GLEICHBERG IM SCHNEESTURM
auf die fliehburg hinaufsteigen,
wo die kelten hinterließen,
was habgierigen grabräubern
in die beuteerpichten augen sticht,
alles, was sich verscherbeln läßt.
unterwegs mit Graupenhaus-Gerlach,
zwei wanderer bergauf im geplöder,
ich von heimkehrermütze geschützt,
hasenfell an bändern bei sturm
und schnee ausgesprochen zweckdienlich.
hier oben stand er, hofmeister Hölderlin,
zu diensten in Waltershausen nahebei,
und sah sich auf dem Olymp, wie er
so um sich blickte und dachte sich
Deutschland im großen und ganzen.
seither läßt kaum einer, dem die gedichte
reichlich ab-, also nie ausgehen,
den ruhmbedeckten berg unbestiegen,
nur die Novak sah ihn von drüben
über landminen und stacheldraht weg.
nun auch ich bei schneesturm unterwegs
mit Gerlach, begnadetem fußgänger,
nicht nur im Grabfeld, der wußte,
wie basalt gespellt und per seilbahn
gen Römhild zu tale gehievt wurde.
am bergfuß mitten im schlamm werkte
eremit Gundelwein in seiner darre,
ein panjepferdchen samt wagen
hielt die verbindung zur welt,
bis der tod ihn seiner einsamkeit entband.
wie nur kam Streubel in diese wildnis,
wo nachts die scheuchegeister rumorten?
an gespenster wollt er nicht glauben,
aber die marder, die sich hausbesitzer
wähnten, schlugen ihn in die flucht.
mit Gerlach hinaufgestiegen auf den Olymp,
schneeverhangen, peregrinisch erprobtes
gespann, wir sahn rundum das offne gelände,
das uns eins galt, gespalten,
feindselig gab sich der weltrand.
im Werk von Wulf Kirsten haben sie ihren Platz. Sinnlichkeit und Klarheit, in seinen Gedichten finden sie ihren Ausdruck. Leise und doch so unmittelbar und unausweichlich entfalten sich Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Dichterporträts. Kirsten erweist sich in jedem Text als aufmerksamer Beobachter, eloquenter Formulierer und kluger Analyst. Seine Betrachtungen sind politisch, literarisch und historisch verortet, seine Worte von feinem Witz getragen.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 2012
– 60 neue Gedichte vom „erdenbürger“ Wulf Kirsten. –
Nachdem Wulf Kirsten, geboren in Klipphausen bei Meißen, 50 Jahre hoch dotierte Dichtkunst betrieben hatte, wurde 2004 einem seiner Gedichtbände das allererste Mal ein Lesebändchen zuteil, es war grün und befand sich im über 400-Seiten-Buch erdlebenbilder, herausgebracht von dem inzwischen im Ruhestand weilenden Ammann Verlag zum 70. Geburtstag des Lyrikers. Jetzt ist Wulf Kirsten der Verlagswechsel derart gut gelungen, daß er zu seiner eigenen Überraschung und der seiner Leser ein Buch vorlegen kann mit 60 nagelneuen Gedichten und neuerlichem, dieses Mal blauem Lesebändchen. Wer diesen Versen abliest, Kirsten sei sich treu geblieben, trifft nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte zeigt einen Dichter, der sich neu erfunden hat. Einerseits ist da der gewohnte Landschafter, der unbeirrt pirscht durch Mulm, Dörnicht und „sömmerisch bewachsne gründe“, der unverdrossen stromert über „verstrauchte“ oder „abdächige wiesen“, über „staubichte schluchtwiesen“ oder „waldumfangene wiesenpläne“. Andererseits, und das ist neu, münden die Landschaftsworte, die eingesammelten, aufgehobenen Wörter öfter und kräftiger als früher in heiligen Zorn. Nicht nur wohl gesetzte Metaphern als Huldigungen der Vergänglichkeit werden dargebracht, sondern auch herzhafte Schimpfkanonaden auf zeitgenössische Unsitten abgefeuert. Beißender Spott richtet sich gegen kommunale Vandalen: „kanalräumerlehre abgebrochen wegen geistiger überanstrengung… von einer veritablen ausdrucksarmut geschlagen“ und gegen Geschichtsneurotiker:
Napolensyndrom freigestellt
minderwertigkeitskomplexe kompensiert
mit dem größenwahn von maulhelden
Sogar die Kanzlerin bekommt ihren Vers weg:
einmalig diese verlegenheits-
geste, wie sie ihre mundwinkel
so unnachahmlich gekonnt
nach unten zu korrigieren versteht
All das gipfelt in dem Gedicht „tirade“, das zwar E.T.A. Hoffmann und Bamberg zugeschrieben ist, aber auch den Autor selbst in wohlbekannt anderer Kleinstadt einbezieht:
nichtswürdig eingeschachtelt, marterjahre
unter hundsföttischen lakaien, abgöttisch
verachtet, hofnarr in einem schmierentheater
Überhaupt nimmt Weimar beträchtlichen Raum ein, als „stadt im kessel“ taucht sie auf mit ihren Verwerfungen und dem geschichtsbeladenen Ettersberg, der freien Bürgern heutzutage wenig bedeutet, Hauptsache ihre „kraftfahrzeuge brettern die Blutstraße lang“. Nahezu unschlagbar ist Wulf Kirsten, wenn er sich selbstironisch porträtiert als „der junge, der ich war“ und in seine dörfliche Kindheit als doppeldeutiger „erdenbürger“ zurückkehrt:
junge, was soll bloß aus dir
mal werden? linkshänder
und zu nischde geschicke
…
so ein schwartenheini wie du,
mit solch einem faulpelz
kann keiner was anfangen
Schließlich setzt der Dichter mit einem Enkelinnengedicht nicht nur jene „Oral History“ fort, die er „zaunüberwärts“ schon oft betrieben hat, sondern zeigt damit ganz plötzlich auch eine familiäre Seite, die ein wunderbares Novum im Spektrum seiner poetischen Themen darstellt. 60 neue Gedichte, die man sich scheut „Alterswerk“ zu nennen, weil sie herzerfrischend jung wirken.
Seiner ersten umfassenden Sammlung von Gedichten (satzanfang, 1970) hat Wulf Kirsten einen Essay beigegeben, der in manchem seine Bedeutung behalten hat. Es war eine Erläuterung seiner Gedichte und im Grunde eine kurze Geschichte ihres Entstehens. Und man erfuhr, wie viel hier gedacht und probiert worden ist, bevor geschrieben und die Öffentlichkeit gesucht wurde, bis hin zu dem zentralen Gedanken:
Sein Thema finden heißt zu sich selbst finden.
Den neuen Band fliehende ansicht, der die in den Jahren 2005 bis 2011 entstandenen Gedichte in der Chronologie ihres Entstehens vorstellt, halte ich für eine komplexe Erscheinung der Grundlagen und Grundmotive von Kirstens Gedichten. Es ist, als hätte der Dichter noch einmal alle großen Themen seiner Jahrzehnte überspannenden Dichtung zum Leuchten gebracht – in neuen Beispielen und neuen Auslegungen, die in allem Vergangenen und Gegenwärtigen verwurzelt sind. Diese ,großen‘ Themen sind ja oft ,kleine‘, aus deren Ableitungen die Welt entsteht, durch das Was und Wie eines Sehens, Erlebens und Schreibens, das das Gedicht situiert. Und stärker als in früheren Bänden habe ich eine Erweiterung in vielfältige Gegenwärtigkeiten gefunden, so dass man des Öfteren von gesellschaftskritischen Gedichten sprechen kann, die sich sowohl auf die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit als auch auf die gegenwärtige Situation beziehen; in jenem Büchnerschen Sinn, der alles aus dem Wort und aus der Verdichtung und Verkürzung der Zusammenhänge hervorgehen lässt und daraus seine Legitimation gewinnt.
Das Titelgedicht „fliehende ansicht“ ist eines jener Naturgedichte, die wir von Kirsten kennen und die er in dieser Art begründet hat: von präziser Beobachtung, Kenntnissen und Wortbesessenheit getragen. (Der alte Hinweis Kirstens aus dem Essay zu satzanfang findet hier seinen Platz, das Fontanesche „Man sieht nur, was man weiß.“) Von diesem verlässlichen Fundament aus lassen sich fast alle Fragen stellen, so dass schon in diesem ersten Gedicht die neuen Motive in Verbindung mit früheren anklingen:
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt
eine ruinöser als die andre
Diese Beschädigungen sind das eine; das andere jene großen Naturbilder, die die immer bestehenden Zusammenhänge aufrufen; kein Fluchtpunkt, aber eine Möglichkeit, zu leben:
was da so flimmrig schwirrt,
sei das licht der natur, nicht
zu ergründen, nimm diesen landstieg an,
so wie er uns trägt
(„landstieg“).
Erkennbar wird auch, dass manche Gedichte für den Dichter ,Gelegenheiten‘ sind, dass der Anteil des Zufälligen neben dem eher Konzeptionellen („curriculum vitae“) eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Wie in dem wunderbaren Gedicht „gespräch zaunüberwärts“, wo aus einer alltäglichen Begegnung die „weltläufte“ hervorgehen. Das geschieht so leicht und frei, dass man sich fragt, wie Kirsten das gemacht hat: Da sind die Bilder jenes arbeitslosen Mannes, der ohne Lohn arbeitet, „nur um als arbeitsloser / unter leuten zu sein“. Und die Folgerung ist auch da – „noch tagelang geht mir / durch den kopf, irgendwas stimmt nicht / in dieser weltordnung, / die doch gemeinhin für die beste / aller möglichen gehalten wird.“ – in dieser Ordnung nicht und in mancher anderen auch nicht, wie wir in den kritischen Gedichten Kirstens erfahren können, die einen neuen Akzent setzen, in diesem Band und in seiner dichterischen Arbeit überhaupt. Die Gedichte sprechen oft expressis verbis von dem, was auf der Seele liegt, so in aller Schärfe von gerade vergangenen Zuständen („vaterlandsverräter“, „implosion“, „wo denkst du hin“ u.a.) und beispielhaft in dem „denkfiguren“ benannten Gedicht, das vielfältige Erfahrungen zusammenfaßt.
welt durch weltanschauung ersetzt,
von wortverdrehern die spottgeburten vernetzt.
Aber auch manche gegenwärtige Verhältnisse werden nicht beschwiegen, vor allem, wenn es um soziale Fragen geht („abendnachrichten“, „lebenslagen“ u.a.):
sagten Sie gerechtigkeit, captain?
für wen, dachten Sie, und wie lange?
warum nur für so wenige? warum
soviel ungerechtigkeit in Ihrer
gerechtigkeit?
(„eigentümlich“)
Hierher gehören auch die ,pamphletistischen‘ Gedichte: Abrisse aus den Lebensgeschichten von verehrten literarischen Vorbildern, die ,herübergeholt‘ werden in unsere Verhältnisse, die sich manchmal gar nicht so sehr von jenen fernen Verhältnissen unterscheiden. ,Ahnherren‘ (Hölderlin, E.T.A. Hoffmann, Heine, Nietzsche) sind hier aufgerufen. Mit dem Ergebnis einer Vielfalt von Beziehungen, die am Ende einen „Lebensüberblick“ konfigurieren. Zu ihm gehören Alltagsszenen voller Nachhaltigkeit („nachruf“); Imponderabilien, die das Leben und die Bilder des Lebens sind („die weiße amsel“); Gedichte über das, was bleibt, was von der Geschichte bleibt und von ihr noch sichtbar ist („stadt im kessel“); schließlich die autobiografischen Gedichte, der Blick auf die Kindheit und aus der Kindheit heraus („dorfkindheit, vom krieg überrollt“, „erdenbürger“), von der Kirsten einmal gesagt hat:
Eine Welt voll weitergetragener Namen und Begriffe.
Und voll von „Wortfeldern“, die der Dichter findet, sammelt und ein Leben lang entwickelt.
Der Band wäre nicht, was er geworden ist, ohne die bilanzierenden und philosophisch verankerten Gedichte. Nachgefragt wird, wer oder was wir sind, was „das eigentliche“ denn sei und wie es zu erkennen wäre. Dabei wird es hier ja erkannt, ohne dass man es verbalisieren muss oder kann: in allen Geschichten, die diese Gedichte erzählen. Der Dichter hat die Zeit in eine ,Erlebniszeit‘ verwandelt, die Fernes und Nahes in einer Ebene verbindet. Und bei aller bilanzierenden Bitterkeit – „es war, als hätt der himmel / die menschheit endgelagert.“ („zur weltordnung“) – wird jener ,kosmische‘ Zusammenhang nicht aufgegeben, der aus dem Einfachen hervorgeht, aus der Erinnerung an einen Augenblick („Böhmen“, „sommergespräch“): Da ist sie, die Welt! Sie ist immer da, mit ihren Hintergründen und Möglichkeiten, die den Menschen begleiten, wenn er es kann und will.
Einige umgangssprachliche Einschübe – z.B. „wer weiß, / warum“, „aus welchen geheimen gründen / auch immer“ („außer gebrauch“) – wirken wie Versatzstücke in dem so dichten sprachlichen Gewebe. Ein kleiner Anmerkungsteil wäre hilfreich gewesen zum besseren Verständnis einiger Worte und Zusammenhänge.
Wulf Kirsten ist ein herausragender Gedichtband gelungen, dessen vielfältigen Verästelungen ich hier nur andeutungsweise nachgehen kann. Eine Verbindung und Entwicklung von Motiven und Themen aus einem reichen Lebenswerk; eine Bilanz und ein Weg, begehbar auch für andere und in diesem Sinne jenes ,Lebens-Mittel‘, zu dem Literatur in seltenen Fällen werden kann.
Wolfgang Trampe, Ostragehege, Heft 67, 2012
Im Jahr 2004 erschien zu Wulf Kirstens 70. Geburtstag im Ammann-Verlag Zürich mit erdlebenbilder ein in Halbleinen gebundener und mit transparentem Plastikumschlag umhüllter Band mit Gedichten aus einem halben Jahrhundert. Andeutungen des Weimarer Dichters gaben seinerzeit Anlass zu der Vermutung, dass er sein lyrisches Werk mit dieser prächtigen Publikation als abgeschlossen betrachtet haben könnte. Nun aber legt Wulf Kirsten – der zuletzt die opulente Anthologie Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan herausgab – neue Lyrik vor. Da der Ammann-Verlag seine Tätigkeit jedoch 2010 einstellte, erscheinen Kirstens Gedichte nun im S. Fischer Verlag. fliehende ansicht enthält 60 Gedichte, die zwischen 2005 und 2009, in der Mehrheit aber erst 2011 entstanden. Das lyrische Terrain, das Kirsten hier absteckt, ist – auch wenn es nicht mehr die Dominanz wie in früheren Gedichtbänden haben mag einerseits Sachsen, wo Kirsten Kindheit und Jugend verbrachte, und andererseits Thüringen, wo er seit langem lebt. Seine Lyrik der letzten Jahre ist nachdenklich, melancholisch, aber auch politisch engagiert, manchmal aufbrausend, auf jeden Fall aber unversöhnlich in Richtung Zeitgeist gesprochen.
Formal ist sich der Weimarer Dichter treu geblieben. Seine freirhythmischen Gedicht sind vor allem aus einstrophigen Textblöcken gebaut, es sind aber auch Gedichte mit reimlosen Strophen zu je vier oder fünf Versen zu finden. Dann wieder stößt man auf Zweizeiler, die sich, wie etwa „denkfiguren“ und „lebenslagen“, bisweilen reimen und sogar humoristisch sind. Letzteres etwa hebt an:
ach, die geister, die ich laut um Hilfe rief,
preisen das nullwachstum zum nulltarif.
Wulf Kirsten verzichtet, von Eigennamen abgesehen, generell auf Großschreibung. Punkte setzt er fast nur am Ende.
Die Sammlung ist chronologisch geordnet, das 2005 entstandene Titelgedicht steht am Anfang. fliehende ansicht ist eine Impression jener Landschaft, in der die Ilm in die Saale und Thüringen in Sachsen-Anhalt übergeht, wo die Burgen Saaleck und Rudelsburg den damaligen Studenten und späteren Kunsthistoriker Franz Kugler 1826 zu seinem wiederholt vertonten Gedicht „An der Saale hellem Strande“ inspiriert haben. Wulf Kirsten zeigt uns, derweil wir mit ihm im Zug vorbeifahren und die Aussichten rasant wechseln, u.a. das einstige Wohnhaus des Architekten und Rassentheoretikers Paul Schultze-Naumburg im Schatten von Burg Saaleck. Er erinnert uns ferner, dass in der Bahnhofsrestauration von Bad Kösen in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch ein Schüler der nahen Landesschule Pforta, Friedrich Nietzsche mit Namen, mehrere Seidel Bier, also einen über den Durst trank. Die abgeschriebenen Bahnhöfe und ruinösen Gleisanlagen, die an dem lyrischen Ich vorbeifliegen, sind dem Verfall preisgegeben. Diesem verweigern sich allein die Türme der Dorfkirchen links und rechts der Eisenbahnstrecke „hocherhobenen fingers“ und preisen die Seligkeit „nach eigener fasson“.
Wulf Kirsten ist aber nicht nur ein wunderbarer Landschaftssprachbildner, sondern auch ein genau beobachtender Lyriker des Jahreslaufs. Das zeigen Texte wie „dezembermorgen“, „ende april“ und „eingewintert“ und „dunkel“, ein Novembergedicht, eindrücklich. Und wie andere auf den Barometerstand, blickt Kirsten täglich auf den Ettersberg, dem mit Goethe und Buchenwald verknüpften Weimarer Hausberg, der mehrfach Erwähnung findet.
Er beweist in diesem Gedichtband auch, warum ihn Karl-Markus Gauß einen „Chronisten des verschollenen Alltags“ nennt: Wulf Kirsten hat ein Repertoire von Wörtern im Bestand, die nicht mehr Gemeingut sind und von ihm in seinen Gedichten wie in einem Schatzkästlein verwahrt werden; „spinnengekrakel & netzgehakel“, „schubkärner“ und „besenbinderseelen“ gehören da ebenso hinein wie „zuvörderst“, „fernerhin“ und das schöne Verb „gaudern“. Zuletzt hat er ein ganzes Gedicht dem Nachsinnen über lexikographische Archaismen gewidmet. Die „zwei worte“ im gleichnamigen Text sind „trübedimpelig“ und „bedript“.
Wulf Kirstens Weimarer Schriftstellerkollegin Gisela Kraft (1936–2010), die sich vor allem mit einer Novalis-Roman-Trilogie einen Namen machte, stellte ihrem Gerhart-Hauptmann-Gedicht „Kloster Hiddensee“, enthalten in dem posthum 2010 erschienenen Band Weimarer Störung – Gedichte aus dem Nachlass, als Motto den Ausruf von Rolf Haufs voran:
Wulf Kirsten ist nicht maritim!
Das freilich gilt auch für den Band fliehende ansicht.
Mit Porträtgedichten, von denen in seinen Gedichtbänden stets mehrere zu lesen ist, würdigt Wulf Kirsten u.a. Friedrich Hölderlin, den zehn Jahre nach seinem Tod leider schon längst vergessenen Dichterfreund Harald Gerlach (1940–2001) sowie den aus Wulf Kirstens Kindheit vorbeischauenden Land(s)mann Oswin Beyrich.
Alles in allem ist es schön, dass wir von Wulf Kirsten – der mit den Essaysammlungen Gegenbilder des Zeitgeists – Thüringer Reminiszenzen (2009) und Brückengang (2010) zuletzt vor allem als Prosa-Autor zu erleben war – nun wieder Gedichte lesen können.
Kai Agthe, die horen, Heft 246, 2. Quartal 2012
In seinen Landschaften herrscht das Erdfarbene, durchzogen von ein wenig Grün. Da schaut Wulf Kirsten genau hin. Der 1934 geborene Sachse hat weder den verklärenden Blick der Natur-Idylliker, noch lädt er Naturerscheinungen magisch auf. Er nimmt Raubbau, Zerstörung und Verlust wahr, ohne den moralischen Zeigerfinger zu erheben. Kirsten ist ein geruhsamer Spracharbeiter, der Vergessenes in Worten aufhebt.
Beinahe ausgestorbene Tierarten wie die Karausche kommen nur noch in den Gedanken des Dichters vor. Außer Gebrauch geratene Heilpflanzen wie das „Gemeine Herzgespann“ haben es ihm angetan. Das Wildkraut beschreibt er bis ins kleinste Detail. Bei aller Pedanterie haben Kirstens Verse Rhythmus, Melodie und Pointe. Sie konservieren nicht nur, sie bewahren vergangene Kultur, auch verloren gegangene Sprachkultur. Im Hessischen wird er zum Landschreiter. Sonst bleibt der Mann aus Weimar Flurgänger. Er durchstreift überwiegend sächsische Gefilde. Sein lichtüberfluteter Morgen bringt abgewohnte, ausrangierte und zerfallende Dinge zum Vorschein. Für ihn ist Gerümpel „abgeschriebenes, verdinglichtes Leben“, das er im Gedicht akribisch versammelt. Wo die Flüchtigkeit der zeitgenössischen Wegwerfgesellschaft rast, eröffnet Kirsten ein Museum der abgehalfterten Dinge. Die Gegenstände bleiben sie selbst und werden nicht auf Zeichen getrimmt.
Wenn Kirsten mit Hölderlin den Thüringer Gleichberg erklimmt, nimmt er aus dem öffentlichen Bewusstsein fast verschwundene Schriftsteller mit: Helga Novak und den früh verstorbenen Harald Gerlach. Erinnerungsarbeit betreibt Kirsten auch mit tschechischen Autoren: Vilém Zavada, Frantisek Listopad und Ludvík Kundera. Hier und da verweist er auf Herder, Goethe, Heine, Günter Eich und Ludwig Uhland. Dessen berühmte „Ulme zu Hirsau“, inzwischen von einer Spezies namens Splintkäfer zerfressen, überlebt als Kugel-Schrumpfform in einer Drechslerwerkstatt.
Der Chronist spürt Tragikomisches auf, nicht zuletzt als Beobachter sozialer und politischer Verhältnisse. Im Porträt der Kanzlerin zeigt er sich gar als Kabarettist, der sich mit Hilfe der Worte „bedripst“ und „trübetimpelig“ seinen Spaß macht. Andere satirische Szenen könnten ihren Ursprung in Schilda, Abdera oder Kleewunsch haben: Straßentheater aus „illiterater Provinz“, Schmierenkomödianten, die zu Diktatoren mutieren können.
Über den Untergang des kommunistischen Reichs hat Kirsten das knappste und treffendste Gedicht geschrieben, das ich zu diesem Thema kenne. Es trägt den Titel „implosion“ und scheint mir in seiner Lakonie wahrer zu sein als alle larmoyanten Tiraden literarischer Größen.
„Zeitfraß“ heißt eines der Gedichte, in dem der Autor das gesamte „Erdbild“ betrachtet. Die Worte Gerechtigkeit und Wahrheit fallen darin auf, weil sie wie selbstverständlich in den Versen vorkommen. Momentaufnahmen von Blutspuren der Geschichte sucht der Lyriker in seinen „fliehenden Ansichten“ festzuhalten: die vom Krieg überrollte Dorfkindheit, das flächendeckende Weiß über dem Ettersberg, in Alzey die Erinnerung an den jüdischen Unternehmer und Dichter Karl Schloss, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde.
Zum „Stolperstein“ in Worms gesellen sich die lyrischen Denkanstöße Wulf Kirstens.
Rainer Strobelt: Verse über das Beharren
fixpoetry.com, 15.6.2012
Michael Wüstefeld: Junges Alterswerk
Am Erker
Heike Henderson: Kluge Analysen und scharfsinniger Witz
literaturkritik.de, Oktober 2012
Verstorbene bleiben auch in unterschiedlichsten Erinnerungsbildern Teil unseres Lebens. Von meinem Freund Wulf Kirsten habe ich glücklicherweise viele solcher Bilder. Eines zeigt ihn, wie er in unserem Tiefurter Garten rätselte, was das wohl für ein Baum sei, der sich schlank wie eine Pappel an der Mauer zum früheren Schafstall des Kammerguts in die Höhe streckt (eine Golderle, wie ich selbst danach erst erfuhr). Auf einem anderen sehe ich ihn mit Sofia auf der Empore des Restaurants Chartier in der rue du Faubourg Montmartre, beim Studium der auf billigstem Papier gedruckten Speisekarte, voller Begeisterung das aus dem Elsaß in die französischen Brasserien gelangte choucroute-Gericht entdeckend (ich glaube, auch seinetwegen ist er später noch einmal in das ebenso populäre wie licht- und spiegelprächtige Pariser Restaurant zurückgekehrt). Wieder auf einem anderen sitzt er bei einer Lesung in Gießen – oder war es am Vorabend im Kloster Arnsburg? – neben Elke Erb, deren so ganz andere Schreibweise er mit neugierigem Verständnis begleitete (und die später seinem Gedicht „Die Fähre“ einige so analytisch klare wie poetisch sympathisierende Seiten widmete). Andere Erinnerungsbilder zeigen Wulf etwa bei der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises in Koblenz oder als ortskundigen, angespannt nach Unentdecktem Ausschau haltenden Spaziergänger auf dem Westabhang des Etterberges oder auch als konzentrierten Zuhörer, wenn ich ihm, selten genug, von einer Neuerscheinung berichten konnte, für die ich auf sein Interesse hoffte – zuletzt von der eindrücklichen Dokumentation Galizien und Lodomerien Marc Sagnols, in dessen Suche nach den Spuren ausgelöschten jüdischen Lebens zwischen Lemberg und Czernowitz er die eigene Vergangenheitsarbeit wie in einem Spiegel gesehen haben wird.
Ganz andere, weniger private Bilder haben wir in den Fotografien – vorzugsweise sind es Porträts –, die unter anderem Peter Michaelis, Brigitte Friedrich und Isolde Ohlbaum, vor allem aber Harald Wenzel-Orf über die Jahre von Wulf gemacht haben. So zeigt ihn die Einladung zur Inthronisation als „Stadtschreiber von Bergen“, 1999, mit energisch, fast ein wenig verbissen geschlossenem Mund und ernst forschend – oder sollte man sagen prüfend? – auf den Betrachter gerichtetem Blick. Ähnlich, mit etwas stärker gelichtetem Haar, das Foto, das 2003 in der Frankfurter Rundschau der Ankündigung einer Lesung im Schiffer-Café beigegeben war, wobei der fragende, nun leicht resignative Gesichtsausdruck bestens zu dem daneben wiedergegebenen Zitat „… gesenkten hauptes der rückgewendete fortschritt“ passte. In anderer Weise eindrücklich auch, im Zusammenhang seiner Jenaer Ehrenpromotion, der dem Band Landschaft als literarischer Text, 2004, vorangestellte Schnappschuß, der Wulf als Wanderer in scheinbar unauffälliger Landschaft zeigt, wie er stehend innehält, um etwas zu notieren, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Gelegentlich zeigen ihn die Fotografien auch mit verhaltenem Lächeln, so auf der Einladung zu dem in der Sorbonne und der Bibliothèque nationale von Stéphane Michaud veranstalteten Kolloquium quatre poètes contemporains devant l’Europe et la mondialisation, 2007, in einer Reihe mit Yves Bonnefoy, Michel Deguy und Kalász Martón. Und ebenfalls lächelnd sehen wir ihn auf einem im Weimarer Kirchgarten Herders aufgenommenen Foto, 2009, das dem in der Thüringischen Landeszeitung anläßlich seines 75. Geburtstages erschienenen Interview mit Frank Quilitzsch beigegeben war. Auf allen diesen Bildern wie auch dem in Öl gemalten Porträt von Siegfried Klotz, 2000 entstanden und 2009 auf dem Umschlag von Brückengang. Essays und Reden wiedergegeben (deutlich schwächer allerdings auf dem Foto für erdlebenbilder, 2004), erkenne ich meinen Freund Wulf wieder – aber es sind immer nur Teilansichten, das eine für mich gültige Bild finde ich nicht darunter, und so will ich versuchen, es aus den erinnerten Begegnungen selbst zu formen.
Wulf, diesen Eindruck konnte man gewinnen, strengte sich, gerade beim Sprechen, immer an, und fordernd strengte er auch sein Gegenüber an. Dabei konnten sich seine Züge plötzlich zu einem Lächeln aufhellen, das ich auf den Fotografien nicht wiederfinde, das zugleich aber weit entfernt war von allem gargantuesk-übermütigen Lachen. Wie Wolken aufreißen und die Sonnenstrahlen durchlassen, so konnte ein belustigtes, frohes, den anderen mitnehmendes – ich bin versucht zu sagen stilles – Lachen das Gesicht meines Freundes Wulf verzaubern.
Gibt es zu diesem meinem eigentlichen Bild Wulfs Entsprechungen in dem, was er schrieb? Ich glaube schon. So setzt das 1974 dem ungenannt bleibenden Emil Nolde gewidmete Porträtgedicht „Umwege“ denkbar sachlich ein: „mit sack und pack / zog der maler aus Jena ab, / nahm quartier / im ,Grünen Baum zur Nachtigall / den frühling zu malen“, und pointiert, doch kaum weniger nüchtern halten die Schlußzeilen den weiteren Lebensweg des Malers fest:
unterwegs von Cospeda nach Ruttebüll
über Celebes, Port Said
In diesen Rahmen aber sind Bilder eines unerwartet späten Schneefalls gefaßt, in denen die Schönheit der winterlich verwandelten Landschaft für jeden Empfänglichen Sprache wird: von den in der Sonne „gleißenden flächen“ über die „rotglühende sonnen kugel“, die der Maler „in den pappschnee rollen“ sieht, bis zum Höhepunkt der „abendstunden, wenn der frost einbrach / und die natur ihre mitarbeit anbot, / naß-in-naß auf festem zeichenpapier, / daß der schnee die farben ausfranste / und gefrieren ließ / zu kristallenen sternen und strahlungen“. Ähnlich das 1991/92 entstandene Gedicht „feldwegs nach Orlamünde“, das in der ersten Strophe die „schlichtwollige landschaft / wirrsträubig gebauscht und verbuscht / […] hungerfleckig verdistelt und verhedericht“ plötzlich in einen „lichtüberfluß von ungefähr“ taucht und die zweite, die mit den Trauerworten „[… ] in rast verlummert / und schamstumm erstickt“ endet, einsetzen läßt:
saalüberwärts ins Orlatal geblickt,
ein biergarten schäumt
unter endlos zerdehnter traueresche.
im abendschein
durchs alte Stadttor ziehn,
wenn aus den laubkronen unten
der pirol dir die kindheit zurückruft
Und auch in späteren Gedichten hat Wulf in die herbe Anmut der von ihm beschworenen Landschaften Bilder augenblicklich gesteigerter Schönheit eingelassen, 2017 etwa in „physiognomie der landschaft“:
wie sollte die einsamkeit
auch weltrandläufer gewahr
werden, dies obliegt einzig
und allein den mückenschwärmen,
die sie umschwirrend einhüllen
in ihr gekribbel und gekrimmel,
wer nur lehrte sie diese
attraktive figurierung in ballen,
nirgendwoher-nirgendwohin
Der Märzschnee des Nolde-Gedichtes löst sich schon bald in „schmelzwasser“ auf, flüchtig wie in anderer Weise die „schäumende“ Trauereschenblüte über der Saale in Orlamünde oder, gesteigert, wie der – als sei er verabredet – seine Form ständig ändernde Mückenschwarm in „physiognomie der landschaft“. Welcher Kenner fühlt sich dabei nicht an den Titel „Beständig ist das leicht Verletzliche“ erinnert, den Kirsten Oskar Loerkes Gedicht „Die Laubwolke“ für seine Anthologie deutscher Gedichte von Nietzsche bis Celan entnahm? Im Glauben an die Beständigkeit des leicht Verletzlichen kommt wo nicht eine Zuversicht, so doch die Hoffnung zum Ausdruck, daß es noch in späterer Zeit anderes als die menschengemachte zerstörerische Gewalt der Geschichte geben möge. Für dieses andere sollen wir offenbleiben, nicht geschichtsvergessen, sondern immer wieder einen Halt auch in dem suchend, was sich der Gewalt und der Zerstörung beharrlich entzieht. Diese Offenheit macht, scheint mir, wesentlich unsere Humanität aus. Nicht nur in seinen zornigen Einsprüchen gegen Ignoranz, Dummheit und Machtmißbrauch, seiner Begabung zur Freundschaft und seiner unermüdlichen Anteilnahme an den dichterischen Bestrebungen der Jüngeren, sondern auch in seiner beharrlichen Offenheit für das Schöne war Wulf Kirsten ein humaner Dichter. Gerade in seinem seltenen Lachen bin ich dieser Humanität begegnet, und ich erinnere mich mit Dankbarkeit daran.
Gerhard R. Kaiser, aus Unterwegs mit Wulf Kirsten. Eine Freundesgabe, herausgegeben von Wolfgang Haak, Michael Knoche und Christoph Schmitz-Scholemann, Elsinor Verlag, 2023
FEBRUARABEND IN H.
Für Wulf Kirsten
1
Verflüssigte Luft. Die Wolken
Frühlingshaft nah. Die Stadt
Eine alte
Vettel. Wir gingen und sprachen
Über die Brüchigkeit
Unseres Daseins: keine Kontinuität,
Außer der
Des Verfalls. Das
Bezeugten, unwiderlegbar,
Die Häuser.
Halbruinen. Der Sitz
Des Bischofs zerschossen von
Steinkugeln, gesandt
Von der Vorstadt Neumarkt
Über die Gräben
Als Zeichen des
Protestantismus.
2
Als die Lichter angingen,
Sahn wir sie sitzen
Hinter den winddurchlässigen Fenstern:
Den Mann und die Frau
Im zerfallenden Haus, im Flur
Die Glühbirne, schirmlos.
Im Hof das Gewirr
Zerfallender Balken, gähnende Keller,
Von morschen Brettern
Verdeckt. Auf den Etagen
Türn ohne Klinken.
3
Das noch Beschreibbare
Schien uns kein Gleichnis:
Totenhaus oder
Der Untergang des Hauses Usher.
Einen Punkt
Hinter unsere Meditationen
Setzte die klappende Tür:
Das Mädchen,
Das grußlos vorbeiging,
Das Rauschen des Wassers
Auf dem Abort.
Heinz Czechowski
Lesung Wulf Kirsten am 27.11.1991 im Deutschen Literaturarchiv Marbach
In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.
Nico Bleutge: Sprachschaufel
Süddeutsche Zeitung, 21.6.2004
Michael Braun: Der poetische Chronist
Neue Zürcher Zeitung, 21.6.2004
Wolfgang Heidenreich: Gegen das schäbige Vergessen
Badische Zeitung, 21.6.2004
Tobias Lehmkuhl: Das durchaus Scheißige unserer zeitigen Herrlichkeit
Berliner Zeitung, 21.6.2004
Hans-Dieter Schütt: „herzwillige streifzüge“
Neues Deutschland, 21.6.2004
Frank Quilitzsch: Chronist einer versunkenen Welt
Lese-Zeichen e.V., 19.6.2004
Christian Eger: Leidenschaftlicher Leser der mitteldeutschen Landschaft
Mitteldeutsche Zeitung, 19.6.2009
Jürgen Verdofsky: Querweltein durch die Literaturgeschichte
Badische Zeitung, 20.6.2009
Norbert Weiß (Hg.): Dieter Hoffmann und Wulf Kirsten zum fünfundsiebzigsten Geburtstag
Die Scheune, 2009
Lothar Müller: Aus dem unberühmten Landstrich in die Welt
Süddeutsche Zeitung, 21./22.6.2014
Thorsten Büker: Der Querkopf, der die Worte liebt
Thüringer Allgemeine, 22.6.2014
Jürgen Verdofsky: Querweltein mit aufsteigender Linie
Badische Zeitung, 21.6.2014
Frank Quilitzsch: Herbstwärts das Leben hinab
Thüringische Landeszeitung, 21.6.2019
Wulf Kirsten – Dichter im Porträt.
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