

Röhnert: Da bist du aber selbst darauf gekommen, bei den Gängen durch die Landschaft.

Kirsten: Ein bisschen Ahnung hatte ich schon, ich wusste Elsbeere, die schöne Else, das Wort, aber nicht, wie die Frucht aussieht, und dann habe ich eben erfahren, dass von den Früchten der teuerste Obstbrand in Österreich hergestellt wird. Das Pflücken ist sehr schwierig.

Röhnert: Wann pflückt man die?

Kirsten: Anfang September.

Röhnert: Ach so, das sind keine Beeren, die schon Frost benötigen.

Kirsten: Das zählt man zum Obst, aber man weiß nicht so recht, wohin man sie tun soll. Sie ist verwandt mit der Eberesche und dem Speierling, eine Sorbus-Art, ja, das sind so… Trauben kann man auch nicht sagen… Büschel, die werden braun, man kann sie auch essen, man kann dann auch Mus davon machen, aber alles äußerst mühsam. Und ich hatte einen Baum gefunden, von dem ich pflücken konnte in dem Jahr. Ich war in einem anderen Jahr mal da, da war nichts, man kommt meistens nicht hoch, denn die Bäume sind sehr schlank und schießen nach oben, man kommt da nicht heran. Die Vögel holen die Beeren – aber jetzt bin ich mit der Elsbeere ganz schön abgedriftet. Es ist ja nur ein Beispiel.

Röhnert: Es ist ein sozusagen widerständiges Gewächs.

Kirsten: Ja, sehr widerständig und es wird ganz hartes Holz, das ist härter als Eiche. Und wenn der Forst einen Stamm zur Holzauktion fährt, bringt der das meiste Geld. Das Holz ist sauteuer. Deutschland bezieht die meiste Elsbeere – nur das Holz – aus Frankreich, Elsass-Lothringen.

Röhnert: Es kann nicht im großen Stil kultiviert werden, es kann nicht angebaut werden.

Kirsten: Es wird möglicherweise, da weiß ich nicht so gut Bescheid. Ich habe mit dem Revierförster gesprochen, aber er hat sich nicht dafür interessiert. Die Elsbeere bringt eben keine Masse, du weißt, Förster sind heute Facharbeiter für Holztechnik, Ingenieure für Holztechnik. Es gibt allerdings einzelne, die sich dafür interessieren, und der Thüringer Forst hat in Gotha eine Frau sitzen, die für seltene Bäume zuständig ist. Die habe ich auch schon angerufen, mit der war ich auch in Verbindung, um von ihr etwas mehr zu erfahren. Wenn man mal am alten Gleisberg bei Taupadel ist, da gibt es seltene Bäume, da gibt es sogar den Speierling, da gibt es die Elsbeere.

Röhnert: Gegenüber der Dornburger Schlösser.

Kirsten: Ja. Ich merke schon, ich bedauere, dass ich nicht Dendrologie studiert habe. Die vermutlich älteste Elsbeere, über 200 Jahre alt, steht in Weimar, was kaum jemand weiß. Da habe ich auch Fachgespräche geführt mit der Verantwortlichen der Klassikstiftung Weimar, die steht unterhalb von Schloss Belvedere, auf dem oberen russischen Friedhof.

Röhnert: Innerhalb dieses Friedhofs?

Kirsten: Noch innerhalb dieses Friedhofs. Und dieser Baum hat bis jetzt immer noch Früchte gehabt, aber man sieht, dass er völlig hinüber ist.

Röhnert: 200 Jahre heißt ja, dass Goethe an ihr vorbeigegangen ist.

Kirsten: Man konnte mir genau sagen, wie alt der Baum ist.

Röhnert: Ich werde das nächste Mal darauf achten, wenn ich dort oben sein sollte.

Kirsten: Das sind so spezielle Dinge, es gibt noch andere seltene Bäume. Hier gibt es ein kleines Hotel in einer Nebenstraße weiter draußen, die haben im Garten Amberbäume, die sind auch selten.

Röhnert: Für den Amberbaum habe ich jetzt kein Bild.

Kirsten: Die Blätter färben sich im Herbst sehr schön. Ich habe noch keinen Amberbaum mit Früchten gesehen, aber ein Gärtner hat mir versichert, es gibt auch Amberbäume mit Früchten.

Röhnert: Handke ist ja so ein Autor, der in seinen späten Jahren ganz enorm auf Pilzesammeln steht und es gibt von ihm seit kurzem den „Versuch über den Pilznarren“, natürlich mit der nötigen Selbstironie vorgetragen.

Kirsten: Pilzexperten, die gehen auch im Winter und holen auch im Winter… früher bin ich natürlich gegangen.

Röhnert: Aber das war bei dir nie so extrem, oder nicht?

Kirsten: Nein, das haben wir, ich sage mal, ein paar Mal im Jahr gemacht. Am Anfang sind wir auch noch von Blankenhain aus in die Wälder gegangen.

Röhnert: Aber Tschernobyl war dann wahrscheinlich so ein Punkt…

Kirsten: Das war vor Tschernobyl.

Röhnert: Nein, ich meine danach, dass du sagtest, ich möchte das einschränken.

Kirsten: Nein, das hat meine Frau gesagt. Nach der Pilzvergiftung hat meine Frau mir nicht mehr zugetraut, dass ich einen Knollenblätterpilz von einem Steinpilz unterscheiden kann.

Röhnert: Wie sieht es aus mit Steinen? Also mich interessieren oft auch Steine, wenn ich gehe, Kalkstein zum Beispiel.

Kirsten: Mein Vater war Steinmetz, da spielte der Stein schon eine zentrale Rolle. Leider hat er seine Gesteinsproben mir nicht überlassen. ich weiß nicht, wo die hin sind, die waren dann weg nach seinem Tod als ich aufgeräumt habe, war nichts mehr da. Und das Steinmetzwerkzeug, mit dem ich nichts anfangen konnte, hatte er vorher schon einem Steinmetz übergeben oder verkauft, das weiß ich nicht.

Röhnert: Goethe hat ja intensiv geologisch geforscht.

Kirsten: Ich musste mich hier in Thüringen umstellen von Granit auf Kalk. Ich habe lange gebraucht, um Travertin von Muschelkalk unterscheiden zu können, da habe ich mich oft geirrt, da wurde ich dann korrigiert. Ich merke nur, dass Kalkanzeiger, also Pflanzen, die auf Kalk gut gedeihen, und die Frühjahrsblumen hier viel reichhaltiger sind als bei uns im Meißnischen auf Granit. Natürlich wusste ich ziemlich genau, was da so zu finden war, aber hier suchen wir dann zur richtigen Zeit durch den Hengstbachgraben zu gehen, vom Bahnhof Legefeld aus, wo dann ein richtiger Blumenteppich zu sehen ist, und das bietet eben der Muschelkalk, eine reichhaltige Flora. Und dann sieht man auch auf Äckern, dass die Steine gar nicht alle abgelesen werden können; die kommen jedes Jahr wieder aufs Neue beim Ackern, das sind sehr steinige Äcker. Für den Mais ist das ganz gut, aber für andere Sachen nicht so. Es spielt jetzt schon auch in meinen Thüringen-Gedichten eine Rolle, dass ich hier auf Muschelkalk stehe.

Röhnert: Man sieht, glaube ich, dass das irgendwie auch in den Gedichten angezeigt ist, die Geologie neben der Geographie.

Kirsten: Ich glaube nur nicht an das, was Dauthendey gemacht hat, dass Steine beseelt seien, da gehe ich nicht mit, das ist mir zu weit hergeholt. Fachausdruck dafür: Allbeseelung.

Röhnert: Da sind wir wieder in der anthroposophischen Ecke.

Kirsten: Ja, da halte ich mich raus. Viel wichtiger ist für mich, dass Literatur keiner Ideologie, keiner Doktrin unterworfen sein darf, damit sie autonom bleibt.

Röhnert: Aber gerade die Steine tragen ja zum Landschaftseindruck bei und deshalb sind sie auch so wichtig. Gleichzeitig sind sie auch, wie du jetzt sagtest, die Verbindung zu Flora und auch zur Fauna.

Kirsten: Ich habe schon eine starke Beziehung zum roten Meißner Granit – wenn er grau ist, sagt man Syenit – aber hier bin ich auf Muschelkalk umgestiegen und sehe, welche botanischen Reichtümer der Muschelkalk möglich macht. Natürlich hat die moderne Landwirtschaft da schon vieles ausgeräumt, aber es bleiben noch Restbestände, Hänge und Ränder und kleine Flächen, auf denen man das dann sieht, Feldgehölze, Waldinseln aller Art und Wälder auch. Thüringen ist ja noch gut bewaldet, auch unsere Gegend hier. Es gibt zudem Thüringer Buntsandstein, also Rotsandstein, eher die Gegend, aus der du kommst, da gibt es ja Buntsandstein ist auch interessant. Aber hier ist eindeutig Muschelkalk. Schon in Kochberg sieht man auf den Äckern auch Rotliegendes, da ist sehr viel Eisen.

Röhnert: Das kommt bei Goethe auch vor, Rotliegendes.

Kirsten: Das spielt für mich schon auch eine Rolle. Aber das Dominierende ist hier ringsum der Muschelkalk. Ich würde schon sagen, dass es intensivierte Beziehungen zu einzelnen Landstrichen gibt.

Röhnert: Es gibt ja auch Landschaften, die du ablehnst.

Kirsten: Ja, zu denen ich nicht so intensive Beziehungen habe: Deswegen wollte ich zum Beispiel als Stipendiat nicht nach Schöppingen, dort war es mir zu flach.

Röhnert: Ja, oder auch an der Elbe, im Wendland…

Kirsten: Das war aus anderen Gründen, das wurde mir angeboten, das habe ich abgelehnt, weil man da sechs Kilometer laufen muss, um einkaufen zu gehen. Das hat mir Harald Gerlach geschildert und das war für mich abschreckend. Nein, das stimmt schon, auch die Mark Brandenburg ist mir nicht so nah, da ist mir die Mecklenburgische Seenplatte viel näher und Rolf Haufs hat ja in Deutschland verbreitet, Wulf Kirsten ist nicht maritim und da habe ich gesagt, ja, das stimmt, Kirsten ist kontinental.

Röhnert: Das wäre jetzt die nächste Frage gewesen. Es gibt ja viele Lyriker, für die ist das Meer essentiell, du kennst ja das Meer, aber in den Gedichten…

Kirsten: Ja, die Ostsee und ein bisschen die Adria, aber nicht viel.

Röhnert: Aber in den Gedichten vermisse ich meistens auch das Meer…

Kirsten: Das spielt keine Rolle in den Gedichten…

Röhnert: Andererseits hat der Name Weimar auch mit Meer zu tun. Das Meer in Sachsen, sagt Wolfgang Hilbig.

Kirsten: Ja, es gibt auch einen Band von einem Schriftsteller über den Seenreichtum in Ostthüringen, Plothener Teiche und Stauseen und so weiter, aber mir ist das Gebirge näher, ich bin lieber ins Gebirge gestiegen und habe dann verbreitet, dass die Hügellandschaft für mich am idealsten ist. Ich war mal in Tielenhemme bei Sarah Kirsch und bin dort auf dem Schwingrasen gelaufen, da kann man ewig weit sehen, in der Ferne einen Kirchturm, dicht an der Eider.

Röhnert: Was ist genau ein Schwingrasen?

Kirsten: Der Boden ist nicht fest. Man kann zwar Kühe darauf weiden lassen, aber man sinkt immer ein bisschen ein, der schwingt beim Laufen, der Schwingrasen. Und das ist mir nicht so sympathisch. Klar lernt man dort wieder andere Vögel und anderes kennen, das ist ja die Gegend zwischen Heide und Husum, sehr abgelegen, aber meine Landschaft ist das nicht. Ich habe enge Beziehungen gehabt zum Meißnischen, das sowieso, die Elbnebentäler mit den Höhenrücken, hundert Meter über der Elbe, maximal dreihundert Meter hoch. Und dann das Elbsandsteingebirge von Kindheit an.

Röhnert: Wo ja auch Karl May seine Inspiration für die Weite und Ferne erfuhr, wahrscheinlich.

Kirsten: Weiß ich nicht so genau, der war aber eher im Erzgebirge, denke ich. Weiß ich nicht so genau. Dann kamen später Böhmen, Mähren, vor allem Südmähren, Olmütz, Brünn, das hauptsächlich über Ludvík Kundera, meinen Übersetzer. Und das habe ich nun wieder Kunze zu verdanken, das schätze ich an Kunzes Werk an erster Stelle, was er für die tschechische Poesie getan hat als Übersetzer, das ist vielen gar nicht so bewusst. Da hatte ich schon früh in der Zeitschrift Im Herzen Europas von Kunze Nachdichtungen gelesen und die Nähe zur tschechischen Poesie, vor allem zum Poetismus, das ist für mich schon sehr wichtig gewesen. Dann gibt es bei mir noch Mecklenburg und dann sind einige Landschaften nahe gerückt durch Stipendien, Bergen-Enkheim ein Jahr, ein bisschen zu lang für ein Stipendium. Oder Edenkoben in der Pfalz, und dann durch meine Frau Siebenbürgen, wo ich die Landschaft aber nicht so intensiv wie eben hier in Sachsen und Thüringen erlebt habe. Salzburg, da war ich ein halbes Jahr. Und wenn ich irgendwo war, dann habe ich die Landschaft natürlich ausgeforscht, alles zu Fuß, große Fußtouren gemacht, weil ich dann intensiv aufnehmen konnte als Beobachter. Und dabei spielt der Ehrgeiz eine Rolle, alles zu bezeichnen, Namen zu geben, zu wissen, wie die Pflanze heißt, die man sieht, also das ist bei mir ein regelrechter Bezeichnungswahn.

Röhnert: Die Benennung der Welt, wenn man an Linné denkt.

Kirsten: Und da weiche ich nun ganz stark von Goethe ab, der sich mokiert hat mit seinen Musen und Grazien in der Mark über diesen Friedrich Wilhelm August Schmidt. Dieser Schmidt von Werneuchen hat eben sehr detaillierte Gedichte geschrieben auf seine Welt, auf seine Landschaft.

Röhnert: Wir bleiben bei der Landschaft,

Kirsten: Und ich müsste natürlich auch noch dazu sagen, dass ich mir in den fast fünfzig Jahren in Thüringen kleinere Flächen unter den Nagel gerissen habe wie den Reinstädter Grund und alles, was sich so im Vorland des Thüringer Waldes zwischen Ilm und Saale befindet. Der Thüringer Wald mit den Fichtenplantagen ist mir nicht so nahe, nicht so wichtig.

Röhnert: Also schon der Laubwald.

Kirsten: Ja, also was da im Vorland zu sehen ist, ist für mich viel interessanter, viel reichhaltiger.

Röhnert: Das Gehen an sich ist ja auch eine physische Aktivität.

Kirsten: Ja, da gehört noch einiges hinzu, da hat mein Vater uns Kinder schon gepiesackt mit langen und vor allem raschen Fußmärschen, der war nun jugendbewegt wie meine Mutter auch. Und dann kam das Militär, wo das auch mitunter nötig war. Da sind wir schon als Kinder getriezt worden, viel zu Fuß, also lange Strecken zu Fuß zurückzulegen und es gab kaum ein Telefon, da wurden Kinder über die Dörfer geschickt, um zum Hausschlächter zu laufen oder irgendwelchen Leuten Botschaften zu überbringen. Da ist man eben über die Dörfer gelaufen. Das ist heute unvorstellbar, das wird alles telefonisch erledigt.

Röhnert: Das hat sich dann ja fortgesetzt, das ist ja der eigene Impuls gewesen, es hat dich ja keiner gezwungen.

Kirsten: Ich habe dann extreme Wanderungen gemacht, Dolomiten mit Verwandten, auch schon zu DDR-Zeiten.

Röhnert: Also auch hochgebirgig?

Kirsten: Da war manches schon alpin.

Röhnert: Du kannst dich in gewisser Hinsicht schon als Bergsteiger bezeichnen.

Kirsten: Ich war Bergsteiger, ein richtiger. Leider ist der, mit dem ich bergsteigen war, gestorben. Der war später Oberkirchenrat und kannte noch genau jede Tour, die wir gemacht haben, und ich weiß leider nicht mehr die Touren zu benennen, die ich verbotenerweise allein gemacht habe ohne Ausrüstung, immer in der hinteren Sächsischen Schweiz, also vom Zeughaus aus und dann Richtung tschechische Grenze, das hat mir meine Frau dann verboten. Ich hab dann mit den Söhnen noch einmal eine Eins gemacht und denen gezeigt, wie Bergsteiger schlafen, in Höhlen, dann haben die natürlich Blut geleckt, der Große ist dann auch in Höhlen eingestiegen. Das habe ich nie gemacht. Da haben sich die Aussteiger auf tschechischem Gebiet getroffen und wenn da einer sein Waschzeug vergessen hatte, war das für die Grenzer sofort der Beweis, dass er abhauen wollte. Das stimmte zwar nicht, aber es war ziemlich brenzlig. Bei mir waren es die Studienjahre bis 1964, 1965, dann war Feierabend damit, aber die Wanderungen blieben schon, große Wanderungen, Tageswanderungen. Und die intensivsten habe ich dann mit Harald Gerlach zurückgelegt, der mir Südthüringen erschlossen hat und die Römhilder Gegend und…

Röhnert: … die Rhön, die wiederum…

Kirsten: die Rhön kam erst viel später. Die Rhön kam erst nach 1990. Da haben wir mit Freunden auch einmal eine Wanderung gemacht, das kann ich alles nicht mehr, so eine richtig große Tageswanderung, wo man 25–30 Kilometer am Tag gelaufen ist. Wir hatten natürlich auch Ferienplätze irgendwo im Thüringer Wald, das weiß ich aber nicht mehr so genau. Oder wir sind von Bad Klosterlausnitz aus, Hermsdorf, die Gegend kennst du ja besser als ich, nach Bad Köstritz gelaufen, von der Kanone aus, auf dem verbotenen Weg nach Köstritz gelaufen, Himmelsgrund oder wie das heißt.

Röhnert: Ja, Himmelsgrund, da gibt es eine Wüstung, die heißt Sieversdorf.

Kirsten: Und dann über die Dörfer wieder zurück, durch die Dörfer, wo noch Leitern gemacht werden.

Röhnert: Weißenborn.

Kirsten: Ja, über Weißenborn zurück und dann abends wieder von Hermsdorf-Klosterlausnitz mit dem Zug zurück. Und wir haben in Klosterlausnitz auch mal Urlaub gemacht und sind dort in der ganzen Gegend gewandert. Das war zu DDR-Zeiten schwierig, weil überall Sperrgebiete waren. Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht, da man aus der DDR nicht so gut herauskam, haben wir alles abgeklappert, was irgendwie möglich war. im Erzgebirge sind wir ein paar mal mit den Kindern gewesen, dann zu zweit große Tageswanderungen gemacht und ich bin auch einmal mit Harald Gerlach eine Woche lang von Grimma nach Dresden gelaufen.

Röhnert: Über die Felder?

Kirsten: Über die Felder nicht, aber es gab noch Feldwege, Abschneider und an der Mulde lang, bis Penig und dann eben auch meine Nebentäler der Elbe, wo ich mich am besten auskenne. Dann über den Zschonergrund zurück bis Dresden, dabei haben wir eine Woche zugebracht. Dann habe ich mit Gerlach auch mal eine Wanderung einfach quer durch Thüringen gemacht, von Stadtroda aus quer durch, ein paar Mal übernachtet, wir wollten bis Lobenstein. Das war für mich fern, und dann sahen wir aus der Ferne das Polizeiaufgebot, sie suchten einen, von dem sie wussten oder vermuteten, dass er über die Grenze wollte, und da haben wir auf Lobenstein verzichtet und sind einfach abgebogen ins Sormitztal, dann sind wir dort noch ein Stück gelaufen.

Röhnert: Bei Leutenberg.

Kirsten: Ja, dort in Leutenberg sind wir in den Zug gestiegen und nach Saalfeld zurückgefahren.

Röhnert: Wo es die Mufflons wahrscheinlich noch gibt.

Kirsten: Ja, hier gibt es die auch noch, wir haben neulich welche gesehen in einem versteckten Dorf, das ich erst jetzt in Thüringen kennengelernt habe, Oesteröda, weißt du, wo das liegt? Von Kranichfeld aus fährt man mit dem Auto in Richtung Stadtilm, dann muss man aber in Dienstedt abbiegen. Als ich mit meinem Sohn dorthin unterwegs war, sprang über den Waldweg eine ganze Herde Muffelwild. Die haben dort so viele Flächen, auf denen sie äsen können, nur die Leute, denen Feld und Wiesen gehören, sind nicht so scharf darauf, weil die Schafe schon etwas zusammenfressen.

Röhnert: Aber das sind doch genau die Dinge die obwohl sie vor unserer Haustür liegen, von den wenigsten noch gesehen werden.

Kirsten: Auf der einen Seite bin ich ja froh, dass der Massentourismus noch nicht angekommen ist.

Röhnert: Aber er wird natürlich in dieser Weise auch nicht ankommen, weil das physische Anstrengung voraussetzt.

Kirsten: Ja, das setzt diese Anstrengung, wohl wahr, voraus, und deshalb waren wir immer eine kleine Gruppe von drei, vier Leuten, die früh beizeiten hier losgelaufen sind bis Orlamünde, manchmal waren es 60 Kilometer. Jedes Mal sind wir ein bisschen anders gelaufen, über Plinz, meistens war Plinz immer so ein geheimnisumwitterter Ort mit der alten Mühle. Da warst du sicher auch schon, in Plinz?

Röhnert: Nein, ich bin nur bis Großkochberg gegangen, in der Nähe, da habe ich nur die Wegweiser gesehen.

Kirsten: Und wenn man von Teichel aus über die Dörfer gelaufen ist – was wir früher auch gemacht haben, kommt man über Tännich, auch ein Waldweiler, also ein völlig im Wald liegendes, naja, Dorf kann man kaum sagen, und da gibt es einen Hinweis nach Oesteröda. Dort gibt es endlose Waldwege, nichts ausgeschildert, man muss sich gut orientieren können, um wieder zurückzufinden. Wir hatten Not, das Dorf wiederzufinden, so versteckt liegt das.

Röhnert: Aber das hat dann schon wieder märchenhafte Qualitäten.

Kirsten: Ja, märchenhafte Qualitäten, das ist wahr.

Röhnert: Und so kommt auch wieder eine andere zeitliche Dimension plötzlich mit hinein. Es gibt nicht mehr diese eine eindimensionale Zeit, die uns die Tagesschau vorgibt, mit einem streng gerasterten Tag, oder die Hegelsche Zeit, die von einer Progression ausgeht, es gibt ganz viele Zeiten, die an unserem Erleben mitwirken.

Kirsten: Warst du schon mal auf der Kaffenburg?

Röhnert: Es gibt noch vieles zu sehen.

Kirsten: Kaffenburg, und dann Mohrental und wenn man weiter gerade durchläuft, kommt man nach Rittersdorf.

Röhnert: Und das alles von Oesteröda aus?

Kirsten: Nein, Oesteröda ist eine andere Ecke. Die Kaffenburg ist von Kranichfeld aus zu erreichen. Ich bin auch einmal mit Eberhard Haufe und Friedbert Jost nach Kranichfeld gefahren und von dort sind wir nach Paulinzella gelaufen, das war eine abenteuerliche Tour. Durch die thüringische Einsamkeit, Schlamm- und Winterreste noch auf den Höhenzügen, durch ganz verlassene Dörfer. Dann hatten wir damit zu tun, dass wir abends den letzten Zug in Paulinzella gerade noch erwischten.

Röhnert: Aber es gibt auch Wanderungen, die du völlig allein unternommen hast?

Kirsten: Einmal bin ich mit den Söhnen nach Greiz mit dem Rad gefahren, das könnte man heute nicht mehr machen.

Röhnert: Also von Weimar direkt aus, ohne den Zug zu nehmen?

Kirsten: Nein, ohne Zug. Leuchtenburg und… ferner liefen, ja.

Röhnert: Das ist schon eine weite Strecke, weil man ja immer auch Berg und Tal hat.

Kirsten: Ja, da haben wir einmal auf der Leuchtenburg übernachtet, in der Jugendherberge. Aber die Rückfahrt an einem Tag, das war zu viel. Auf diese Art und Weise ist immer sehr viel intensiv aufgenommen worden.

Röhnert: Ist das dann so eine Art Bildspeicher für die Gedichte?

Kirsten: Ja, erstens ist der Bildspeicher da und was ich auch nicht verheimlichen sollte, ich habe mich auch mit spezieller Regionalliteratur zum Reinstädter Grund beschäftigt, und es gab einen Wüstungsspezialisten für die Umgebung – ich verliere mich, wenn ich jetzt damit anfange – und die eindrucksvollste liegt für mich bei Vollradisroda, Möbis, wo man noch Häuserreste erkennt, die seit Jahrhunderten so liegen und Flächen, die Atmosphäre bewahrt haben. Das sind alles landschaftliche Bindekräfte, dort finde ich eben auch an entlegenen Stellen Orchideen. Es gibt ja noch Orchideen in Thüringen, zum Glück, an Ecken, die normalerweise keiner besucht, wo man also durch die Wildnis gehen muss. Ja, das kann ich nun so intensiv nicht mehr, aber ich zehre davon, das ist wohl wahr.

Röhnert: Und das ist jetzt ein spezifisches Wissen, das erstmal, würde ich so sagen, durch die Beine geht, das sich einprägt, einschreibt, noch bevor man überhaupt einen Satz geschrieben hat.

Kirsten: Und ich gehe meistens nicht, um eigens darüber zu schreiben. Es gibt Ausnahmen, ich bin für dieses eine Buchenwald-Gedicht mal an o einem Schneeregen-Tag hochgegangen – bei schlechtem Wetter, da habe ich dann sofort das Gedicht geschrieben, das hatte ich mir vorgenommen. Bei den meisten Wanderungen gehe ich jedoch ohne die Absicht, ein Gedicht zu schreiben und ich habe auch nicht den Ehrgeiz, zu jedem Ort, an dem ich gewesen bin, ein Gedicht zu schreiben. Ich kann es auch nicht. Manchmal genügt ein einmaliger Eindruck, aber in de meisten Fällen sind es Verdichtungen, wie Orlamünde. Dieses Straßen-Städtchen auf einem Riff. Unten liegt ja Naschhausen, oben Orlamünde, wobei das Schönste bei manchen dieser Orte der Ortsname selber ist.

Röhnert: Ja, auf jeden Fall.

Kirsten: Denke nur Ostramondra. Neulich habe ich mit einem Fleischer gesprochen, der kam aus Ostramondra.

Röhnert: Oder Wolkramshausen.

Kirsten: Ja, Wolkramshausen, finde ich auch.

Röhnert: Ein Ort namens Werther.

Kirsten: Manchmal ist wirklich der Ortsname das Schönste, was der Ort zu bieten hat.

Röhnert: Auf jeden Fall, aber es fließt eben mit ins Gedicht ein und ist so eine Abbildung. Aber kommen wir vielleicht noch einmal vom Gehen zu dem Wissen, das sich dann auch bewahrt, also das Gehen, das Landschaftswissen, das setzt ja auch ein Wissen – wie du eindrucksvoll bestätigst – über die Gegenstände voraus, die sich dort befinden.

Kirsten: Ich komme ja aus Verhältnissen, in denen man Umgang mit der Landwirtschaft hatte, ich weiß, was Fruchtwechsel ist und was auf den Feldern angebaut wurde und auch in den natürlichen Relikten, also Waldflächen oder anderen Geländen, die früher mit Wein bebaut worden sind. Obstbäume standen da, man ist auf Leitern hochgestiegen, auf solche Obstbäume an Steilhängen steigt heute niemand mehr. Deswegen wird ja Plantagenobst angebaut, damit die Maschinen hindurchfahren können. Auf denen sitzen Frauen und rupfen an jeder Seite das Obst ab. Die hohen Leitern, auf die ich noch steigen musste, gibt es kaum noch, Leute die dann so hoch auf die Kirschbäume, Birnbäume, Apfelbäume steigen. Pflaumenbäume werden nicht ganz so hoch, ich hab als Kind schon Pflaumen ernten müssen, wir hatten viele Pflaumen, aber auch Apfelbäume und da waren manche so hoch, dass ich nicht hinaufsteigen konnte. Und ich konnte als Kind ja noch nicht auf der Leiter balancieren, es waren keine Männer da, die waren alle im Krieg. Meine Mutter war glücklich, wenn sie einen Mann fand, der mir die Leiter anlehne, auf die ich dann hinaufsteigen konnte. Da ist von der Kindheit schon einiges inhaliert worden und das ist auch geblieben. Schließlich war ich als Student zu vielen Ernteeinsätzen. Da war ich gern gesehen, weil ich wusste, wie etwas gebündelt, gelagert oder geerntet wird, wie eine Fuhre zu laden ist und solche Sachen. Da spielt diese Herkunft schon eine Rolle.

Röhnert: Aber das war ja noch eine Landwirtschaft, welche die natürlichen Gegebenheiten respektiert oder sich zunutze macht und in der eben auch eine Vielfalt von Dingen gedeihen kann oder eine Vielfalt von Vögeln vorkommen kann, während heute die auf ,Effizienz‘ getrimmte Landwirtschaft dominiert – das sollte man übrigens zum Unwort des Jahres machen, ,Effizienz‘, ich höre das ständig an der Uni, ganz schlimm – selbst wenn es keine Monokultur ist, wird ja versucht, solche Dinge, die nicht zum Ertrag beitragen, auszuscheiden.

Kirsten: Mein Vater hat zum Beispiel so gedacht. Mein Vater duldete nur Dinge in seinem Garten, auf seinen Feldern, die etwas abwarfen. Sauerkirschen, Erdbeeren, Äpfel… Äpfel auch, aber Äpfel brachten kein Geld. Sauerkirschen ja. In der Kindheit gab es massenhaft Stachelbeeren und alle möglichen Beerensorten, schwarze, weiße und gelbe Johannisbeeren, rote sowieso, also da wusste man ganz genau, wo man hingehen kann und stibitzen.

Röhnert: So ist es ja auch mit den Vögeln, wie dieses schöne Gleichnis aus der Bergpredigt sagt, sie säen nichts, sie ernten nichts, das ist auch eine Nähe, die mir besonders aufgefallen ist, dass diese Bewohner, die nehmen, was abfällt, was auch tatsächlich da ist, dass die emphatisch in deinen Blick geraten, scheint mir nicht zufällig zu sein.

Kirsten: Nein, da hat mir mein Vater elementar schon einiges beigebracht und dann hatte ich immer wieder Umgang mit Leuten, die sich in der Ornithologie besser auskennen als ich, einiges weiß ich schon, ich versuche auch, den Enkeln einiges beizubringen, es wird in der Stadt schon schwieriger, man muss ständig in einem Gelände sein, das den Vögeln auch Schutzräume bietet. Hier ist es damit nicht so weit her.

Röhnert: Obwohl es auch angenehm sein kann, Elstern zu beobachten, finde ich.

Kirsten: Das mache ich ja ständig. Aber es gibt jetzt viel mehr Krähen in der Stadt. Um auf das Gedicht zurückzukommen, am Ende stehen für mich immer, sage ich, nicht Benn, nicht Lehmann, sondern Benn und Lehmann. Nicht einer von beiden, ich brauche beide.

Röhnert: Aber wenn wir jetzt einmal bei der Benennung bleiben, schaust du, glaube ich, wenn ich an dieses Brehm-Gedicht denke, auch schon so genau hin wie Lehmann, aber die Methode ist viel dynamischer, beweglicher, die Dinge anzuschauen.

Kirsten: Detering sagte einmal über Lehmann, das sei so langweilig, weil er immer wieder dasselbe macht, wenn er dann mit seiner Mythologie dazukommt. Ich sage, mein Gott, wenn er das nicht machte, dann wäre es nur eindimensional. Er hat keinen Bezug zur Arbeit, weiß nicht, dass in der Landschaft gearbeitet wird. Da fehlt bei ihm einiges. Aber Genauigkeit hat er mich gelehrt und er hat ein Modell für Poesie geschaffen, das es wert ist, bewahrt zu werden.

Röhnert: Aber der physische Kontakt zur Natur ist bei dir stärker.

Kirsten: Ja, weil ich das meiste, was ich beschreibe, durch eigene manuelle Tätigkeit eingelegt habe, bei mir kommt die soziale Komponente ganz stark ins Spiel. Es dreht sich viel um Arbeit, natürlich auch dieses DDR-Wort ,werktätig‘…

Röhnert: Arbeit im Sinne des Handwerkes.

Kirsten: Ja, manuelle Arbeit. Einmal die Arbeit am Wort, also auf dem Papier, und dann die Tatsache, dass ich das meiste, wovon ich schreibe, auch selbst gemacht habe und weiß, wie das geht. Das hat nun mit meiner Biographie zu tun, dass ich im Vorfeld, vor dem Studium, etliches handwerklich machen musste, auf dem Bau gearbeitet und in der Landwirtschaft, immer wieder in der Landwirtschaft, auch zuhause Obst gepflückt und natürlich auch zugeguckt als Kind, wie Getreide geerntet wird, wie Kartoffeln geerntet werden und das weiß man dann alles. Wie man Kartoffeln und andere Früchte mietet, also dachförmig mit Stroh abdeckt, dann Erde darauf, und wenn man keinen Platz hat, sie dann in den Keller bringt.

Röhnert: Es gibt ja auch so viele Parallelen zwischen dem manuellen Arbeiten und dem Schreibprozess, man liest Kartoffeln.

Kirsten: Meine Mutter ging zu Bauern arbeiten, wie sie das mit fünf Kindern geschafft hat, kann ich mir nicht erklären. Ich bin manchmal mitgekommen und habe ihr geholfen, war dann neben ihr auf einem Riesenmöhrenfeld und wir haben das Unkraut – das Wildkraut, ich versuche das Wort Unkraut zu vermeiden, aber es ist nicht aus der Welt zu kriegen – da herausgezogen. Und als Schüler mussten wir das auch machen, da wurden wir mehr auf die Felder gescheucht, als dass wir auf der Schulbank saßen.

Röhnert: Also das botanische Wissen, zum Beispiel mit den Bäumen, das hatten wir schon, das geologische Wissen und jetzt das ornithologische Wissen…

Kirsten: Und zum geologischen Wissen möchte ich noch sagen: Ich habe ja auch geologische Fachtexte gelesen, um die Sprache der Geologen zu studieren und von der Sprache der Geologen kann man etliches in die Sprache der Poesie übernehmen, da ist auch wichtig, dass man es nicht transformiert, aber dass man es transportiert, übernimmt. Aus der Juristensprache hingegen kann man kaum etwas übernehmen.

Röhnert: Ja gut, Handke hat das natürlich auch in Literatur überführt, das ist wahrscheinlich auch eine Frage des Genres und der Subjektivität des einzelnen, was eingeht in das Gedicht an Wissensbereichen. Aber es ist ja, wenn wir zum Beispiel die Vögel nehmen, kein ornithologischer Fachtext, der dann entsteht, darum geht es ja nicht, aber es ist trotzdem ein ganz ausgeprägtes ornithologisches Wissen, was da eingeht und dann werden auch die Vögel ernst genommen.

Kirsten: Das Ernstgenommenwerden hat eher damit zu tun, dass da pantheistisches Denken einfließt und dass ich denke, dass der Mensch doch in die natürliche Kette gehört und er sich zu stark als etwas Besonders daraus hervorhebt. Natürlich kann er denken und schreiben und all das, was Tiere nicht können, aber das Lebensrecht auch von Tieren ist mir schon wichtig, das möchte jedenfalls zwischen den Zeilen zu erkennen sein, diese Achtung vor Lebewesen. Ich gehe nicht so weit wie meine Enkelin, die mit mir über Amseln debattiert, die Amseln nicht leiden kann, weil sie Regenwürmer fressen und die sich aufregt, wenn ein Regenwurm beim Schachten zerstückelt wird… Aber ich merke, die Enkel sind noch klein, die können viel besser auf die Erde sehen als ich, die sehen viel intensiver, das wirst du mit deiner Tochter auch kennen. Wie alt ist sie jetzt?

Röhnert: Sie wird Zehn.

Kirsten: Unser Enkel ist neun geworden und hat im Ethikunterricht – ich schweife nur scheinbar ab – zum ersten Mal Zeugnisse bekommen und die Lehrerin fragt, ob sie noch einen Wunsch hätten und jeder sich was wünschen und er meldet sich und sagt: „Abschaffung des Kapitalismus.“

Röhnert: Klasse!

Kirsten: Und da hat sie gesagt, das ginge doch über ihre Kompetenz.

Röhnert: Aber er kann sich natürlich später noch dafür einsetzen.

Kirsten: Ja, der Siebzehnjährige macht das schon. Wie er darauf gekommen ist und woher er das hat, darüber kann man nur staunen. Ich lenke immer wieder ab.

Röhnert: Nein, das ist ja alles auch Teil des Themas, auch die Benennung des Seltenen, denke ich. Natürlich gehört die Amsel hinzu, Amseln sind wunderbare Vögel, das gilt gleichermaßen für Vögel, die früher vielleicht genauso häufig vorgekommen sind wie Amseln, die heute nur keiner mehr sieht oder kennt, oder weil sie so klein sind wie der Zaunkönig. Solche Dinge, das scheint mir zentral zu sein, ohne dass es deshalb Pamphlete werden, Programme für irgendeine Sache, sondern die Dinge, die eigentlich zum Lebensraum gehören, werden wieder sichtbar gemacht, weil es eben nirgendwo ein anderes Medium gibt, kein Fernsehen oder irgendwie so was, was sie uns noch zeigen kann. Es gibt jetzt vielleicht wieder ökologische Projekte.

Kirsten: Wenn, dann sind das einige wenige, die gibt es schon.

Röhnert: Es gibt für Kinder mittlerweile Baumkronenpfade, wo wieder versucht wird, Wildnis erlebbar zu machen.

Kirsten: Das finde ich schon problematisch, aber ja, ich weiß, wir haben auch schon überlegt, ob wir das mit unseren Enkeln einmal machen.

Röhnert: Aber sie haben eine große Künstlichkeit, all diese Projekte.

Kirsten: Da wird vieles verkitscht.

Röhnert: Es kann natürlich den Kindern, die gar keinen Kontakt mehr zur Natur haben, vieles eindringlich gezeigt werden, wenn es gut gemacht wird.

Kirsten: Das schon. Also meine Frau und ich, wir sind mal an zwei Tagen durch den Hainich gelaufen, quer hindurch. Da hat das militärische Gelände Ursprüngliches bewahrt. Und dass da heute ein großer Teil unangetastet bleibt, dass vom Forst nicht herumgefuhrwerkt wird, das ist schon erstaunlich.

Röhnert: Ist die Poesie nicht auch eine Art Urwald, wo Platz ist für Gewächse, die woanders nicht geduldet werden und hier in die Höhe schießen können?

Kirsten: Ich möchte eben auch sagen, dass dies mit Reichtum zu tun hat, der uns in verschiedenster Form umgibt und den man erleben kann und der das Leben bereichert. Mir können ja viele Leute leidtun, die nur das aufnehmen, was im Fernsehen zu sehen ist und sich damit begnügen.

Röhnert: Ja, die das eins zu eins reproduzieren.

Kirsten: Da bin ich vielleicht etwas exzentrisch, extrem altmodisch. Aber ich kann mich nur an die deutsche Sprache klammern, um viele Facetten auszubreiten und darzustellen, natürlich nicht, um ein Wort vorzuführen, das ist nicht meine Absicht, es muss immer in einem Kontext stehen der genau benannt werden will, wo es um genaues Benennen geht. Da sind manchmal seltene Wörter, so Mundartwörter, wichtig, nicht zur Verfremdung, ich denke, dass da vieles auch aus dem Kontext hervorgeht. Aber es steht nicht im Duden und viele andere stehen auch nicht drin. Ohnehin keine Wörter, die nur in einem kleinen, regionalen Sprachumfeld vorkommen, aber es gibt sehr viele Wörter, die gar nicht drin stehen.

Röhnert: Es gibt ja auch Parallelen in der Kunstgeschichte, wo dann eben, wie du das schon sagtest, die völlig unpoetisch scheinenden Objekte, die liegengelassenen, am Rande liegenden Objekte plötzlich ins Zentrum gesetzt und groß ins Bild geholt werden, wie ein umgekippter Teereimer oder so etwas, ist dir das prinzipiell in der Kunstgeschichte auch nahe oder sind es doch besonders die Landschaften?

Kirsten: Für mich sind es biographische Stichworte.

Röhnert: Der Bezug zur Kunstgeschichte, zu Bildern?

Kirsten: Das dauert eine Weile, ich weiß nur, so wie der erwähnte Reiner Schwarz malt kein anderer, das kann ich mir nicht vorstellen.

Röhnert: Ich meine auch andere Maler jetzt, die Landschafter zum Beispiel, oder Maler, die du auch persönlich kanntest, welchen Stellenwert hat dieses Medium der Malerei?

Kirsten: Davon bin ich ganz stark inspiriert, weil ich der Meinung bin, man kann eine ganze Menge übernehmen, ins Literarische überführen. Nicht die Art, wie gemalt wird, ob er spachtelt oder mit Pinsel und wischt und so, das nicht, im Handwerklichen geht das weit auseinander, aber die Sicht auf die Welt, da kann man sich schon inspirieren lassen, von Malern, die, sagen wir mal, eine bestimmte Landschaft entdecken. Ich werde dieses Jahr wahrscheinlich einen kleinen Text für Ullrich Panndorf schreiben, der in der Sächsischen Schweiz Felsformationen gezeichnet hat. Bei Querner ist es so, den habe ich nun exzellent studiert, als Person, Aquarellist vor allen Dingen, aber auch als Maler. Klar, da gibt es welche, die ich intensiv studiert habe und da sehe ich immer Möglichkeiten, wie man von einzelnen Bildern oder Malstilen auch etwas in die Literatur übernimmt.

Röhnert: Aber du hast dich nie in irgendeiner Art und Weise malerisch betätigt?

Kirsten: Nein, überhaupt nicht.

Röhnert: Und diese Inspirationsquelle der Bilder, gilt die auch für die Fotografie?

Kirsten: Doch, auch, aber nicht so stark. Ich habe mich intensiv mit dem französischen Fotografen Atget beschäftigt, das ist ein ganz berühmter; ich weiß nicht, wie man den Stil nennen soll.

Röhnert: Benjamin hat über ihn geschrieben. Jetzt zum Film, zu den bewegten Bildern, wir haben uns ja auch einmal über Tarkorkowski unterhalten, da gibt es dieses Gedicht „stiller Sonntag“ mit der „gestalkerten zone“, also das ist die Ettersberg-Gegend mit den Sowjetkasernen. Der Film ist ein ganz eindrucksvoller Vorgriff, wenn man das seismographisch interpretieren will, auf Tschernobyl auch gewesen. Ich habe ihn später gesehen, klar, aber ich dachte, wie konnte er 1981 das in solchen Bildern schon vorwegnehmen, aber es war wahrscheinlich einfach da, in der Sowjetunion damals, diese Art der Verwahrlosung.

Kirsten: Bei mir spielt eine Rolle, dass ich zunächst durch die Möglichkeiten, die mir Leipzig bot, ab 1957 zur bildenden Kunst gekommen bin. Von meinen Eltern her gar nicht. Das ist so die Stadt, die mich total umgekrempelt hat in jeder Beziehung und da bin ich sehr oft in die Dauerausstellung gegangen im ehemaligen Reichsgericht und in Wechselausstellungen, auf denen ich Dix und Barlach gesehen habe, das waren meine ersten großen Eindrücke. Erst später kam dann die Beziehung zu Dresdner Malern, die wurde allerdings sehr intensiv, so dass ich von der Dresdner Malerei am stärksten beeinflusst bin, das ist auch unverkennbar. Vor allem der expressive Verismus, also ein spezieller Verismus, der noch vom Expressionismus zehrt.

Röhnert: Also Querner zum Beispiel.

Kirsten: Ja, bei Querner ist das noch vorhanden. Es gibt ja auch einen Verismus, der ins Biedermeierliche geht, Richtung Heimatkunst oder ein ganz trockener Verismus, da gibt es auch ganz erstaunliche Gestalten, Zeichner vor allen Dingen. Und dann der expressive Verismus, der ist für mich am eindrucksvollsten und er hat mich am stärksten angeregt.

Röhnert: Der auch die Bewegungen, einen dynamischen Effekt mit hinein bringt.

Kirsten: Ja, weil da Bewegung drin ist, das vor allen Dingen.

Röhnert: Und jetzt solche Filmemacher, die auch Maler waren, wie Jürgen Böttcher, der sich als Maler Strawalde nennt.

Kirsten: Das ist eine Sache, die habe ich mit einem Fragezeichen versehen, zu dem habe ich keine so intensive Beziehung.

Röhnert: Das war einer der wenigen DDR-Autorenfilmer, der offenbar immer hier gefilmt hat.

Kirsten: Mit dem hatte ich unmittelbar nichts zu tun, ich kenne, wenn überhaupt, aus zweiter Hand, Werner Kohlert, Kameramann, ich habe den in Dresden erlebt, aber da weiß ich nicht viel zu sagen. 

Röhnert: Oder andere Filme, die wichtig gewesen sind, aus dem dokumentarischen Genre vielleicht? 

Kirsten: Man hat leider viel zu wenig Dokumentarfilme gesehen. In Leipzig bin ich in die Filme gegangen, die vom Filmclub gezeigt wurden, ich war dort regelmäßig und habe auch sonst viel in Filmen gesessen, das habe ich mir in den letzten Jahren völlig verkniffen. Ich habe zu Filmen kaum noch eine Beziehung, zu Fernsehfilmen sowieso nicht, aber auch im Kino bin ich vielleicht einmal im Jahr. Das hat sich nicht gehalten. Klar habe ich starke Filmeindrücke gehabt, vor allem russische Filme, aber auch, habe ich neulich noch einmal gesehen, Einer flog übers Kuckucksnest. Solche herausragenden Werke, aber nicht Film als Massenware. Dann immer nur der Film als wirklich großes Kunstwerk. Und Dokumentarfilme immer zu selten, ich habe dieser Tage erst einen großartigen gesehen, den der Mitteldeutsche Rundfunk, das Fernsehen, ablehnt, keine Einschaltquote, einen Film zum 85. Geburtstag von Wieland Förster. Und hier wurde der Film zum ersten Mal gezeigt und die Regisseurin und der Kameramann waren da. Das waren natürlich große Filme, die ich kenne, Dokumentarfilme vom Freund Werner Kohlert. Ja, was hat der denn zu Klassikern gemacht, zu Goethe, Wieland glaube ich nicht, Herder weiß ich jetzt nicht. Also, das ist so ein bestimmter Stil, wie er heute nicht mehr gemacht wird, wie er die Kamera ganz lange auf das Objekt hält… nicht so husch-husch wieder weg.

Röhnert: Diese starre Kamera, wie auch Ozu, der große japanische Regisseur, sie benutzte.

Kirsten: In dem Film wird Förster gezeigt und er spricht auch, sein letztes großes Werk, was er gemacht hat, war eine große Stele, die jetzt in Güstrow steht. Er kann nicht mehr, er hat ja eine schlimme Kindheit und Jugend gehabt, fünf Jahre unter falschen Anschuldigungen in Bautzen gesessen und er sagt da auch ganz wichtige Sachen, dass es in der DDR Künstler gegeben hat, die nicht auf DDR einzugrenzen waren, dazu gehört Wieland Förster natürlich auch und ein paar andere, die sich von keiner Parteidoktrin vereinnahmen ließen, Förster ist auch kein Außenseiter gewesen, der war so gut, dass er anerkannt werden musste.

Röhnert: Aber ist es nicht genau der Punkt, nämlich dass man von der Literaturgeschichte sagen müsste, wie du es jetzt von der Malerei sagst, dass es sicher aufgrund der anderen Situation der Protagonisten eine andere Ausrichtung gab, aber eben keine grundsätzlich andere Literatur oder Malerei, sondern nur andere Tendenzen vielleicht?

Kirsten: Du rührst da an einen ganz wunden Punkt. Es muss bearbeitet werden. Die Zeitzeugen sterben aus, sie sind fast nicht mehr vorhanden. Ich hatte zum Beispiel das ,Mauseloch‘ Deutsche Bücherei, wo ich sieben Jahre lang, danach auch noch, aber sieben Jahre ganz intensiv die westdeutsche Literatur, speziell Lyrik, Zeitschriften, Anthologien, Gedichtbände, konsumieren, rezipieren konnte, da wurde mir nie etwas vorenthalten. Ein ehemaliger Magaziner ist heute als Literaturkritiker in Hamburg, Jürgen Verdofsky, der weiß noch, wie die Magaziner immer einen Schreck bekamen, wenn der Leser Kirsten wieder einen Stapel Bücher bestellt hatte und sie die Bücher, die ich wollte, dann suchen mussten. In den ersten Jahren habe ich die auch alle gekriegt. Später kamen dann Stempel „Beim Buchbinder“ oder sie waren aus irgendwelchen Gründen nicht zu haben und er sagte mir, es gab eine Anweisung für die Leute, die für die Ausgabe der Bücher zuständig waren, im Zweifelsfalle entscheiden wir für den Leser, da haben sie sich bei mir tausendfach für mich entschieden. Ich habe einen Text darüber geschrieben, 30 Seiten, der müsste einmal gedruckt werden. Es war ganz wichtig, dass man so was aufgenommen hat, im Grunde genommen ein zweites Selbststudium, da habe ich viel mehr aufgenommen als an der Uni. Das müsste dargestellt werden nicht nur wegen mir, aber auch wegen der vielen anderen, die dann ab 1960 als Lyriker hervortraten – die meisten waren gebildet. Mickel zum Beispiel war aus einer anderen Branche, hochgebildet und Czechowski litt darunter, dass er nicht mal Abitur hatte und dass bei ihm etwas fehlte, aber er war jedenfalls belesen, leider charakterlich sehr labil. Endler kam aus dem Westen, der war hochbegabt. Einer der die Arbeit der Germanisten übernommen hat; die haben sich im Grunde, wenn überhaupt, kaum mit DDR-Lyrik beschäftigt, oder sie haben sich auf Volker Braun konzentriert und das andere zählte für sie nicht. Endler hat sich eben für Greßmann und ähnliche Leute interessiert. Arbeiterdichter hatten es in der Tat in der DDR schwer. Da ist so gut wie nichts geblieben, da weiß ich von einigen Autoren, die nicht in der Lage waren, ein fertiges Manuskript abzugeben, da gab es dann extra solche Leute wie Herrn … jetzt fällt mir der Name wieder nicht ein, der war immer mit einem Prozent beteiligt, der schrieb die Bücher zu Ende für Werner Reinowski zum Beispiel, Vom Weizen fällt die Spreu, alles solche Autoren, zu Recht vergessen. Aber das, was wirklich geleistet wurde, wie Hilbig, wie Sarah Kirsch und Kunze bis zu einem gewissen Grad…

Röhnert: Hilbig hatte sich ja die Weltliteratur angelesen und im Grunde hat man ihm das zum Vorwurf gemacht.

Kirsten: Er kam aus einer Analphabetenfamilie und wenn man sich seine Poetikvorlesungen vornimmt, ist das doch erstaunlich.

Röhnert: Das ist unglaublich.

Kirsten: Wenn er dann natürlich anfing zu reden, das war dann für die meisten, wenn er nicht gerade in Sachsen war, sehr befremdlich. Aber ich habe ihn als Lyriker – bei der Prosa hat es eine Weile gedauert – sofort erkannt mit dem berühmten Gedicht über den Fasan, der Fasan in der Literatur, das ist so ein Erweckungsgedicht. Es gibt ja jetzt auch eine Hilbig-Gesellschaft, nur die Leute in Meuselwitz, die wissen bis heute noch nichts mit ihm anzufangen. Für die ist er zu hoch, für die Bibliothekare dort und so weiter. All das müsste mal dargestellt werden, aber darauf sind bestimmte Leute im Westen nicht so scharf.

Röhnert: Da möchte man gern differenzieren, DDR-Literatur und BRD-Literatur; aber auch Mickel bezieht sich in dem dir gewidmeten Gedicht auf Dante, den 34. Gesang im Inferno – muss man da nicht in viel größeren Zeiträumen denken? Muss man nicht mit dieser kleinteiligen Parzellierung in der Literaturgeschichte aufräumen?

Kirsten: Ja, mithilfe der Deutschen Bücherei ist es mir gelungen, über die DDR hinauszudenken und mich nicht auf DDR-Maßstäbe einzugrenzen. Bei dir war es dann schon in Auflösung begriffen… Aber wichtig war, dass dann ab 1960 so tropfenweise, nicht schlagartig, eine neue Generation begann und das war dann ein regelrechter Aufbruch.

Röhnert: Das ist ja mit dem Programm, das du im Aufbau-Verlag mitgestaltet hast, auch einfach ein Zeichen, dass die Weltliteratur tatsächlich zu ganz großen Teilen gelesen werden konnte.

Kirsten: Ich kann leider nur das vorweisen, was in Büchern umgesetzt werden konnte. Was mir abgelehnt wurde oder was nicht ging, das kann ich ja nicht vorweisen.

Röhnert: Michael Krüger sagte einmal, es sei leichter gewesen, Erotika in der DDR zu publizieren als Beckett herauszubringen. Beckett wurde ihm immer abgelehnt, hat er mir mal erzählt. Leute in Mülltonnen, das wollte der Herr Girnus nicht.

Kirsten: Weißt du, wo Beckett in Weimar übernachtet hat? Im Weißen Schwan für 3,75 Mark. Ich stehe mit einem Mann in Verbindung, der hat mit Beckett hier gearbeitet am Theater, und ich wollte wissen, woher der als Ire so gut Deutsch konnte. Er hat sich das selbst beigebracht. Er hat auf dieser Deutschlandreise 500 Seiten aufgezeichnet; zu Weimar hat er jedoch nichts notiert, was zitabel wäre. Er ist unentwegt von Weimar aus in Galerien gefahren, hat sich auch Bilder zeigen lassen, die schon abgehängt, weggeräumt waren, die hat man ihm zum Teil noch gezeigt, 1936 ist er hier umhergefahren.

Röhnert: In Dresden hat er die Reise beendet, oder?

Kirsten: Ja. Ein bisschen habe ich auch dazu gelesen, ich habe auch eine vierhändige Beckett-Ausgabe. Den größten Eindruck hatte ich von ihm in Salzburg, da wurde in einem ehemaligen Pferdestall ein Stück von ihm gespielt, das stand und fiel mit einer Schauspielerin, der andere saß nur stumm da. – Also da passte denen damals in der DDR nicht. Das waren überall Spießbürger, das waren keine Marxisten: Die haben sich ja immer nur Eigentore geschossen und haben es nicht gemerkt. Manche wollten das vielleicht auch gar nicht merken, es gab ja auch kluge Leute, aber dirigiert haben immer die größten Idioten. Aber man konnte sich mit List und Tücke an so manchem vorbeimogeln, ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe „Alles scheiße!“ gebrüllt oder so etwas. Es hat aber nichts damit zu tun, dass ich etwas gegen den Westen hatte, nur hatte ich eine so starke Landschaftsbindung, dass mich da nichts weggebracht hat. Das rechne ich zum Beispiel auch Wieland Förster hoch an und bei Gerhard Altenbourg ist es ja am erstaunlichsten, wie man den massakriert und gedemütigt hat, er vor allem ist geblieben. Erstaunlich, wie er das Osterland entdeckt hat, als Maler, als Lyriker aber auch. Und da steht uns noch etwas bevor, ich halte einen Gedichtband zu zivilen Preisen für eines der wichtigsten Desiderate, was unser Umfeld, die Literatur, betrifft.

Röhnert: Ich bin gespannt.

Kirsten: Ich kenne einiges aus den teuren Künstlerbüchern, aber wer kann sich denn die leisten? Ich müsste meine Künstlerbücher, an denen ich beteiligt war, auch einmal auflisten.

Röhnert: Inzwischen sind die Preise gestiegen.

Kirsten: Ja, das kaufen dann nur einige wenige Sammler.

Röhnert: Dafür sind sie natürlich gemacht.

Kirsten: Und ob dem Gerhard Altenbourg das recht wäre? Ich war kürzlich auf einer Veranstaltung in Altenburg und habe dort ein Plädoyer für Altenbourg als Lyriker gehalten, da hat man sich gewundert, dass ich ihn so schätze.

Röhnert: Es gibt ja auch je einen Zyklus von ihm zu Gottfried Benn und zu Johannes Bobrowski.

Kirsten: Manchmal ist er mir zu viel Däubler, da bin ich nicht ganz so konform… Aber das hat mit den Leuten zu tun, bei denen er in Weimar gewohnt hat, das sind Ableger dieser Charon-Richtung von Otto zur Linde und Pannwitz und solchen Leuten gewesen. Das halte ich für nicht mehr so wichtig, es mag ja damals so gewesen sein.

Röhnert: Also auch diesen Punkt, Landschaftsbindung, könnte man unter Einbezug der ökologischen Wende in die Literaturgeschichte noch einmal aufteilen oder neu ausrichten, etwas völlig anderes selbstverständlich als die Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, die weiland Josef Nadler schrieb. Und jetzt, völlig unbehelligt vom Missbrauch dieser Landschaftsvokabel, ist das ein sinnvoller Gesichtspunkt, um noch einmal neu zu sagen, hier kann man vertikal die Literaturgeschichte aufschließen, nicht nur horizontal.

Kirsten: Ja, da müsste ich auch noch einmal etwas dazu sagen, nämlich dass die Landschaft viel älter war, viel mehr Geschichte hat, als die DDR sie auf die Waagschale brachte. Und ich zitiere, mit Vorliebe ironisch, das Sprichwort: „The history is five years old“, so sagen sie in Kalifornien. Aber meine ist jedenfalls fast tausend Jahre alt und deine auch.

Röhnert: Das sind die Dichter, die bleiben…

Kirsten: Vielleicht…

Röhnert: … die die Zeiträume versuchen zu überspringen.

Kirsten: Ich muss dir sagen, da bin ich mir nicht so sicher. Es gäbe noch zu sagen, welche Schriftsteller mich besonders inspiriert haben. Dazu müsste ich meine Leuchtbojentheorie ausbreiten, die für mich immer wichtiger geworden ist. Da reichen zehn, zwanzig Vorbilder oder auch weniger noch, aber nicht nur eines. Es geht dabei um Gedichte, die man als beispielhaft erkennt und auf die man zuhält, wohl wissend, dass man sie nie erreichen wird. Das ist, glaube ich, das Wichtigste. Das Mittelmäßige zu finden bleibt einem nicht erspart, ich lese auch miserable Gedichte, um zu lernen, wie man es nicht machen darf, auch das ist wichtig.

Röhnert: Aber so Modelle, so Prototypen für etwas.

Kirsten: Ja, prototypische Modelle. Ich pflege immer zu sagen, DAS Gedicht gibt es nicht, wenn es das gäbe, bräuchte man keines mehr zu schreiben. Dass es so viele Möglichkeiten gibt, sich in Gedichten zu äußern, ist das Faszinierende. Es läuft schon darauf hinaus, was Rilke und einige andere gesagt haben, dass man am Ende vielleicht fünf, sechs Gedichte hinterlässt oder nur eines, welches dann bleibt. 

Röhnert: Aber wenn es wiederum modellbildend oder -stiftend werden kann, hat es ja schon etwas bewirkt.

Kirsten: Manchmal ist man allerdings geneigt, an absolute Vergeblichkeit zu glauben, wenn man den jetztigen Literaturbetrieb so betrachtet.

Röhnert: Aber es gibt auch noch andere Leser, es gibt Leser, die jenseits des Literaturbetriebs ihre Entdeckungen machen wollen, und ihre eigenen Wege gehen.

Kirsten: Mir haben zunächst Leute wie René Schwachhofer mit seiner Anthologie Vom Schweigen befreit auf die Sprünge geholfen, der hat mir ganz früh vermittelt, was eigentlich Gedichte sind. Ich habe vorher in Lesebüchern Gedichte gelesen, daran hat es nicht gemangelt, aber plötzlich habe ich gemerkt, dass da auch viel Versuchsarbeit hinein investiert werden muss. Meister fallen nicht vom Himmel. Wir haben ja am Anfang auch geredet und du bist einer von denen, die sich ganz schnell selbstständig gemacht haben und du siehst auch, wer mit dir in etwa angefangen hat und manche bleiben eben auf der Stelle.

Röhnert: An Preisen mangelt es nicht, aber Preise sind nur das eine.

Kirsten: Ja, aber ich gucke auf die Gedichte, und das ist nicht so einfach.

Röhnert: Ich denke, wir sind uns einig, dass sich mit jedem neuen Gedicht, das wir lesen, der Begriff vom Gedicht auch noch einmal völlig verändern kann.

Kirsten: Das Gedicht bietet sehr viele Möglichkeiten.

Röhnert: Viel mehr als die Prosa, es ist ein Entwurf von Welt, der für mich immer mitschwingt.

Kirsten: Unbedingt.
Ich habe natürlich nicht nur deutschsprachige Lyrik wahrgenommen, sondern auch Lyrik in zahlreichen anderen Sprachen, wobei ich fast ausschließlich auf Übersetzungen fuße und bestenfalls kann ich sagen, der hat sehr gut, der weniger gut übersetzt. Ein Musterbeispiel ist für mich der Engel-Zyklus, den Rafael Alberti mit 22 Jahren 1924 geschrieben hat und darin das Gedicht „Die toten Engel“. Das ist sehr oft ins Deutsche übersetzt worden und ich habe die Fassungen nebeneinander gelegt. Das mit Abstand beste stammt von Enzensberger und ich habe für mich eine Kompilation gemacht und gesehen, dass Arendt ein zu flüchtiger Nachdichter ist; das lässt auch Rückschlüsse zu auf seine vielen anderen Nachdichtungen aus dem Lateinamerikanischen – ich kann das nur vermuten, genau weiß ich es nicht, aber an dem Gedicht sieht man es. Er hat entscheidende Stellen im Gedicht überhaupt nicht richtig begriffen, die sind auch schwierig, das gebe ich zu.

Röhnert: Wenn ich dich unterbrechen darf: Was ist das Spezifische für dich genau an dem Gedicht von Rafael Alberti, was dich daran gefesselt hat?

Kirsten: Das Existentielle, wie gefährdet die Spezies Mensch ist, die Zerstörung, die Selbstzerstörung. Erstaunlich, was er in dieses eine Gedicht, „Die toten Engel“, alles hinein holt; er ist ja auch einer, der ganz schön vorausblicken kann, das Antizipatorische besitzt, was ja die Genies unter den Dichtern ausmacht.

Röhnert: Oder das Seismographische.

Kirsten: Dass sie über ihre Zeit hinaus gucken: Heine, für mich auch die Droste, aber auch im 20. Jahrhundert gibt es solche und Alberti – er hat später auch Gedichte auf die DDR geschrieben, die sind völlig banal – aber mit diesem Zyklus, den er als Jüngling geschrieben hat, das ist für mich… wie überhaupt die Spanier seiner Generation, des 20. Jahrhunderts, Erhebliches zur Weltpoesie, zum Weltverständnis mit den Mitteln der Poesie beigetragen haben. Aber eben nicht nur die Spanier. Für mich kommt noch einer hinzu mit einem Paris-Gedicht, das Enzensberger auch sehr gut übersetzt hat –, César Vallejo. Dieses Gedicht ist nicht in sein Museum der modernen Poesie aufgenommen. Aber er hat es nachgedichtet und das finde ich ganz stark. Bei Vallejo tritt diese existentielle Problematik mächtig hervor. Er ist das natürlich selbst, den er da schildert, der kaum etwas zu essen und anzuziehen hat, und er ist ja auch jämmerlich kaputtgegangen. Spanien im Krieg spielt dann auch eine Rolle und dass die linken Spanier verschwinden mussten, ins Exil gehen mussten, jedenfalls gebrochen wurden durch den Franco-Kultus.

Röhnert: Nun war Vallejo doppelt in der Fremde, er hat als Peruaner auch ein anderes Spanisch geschrieben, er war sozusagen auch von den Spaniern exiliert.

Kirsten: Wenn es um Spanisch geht, hat mir mein Sohn geholfen, vor allem bei Antonio Machado, das ist mir der nächste. Ein früheres Gedicht, um 1900 schon geschrieben, handelt davon, wie das Bauernpaar über den Acker geht, die Frau sät und zwischen den Hörnern der Ochsen hängt die Hängematte, in der das Kind liegt. Das ist meiner Ansicht nach dichterische Phantasie und wenn es das gegeben haben sollte, habe ich Probleme, denn ich weiß wie man mit Ochsen umzugehen hat und umgehen muss, das habe ich nun mehr erlitten als erlebt. Aber das ist für mich auch ein Grundgedicht. Und dann habe ich im Laufe der Zeit eine Reihe von Gedichten gefunden von denen ich meine, dass man an ihnen Maß nehmen kann. Wichtig ist auch, dass man sich darüber im Klaren ist: Es gibt so großartige Gedichte, die man nie erreichen wird, aber gerade auf das Unerreichbare zuzusteuern ist wichtig, weil jeder, auch der größtmögliche Dilettant, wähnt doch das Bestmögliche zu bieten. Wir ja auch, wir versuchen immer das Bestmögliche. Wie weit das dann geht, ist ein anderes Thema. Ich will noch ein paar andere aufzählen: Reiner Kunze danke ich für die Einführung in die tschechische Poesie. Er hat schon in der Kulturzeitschrift Im Herzen Europas von Lenka Reinerová immer wieder Nachdichtungen tschechischer Poeten veröffentlicht. Ich dachte zunächst, der Poetismus, den es in Deutschland nicht gibt, sei abgekupfert vom Surrealismus. Das stimmt aber nicht. Der Poetismus soll sich – ich bin slawistisch nicht gebildet genug – eigenständig entwickelt haben. Aber Poetismus und Surrealismus sind immens bereichernde Stilrichtungen im frühen 20. Jahrhundert gewesen, Surrealismus gar keine Frage, über Poetismus müsste man lange reden, aber da wäre es am sinnvollsten, sich mit dem frühen Viteslav Nezval zu beschäftigen, die späteren Sachen kann man weglassen. Dieses Wissen um die tschechische Poesie, um die polnische Poesie, natürlich auch die russische mit Ossip Mandelstam, keine Frage, das war prägend. Da gibt es diese großartige Übersetzung von Celan, der sehr gut russisch konnte und keine Mittelsmänner oder Mittelsfrauen brauchte.

Röhnert: Das sind fast die besten Gedichte von Celan.

Kirsten: „Schlaflosigkeit, Homer“ ist eins der ganz großen Gedichte, das Stalin-Gedicht, welches ihn das Leben kostete, natürlich auch, aber das ist eher ein Politikum als ein literarisches Ereignis. Die Frage ist natürlich auch, wie weit lehnt man sich politisch aus dem Fenster hinaus. Das geht bis heute, in Russland vor allen Dingen, bis heute. Ich könnte jetzt ein noch ein paar aufzählen, bis es dann am Ende zehn sind. Einen wichtigen habe ich noch vergessen: Kavafis. Den würde ich auch noch dazu zählen und das theoretisch noch etwas untermauern. „In Erwartung der Barbaren“, wobei mich das Homosexuelle nicht sonderlich interessiert, es ist nicht mein Problem, aber das ist auch eine Säule für die moderne Poesie.

Röhnert: Joseph Brodsky hat Kavafis ganz hoch gehoben.

Kirsten: Brodsky selber ist mir nicht in allen Texten wichtig. Aber ich kenne auch Prosa von ihm, die großartig ist, der ist natürlich ein Nachfahre dieser großen Dichter, ein wirklicher Nachfahre. Seamus Heaney sicher auch, ohne die beiden in einen Topf werfen zu wollen, man muss die immer schön auseinanderhalten, und es gibt da noch ein paar andere, die ich auch wichtig finde. Aber man braucht da nicht fünfzig, ich habe jedoch immer, dir auch, gesagt, ein Vorbild ist zu wenig. Und das fußt bei mir wieder auf einer Aussage von Brecht. Da steht etwas im zweiten Brecht-Sonderheft von Sinn und Form, aus welchen Ingredienzien er seine Dramatik theoretisch aufgebaut hat, woher er überall etwas genommen und zusammengebaut hat, um etwas Neues daraus zu machen. Mir taten die meisten DDR-Dramatiker leid, die kannten Brecht alle nicht. Und bei Brecht weiß ich bis heute nicht, ob das Lob der Partei nicht Ironie oder tatsächlich ernst gemeint war. Das kann ebenso Ironie sein, die ist seine große Fähigkeit gewesen. Und ich habe auch von Brecht gelernt, obwohl ich diese ganzen Brecht-Adaptionen mit ihren kontrapunktierten Gedichten nicht mitgemacht habe, wie bei Kahlau und einer ganzen Reihe anderer. Es gab zwei Möglichkeiten, entweder Becher oder Brecht. Da ist natürlich, keine Frage, Brecht der entscheidendere gewesen, darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Wobei ich es zu billig finde, wenn Becher einfach so abserviert wird, da weiß ich bei Becher einfach zu viel, wie er den Ulysses aufgenommen und immer den Gottfried Keller vors Loch geschoben hat, damit ihm ja keiner vorwerfe, dass er die Assoziations- und Bewusstseinsströme selbstverständlich aus dem Ulysses hatte. Das hätte ihm mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet und er hat nicht ohne Grund jede Nacht Angst gehabt im Hotel Lux und in Suizidversuchen geschwebt.

Röhnert: In der Moskauer Emigration.

Kirsten: Ja, er hat dies in seinem Leben mehrfach gemacht, 1934 wurde ja gerade der Ulysses verteufelt. James Joyce als „Unrat“ und was weiß ich alles…

Röhnert: Formalismus war ein Totschlagargument.

Kirsten: Formalismus hat ja auch verheerendes Unheil angerichtet in den Nachkriegsjahren der DDR, am stärksten in der bildenden Kunst, aber auch in der Literatur. Als ich anfing, Mitte der 1960er Jahre, gab es dann eine Aufbruchstimmung, allmählich schon ab 1960. Mickel und Endler haben wesentlich dazu beigetragen. Das war eine Aufbruchstimmung, die sich davon freimachte. Es waren Leute, die historisch ein realistisches Fundament hatten.

Röhnert: Welche Rolle hat da zum Beispiel jemand wie Stephan Hermlin gespielt? Er war in gewisser Weise, zumindest vom Alter her, auch eine Art von Vaterfigur.

Kirsten: Für mich hat er ja mehrmals gutgesagt und mir mehrfach geholfen. Hermlin hatte immer ein Heldensyndrom. Er wollte immer der Held sein. Das was man nicht ist, möchte man gern sein, und das ist bei Hermlin stark ausgeprägt gewesen, bis hin zu biographischen Fälschungen, die man ihm sehr leicht vorwerfen kann; wobei ich da bestimmte Momente abziehe, Momente der Emigration. Dass er versucht hat, da hindurchzukommen, ist sein gutes Recht.

Röhnert: Das ist ja auch schon in einer Erzählung von Hermlin mit verarbeitet.

Kirsten: Natürlich ist er sehr bestärkt, ermutigt worden von französischer Poesie. Die langen Gedichte, der lange Atem. Gerade die frühen Sachen finde ich schon beachtlich. Und er war damit immer wieder in einer schwierigen Situation, wurde ja auch mehrfach angegriffen von seinen Genossen und hat immer wieder damit zu tun gehabt, sich herauszurudern. Er hat dann allerdings, um seinen Status zu halten, klein beigegeben, das kommt dazu, dass er so tut, als hätte er am Spanienkrieg teilgenommen, was auch nicht stimmt, da gibt es ja auch entsprechende Hinweise, dass da einer nur so tut, aber selbst nie gekämpft hat. Das hat mit seinem Heldensyndrom zu tun und was er über Vater und Bruder schreibt und so weiter, dass das alles nicht stimmt, das macht die ganze Gestalt sehr ambivalent. Ich bin aber keiner, der ihn verächtlich macht – und kein Vergleich zu Kuba, der natürlich viel mehr politisch getönt hat und viel mehr Macht hatte als Hermlin, für mich ein unsäglicher Dichterling, zu Recht völlig vergessen.

Röhnert: Aber konkret, damals in den 60-ern, wie wichtig war Hermlin?

Kirsten: Nun ja, wenn auch jetzt nicht gerade zu mir, aber er hat sich zu dieser Generation bekannt. Das hat er gemacht, das hat er auf sich genommen. Am Anfang, als Honecker an die Macht kam, hat er glaubt, dass er mit Honecker dieses und jenes machen könne, da gab es ja auch Versuche.

Röhnert: Vielleicht bis zur Biermann-Geschichte.

Kirsten: Ja, und dann hat er aber gemerkt, und das muss er auch gewusst haben, dass der Honecker ein geistiger Winzling war, dass der im Vergleich zu Ulbricht gar nichts auf der Pfanne hatte, wobei Ulbricht ja genügend Blut – was heißt genügend, also jedenfalls sehr viel Blut an den Händen hatte, wie übrigens Wehner auch.

Röhnert: Auf jeden Fall.

Kirsten: Die Verdienste Hermlins muss ich anerkennen. Und was ich nachweisen kann: wie er meinen Sohn und die fünf anderen mithilfe von Hermann Kant der Stasi abgejagt hat, das rechne ich ihm privatim hoch an. Und er hat für mich gebürgt, damit ich in den Westen fahren konnte. Er hat es nicht erreicht, dass ich jede Einladung wirklich annehmen konnte, entschieden wurde das ja von einem Gremium, mit Kant an der Spitze, aber Schriftstellerfunktionäre haben natürlich darüber gewacht, dass die geringen Kapazitäten, nach Stockholm oder nach Südamerika oder sonst wohin zu kommen, dass sie für diese Leute reserviert wurden, so wie es dann auch Eva Strittmatter geschafft hat, überall hin geschickt zu werden. Ich war einmal mit Kito Lorenc in Berlin, beim Schriftstellerband, hatte schon die Dinare in der Hand und sollte beim Festival am Ohridsee in Mazedonien teilnehmen, und just an dem Morgen kamen die jugoslawischen Flugzeuge nicht wegen des Einzugs der Panzer in Prag. Ich wurde später noch mehrfach eingeladen, aber ich bekam die Genehmigung dazu nicht mehr. Eva Strittmatter ist dann, glaube ich, jedes Mal genommen worden. Ich neide ihr das heute nicht mehr. Ich wäre damals gern dahin geflogen. Ich war stattdessen oft in Rumänien, auch zur rumänischen Poesie könnte ich etwas sagen. Den Rumänen zum Beispiel passte der Surrealismus sehr gut in den Kram, weil die Rumänen das Phantastische lieben.

Röhnert: Und dann natürlich die Sprache, die Nähe zum Romanischen.

Kirsten: Die Nähe zum Romanischen, ja, das ist ja eine romanoslawische Sprache, gemischt. Eine sehr schöne Sprache auch, obwohl ich nicht Rumänisch gelernt habe. Da gibt es auch beachtliche Leute, aber abgeleitet eben von den großen, wichtigen Franzosen, wobei die wirklich großen Franzosen schon etwas früher, im 19. Jahrhundert liegen, also Rimbaud und Baudelaire. Die waren dann nicht mehr zu überbieten. Es gibt natürlich große Dichtungen, auch jetzt noch.

Röhnert: Ich habe mich auch mal mit Jan Wagner unterhalten, ob wir überhaupt junge französische Dichter unserer Generation kennen und wir kennen eigentlich gar keinen. In anderen Sprachen fällt uns das leichter, danach zu schauen.

Kirsten: Es gab einen namens Alain Lance, der ist nun kein junger mehr, der nur auf Volker Braun gesetzt hat. Für den gab es nur Volker Braun. Ein bisschen wenig bei allem Respekt für Braun, obwohl wir natürlich aus verschiedenen Ecken der Poesie gekommen sind, er ist eine große Begabung und hat erstaunlich viel Mut, konnte aber immer viel riskieren, weil er immer als Basis seine marxistische Grundlage hatte. Die hat es bei mir nie gegeben. Ich habe mich schon damit beschäftigt, weil ich sehr früh erkannt habe, dass zum Marxismus ein veränderter Menschenschlag gehört, den es nicht gibt, den es noch nie gegeben hat und den es nie geben wird. Es geht nur um Personalquerelen und solche Dinge. Wer mit wem und wer kann mit wem nicht, dieser Kleinkram.
Ich hätte für meine Leuchtbojen noch den einen oder anderen aufzuzählen, aber im Prinzip ist das für mich ganz entscheidend gewesen und geblieben. Es kommt manchmal noch einer hinzu und bei mir spielt natürlich auch eine Rolle, dass ich Außenseiter liebe, das beweise ich mit der großen Anthologie, wobei da ja nie ein Gesamtwerk vorgestellt wird, sondern nur einzelne Gedichte. Und da kann man eben natürlich leichter poetae minores finden.

Röhnert: Viele Frauen auch, die in der Literaturgeschichtsschreibung eher untergegangen sind, finden dann plötzlich auch bei dir in dem großen Sammelband Erwähnung.

Kirsten: Ich war in der fatalen Situation, einen zeitlichen Schnitt machen zu müssen, 1945, ich hätte auch weitermachen können, da hätte ich aber zehn Jahre früher damit anfangen müssen, das wäre eine Lebensarbeit geworden. Was bleibt denn von der westdeutschen Poesie, die Österreicher mit eingeschlossen, der Nachkriegsjahre, bis 1989 etwa, was bleibt davon? Was damals in dieser berühmten Anthologie von Höllerer, Transit, zum Beispiel, erschienen ist, bleibt übrig, wenn man das kritisch liest. Aber wenn ich meine außerdeutschsprachigen Leuchtbojen aufzähle, muss ich natürlich auch ein paar wichtige Deutsche hinzuzählen.

Röhnert: Um auf Volker Braun zu kommen, ist vielleicht ganz interessant zu fragen, und das gilt für Autoren wie ihn insgesamt, ist es vielleicht der Poesie abträglich, wenn sie ideologisch zu sehr abgesichert ist, oder überhaupt sich ideologisch abzusichern sucht?

Kirsten: Ja, da ist nun meine Theorie gewesen von früher auch schon: Poesie ist absolut autonom! Sobald sich Poesie einer Doktrin, egal welcher, ob christlich oder anthroposophisch, Sektierern, Muslimen oder sonstwem unterordnet, dann ist es um die Poesie geschehen. Sie muss absolut autonom sein.

Röhnert: Andernfalls ist es nur noch Programmlyrik.

Kirsten: Also, das ist ein anarchistisches Prinzip. Nur so kann sich Poesie frei entfalten, das habe ich sehr früh erkannt und auch danach gehandelt, weil mir mein Rückzug in landschaftliche, in ländliche Gefilde schon geholfen hat, sodass ich dann mit dem Stempel „Naturdichter“ durchgewunken wurde. Obwohl man schon gemerkt hat, dass da Probleme in die Gedichte eingeflossen sind, die über Vergissmeinnicht und andere Pflanzen hinausgehen, ökologische Probleme etwa, aber auch das ist nur ein Aspekt.

Röhnert: Das sage ich auch Studenten, die mir ab und zu mal ihre Sachen zeigen, erst einmal ganz viel lesen.

Kirsten: Das kann ich ebenso für mich sagen, wobei ich eben noch mit einem reichhaltigen Lebensstoff ausgestattet bin, der nicht auszuschöpfen ist. Ich stehe nicht in der Gefahr, dass ich mich wiederhole, weil ich nicht so ein Konzept wie die Elke Erb habe und die Mayröcker, die könnten ja hundert Jahre weiterdichten, das ist eine produktive Methode, die nie zu Ende geht. Und zum Glück filtert Elke Erb besser, und es gibt Gedichte von ihr, mit denen kann ich nichts anfangen, und dann erkenne ich sie, da wird sie sinnlich konkret, da kann ich sie erkennen. Aber mein Abgrenzen, das ich von Bobrowski gelernt habe, auch von anderen, Attila József, einem großen ungarischen Dichter. Ungarn habe ich nicht erwähnt, die haben große Poeten im 20. Jahrhundert hervorgebracht.
Und natürlich hat man dann, das geht, glaube ich, fast allen so, den Wunsch, sich doch noch einmal zu brechen, etwas ganz Neues zu machen. Es geht dann aber nicht, wenn man sich festgelegt hat auf einen bestimmten Stil, aber das ist ja auch Absicht gewesen, so zu schreiben, dass man mit Gedichten kenntlich wird.

Röhnert: Und wenn man sich eine andere Gattung sucht?

Kirsten: Naja, das habe ich ja nun zu Genüge gemacht, ich habe insgesamt über etwa 150 Personen größere, kleine, kleinste Texte geschrieben, nicht nur lobende, aber meistens schon, Kurzlaudationen der Schillerstiftung und bei Preisen und so. Und ein bisschen eben so breit ausgewalzte Exkurse wie den über die Droste. Der zu Heine fehlt.

Röhnert: Und das Erzählen?

Kirsten: Ja, und dann kommt das Erzählen. Damit habe ich nun wahrscheinlich zu spät begonnen. Da hätte ich mich von früh an stärker ins Zeug legen müssen.

Röhnert: Wie ergibt sich für dich der Zusammenhang zwischen der Prosa und der Lyrik?

Kirsten: Wenn man als Lyriker Prosa schreibt, merkt man schon, dass lyrische Elemente in die Prosa eingeflossen sind. Wie ich ja auch andererseits ein Lyriker bin, der das Narrative im Gedicht manchmal zu stark strapaziert, also stark ausfährt. Insofern gibt es da schon Verzahnungen. Ich setze in der Prosa auf eine Sprache, die von der Lyrik infiltriert ist und umgekehrt in Gedichten, wenn es irgendwie geht, auf narrative Elemente. Manchmal wird dann fast ins Balladeske erzählt, aber doch geformt, rhythmisch und aufs Klangbild geformt, und auf einen starken Schluss zu, darüber haben wir ja schon gesprochen, dass man ein Gedicht komponieren muss. Dass da, wenn das Gedicht wirklich gelingt, so ein Durchreißer drin ist, dass die Sprache durchreißt, dafür gibt es für mich kein deutsches Wort, ich pflege dann von drive zu sprechen. Das kann man sich am besten vorstellen, den drive. Dass man verschiedene Elemente einsetzt, wichtig ist natürlich auch, dass man alles, was es an poetischem Handwerkszeug, an Mitteln gibt, Alliteration und Anapher und Oxymoron vor allen Dingen, dass man das bei Bedarf – nicht als Kunsthandwerk, sondern bei Bedarf – einsetzt und meinetwegen auch vor drastischen Ausdrücken nicht zurückschreckt.

Röhnert: Aber gibt es beispielsweise auch Momente, wo du eine Sache im Gedicht angegangen bist, aber dann gemerkt hast, da entwickelt sich etwas, ich muss eigentlich über das Gedicht hinausgehen, hier weitererzählen?

Kirsten: Ja. Es gibt durchaus Themen, wo ich merke, das eignet sich. Ich jedenfalls sehe da kein Gedicht entstehen und dann ist es besser Prosastück zu schreiben. Ich habe die Absicht – weißt du, über Absichten zu reden ist nicht so gut –, ich habe Vorstellungen, wozu man kurze Prosastücke schreibt, bei denen man glaubt, dass das kein Gedicht wird. Da habe ich aber nicht viel, da müsste ich mehr vorweisen können, ich will lieber erst einmal den angefangenen Erzählungsband zu Ende bringen, der ist stecken geblieben. Da bräuchte ich jemanden, der gegenliest. Ich bin nicht der Meinung, dass jeder Schnipsel, den man produziert hat, in Buchform erscheinen muss.

Röhnert: Ist es eine Fortsetzung der Autobiographie?

Kirsten: Nicht so direkt, nein, das nicht. Das wäre etwas anderes. Wobei die meisten Texte schon autobiographisch grundiert sind, auch die meisten Gedichte.

Röhnert: Das hat man ja häufig bei Lyrikern, dass die dann, wenn sie zur Prosa greifen, eben doch auch stark in der Autobiographie verwurzelt sind.

Kirsten: Für mich ist die Autobiographie, ich muss mich da nicht verstecken, ein wichtiger Fundus, der eigentliche Fundus. Das haben auch schon viele Schriftsteller erzählt, viele bedeutende Schriftsteller haben immer wieder von ihrer Kindheit erzählt, weil sie da die stärksten Prägungen erlebt, erlitten haben, von denen sie nicht loskamen; bei mir Kriegsende und Nachkrieg.

Röhnert: Und andere Gattungen gibt es wiederum gar nicht, etwa Hörspiel oder Drama, in deinem Werk.

Kirsten: Nein, Dramatik nicht. Das ist nicht mein Thema. Dann eher Essayistisches, literaturwissenschaftliche Exkurse, hauptsächlich Nachworte zu anderen Autoren, zu Anthologien, das ja. Aber nicht Hörspiel oder Feature oder irgendwie so was, das nicht.

Röhnert: Kann die Prosa, die essayistische inbegriffen, auch eine Brücke sein, um diese Zeit zwischen den Gedichten zu überbrücken? Das Gedicht ist, meistens, ja nicht gleich da. 

Kirsten: Ich schreibe wie ein Quartalssäufer. Es gibt Zeiten, in denen ich nur speichere, jedoch nichts aufschreibe. Ich glaube, es könnte jetzt weitergehen, nach diesem Bändchen zum 80. könnte es weitergehen. Im Kopf rumoren bestimmte Dinge, ich habe einen neuen Anreger unter den bildenden Künstlern, den Maler mit dem Faible für Handwagen entdeckt. Für mich ist Handwagen ein ganz wichtiges Stichwort, ich habe mir überlegt, wer heute noch mit einem ratternden Handwagen durch die Stadt fährt, leer oder beladen. Der Handwagen war ein existenzwichtiges Vehikel, was ich alles in Handwagen heranschaffen musste… Anfang Mai 1945, hatte meine Mutter den Handwagen, zwei bis drei Zentner Tragkraft, hoch beladen und mein jüngster Bruder wäre obendrauf gesetzt worden zwei hätten hinten geschoben und ich hätte mit meiner Mutter vorn gezogen. Das Dorf hatte schon den Räumungsbefehl erhalten, aber in dem Chaos ging das unter. Einige sind schon weg gewesen, wir sind geblieben, darüber hatte ich dann ja geschrieben, wie ich den letzten Tag des Dritten Reichs verbracht habe und dabei spielte dann der Handwagen eine Rolle und der wurde uns bald geklaut. Es wurde einem alles geklaut.

Röhnert: Heute gibt es nicht einmal mehr den Beruf des Stellmachers.

Kirsten: Nein, Stellmacher sind ausgestorben, das kennst du ja auch aus dem Dorf noch, was es da für Handwerker gab, Schmied und Stellmacher, die haben zusammengearbeitet.

Röhnert: In meiner Kindheit habe ich die Wagen noch gesehen, die waren da schon exotisch, aber es gab sie noch.

Kirsten: In Weimar fand ich in einem aufgelassenen Waschhaus noch so einen Handwagen. Es könnte sein, dass wir den noch ein paar Mal benutzt haben, ich weiß es nicht mehr genau. Heute würde man sich genieren, wenn man mit dem durch die Stadt zöge.

Röhnert: Auf den Bildern von Reiner Schwarz sind wunderbare Sachen zu sehen, besonders hier der Betonmischer.

Kirsten: Ja, so was macht kein anderer!

Röhnert: Sehr inspirierend, ja. Das kenne ich natürlich auch noch, den Betonmischer.

Kirsten: Weil ich damit zu tun hatte, als Bauarbeiter 1953 und das hat mich jetzt sehr bewegt. Reiner Schwarz war mir zuvor völlig unbekannt. Er ist auf dem Kunstmarkt nicht hoch angesehen mit solchen Sachen. Aber er lässt sich nicht davon abbringen, das finde ich schon beachtlich.

Röhnert: Wir hatten vorhin bei den Gedichten, bei den Leuchtbojen zum Beispiel, die skandinavische Lyrik oder die amerikanische oder die italienische Lyrik oder – noch weiter weg, die chinesische, asiatische Lyrik – ausgenommen. Über so etwas haben wir gar nicht angesprochen.

Kirsten: Zur asiatischen Lyrik kann ich nicht viel sagen, da habe ich noch zu wenig rezipiert, nicht intensiv genug. Skandinavische Lyrik – klar habe ich den einen oder anderen ein bisschen intensiver wahrgenommen und die USA erst recht, das hätte ich vorhin noch sagen müssen. Da hat es großartige Lyriker wie Robert Frost gegeben und solche, die nicht so bekannt sind, wie sie es verdienen, Williams, der ist natürlich ein wirklicher Säulenheiliger. Ezra Pound ist mir nicht so aufgegangen, damit auch nicht so wichtig, das hat aber nichts mit seinen politischen Ansichten zu tun, da gibt es eben andere, die mir näher sind. In den USA gibt es eine ganze Reihe und nicht nur Ashbery, sondern auch weitere wie Mark Strand, da gibt es eine ganze Reihe anderer, die sind in Deutschland nicht genügend bekannt. Ich glaube, nicht mal in den USA, da weiß ich nicht so gut Bescheid.

Röhnert: Es gibt, glaube ich, eine große Lyrikszene, weil es eben auch an den Universitäten verankert ist, das kreative Schreiben, und dann ist das auch eine sehr gute finanzielle Absicherung, die ein Dichter dann haben kann, wenn er im Unibetrieb zuhause ist.

Kirsten: Gegen die finanzielle Absicherung habe ich überhaupt nichts, ich war Verlagslektor und höre ja nun von Kolleginnen, Kollegen, die zu lange freischaffend waren. Zu lange in dem Sinne, dass sie nur eine Minimalrente bekommen, von der man nicht existieren kann. Und dass ich nun vom Finanzamt als Kleinunternehmer behandelt werde, das grenzt nicht nur an, sondern ist regelrechte Diskriminierung. Aber das Thema lassen wir mal lieber beiseite. Vielleicht komme ich noch einmal öffentlich darauf zu sprechen. Das ist bezeichnend, wie Schriftsteller von diesem Staat jetzt gehandelt, behandelt, unter Wert behandelt werden. Es wurde dann ja im Westen verbreitet, wir Schriftsteller hätten alle ein monatliches Salär bekommen. Das stimmte nicht. Wer an der Akademie war, ja, der bekam eins und bestimmte Leute, die für die Staatssicherheit gearbeitet haben, haben auch Gelder bezogen.

Röhnert: Hatte man da eigentlich ein Gespür, wenn man sich unter Schriftstellerkollegen befand dass man wusste, der ist ein IM?

Kirsten: Das ist mein Problem gewesen. Klar, ich hatte immer ein Dutzend auf mich angesetzte Leute und die Stasi war oft gezwungen, die wieder abzusetzen. weil ich sie nicht an mich rankommen ließ. Und ich habe, das ist nun ein Fall, den die Stasi gar nicht leiden konnte, vor bestimmten Typen gewarnt und ich bin auch öffentlich aufgetreten gegen einen Kampfgruppen-Kommandeur, den sie in den Schriftstellerverband aufnehmen wollten wegen glühender patriotischer Gedichte, da war mal eines im Neuen Deutschland abgedruckt. Gegen den habe ich auf einer Verbandstagung gewettert und auch andere habe ich verächtlich gemacht und durchgesetzt, dass die nicht hineinkamen. Harry Thürk versuchte bestimmte Leute einzuschleusen, da wusste man, dass die Stasi darauf bedacht war, möglichst viele solche Typen in den Verband zu kriegen.

Röhnert: Das hat ja bis in die Gedichte Eingang gefunden bei dir.

Kirsten: Bei mir auch, die Hausdurchsuchung, klar.

Röhnert: Aber dadurch wird es natürlich zu einer zeitlosen Thematik, die über dieses Zeitbedingte und Systembedingte hinausgeht und auch heute wieder aktuell sein könnte.

Kirsten: Mich ärgert ja am stärksten, dass wir uns in der Bürgerbewegung nur auf die Stasi konzentriert haben, der Staat DDR bestand aus drei Säulen, nicht nur aus einer. Die schlimmsten Leute saßen in der Bezirksleitung der SED. Die waren noch schlimmer als das Politbüro, die wollten nämlich noch besser sein als die. Und gerade diese drei thüringischen Bezirke hatten die schlimmsten. Diese Wichtelmänner, die da saßen, das waren die allerschlimmsten. Also, die zweite Säule Partei stand ja eigentlich über der Stasi, nur die Stasi hat sich schon Freiräume geschaffen und verselbstständigt. Die haben eher darunter gelitten, dass ihre Erkundungsgänge vom Politbüro nicht mehr aufgenommen wurden; die waren verholzt und betoniert, die Köpfe, dass das nicht bis zu ihnen gedrungen ist, das hat sie schon bekümmert.

Röhnert: Wenn man Lehrbücher oder Literaturgeschichten aufschlägt, dann sieht man immer eine bestimmte Unterteilung, da ist das Kapitel zur westdeutschen Literatur, meistens in verschiedene Jahrzehnte gegliedert, und dann ein Kapitel, meistens in ein ganzes Stück unterteilt, zur DDR-Literatur und das trifft meines Erachtens so nicht zu und ich glaube, dass man stattdessen eigentlich ein großes Kapitel zur deutschen Nachkriegsliteratur in verschiedene Abschnitte unterteilt haben müsste, in verschiedene Konstellationen vielleicht von Autoren, die aber für mich doch letztlich grenzüberschreitend sind, wenn man von weiter weg daraufschaut.

Kirsten: Ich hatte eben das Glück, dass ich eine heimliche Universität hatte, die Deutsche Bücherei.
Mich hat die Landschaft gehalten und natürlich spielt da auch eine Rolle, dass ich mit Eberhard Haufe und ein paar anderen befreundet war und dass wir wandern gegangen sind, das war unter DDR-Bedingungen sehr wichtig. Und danach ist das auch im Grunde – nach 1990 – zu Ende gegangen, dann hat es diese Funktion nicht mehr gehabt, dass man, gerade wenn man im Freien war, sich völlig hemmungslos hat austauschen können, politisch, und ganz sicher war, dass man nicht abgehört wurde mit Richtmikrofonen so wie ich an meinem Schreibtisch. Also, mich haben diese Bindekräfte an eine alte Landschaft, die viel älter war als die paar Jahre DDR, ganz stark gehalten. Ich habe ja einmal selbst angesetzt, in den Westen zu kommen, mit 18 Jahren, darüber habe ich auch einen Text geschrieben, wie mich ein Polizist aus West-Berlin wieder heimgeschickt hat, ich solle lieber nach Hause fahren und nicht in so ein Aufnahmelager. Und dann gab es noch eine Flucht-Versuchung mit 22 Jahren, man konnte ja bis 1960 in den Westen fahren, damals war ich in Ulm und dort hat man mir das Angebot gemacht, ich solle doch bleiben. Ich habe gesehen, wie die Ostflüchtlinge in ehemaligen Kasernen hausten. Das hat mich richtig abgeschreckt, so dass ich zurückgefahren bin und beschlossen habe, das mir empfohlene ABF-Studium aufzunehmen, um das Abitur nachzuholen und damit konnte ich ja studieren. Danach habe ich dann nicht mehr angesetzt, das war aber wichtig, dass es eine Gruppe gab, die geblieben ist. Ich gehe heute Nachmittag zu Georg Wunschik, der gehört zur ersten Gruppe, die damals in der Herderkirche stand und sich gegen die DDR äußerte, Bürgerbewegung. Mein Sohn und Christoph Schmitz-Scholemann bereiten eine Anthologie vor, es geht um Texte aus dieser unmittelbaren Umbruchszeit.

Röhnert: Es gab jetzt auch im Deutschlandfunk so eine schöne Reihe, wo man immer Dokumente, genau so, wie man sie im Rundfunk damals hörte, gebracht hat.

Kirsten: Das ging mit Uwe Grüning los der schon in Burgscheidungen bei einer CDU-Tagung zum ersten Mal ganz kühn etwas gesagt hat. Es durften keine langen Essay sein, manchmal nur eine Seite, man hatte Zeitvorgaben, drei Minuten fünf Minuten, und in der Zeit habe ich auch das Sprechen, Vortragen vor vielen Leuten gelernt, denn bei der zweiten Zusammenkunft in der Kirche stand ich dann auch vorn und ich weiß, wer da in der vorderen Reihe stand. Aber die meisten legen keinen Wert darauf mehr oder sie behaupten, sie hätten nichts aufbewahrt oder damals schon nicht gehabt. Ich musste Texte ausformulieren. Ich habe ja einmal vorm Theater eine scharfe Rede gehalten, wo dann die Leute meine Frau gefragt haben, ob wir denn keine Angst hätten.

Röhnert: Was Weimar hervorhebt, ist, dass man diese Stadt als Argument nehmen könnte für diese These, es habe auch weiterhin eine gesamtdeutsche Literatur gegeben, wenn auch mit verschiedenen Akzentsetzungen im Osten wie im Westen, aber dass dennoch der gegenseitige Austausch, das Interesse aneinander, auch die Lektüre des jeweils anderen nie ausgesetzt haben und, im Gegenteil, man sich damals vielleicht intensiver wahrgenommen hat. Hans Christoph Buch ist dafür ein Beispiel, der in die Goethe-Gesellschaft eingetreten ist, um eben in den Osten reisen zu können, weil die Goethe-Gesellschaft nicht getrennt war, sondern eine gesamtdeutsche geblieben ist. Würdest du das bestätigen?

Kirsten: Unbedingt. Nun muss man dazu sagen, es gibt ein Weimar von innen gesehen und ein Weimar von außen gesehen, das ist für mich ganz entscheidend. Ich wollte nie ein Weimar-Schriftsteller werden. Am Ende hat mich die Stadt doch eingefangen, und ich muss mich zu Weimar als einem sicheren Lebensort bekennen, aber lieber bekenne ich mich zu Thüringen. Zu DDR-Zeiten spielte die internationale Goethe-Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Zu Ostern war die Weimarer Innenstadt gefüllt mit Bundesbürgern. Es gab sehr viele Beziehungen zur Bundesrepublik, das war in Weimar besonders ausgeprägt. Es gab sogar im Westen eine Zeitschrift von ehemaligen Weimarern, die zusammenhielten. Weimar blieb, wie andere Städte auch, eine bürgerliche Stadt, die Grundierung blieb durch und durch bürgerlich, kleinbürgerlich, müsste man genauer sagen, bis heute. Natürlich hat die SED versucht, ihren Einfluss überall geltend zu machen und mit Parolen um sich geworfen, Leute zu korrumpieren versucht, und dies ist ihnen bei vielen gelungen.

Röhnert: Aber die SED war ja selbst auch kleinbürgerlich.

Kirsten: Und wie! Allerdings erst nach dem Untergang der DDR ist mir das richtig bewusst geworden, dass das nur so lange ging, eben weil sie kleinbürgerlich dachten und handelten. Kleinbürger sind Leute, die jede Veränderung fürchten, auch das gehört dazu, das ist auch in Weimar bis heute ein Problem. Insofern ist Weimar von innen eine andere Stadt als man sie von außen sieht. Das Bildungsbürgertum, was es ja in Restbeständen noch gibt, was da vom Westlichen her oder auch von anderen Städten im Osten her in die Stadt kommt, die kommen wegen der klassischen Vergangenheit, die kommen nicht so sehr, weil auch Rainer Maria Rilke mal hier war oder Hugo von Hofmannsthal oder weil Harry Graf Kessler hier spazieren ging, sondern sie kommen wegen Goethe, Schiller, Herder ist schon weit abgehängt und ein paar andere auch. Neulich haben wir im Goethe-Schiller-Archiv einen Vortrag gehört zu Christian August Vulpius, auf den mich erst Sigrid Damm gebracht hat, den habe ich vorher nie wahrgenommen. Aber ich kenne ihn auch nur bruchstückhaft, weiß nun, dass er über 140 Bücher veröffentlichte, nicht nur diese Räuberpistole Rinaldo Rinaldini. Der ist in Weimar völlig untergegangen und mit dem hat sich noch nie einer ausführlich beschäftigt. Das wäre doch eine sinnvolle Arbeit für eine Dissertation. Weimar hat natürlich zu viele kleine Geister neben und nach Goethe und Schiller gehabt und Carl Alexander hat versucht, dieses klassische Weimar fortzusetzen, aber es klappte einfach nicht. Also, die Leute, die mal hier waren, zum Schnupperkurs gewissermaßen, das Wort gab es damals noch nicht, ist ein Anachronismus, Hebbel, Freiligrath, da gab es ja auch andere, die haben sich bedankt und sind wieder abgezogen.

Röhnert: Stifter war nie in Weimar?

Kirsten: Glaube ich nicht, habe ich nie gehört, ich weiß es nicht genau; es sollte mich sehr verblüffen, wenn er hier war. Aber es war zum Beispiel Lew Tolstoi in Weimar, der hat sich aber um klassische Literatur hier überhaupt nicht gekümmert, sondern sich für pädagogische Programme interessiert und darüber auch geschrieben. Turgenjew war hier…

Röhnert: Dostojewski ist nicht hier gewesen?

Kirsten: Darüber ist mir nichts bekannt.

Röhnert: Hier gab es kein Kasino.

Kirsten: Um auf die Maler zurückzukommen: Der erste meiner Generation, den ich wahrnahm, war Lothar Sell. Zu danken habe ich sehr viel Lothar Lang, dem Kunsthistoriker und Kurator, der mich zur Gegenwartsgrafik gebracht hat mit seinen Kabinettausstellungen in Berlin. Daran habe ich teilgenommen, er hat mich auch zu einer Lesung eingeladen. Dann war ich Mitglied der Plauener Grafikgemeinschaft, wo man für 33 Mark Jahresbeitrag Grafikblätter bekam, das ist alles zu Ende gegangen. Und dann war ich, dann schon in den siebziger Jahren, mit dem Kreis um den Maler Horst Peter Meyer befreundet, da gehörte ich als Randläufer hinzu. Jedenfalls gab es vielfältige Beziehungen und Aufnahmen, ich bin zu vielen Ausstellungen gefahren.

Röhnert: War das ähnlich wie an den Theatern, also dass die interessanten Sachen eher in der Provinz gezeigt wurden?

Kirsten: Ich würde Leipzig, Dresden, was bildende Kunst angeht, nicht als Provinz bezeichnen. Aber es fand in einer Stadt wie Mühlhausen erstaunlich viel statt, da wurde sehr viel gesammelt, was in der DDR entstand und durch den Formalismus-Streit geschmäht und aussortiert worden war, das sah man dann in Mühlhausen. Also, partiell stimmt es auf alle Fälle, aber da wage ich kein apodiktisches Urteil zu fällen. Ich beziehe mich natürlich hauptsächlich auf Leipzig, auf Dresden, in Berlin habe ich auch viel gesehen, auch in kleinen Galerien, es gab ja eine ganze Reihe kleiner Galerien, in denen ich auch gelesen habe, in Dresden, Galerie Ost und Galerie Mitte. Das hat mich sehr bereichert und in enge Beziehungen zu den Malern selbst gebracht, sodass ich mit Vorliebe Atelier-Besuche machte. Klotz hat mich zwei Mal porträtiert, so sah ich, wie es in seinem Atelier an der Hochschule zuging. Dazu gehören auch die Gespräche mit den Malern und es gibt welche, die nicht so redegewandt waren, Klotz hat im Grunde alles aus dem Bauch gemacht, das war kein Intellektueller, er war aber ein hervorragender Psychologe, intuitiver Psychologe. Ich habe natürlich noch so einen vergessen wie Klaus Drechsler, Jahrgang 1940, auch ein Dresdner, und dass man diese Gespräche geführt hat, die dann auch bereichernd waren. Dann spielte auch eine Rolle die Beziehung zu Gussy Hippold, einer Dix-Schülerin. Über sie hat vor allem Czechowski geschrieben, die Verbindung habe ich hergestellt, der hatte nicht so enge Beziehungen zu Malern. Es gab noch andere Maler außerhalb Dresdens, in Eberswalde war einer, ein sehr schwermütiger, aber sehr gründlicher, poetischer Maler, Grafiker, Zeichner.

Röhnert: Wie diese Landschaft dort, die Uckermark.

Kirsten: Ich kenne längst nicht alles, was es in den Randgebieten der kulturellen Zentren noch gibt, wo etwa heute Botho Strauß lebt, das weiß ich dann nicht mehr. Ich habe diese Ecken eigentlich nur kennengelernt durch erzwungene, aufgezwungene Arbeitseinsätze, denn wir mussten ja ständig irgendwas in der Landwirtschaft machen, Kartoffeln jäten oder was weiß ich. Da blieb dann aber wenig Spielraum für Museumsbesuche.

Röhnert: Wenn ich das jetzt noch einmal zusammenfasse, ist es ja wiederum eine Aufwertung des Regionalen, der Landschaft, die ein anderes Wort für das Regionale ist. In welcher Beziehung, wenn wir jetzt auch an die Leuchtbojen denken in den Gedichten, steht das zu den internationalen Namen, die man in den großen Museen findet?

Kirsten: Da hatte ich ja nun das Glück, dass ich Möglichkeiten besaß, schon Ende der siebziger Jahre in den Westen zu fahren und ich habe dann die Möglichkeiten genutzt, in Museen zu gehen. Als ich das erste Mal 1977 in Freiburg war, wurde ich gefragt, was mich hier interessieren könnte und ich hatte gelesen, dass es eine Morandi-Sammlung gibt. Da habe ich gesagt, die möchte ich sehen. Seit diesem Besuch besteht eine Beziehung zu dem Morandi-Sammler, Herrn Morat, der hat dann durch Erbschaftsstreitigkeiten den größten Teil seiner Sammlung verloren. Jedes Mal, wenn ich in Freiburg war, sind wir uns begegnet, er kam zu meinen Lesungen und ich habe mich dann mit ihm getroffen und wenn ich dann ein paar Stunden bei ihm war, war es wie ein Semester bildende Kunst. Ein ganz wichtiger Anreger, außerdem ein Mann, der einen immer mit einem Katalog beschenkt hat. So ähnlich wie Grieshaber, also Grieshaber spielte bei mir auch eine Rolle, eine Beziehung über Margarete Hannsmann. Und dann habe ich in Köln, in Düsseldorf, ich weiß nicht, in welchen Städten noch gründlich Ausstellungen sehen können, sodass ich da auch einen größeren Überblick bekommen habe, wobei ich schon sagen muss, dass der Schwerpunkt bei mir auf Expressionismus und Verismus liegt und in Dresden gab es dazu noch diese Mischung, expressiver Verismus. Von da habe ich entscheidende Impulse aufgenommen. Es müssen dann natürlich Imagination und das Transzendentale, was das Gedicht braucht, mit hineinspielen. Aber der Ausgangspunkt ist bei mir oft ein Bild, die Tatsache, dass ich von Bildern inspiriert worden bin, paradigmatisch eben. Als ich mit Michael Guttenbrunner 1979 in Wien war, dann in Klagenfurt und wir uns dort eines Sonntagmorgens über der Hofreitschule die Franzosen angeguckt haben, war nur ein einziger Besucher dort zugange – und das war Peter Handke.

Röhnert: Es gibt ja ein Gedicht, welches du Guttenbrunner gewidmet hast.

Kirsten: Ja, das währte eine ganze Zeit und ich gehöre auch zu den Mitarbeitern seiner hektografierten Zeitschrift Das Ziegeneuter.

Röhnert: Von Umberto Saba, gibt es, glaube ich, so ein berühmtes Ziegengedicht.

Kirsten: Ich weiß nicht, ob das in Beziehung dazu steht. Er hatte eher zur griechischen Poesie Beziehungen. Er hat da wohl auch ein bisschen an seiner Biografie manipuliert, Richtung Anarcho-Widerstand. Was aber stimmt, ist, dass er mit einer Spitzhacke Autos zerstört hat in Österreich, damit hat er sich unmöglich gemacht.

Röhnert: Das passt doch eigentlich gut zu Handke.

Kirsten: Ja, aber da müssten wir sehr viel sagen über Guttenbrunner. Für mich ist es schon sehr wichtig gewesen, dass ich diesen Kontakt hatte und was er mir alles vermittelt hat. Typisch für ihn war, wenn wir durch Wien liefen und er Leute sah und wir schon vorbei waren, sagte er dann nur ganz barsch, so militant, er lief wie ein Offizier, obwohl er Plebejer war: „Das war die Spiel!“ Und er sprach mit einem älteren Herrn auf dem Postamt in Klagenfurt und als wir dann wieder weg waren, sagte er: „Das war der Drozdowski!“ Die kannte ich ja alle, ich wusste von denen. Wer die Spiel war, weiß man ja, wusste man ja. Ich bin dann eigenmächtig zu einem von mir verehrten Lyriker gegangen, das passte Guttenbrunner nicht. Das war Szabo.

Röhnert: Ungarische Wurzeln?

Kirsten: Dieser Szabo, ein sehr Anständiger und aus ganz armen Verhältnissen, war Lehrer, und den habe ich in ein Lebensjahren in Wien aufgesucht, das passte Guttenbrunner nicht, den akzeptierte er nicht. Der war überhaupt sehr radikal, aber zum anderen schätzte er dann Leute, die ich wiederum nicht geschätzt habe, Klaus Demus, ein Lyriker, mit dessen Gedichten konnte ich nicht viel anfangen.

Röhnert: Durch die Freundschaft mit Celan bekannt, die Briefe.

Kirsten: Ja. Für mich kein großer Lyriker.

Röhnert: Aber hier denke ich auch an Handke, zum Teil, an dieses Landschaftliche, auch weil er über Wagner, den schwäbischen Dichter, geschrieben hat.

Kirsten: Ja, der kam bei mir schon sehr früh und ich hatte ein Christian-Wagner-Lesebuch für Reclam Leipzig vorbereitet, ich war nur zu langsam, ich habe das nicht so rausgeschossen und das fiel dann in den Untergang der DDR; da sind etliche Buchprojekte – zum Beispiel Der Schrei vom Ararat, Texte von Armin T. Wegner, war auch schon vorbereitet – ins Wasser gefallen, in den Untergang. Aber es gab eben auch eine Zeit, da war man politisch eingestrickt. Zum Glück habe ich im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen dann gesehen, dass es höchste Zeit wird, wieder in die Literatur zurückzukehren.

Röhnert: War es in dieser ja doch eher kurzen Zeit im Weimarer Stadtrat für dich ein Anliegen, die Literatur zu stärken oder ging es dir da um andere Sachen?

Kirsten: Die Literatur spielte da allenfalls eine Nebenrolle. Da ging es wirklich um elementare kulturelle Probleme. Natürlich sah man die Möglichkeit, etwas neu aufzubauen. Ich habe mich sehr stark gemacht, dass der Weimarer Kulturpreis, den es schon zu DDR-Zeiten gab, einen neuen Namen erhielt, Weimar-Preis, das habe ich durchgedrückt und in den ersten Jahren Einfluss dabei gehabt. Jetzt mache ich keine Vorschläge mehr, weil unsägliche Leute in der Jury sitzen. Wir kommen immer wieder auf Weimar!
Ich hatte alle Möglichkeiten, wenn ich im Westen war, in den jeweiligen Städten Ausstellungen anzusehen, das Wallraff-Richartz-Museum habe ich gründlich gesehen, Amsterdam, wichtige Ausstellungen in Paris. Und mit Uwe Pörksen in Krakau. In Moskau habe ich keine Museumsbesuche gemacht, das war nicht so glücklich, meine Aufenthalte in Moskau. Prag war auch sehr wichtig. Dann bin ich mit meiner Frau mal in Belgien gewesen. Was wir da alles gesehen haben, uns quoll die flämische Malerei förmlich zu den Ohren heraus, wir konnten nichts mehr aufnehmen. Wir waren in Gent und in Brüssel, Antwerpen; ich weiß nicht wo noch.

Röhnert: Wenn ich diese großen Malerschulen nebeneinander setze, also auch das Erhabene, Italienische, die italienischen Schulen und dann, die flämische, niederländische Schule, was oft mit der niederen Muse, dem Alltäglichen, den Einfacheren gleichgesetzt wird, ist dir das schon näher, würde ich sagen. wenn ich deine Gedichte sehe.

Kirsten: Auf alle Fälle. Natürlich ist mir Ostade viel näher. Ich kenne ja diese Sammlung, die Bernhard von Lindenau aufgebaut hat, in Altenburg, diese frühen italienischen Tafelmalereien, die kenne ich natürlich auch. Ich muss bekennen, das langweilt mich eher, also das geht nicht so in mich ein.

Röhnert: Aber die haben natürlich auch Max Klinger dort.

Kirsten: Der spielt für mich in letzter Zeit nun eher eine fatale Rolle, weil ich mit dem Schicksal seiner Muse, Elsa Asenijeff, vertraut bin. Ich bin befreundet mit Rita Jorek, die beschäftigt sich intensiv mit Elsa Asenijeff, die früh in die Psychiatrie gedrückt wurde und dort umgekommen ist, in der Nazizeit. Das war nach Klingers Tod, aber die Klinger-Erben, der Nachfolger und die zweite Frau, die hieß, glaube ich, Bock, die Klinger dann als Muse nahm, nachdem die Elsa Asenijeff, sagen wir mal, nicht mehr ganz so taufrisch war. Ich sage es etwas vorsichtig, und wie man die dort ausgetrickst und beiseite geschoben hat, das muss die Frau auch zerstört haben. Ich kann Genaues nicht sagen, es gibt da sehr viele geheim gehaltene Krankenakten, da weiß Rita Jorek besser Bescheid, das ist ein schlimmes Schicksal. So ähnlich wie die Schwester des berühmten französischen Schriftstellers, die mal in Apolda eine Ausstellung hatte. Die französische Bildhauerin, an der Rodin schwer gesündigt hat…

Röhnert: Da gab es auch einen Film, ja.

Kirsten: Camille Claudel. Und ähnlich schlimm war das mit der Asenijeff. Übrigens auch als Lyrikerin hervorgetreten, ich habe einen Gedichtband von ihr. Das sind so meine Beziehungen zu Klinger in letzter Zeit gewesen, selbstverständlich weiß ich, dass das ein großer Künstler war. Es gibt wunderbare Abbildungen der Asenijeff von ihm, Zeichnugen und auch Skulpturen.

Röhnert: Max Klinger ist ja lange unterschätzt worden oder in den Schatten gerückt, und dann sagt jemand wie De Chirico, ohne Klinger hätte ich nie so malen können. Deshalb ist auch das Leipziger Museum, das Museum der bildenden Künste, eines meiner Lieblingsmuseen.

Kirsten: Ja, ich habe von Klinger viel gesehen, natürlich auch den Beethoven, den sitzenden Beethoven, der in Leipzig zu sehen ist. Der hat mich nicht so überzeugt. Da hat mir das, was er zu Nietzsche geschaffen hat, viel stärker imponiert, vom Material her schon.

Röhnert: Auch die Landschaften, die es bei ihm gibt, sind spannend, weil er eben dieses Imaginäre schon mit drin hat, einerseits sehr genau, etwa die Landschaften um Groß-Jena herum.

Kirsten: Ich bin voriges Jahr zum ersten Mal in meinem Leben in diesem Gelände gewesen, bin da herumgelaufen und auch darin, sonst sind wir immer nur vorbeigepilgert.

Röhnert: Ich glaube, die Frau von Rilke war die einzige weibliche Schülerin von ihm, die Clara Westhoff.

Kirsten: Nun hat mich Rilke nicht so intensiv interessiert wie George, muss ich bekennen. George ist für mich wichtiger.

Röhnert: Oder Trakl.

Kirsten: Ja, Trakl sowieso. Der Vorlauf zum Expressionismus hin. Bei Rilke steht mir einiges im Wege, natürlich kenne ich großartige Gedichte, ab 1907 jedenfalls, die Ding-Gedichte oder der Nekrolog auf Bellman noch später. Aber diesen Rilke-Kult, den habe ich nicht so und wie er sich von adeligen Damen hat hofieren lassen. Ich habe mich für meine Lyrik-Anthologie mit keinem Autor so intensiv abgemüht wie mit Borchardt. Ich habe ihn ja erst spät richtig aufgesogen. Es gibt großartige Prosastücke, dann gibt es Erzählungen im Stil der neuen Sachlichkeit und er war natürlich auch ein Anverwandlungskünstler. Was George gelungen ist, eine neue Poesie-Sprache aus dem Boden zu stampfen mit Hilfe der Franzosen – man weiß ja, wo er das hernahm –, das konnte Borchardt nicht leisten.

Röhnert: Aber er wollte das mit seiner Dante-Übersetzung und das ist aber alles zu akademisch geblieben.

Kirsten: Das hat ihm George voraus und das ist für mich der wichtigere: George. Nicht der Jünglingskultus und dass er immer den Kreis sich hat verjüngen lassen. Da gab es natürlich auch interessante Persönlichkeiten und mir ist auch wurscht, ob der Frommel George wirklich einmal gesehen hat oder nicht. Es war ja im ,Castrum Peregrini‘ die letzten zehn, fünfzehn Jahre vorwiegend Frommelkult, da ging es kaum noch um George. Frommel hat auch niveauvolle Texte geschrieben und ein großartiges Stilbewusstsein besessen, das schon. Aber an George kommt keiner heran. Und ich habe zu der George-Tagung mit einigen anderen, da waren auch Dirk von Petersdorff, Norbert Hummelt und Nico Bleutge zugegen, gesagt, dass ich meine, man kann reden was man will, die Zeitgenossen dieser Gründerzeitgeneration, die ein Repräsentationsbewusstsein hatten, davon wird nur George bleiben.

Röhnert: Ja, mit Sicherheit. George, Rilke, Hofmannsthal, diese drei großen Namen.

Kirsten: Ja. Hofmannsthal, weiß man, hat sich sehr früh erschöpft. Aber wir sind jetzt ganz schön abgedriftet.

Röhnert: Aber wenn wir uns jetzt umschauen, die Gründer und dann die Epigonen betrachten, obwohl George ja in gewisser Weise auch schon wieder ein Epigone war, fragt man sich, wo man anfangen soll.

Kirsten: Auch George musste irgendwo herkommen, er hat das, was Nietzsche wollte, was Nietzsche vorschwebte, er hat das in die Praxis der Poesie, in poetische Praxis umgesetzt. Bei Nietzsche gibt es eigentlich nur Vorlauf, poetischen Vorlauf. Aber er hat natürlich als Erster gesehen, was da umgewertet werden muss und dass da ein neues Zeitalter im Gange ist. Klar hat er ganz kühne Ideen gehabt, in Gedichten, die ich nun auch nicht schlecht finde; ich habe meine Anthologie nicht ohne Grund mit Nietzsche begonnen. Er steht am Anfang des 20. Jahrhunderts, aber eingelöst hat eigentlich George, bis hin zur Verstiegenheit, zu zahlreichen Manierismen, ja, das auch, aber man muss sich vorstellen, wie heruntergelumpert und versumpft die Poesie-Sprache war nach der Romantik. Und Romantik war ja schon zu großen Teilen ein Rückgriff und kein Blick nach vorn.

Röhnert: Um jetzt von George den Bogen ins Heute zu schlagen, jetzt auch die Namen, die heute glauben, sie seien George-nah, droht da nicht auch wieder eine, wie du sagst, heruntergelumperte, bloß abgekupferte Poesie-Sprache?

Kirsten: Letzeres ist die große Gefahr. Da sehe ich, dass eine Poesie-Sprache vernutzt, dass sie verwässert wird, in dieser Phase sind wir doch. Und dass eben mediokre Geister das Maul so aufreißen und sie in dieser Oberflächengesellschaft entsprechend hofiert werden. Das ist jetzt Gegenwart, unmittelbare Gegenwart, also das sehe ich auch. Gefahr auf alle Fälle. Und in einer von Krisen gepeitschten, geschüttelten Gesellschaft, in der wir leben und in der so vieles unter der Decke gehalten wird – man muss nur gut hochrechnen können, was da nicht ans Licht gebracht wird und warum, kann man es sich ja auch denken. Natürlich ist jede politische Ära auf Selbsterhalt bedacht, auch die jetzige. Aber wie schlimm es doch um die Demokratie bestellt ist, das merken wir an allen Ecken und Enden. Und Literatur ist im Großen und Ganzen, aufs Ganze gesehen, immer nur Spiegelung eines Zeitalters und so habe ich auch meine Lyrik-Anthologie betrachtet, allerdings nicht als Illustration von Zeitereignissen, das haben genügend andere DDR-Dichter bis zum Exzess praktiziert.

Röhnert: Ja, das hat auch Durs Grünbein in seinen schwächeren Gedichten gemacht, als er etwa glaubte, wenn Die Zeit ihn fragt, ob er ein Gedicht zum Tod Michael Jacksons schreibt, dann hat er das geliefert. Die Gefahr, wenn man zu viel Erfolg hat, ist, zu viel hofiert zu werden. 

Kirsten: Auch mit Lutz Seiler habe ich seit seinem Kruso, Bauchschmerzen.

Röhnert: Zum Schluss kann man ja nicht umhin, dich dafür zu bewundern, dass du eben die ganze Poesie der letzten 150 Jahre so intensiv kennst wie kaum ein Zweiter, „Beständig ist das leicht Verletzliche“, teilnimmst an aktuellen Debatten, aktuellen Lyrikerscheinungen, wir haben uns über Jan Wagner verständigt, jetzt haben wir über Lutz Seiler geredet, das ist nicht selbstverständlich.

Kirsten: Es lässt jetzt stark nach. Ich gebe mich nicht geschlagen, aber ich gebe mich zufrieden, es reicht jetzt, ich muss endlich aufhören, Mentor zu spielen und jungen Leuten helfen zu wollen.

Röhnert: Lieber Wulf, vielen Dank für diese Unterhaltung.

 

 

 

Wulf Kirsten oder: Die (Re-)Kultivierung

der Landschaft im zeitgenössischen Gedicht 

– Anstelle einer Einleitung. –

such den punkt, der dich trägt
Wulf Kirsten, „Standort“

Eine gelegentliche Verwechslung seiner Interpreten reizt ihn noch immer zu Zornesausbrüchen, in denen sich sein bis zur Widerborstigkeit unangepasstes, linkselbisch anarchisches Temperament aufs Schönste Gehör verschafft, indem es den ganzen kindlichen Trotz der lokalen Varietät seines Sächsischen zu Donnerworten verdichtet: Nicht Natur-, sondern Landschaftslyriker sei er, man könne das nicht oft genug wiederholen, und wenn es den Leuten auf den Senkel gehe, es auszuposaunen, aber insbesondere in lyrischen Dingen müsse schon Genauigkeit herrschen, denn wenn er eines auf den Tod nicht leiden könne, dann dieses ungenaue Dahergeschwafel, das von Tuten und Blasen keine Ahnung habe und Landschaft und Natur nicht voneinander unterscheide.
Darum sei es hier noch einmal wiederholt: Wulf Kirsten ist ein Landschaftslyriker. Dem Landschaftsdichter Wulf Kirsten ist diese Sammlung mit neuen druckfrischen Gedichten Wulf Kirstens – den ersten, die seit seinem 80. Geburtstag am 21. Juni 2014 entstanden sind –, einem ausführlichen Interview und elf perspektivreichen Lektüren des lyrischen Meisters, dieses „Klassikers der Gegenwart“ (als welchen ihn etwa die Berliner Literaturwerkstatt am 23. April 2013 im Gespräch mit Norbert Hummelt vorstellte) gewidmet.
Doch weil er darauf insistiert, kommen wir nicht umhin, uns zu fragen: Was ist eigentlich Landschaft, was ist Landschaft in seinem, Kirstens, Sinne, was unterscheidet sie, insbesondere in ihrer lyrischen Darstellung, von der Natur, warum ist für Kirsten die Unterscheidung dieser Begriffe derart zentral – und steht er im Raum der zeitgenössischen Lyrik allein damit, oder welche Verwandtschaften, Nachbarschaften, Querverbindungen, Spuren und Fährten zu anderen Gedichten, Autoren, Idiomen, Sprachen, Fachwortschätzen, Wissensbereichen und Künsten tun sich dabei auf? Anlass bot ein Kolloquium, das nach Kirstens 80. Geburtstag Anfang Juli 2014 an der Braunschweiger Technischen Universität tagte und Freunde, Kollegen und Interpreten Kirstens zum Austausch ihrer Lesarten des Dichters eingeladen hatte – das Ganze geschah in Anwesenheit, unter der Zuhörerschaft des Jubilars.
Die Beiträge waren von Anfang an mehr als rhetorische Versatzstücke einer Jubelfeier: Sie öffneten ganz unterschiedliche, oft völlig unvorhergesehene Perspektiven auf ein facettenreiches, in über 50 Jahren Autorschaft ausgefeiltes lyrisches Œuvre, das gleichwohl wie eine lange Erzählung aus einzelnen Gedichten einem roten Faden folgt oder, um es im akademischen Jargon zu sagen: das beharrlich einen Topos kultiviert – den der Landschaft.
Die Rede vom „Topos“ ist anlässlich Wulf Kirstens in der Tat nur allzu berechtigt: „Landschaft“ ist für ihn, wie er nicht müde wird zu wiederholen, nämlich ein charakteristischer Punkt, ein ,Ort‘ im geographischen Raum, dem eine unverwechselbare Erscheinung mit spezifischen geographischen, geologischen, historischen, botanischen, sprachlichen, landwirtschaftlichen, allgemein ,menschlichen‘ Koordinaten eigen ist. Dieses Spezifische oder Charakteristische, wie er unter Berufung auf Theodor Fontane, den Spaziergänger durch die Mark Brandenburg, hervorhebt, der Landschaft als Topos im Raum ist der Punkt, der Kirstens gesamte Lyrik ,trägt‘, auf den hin sie ausgerichtet ist.
Landschaft ist historisch gewachsene, kultivierte Natur – das hat der in kleinbäuerlichen Verhältnissen großgewordene Dichter von früh an vor Augen gehabt; dabei waren es weder die malerischen Weinhänge an den Elbterrassen noch die einsam romantische Auenlandschaft von Caspar David Friedrichs Großen Geheege, die zunächst seine erde bei Meißen bestimmten, sondern von Stein und Geröll zu befreiende, mühevoll Jahr für Jahr mit der „Ackerwalze“ zu bestellende parzellenartige Getreide-, Kartoffel-, Kraut- und Rübenäcker, an denen der Blick des Lyrikers sich schulte.
Alles, was an ,reiner Natur‘ – sofern sich seit dem historischen Hinzutreten des Menschen Natur überhaupt von Landschaft abstrahieren lässt – vorhanden bzw. von Dichtern vergangener Generationen noch und nöcher als ,Natur‘ besungen worden war, bricht sich bei Kirsten an diesem Archetyp bearbeiteter Natur, der bis zu den ersten Ackerbauern und Viehzüchtern, biblisch gesprochen zu Abel und Kain hinabreicht: eine elementare landschaftliche Dimension seiner Lyrik, auf die Interpreten wie Martin Walser schon früh vorgewiesen habe und die durchaus bewusst von ihm einkalkuliert worden ist, war doch die bäuerliche Existenz in jenem linkselbischen ,Winkel‘ von Welt, als welchen Kirsten sein Klipphausen, wo er 1934 geboren wurde und aufwuchs, beschreibt, bis zur sozialistischen Zwangskollektivierung ein Hort archaischer Residuen schlechthin; was andernorts seit Jahrzehnten, gar über ein Jahrhundert zurückgedrängt oder längst ausgelöscht war, hatte hier an der sächsischen Peripherie sprichwörtlich im Schatten überwintert. Diese – inzwischen selber längst im Orkus anderer großflächiger Kultivierungen verschwundene – Landschaft trägt Kirsten wie eine Arche Noah durch all seine Gedichte mit sich. Aus ihr stammen die Grundvorstellungen und Grundbegriffe seiner Poetik, sie liefern ihm Bilder und Worte für das lyrische Grundbuch, sein lyrisches Grundbuch, an dem er unablässig geschrieben hat und dem der Ammann-Verlag im Jahr 2004 im Jubiläumsband zum 70. Geburtstag des Autors den Titel erdlebenbilder gab.
Landschaft ist die Natur, in die der Mensch sich seit seiner Sesshaftwerdung als Kollektivwesen eingeschrieben hat, mit seinen materiellen Bedürfnissen (den mineralischen Bodenschätzen unter, den organisch gedeihenden über Tage), seinen Macht- und Herrschaftsansprüchen, seiner Gewalt, aber auch einer jahrhundertelangen Kontinuität weitgehend friedlichen Miteinanders, seiner terrestrischen Verwurzelung, seiner ,Bodenständigkeit‘, seinem Besitzdenken wie seiner Besessenheit – bis hin zu himmlischen, spirituellen Anwandlungen, die ihm der Anblick der Landschaft schenkt. All diese Aspekte fließen in Kirstens Begriff von Landschaft ein. Was sie für das moderne, zeitgenössische Gedicht bedeuten und wie dieser Begriff in einer modernen Poetik des Gedichts aufgehen kann, darüber hat kein zweiter so häufig nachgedacht, sich permanent so deutlich verbreitet wie Wulf Kirsten. Dank Wulf Kirsten finden wir im zeitgenössischen Gedicht überhaupt einen Begriff von Landschaft vor, und seine Empörung ist aus diesem Blick nur zu gut nachzuvollziehen, wenn es heute jemandem einfällt, Natur und Landschaft noch immer gedanklich miteinander zu vermengen, als könne er nicht zwischen einem umgepflügten Rübenacker und dem Amazonasbecken unterscheiden (und selbst letzteres ist für jene, die es als Indios bewohnen oder als Landvermesser oder Forschungsreisende kartieren, wiederum eine ,Landschaft‘).
Denkfaulheit ist keine Entschuldigung vor Kirstens unbestechlichem Blick, der uns den fundamentalen Gegensatz zu akzeptieren zwingt, dass aus einer dritten, empirisch abstrahierten, sich künstlich isolierenden Perspektive ,über‘ Natur schreiben und dichten, die Natur ,besingen‘, etwas ganz anderes ist als mit und in und von ihr leben und aus dieser Perspektive, als an der Natur teilnehmendes, sie jedoch auch unentwegt mitgestaltendes menschliches Wesen, kommt Kirstens Landschaftsbegriff. „Grün“ sein ist für ihn kein Ökobewusstsein umweltsensibler Städtebewohner, sondern die ,natürliche‘ Geisteshaltung dessen, der weiß, dass all unsere Begriffe von ,Natur‘ sich eigentlich aus der Landschaft heraus gebildet haben, die unsere – in der Mehrzahl bäuerlichen – Vorfahren über Jahrhunderte hinweg kultiviert: gestaltet, gepflegt, als Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen in ihrer Vielfalt bewahrt haben. Ökologisches Bewusstsein ist Kirstens Gedichten jenseits ideologischer Ausrichtungen allein ihres landschaftlichen Bewusstseins wegen eingeschrieben, das bei ihm häufig; wenn nicht gar grundsätzlich landwirtschaftliches Bewusstsein mitmeint.
Darin unterscheidet sich Wulf Kirsten zum Teil erheblich von den Lyrikern, an denen er sich orientiert hat, aber teilweise auch von lyrischen Zeitgenossen, für welche die Landschaft an prominenter Stelle in ihrer Poetik steht. Fälschlicherweise werden Autoren wie Oskar Loerke, der junge Günter Eich, Wilhelm Lehmann, Elisabeth Langgässer, Peter Huchel, Marie Luise Kaschnitz oder Friedrich Georg Jünger in Literaturgeschichten noch immer mit dem Label „naturmagisch“ versehen, obwohl es wenig bis nichts über die poetologischen Hintergründe dieser doch sehr verschiedenen, aus unterschiedlichen Impulsen schreibenden und in unterschiedlichen Traditionen beheimateten Autoren sagt, die einen für Kirsten entscheidenden Zeitraum, nämlich die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen dem Ende des Expressionismus und dem Kahlschlag des Kriegsendes lyrisch zu kultivieren suchten – eine Epoche deutscher Dichtung, die aus naheliegenden historischen Gründen das Scheitern, den Abbruch, die Aufgabe, Verzweiflung und Auslöschung als Stempel und Stigma über ihren allesamt vielfältigen und interessanten Versuchen kleben hat. Gerade in der Charakterisierung der deutschsprachigen Lyrik des Zeitraums zwischen ca. 1920 und 1945 tut man sich bis heute schwer, wenn man sie in mehr als den bekannten historischen Zäsuren zu fassen bekommen möchte – denn die Zeit von Gedichten läuft nicht zwangsläufig parallel zur historischen Zeit.
Kirsten spricht in Bezug auf die ihn kunsthistorisch am meisten prägende sächsische Malerschule gern vom „expressiven Verismus“; vielleicht wäre es angeraten, diesen Begriff einmal probeweise auf die in jener Epoche entstandene deutschsprachige Lyrik anzuwenden – er könnte den Blick für neue Akzente, unerwartete Kontrastbeziehungen und Kontinuitäten zwischen den bekannten Schulen und Epochen schärfen. Neben den Kirstens Poesieverständnis prägenden Leuchttürmen George und Brecht – zwischen dem vermeintlichen Gegensatzpaar besteht für ihn ein notwendiger Zusammenhang: die neuartige, dahergesagte Sprache ent-alltäglichende, erhabene Form, die sich für ihn unabdingbar wieder im Profanen, Subjektiven und Politischen bricht – war es die auf eine bestimmte, historisch verschwundene Landschaft hin geschriebene Poetik Johannes Bobrowskis, von welcher ausgehend sich Wulf Kirsten zunächst seine Ziele setzte. Galt Bobrowskis in drei Gedichtbänden beschworene Melancholie jenem imaginären ,Sarmatien‘, hinter dem sich das verlorene Urstromtal der Kindheit, die ost- und westpreußischen Landschaften zwischen Kurischer Nehrung, Weichsel und Düna versteckten, so schwebte Kirsten Ähnliches vor mit jenem linkselbischen Armeleuterevier, aus dem er 1960 zum Studium nach Leipzig aufgebrochen war, das er jedoch weder vergessen wollte noch konnte, sondern das bis heute den imaginären Grundstock seiner Poesie bildet. Mit den in der Deutschen Bücherei in Leipzig angelesenen, ja gierig einverleibten Werken der deutschsprachigen und internationalen modernen Poesie und vollends seit seiner Tätigkeit als Lektor für den Aufbau-Verlag in Weimar ab 1965 verband er die kaum bekannte, alles andere als klassisch ,schöne‘ Landschaft seiner hinterwäldlerisch kargen bäuerlichen Herkunft mit einer bewusst auftrumpfenden, expressiven Sprache und Bildlichkeit, die man sonst höchstens vom metropolitanen deutschen Expressionismus, dem französischen Surrealismus, dem russischen Akmeismus und Konstruktivismus oder dem hierzulande weniger vertrauten, für Kirsten jedoch enorm einflussreichen tschechischen Poetismus kannte.
Auch die Genauigkeit der imagistischen Bildsetzung, wie man sie bei William Carlos Williams findet, oder das Pathos Walt-Whitman’scher Landschaftsbeschwörung waren diesen Gedichten nicht fremd, die 1968 mit satzanfang den trotzigen Sprung in die DDR-Öffentlichkeit wagten, jedoch zugleich gesamtdeutsch wahrgenommen wurden. Vor allem Genauigkeit: da macht nicht einer seine Sieben Sätze über meine Dörfer, da setzt einer im selben Atemzug Wort für Wort das Gedicht zu einem monolithischen Block zusammen. Spannungen, zwischen denen es zu leben, Kontraste, die es auszuhalten gilt – all das ist hier gleich zu Anfang in die für den Lyriker entscheidende Grundopposition zwischen wörtlicher und übertragener Rede gebannt: einen Satz machen vs. „einen Satz machen“, in der Differenz dieser Bedeutungen, mit denen sein veröffentlichtes CEuvre beginnt, paaren sich Statik, die sich an einer bewusst gesetzten lyrischen Form abarbeitet, mit der Dynamik des Erzählverlaufs, von Bildern, Stimmen und Redensarten, die als imaginärer wie narrativer Überschuss die gesetzte Form zugleich wieder – und zum Vorteil des Gedichtes – unterwandern.
In dieser Grundspannung, die man auf Kirstens Lebensthema bezogen auch als den elementaren Widerspruch zwischen wahrgenommener und in der Wahrnehmung sich permanent verändernder Landschaft bezeichnen könnte, kommen die Folgebände Wulf Kirstens ans Tageslicht, die im Titel immer schon zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung oszillieren: der bleibaum 1977, den Letternstock des Buchdruckers einerseits, andererseits die ökologische Bedrohung, die Vernichtung der Landschaft umschreibend, und sein endgültiger lyrischer Durchbruch in Ost und West, die erde bei Meißen, 1986, der doch in der vermeintlich eindeutigen landschaftlichen Beschränkung, der irdischen Enge und Provinzialität auch das genaue Gegenteil, den Himmel, die Weite und das Hinaus- oder Hinübertreten meint – denn hört man beim Klang des Ortsnamens nicht ebenso die Meisen zwitschern, sieht sie ihre Flügel über die irdische Misere hinweg spreizen? Wulf Kirsten ist stets auch ein Meister der gelungenen Andeutung, des subtilen Wortspiels, dessen Sinn man sich mehrfach auf der Zunge zergehen lassen muss.
Spätestens seit die erde bei Meißen erfuhr Wulf Kirsten die Resonanz, die ihn über damals noch existierende Grenzen hinweg mit seiner Orientierung am Landschaftlichen einerlei Sinnes mit ansonsten aus anderen Richtungen kommenden Dichtern sein ließ, dem nur um zwei Jahre älteren Jürgen Becker vor allem, der 1974 mit Das Ende der Landschaftsmalerei und 1988 mit dem Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft poetische Marksteine gesetzt hatte, hinter denen nicht mehr zurückzubleiben ist – Lutz Seilers Laudatio auf den Büchnerpreisträger des Jahres 2014 stellt es eindringlich unter Beweis –, oder dem um neun Jahre jüngeren Michael Krüger, der in seinen Gedichtbänden immer wieder die ländliche Kindheit im Dreiländereck zwischen Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen beschworen hat, die mit der Zementierung der deutschen Teilung für ihn verloren gegangen war. Gerade Michael Krüger wird nicht müde, die Bedeutung Wulf Kirstens hervorzuheben für eine Gegenwart, in der nichts als ein paar gegen den Strom gesetzte Gedichte das Verdrängte, Vergessene, Verpönte oder als nutzlos und unrentabel erachtete, das Marginale, Abseitige und Widerstrebende aufzuheben vermögen. Wulf Kirsten steht für die Kraft des lyrischen Beharrens in einer dem Beharrlichen abholden Effizienz- und Eventkultur, der man das Grundwort ,Kultur‘ zu verleihen sich scheut.
Nicht nur hat Wulf Kirsten seine Vorliebe für Außenseiter, Unbemerkte, Verlachte und Verlorene, für die in der allgemeinen Aufmerksamkeit zu kurz Gekommenen mit seiner fundamentalen Anthologie Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan aus den gut sechs Jahrzehnten der klassischen Moderne aufs Akribischste unter Beweis gestellt – was er hier an Namen und Texten dem Orkus des kulturellen Vergessens entreißt und als Anregung zur ästhetischen Anfütterung der Gegenwart aus einer äußerst vielstimmigen Epoche weiterreicht, ist von der Forschung noch lange nicht hinreichend gewürdigt worden –; er selber bekennt sich in seiner Lyrik, besonders den Porträtgedichten, emphatisch zum Außenseitertum. Seine in Verse gegossenen Biogramme von Hölderlin, Kleist, Rimbaud, dem Bohemien Iwar von Lücken und anderen gescheiterten Abenteurern, Lebenskünstlern und Kunstpropheten sind ein kleiner Alternativkanon aus der Warte einer Wahrnehmung, die dort auf abgründige Entdeckungen ausgeht, wo andere nicht einmal einen Blick hinüber werfen.
Das ist auch in geographischer oder botanischer Hinsicht der Fall: Wer seine Lyrik kennt, wird kaum überrascht sein, ihn im Gespräch vom kleinsten, verborgensten Dorf Thüringens oder der morphologisch hochkomplexen Elsbeere fachsimpeln zu hören. Das Abseitige ist die Passion des Lyrikers, sicher weniger, weil es ihn auf seine eigene Randstellung in der öffentlichen Aufmerksamkeitsskala verweist, sondern vor allem, weil aus diesem Perspektivwechsel ein ästhetisch ver-rückter Blick auf die umgebende, vermeintlich vernünftige Welt möglich wird, der ihre eigenen Widersprüche mit beißender Schärfe bloßzustellen vermag. Diese Weltsicht behauptet sich und mit ihr den einzelnen in einer Landschaft, die Zug- und Autobahnreisende nurmehr vom Hindurchrauschen kennen. Das Zufußgehen ist für Kirsten immer noch die sinnlich intensivste und im besten Wortsinn bodenständigste Daseinsform: Der ,wandelnde Anachronismus‘ ermöglicht einen unerschöpflichen Hinzugewinn an Raum, Zeit und Empfindung. Das Gefühl für die Landschaft kommt bei ihm erst im buchstäblichen Kontakt unter den Füßen auf – um hinterher jedoch, und sei es um Jahrzehnte später, am Schreibtisch verschriftlicht zu werden. Dieser irdisch-sinnliche Kontakt verschafft ihm das Rohmaterial zu seinen Gedichten.
Die Verwandlung von leibhaftig ergangener Landschaft in Schrift, auf die er selbst immer wieder hingewiesen hat, heben auch die hier zusammengetragenen Beiträge mit jeweils verschiedener Akzentsetzung hervor. Schwerpunkte, wiederkehrende Topoi, Leitmotive seiner Arbeit werden auf diese Weise sichtbar gemacht: Bei Pia-Elisabeth Leuschner etwa die mächtige Vorgabe von Luthers Bibeldeutsch als Hintergrund seiner lyrischen Wortwahl; die poetische Selbstvergewisserung im Porträtgedicht und der Verweis auf persönliche „Leuchtbojen“, wie sie Bernhard Böschenstein bei der Droste, Jan Urbich bei Hölderlin und Hermann Korte in Kirstens Biogrammen insgesamt finden; die Bibliothek als der Landschaft komplementärer Daseinsraum (Michael Knoche); die Vorliebe für die, die sonst keinen haben, der ihnen eine Stimme verleiht (Nancy Hünger); für die Vögel, deren Stimmen und Flüge in der Landschaft lesbar gemacht sein wollen (Jan Röhnert), ebenso wie die eine Landschaft prägende Botanik und deren aktuelle Auswüchse und Gefährdungen (Harry Oberländer) – und nicht zuletzt all die Räume, die Kirsten über die provinzielle Enge hinaus immer schon in Anschauung und Lektüre beflügelt haben: die moderne Poesie und deren vielsprachiger Horizont (Stéphane Michaud), die mit dem thüringischen Muschelkalk korrespondierende Provençe (Edoardo Costadura) schließlich Weimar als kosmopolitischer Ort, an dem die deutsche Literatur in Zeiten der politischen Teilung schon früh wieder an einem gemeinsamen Tisch sitzen konnte (Hans Christoph Buch).
Mein Dank gilt allen, die diese Sammlung ermöglichten, indem sie mit ihren Texten dazu beigetragen haben, das Projekt ideell begleiteten, die Publikation redaktionell und finanziell unterstützten. Thea Gerdes möchte ich besonders für die Verschriftlichung der Gespräche danken, Monika Kummer für das Korrekturlesen, Ursula Haeusgen und Holger Pils vom Münchner Lyrik Kabinett für die Aufnahme in ihre wunderbare Reihe sowie natürlich Wulf Kirsten selbst für das Vertrauen in dieses Vorhaben, seine Auskunftbereitschaft und die Großzügigkeit, mit der er die neuen Gedichte zur Verfügung stellte. Ohne die Hilfsbereitschaft von Antje Contius und der S. Fischer Stiftung sowie der Thüringer Staatskanzlei (Frau Ministerpräsidentin a.D. Christine Lieberknecht) und das Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Kunst (Christoph Matschie) hätte es weder zum Braunschweiger Wulf-Kirsten-Kolloquium noch der hier vorgestellten Publikation kommen können. Es ist nun an uns, in die Landschaft hinauszutreten, die Wulf Kirsten beim Wort genommen hat. 

Jan Röhnert, Braunschweig, im Herbst 2015, Vorwort

 

Inhalt

– Jan Röhnert: Wulf Kirsten oder: Die (Re-)Kultivierung der Landschaft im zeitgenössischen Gedicht. Anstelle einer Einleitung

– Wulf Kirsten: Neue Gedichte

– „Ich schreibe wie ein Quartalssäufer“. Ein Gespräch mit Wulf Kirsten

– Hans Christoph Buch: Kleine Hommage an Wulf Kirsten

– Wulf Kirsten: werktätig

– Hans Christoph Buch: Poetische Archäologie 

– Michael Knoche: Wulf Kirsten, der Bibliotheksfreund

– Jan Urbich: Wulf Kirstens Hölderlingedicht „curriculum vitae“. Anmerkungen zu Hölderlin-Spuren in Wulf Kirstens Lyrik

– Bernhard Böschenstein: Wulf Kirsten und Annette von Droste-Hülshoff

– Pia-Elisabeth Leuschner: „das durchaus scheißige dieser unserer zeitigen herrlichkeit.“ Christliches Erbgut in der Lyrik Wulf Kirstens

– Nancy Hünger: „deinesgleichen, meinesgleichen – geschichtsfähig gemacht.“. Unsortierte Gedanken zu Kirstens Helden der kleinen Verhältnisse

– Stephane Michaud: Frankreich als geheime Ader in der Lyrik Wulf Kirstens

– Edoardo Costadura: Wulf Kirstens französisches Terrain – die Provence (Pagnol, Roth, Giono)

– Jan Röhnert: Turmfalke und Grasmücke. Kirstens Luft-Raum

– Harry Oberländer: Der Dichter und das fremde Kraut

 

 

Dem auf der „Erde bei Meißen“ geborenen Dichter

Wulf Kirsten ist diese Sammlung mit neuen Gedichten aus seiner Feder, einem ausführlichen Interview und elf Lektüren eines „Klassikers der Gegenwart“ gewidmet. Die Beiträge öffnen unvorhergesehene Perspektiven auf ein facettenreiches, in über 50 Jahren Autorschaft gewachsenes lyrisches Œuvre, das gleichwohl wie eine lange Erzählung einem roten Faden folgt – dem der Landschaft. Alles, was an ‚reiner Natur‘ von Dichtern vergangener Generationen immer wieder als ‚Natur‘ besungen worden ist, bricht sich bei Kirsten am Archetyp bearbeiteter Natur: eine Lyrik von elementaren Dimensionen, die gleichwohl mitten in der Gegenwart ihren Standort behauptet, sei es in Jean Gionos Provence, sei es unter den Botanikern, den Ornithologen, in Luthers Bibel, der Bibliothek oder in der Verwandtschaft Hölderlins und Annette von Droste-Hülshoffs.
Jenseits der Moden des Literaturbetriebs gehört Kirstens „Sprache, in der man sich verproviantieren kann gegen Geschwindigkeit, Anpassung, Verlust“ (Martin Walser) zum wahrhaft Bleibenden, was die deutschsprachige Poesie der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat.

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2016

 

Das Leben sticht wie eine Distel

Leuchtbojen“ nennt der aus Sachsen stammende, seit 1965 in Weimar ansässige Lyriker Wulf Kirsten seine literarischen Vorbilder, Dichter wie Heinrich Heine, Johannes Bobrowski oder Antonio Machado, „auf die man zusteuert, wohl wissend, dass man sie nie erreichen wird“. Eine dieser Bojen ist für mich Kirsten selbst, auch wegen seiner Ernst- und Standhaftigkeit…

(…) 

Gegen das Prädikat des Naturdichters hat sich, schon zu DDR-Zeiten, auch Wulf Kirsten gewehrt: Eigentlich sei er ein Landschaftsdichter. Der Unterschied ist wichtig, das betont der 1934 in der Nähe von Meißen Geborene im Sammelband Wulf Kirsten – die Poesie der Landschaft (mit Vorträgen, die zu Kirstens 80. Geburtstag gehalten wurden) auch sein italienischer Übersetzer Edoardo Costadura. Kirsten, schreibt er, verstehe Natur stets als Geschichte.

Der Landschaft sind nicht nur die Erdenzeitalter, sondern auch die Menschenzeitalter eingeschrieben.

Ebenso die Spuren menschlicher Arbeit, bis hinein in das „Würgmal“ eines Baumes, das am gehobelten Türpfosten sichtbar bleibt. Der Hinweis stammt von Franz Kain, dessen erzählerisches Schaffen Kirsten in seiner Auffassung von der Geschichtlichkeit der Natur vermutlich bestärkt hat. Überhaupt ist Wulf Kirsten einer der besten Kenner österreichischer Literatur, der einem auf den eigenen Entdeckungsreisen zu den unbekannten, verschollenen oder vergessenen Landsleuten oft weitergeholfen hat; schade nur, dass dieser Aspekt seiner Forscher- und Vermittlungstätigkeit in dem langen, mit Scharfsinn und Hingabe geführten Gespräch zwischen ihm und dem Herausgeber Jan Röhnert kaum zur Sprache kommt.
Glanzstücke des Bandes sind natürlich Kirstens eigene Gedichte, unter ihnen ein biografisches aus dem Vorjahr, „am ende aller tage“, das mit der an sich selbst gerichteten Frage einsetzt, „was hab ich vollbracht? vergebliche frage, / kein haus gebaut, / keinen acker bestellt, der mir zu eigen, / auf eigentum gepfiffen, diesen / und jenen berg bezwungen, / nie höher als dreitausend, unmögliches möglich / gemacht“, dann in einer sachlichen, dabei ungemein nuancierten Sprache und in genau verorteten Bildern an Kriegsende und Nachkrieg erinnert und am Ende bescheiden Bilanz zieht: 

… wer war denn ich,
der dies erlebt haben soll? wahrlich,
ich hab nichts vollbracht für die dauer,
ich tat keine großen dinge.

Obwohl viel gereist und in der Weltliteratur bewandert, ist Kirsten doch den Erfahrungen seiner Dorfkindheit treu geblieben. Das zeigt sich in Gedichten wie „werktätig“, wo er in äußerster Knappheit einen ganzen Kosmos bäuerlicher und handwerklicher Verrichtungen entfaltet, oder „die ackerwalze“, in der die Schinderei seiner Eltern, die mangels eines Geräts aus Eisen einen gestürzten Grabstein übers Feld ziehen, aufgehoben ist in der im Lehm sich abzeichnenden Inschrift:

geliebt, beweint und unvergessen

Die Lyrikerin Nancy Hünger führt in ihren „Unsortierten Gedanken zu Wulf Kirstens Helden der kleinen Verhältnisse“ einen zentralen Begriff zum Verständnis seiner Poetik ein, den schon Nessi genannt hat: Gemeinschaft.

Die Transformation der bäuerlichen Gemeinschaft in die Vermassung der Fabrikarbeiter erodierte nicht allein den natürlichen Werkinstinkt, entkoppelte die Arbeit von den Begriffen Würde, Wert und Ehre unaufhaltsam, sondern ebenso ein besonderes zwischenmenschliches Gefüge, das autonom, von einer strengen, eigenen und nichtverhandelbaren Logik geprägt und damit unanfällig für Manipulationen und Veränderungen war.

Der Satz soll nicht als Verklärung früherer Verhältnisse missverstanden werden, was auch nicht Kirstens Absicht wäre.
Besser, man koppelt ihn an Walter Benjamins Ausführungen „über den Begriff der Geschichte“, in denen er die vulgärmarxistische Sichtweise kritisiert, die „nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben“ wolle. Gegen diese und ähnliche Irrtümer führt Kirsten einen zweifachen Kampf: indem er sich der Welt seiner Herkunft versichert; und indem er den Reichtum der ihr eigenen Sprache bewahrt. Er ahnt, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen ist. Aber das ist dem Dichter, der am 21. Juni 82 Jahre alt wird, hoffentlich kein Grund, aufzugeben. 

Erich Hackl, Die Presse, 17.6.2016

Neue Lyrik von Wulf Kirsten

– Wulf Kirsten ist ein preisgekrönter Wortsteinmetz. Mit der von Menschen kultivierten Natur im Blick schuf er den neuen Gedichtband Die Poesie der Landschaft. Heute Abend liest er im Lyrik-Kabinett in München daraus vor. –

In die Wiege gelegt war ihm das Dichten nicht: Wulf Kirsten, Sohn eines Steinmetzes, später Mehlkaufmann, Bauarbeiter, Buchhalter, bevor er an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät Abitur machte, in Leipzig studierte, erst Lehrer wurde, dann Lektor des Aufbau-Verlags in Weimar. Eine „krummbeinige Biographie“, sagt der preisgekrönte, etwas knorrige Wortstein-metz, der die Wörter dreht und wendet. Subjektiv und gleichnishaft zugleich sind seine Gedichte, und was steht am Anfang?

Ein Wort! Und dann entzündet sich das ganze Gedicht an einem Wort. Wulf Kirsten

Wandern – Zeit des Findens
„Bezeichnungssüchtig“ nennt er sich. Einst Mitarbeiter eines Wörterbuchs für sächsische Mundart, sucht Wulf Kirsten heute selbst in Wörterbüchern, Lexika, auch der Bibel nach neuen Begriffen, erfindet Wörter wie „Erdlebenbilder“, „Wegrandworte“ oder „Stimmenschotter“ für Wörter, die im Sprachfluss der Gesellschaft am Rande liegen blieben. Wandern und Schreiben sind sein Lebenselixier; Wandern als Gegenbewegung zum Beschleunigungswahn, als Zeit des genauen Hinschauens und Findens. Für Wulf Kirsten ist Finden allemal wichtiger als Erfinden, ein Notizblock überflüssig, er ist ein „Schreibtischtäter“, und die Schreibmaschine denkt mit.

Man muss speichern im Kopf und aufbewahren. Und ich habe oft gesagt, dass ich wie ein Quartalssäufer arbeite. Es gibt Phasen, wo ich nichts schreibe, und dann gibt es wieder Phasen, wo ich hintereinander weg schreibe. Wulf Kirsten

Poesie führt in Herders Garten
Als „Landschafter“ rühmte ihn der begnadete Kollege Adolf Endler; nicht als Naturdichter, sondern einen, der die von Menschen kultivierte Natur in den Blick nimmt: verlorene Landschaften, Menschen, Ereignisse, Orte, Verwüstungen, eher Heimatverlust als Heimat. Lange bedichtete Wulf Kirsten die Dresdner und Meißener Umgebung, seine Herkunftslandschaft, später, nachdem er schon zehn Jahre dort lebte, auch Weimar. Seine Poesie führt in Herders Garten, folgt Spuren Kafkas und Feiningers, auf den Ettersberg, nach Buchenwald, Weimars doppeltem Gedächtnis mit dem faschistischen und dem stalinistischen Arbeitslager.

Aus seiner Wohnung musste Wulf Kirsten nach 40 Jahren ausziehen: Das Jugendstilhaus wurde kernsaniert, die Miete unbezahlbar, wie oft in Weimar nach der Wende, die Wulf Kirsten Umbruch nennt.

Es kamen reiche Bundesbürger, haben sich in eine Villa verliebt, haben sie gekauft, vielleicht für eine Million, und dann haben sie nochmal 800.000 draufgelegt, um sie sanieren zu lassen, das kann sich nicht jeder leisten. Und dieses Geschäft ist jetzt weitgehend abgeschlossen, innerhalb von 10 Jahren ist das passiert. – Man hat die Stuckdecken zerstört und mit Gipsplatten abgeschlagen, ganze Wohnungsstrukturen zerschlagen, um möglichst viel Miete raus zu schinden. In Weimar spielte die Salon-Kultur eine große Rolle, es gibt da große, saalartige Räume, Parterre und Hochparterre. Weimar war eine sehr konservative Bürgerstadt und auch entsprechend rechtslastig, das ist ja bekannt. Wulf Kirsten

Erfahrung mit Rechtsradikalen
Im November 89 hatte Wulf Kirsten für das Neue Forum auf dem Theaterplatz über Demokratie und Wendehälse gesprochen und an die Bürger appelliert, sich nicht zurückzulehnen, sondern mitzuhelfen. Demokratie, das wusste er, ist nicht selbstverständlich, Rechtsradikale gab es auch in der DDR und im Herbst 89.

Wir haben demonstriert, es war ja dann oft schon dunkel, und hinter mir brüllte es „Deutschland erwache!“ und solche Nazi-Parolen, da wusste ich, dass ich im falschen Marschzug bin. Wulf Kirsten

Aus der Politik und dem Amt eines Stadtverordneten hat sich Wulf Kirsten längst zurückgezogen. Heute wünscht er sich eine wirklich wehrhafte Demokratie, ein Verbot der NPD und ein entschlosseneres Vorgehen gegen Rechts.

Wir haben einen großen Enkel, der ist 18, der engagiert sich politisch ganz aktiv als Linker. Und wir haben Angst, wo der überall hingeht und sind heilfroh, wenn der heil zurückkommt, wenn die Rechten aufmarschieren, und die werden ja überall geschützt von der Polizei. – Eine Diktatur lässt sich leichter dirigieren. In einer Demokratie ist das viel schwerer, störanfälliger usw. Aber ich wünsche mir eine wehrhafte Demokratie, die sich nicht aushöhlen lässt. Wulf Kirsten

Cornelia Zetzsche, BR 24, 2.3.2016

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Christoph Fricker: Präzisionslust der Landschaftslyrik
literaturkritik.de, Juli 2016

 

 

Nachruf auf eine versunkene Welt.

– Der Landgänger Wulf Kirsten. –

Geboren bin ich 1942 in Ehingen am Hesselberg. In einem mittelfränkischen Dorf mit rund tausend protestantischen Seelen. In diesem Ort gab es vielleicht hundert kleine Höfe, oft nur wenige Tagwerke groß, ein paar Dutzend mittlerer Anwesen mit ca. 10 Hektar und schließlich ein paar stattliche, den Moarbauer und den Widemhof mit etwa hundert Morgen. Zu den Fütter- und Melkzeiten wurde mein Kinderwagen in den Stall gestellt, damit meine Mutter ihre Arbeit tun konnte und mich trotzdem in Auge und Ohr behielt.
Das Muhen der Kühe, das Klirren der Ketten, das Klatschen des Mistes – diese Geräusche habe ich mit der sprichwörtlichen Muttermilch eingesogen. Wenn Moritz, der französische Kriegsgefangene, den Kopf des Kalbes, das er zur Mutterkuh führte, über meinem Bettchen aufgehen ließ, muss ich zur Mumie erstarrt sein. Was Todesangst war, konnte ich nicht sagen, aber ich habe sie erlebt. Sie war flotzmäulig und milchschaumverschmiert. Später lernte ich am Ochsengespann des Nachbarn Goschabauer, dass Rinder auch ein Geschlecht hatten: „A setta Kuah habe ich aa noni gseha, dia wu ko Eiter hot“ staunte ich, als er seine Gangochsen auf dem Vorkopf seines Kreuzhof-Ackers wendete. Er lachte. Meine Lehre als Bauernkind war noch längst nicht abgeschlossen.
Als ich bis fünf zählen konnte, hätte ich in frühreifer Statistik feststellen können, es gab im Dorf vier Schuster, vier Metzger, zwei Müller, zwei Bäcker, zwei Schreiner, zwei Zimmerleute, zwei Schmiede, zwei Wagner, zwei Maurer, einen Stubenmaler, einen Büttner, einen Säuschneider, einen Elektriker, eine Gänsehirtin, einen Milchprüfer, fünf Gastwirte. Für einen Dreikäsehoch war nichts spannender, als den Handwerkern bei der Arbeit zuzusehen; wie der Bäcker die Brezeln flocht, wie der Schuster kleine Holzstifte durch das Sohlenleder trieb, wie die Zimmerleute mit blau schnalzenden Schnüren dem schief gestielten Beil auf dem Balken den geraden Weg wiesen, wie der Schmied, von verbranntem Horn umwölkt, einen Gaul beschlug, wie der Müller schließlich mehlbestaubt in offenem Aufzug gen Himmel fuhr.
Ein Kind konnte sich kaum vorstellen, dass es anderswo eine ähnliche agrarisch-handwerkliche Landschaft gab. Und doch war es so – auf der Erde bei Meißen. Ich studierte Germanistik „wal ma ja wegmuaß vo der Kuah ihrn Arsch“, und heuerte dann in der Literaturabteilung des Hessischen Rundfunks an. Dort richtete ich 1973 ein DDR-Kulturmagazin ein und kümmerte mich vor allem um die Autoren des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaats. Reiner Kunze wies mich nachdrücklich auf den Kollegen Wulf Kirsten hin, dessen Gedichtband Der Bleibaum gerade bei Aufbau erschienen war. Ich besorgte mir das Buch, däumelte und las im Gedicht „werktätig“:

ein schmiedefeuer mit dem blasebalg entfachen,
den feldern ein schön ansehen machen,

einen baum auf den stock setzen,
die sense mitten im schwaden wetzen,

das getreide hinter dem mäher abraffen,
den halben abend aufs feld hinausschaffen,

korn aufschütten, ein pferd beschlagen,
den segen der kultur im korbe tragen,

die haferkluppen förscheln und flegeln,
einen steinblock aufbänken und schlegeln,

ein heufuder bäumen, das vieh beschicken,
einen brüchigen topf mit draht einstricken,…

Zwar verstand ich nicht jedes Wort auf Anhieb, aber mir war sofort klar, dass hier eine Brücke zwischen Ost und West geschlagen wurde. Es war die Beschreibung einer versinkenden, ja versunkenen Welt, der handwerklichen Manufaktur und der Landwirtschaft vor der Mechanisierung. Da, in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, wurde noch wie im alten Franken mit der Sense gemäht, es gab noch keine Bindemäher oder gar Mähdrescher. Das Getreide wurde hinter dem Mäher von einer zweiten Person mit der Sichel gesammelt und in losen Garben abgelegt (fränkisch Sammler); gedroschen wurde das Getreide noch mit dem Flegel, dann, so ergänze man, gegen Wind geworfen oder durch eine winderzeugende Putzmühle getrieben – „die Spreu vom Weizen trennen“ nannte das der Volksmund –, schließlich wurde es auf dem Getreideboden aufgeschüttet. Haferkluppen waren vermutlich zum Schutz vor dem Regen zusammengestellte Garben. Aber was förscheln bedeutete, entzog sich mir. Das Grimmsche Wörterbuch, das mir im Unterschied zum Meißnischen zur Hand war – Kirsten hatte eine Weile am Wörterbuch der Obersächsischen Mundarten mitgearbeitet –, belehrte mich, Forscheln sei eine Variante zu forschen, genau untersuchen. Der vorgegebene Rahmen – streng gereimte Knittelverse – erlaubte es dem Autor nicht, enzyklopädische Beschreibungen zu liefern, er musste in Kürzeln sprechen und verlangte vom Leser Neugier und eine gewisse Mitarbeit. Ein letztes Beispiel mag genügen.
Was hieß es, ein Heufuder zu „bäumen“? Es bedeutete, dass auf die Fuhre, die fünf, sechs Meter hoch sein konnte, eine kräftige fichtene Stange, der Wiesbaum, gelegt wurde, den man vorne und hinten mit Seilen festzurrte. Das sollte das Verrutschen der Ladung verhindern. Einen großen Fortschritt bei der Heuernte brachten traktorgezogene hoch umgitterte Ladewagen, die die Schwaden selbsttätig aufnahmen. Und dann der Feldhäcksler, der das Futter schon auf der Wiese in kuh-maulgerechte Portionen zerhackte und auf den Ackerwagen blies.
Die Entlastung der Bauern von schwerer und schwerster körperlicher Arbeit durch teure Maschinen war gewiss ein Pluspunkt im Rahmen der lange verhassten kollektivierten Landwirtschaft. Dennoch ließ sich Kirsten nicht zu einem Lob der Technik hinreißen. Er klagte über das Schwinden der bäuerlich-dörflichen Kultur und schloss den Niedergang des Handwerks mit ein. Die allgemeine Vergesellschaftung der Produktionsmittel war offenbar auch diesen Berufen mit ihrer langen Tradition nicht bekommen. Bei einem Besuch in Weimar im Mai 1977 sprachen wir über diese Entwicklung, und ich musste berichten, dass die Dinge in meiner Heimat ähnlich stünden. Das Dorf war bald ohne Handwerker und die gesamte Feldflur würden sich demnächst vier oder fünf Riesen-Betriebe unter sich aufteilen. Flurbereinigung à la EU.
Wir korrespondierten fortan, ich durfte bei der Verleihung des Elisabeth-Langgässer Preises in Alzey und bei der Ehrenpromotion Kirstens in Jena die Laudatio halten. 1999/2000, als Kirsten Stadtschreiber in Bergen-Enkheim war, hätten wir in Tuchfühlung leben können, aber der Weg von Frankfurt in den Vorort war weiter, als man dachte. Kirsten war keine Betriebsnudel. Er blieb auch in der hessischen Wetterau der „Landgänger“ aus östlicher Provinz.
Immerhin: Einmal saßen wir im Literaturhaus in Bockenheim zusammen. Ich hatte die Gründung eines Stammtischs für schreibende Bauernsöhne vorgeschlagen. Neben Wulf Kirsten und mir kamen noch Olaf Velte, ein Schafzüchter aus dem Taunus, und Ruthard Stäblein aus der Rhön. Arnold Stadler, der Vorgänger Kirstens in Bergen-Enkheim, wäre ein Kandidat gewesen. Und in jüngster Zeit hätte sich noch Ewald Frie zu unserem verlorenen Häuflein gesellen können, ein Prosaist und Geschichtsprofessor aus dem Münsterland, Verfasser des Buchs Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. Er schaffte es sogar auf die Bestseller-Liste des Spiegel. Die meisten von uns haben anscheinend mit unseren Pfunden nicht gewuchert.

Karl Corino, aus Unterwegs mit Wulf Kirsten. Eine Freundesgabe, herausgegeben von Wolfgang Haak, Michael Knoche und Christoph Schmitz-Scholemann, Elsinor Verlag, 2023

 

 

STIMMEN UND SPUR, WULF KIRSTEN

Selten gesehen. Briefwechsel gibt es
keinen. Die Gelegenheiten in der Akademie,
in Potsdam, Frankfurt, Freiburg mit
Gesprächen, Lesungen, Sitzungen in
einer Jury, kompetenter Kollege, renitent
bei Meinungsverschiedenheiten.

Nach Erfurt kam er ins Haus Dacheröden,
er kam aus Weimar, und ich denke,
nicht nur die 21 Kilometer
machten den Unterschied. Nachbarn
waren wir nie; seine Stimme
erreichte mich spät erst, als ich mit
dem Rücken lebte zu einer Kindheit,
die er dort erlebte, wo ich nicht mehr war.

Aber sie kam, diese Stimme, und
dieses imaginäre summen,
wie es die Stille sich ausdenkt, um
ungestört zu sich selbst zu kommen,
und sie erreichte mich zwischen Geräuschen,
die mich abgelenkt hatten von einer Spur,
die sich zog durch thüringische Gefilde,
lange verdeckt und verschlossen, und längst
offen wieder bis ins Heute.

Jürgen Becker

 

 

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Jan Röhnert – Interview mit Jan Röhnert in Toulouse am 3. Mai 2010.

 

Lesung Wulf Kirsten am 27.11.1991 im Deutschen Literaturarchiv Marbach

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.

 

Zum 70. Geburtstag von Wulf Kirsten:

Nico Bleutge: Sprachschaufel
Süddeutsche Zeitung, 21.6.2004

Michael Braun: Der poetische Chronist
Neue Zürcher Zeitung, 21.6.2004

Wolfgang Heidenreich: Gegen das schäbige Vergessen
Badische Zeitung, 21.6.2004

Tobias Lehmkuhl: Das durchaus Scheißige unserer zeitigen Herrlichkeit
Berliner Zeitung, 21.6.2004

Hans-Dieter Schütt: „herzwillige streifzüge“
Neues Deutschland, 21.6.2004

Frank Quilitzsch: Chronist einer versunkenen Welt
Lese-Zeichen e.V., 19.6.2004

Zum 75. Geburtstag von Wulf Kirsten:

Christian Eger: Leidenschaftlicher Leser der mitteldeutschen Landschaft
Mitteldeutsche Zeitung, 19.6.2009

Jürgen Verdofsky: Querweltein durch die Literaturgeschichte
Badische Zeitung, 20.6.2009

Norbert Weiß (Hg.): Dieter Hoffmann und Wulf Kirsten zum fünfundsiebzigsten Geburtstag
Die Scheune, 2009

Zum 80. Geburtstag von Wulf Kirsten:

Lothar Müller: Aus dem unberühmten Landstrich in die Welt
Süddeutsche Zeitung, 21./22.6.2014

Thorsten Büker: Der Querkopf, der die Worte liebt
Thüringer Allgemeine, 22.6.2014

Jürgen Verdofsky: Querweltein mit aufsteigender Linie
Badische Zeitung, 21.6.2014

 

Zum 85. Geburtstag von Wulf Kirsten:

Frank Quilitzsch: Herbstwärts das Leben hinab
Thüringische Landeszeitung, 21.6.2019

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Wulf Kirsten

 

Wulf Kirsten – Dichter im Porträt.

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