Wulf Kirsten: Zu Wulf Kirstens Gedicht „das große randseil“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „das große randseil“ aus Wulf Kirsten: Zwischen Standort und Blickfeld.

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

das große randseil

welliges land mit kerbschnitten
vor aller augen wie nicht gewesen,
und doch: eben jetzt neu geschaffen,
wenn du glaubst, was du siehst,
bist du berufen, die einmalige ferne
abgängig, gebuckeltes gebilde,
eingemuldet, kulturfähig gemacht
und freiweg aus der luft gegriffen,
die verwerfungen im relief beziffert,
bezeichnet, chiffriert, nun lies
und sieh, wie sich die grundschrift
verformte unter der lichtwolke,
jede klinge ausgegrünt maiwüchsig
pfingstlich, als ob dies noch immer
in der natur der sache läge, langhin
deutungslinien über die verkleinerte welt
gezogen, die sich in dunstschleiern
verliert, kirchtürme von der sonne
ins meißnische land gestaucht,
erinnerungspunkte, überelbisch gesetzt,
die mir nachhelfen wollen,
hinaufzukommen und hinweg
über das große randseil, wenn ich
nur wüßte, wer das flußband so benannt
hat vorzeiten, ein schmutziges wasser,
wie es sich ausgießt, als wär es gleißendes licht,
das die strömung fortzieht und trägt.

 

Pfingsten 1999

von Zitzschewig aus in die Lößnitz hinaufgestiegen. An Weinbergmauern entlang. Von Weinbergen umfangen. Ecke Zechsteinweg/Barkengasse eingehalten. Halbkreisschwenk, sichtsüchtig. Die Augen fahren die Horizontlinie ab, die sich jenseits des Elbtals, wir sagen „überelbisch“, langhin abzeichnet. Ein Vorgang schnellen Erfassens. Was sich da auf- und abrollen läßt, gilt es nun zu textieren. Wie anders wäre es tatsächlich vorhanden? Nichts als diese in der Ferne verdunstende Blickwelt zieht das Gedicht nach. Das innere Auge gibt Nachhilfe. Es liefert die Details, die mit bloßem Auge nicht auszumachen sind und von dem grünen Band geschluckt werden. Da drüben liegt meine Welt, in der ich mich auskenne: die meißnischen Elbhöhen. Etwa von Oberwartha bis kurz vor Meißen reicht die Sichtspanne. In fast regelmäßigen Abständen sind Querfurchen in diesen verbuckelten und verbeulten Riegel gezogen, der sich hundert bis hundertfünfzig Meter hoch über dem Flußbett aufwölbt. Als wäre da einer mit einem breitzinkigen Kamm drübergefahren, um Zottiges zu striegeln. Nach den von Waldstreifen gesäumten Gründen, Gründeln und Tilken (Trockentälchen, Erosionsrinnen), durch die sich ein paar kurzbeinige Bächlein winden, gab man dem unberühmten Landstrich in neuerer Zeit einen Namen, der ihn zusammenhalten soll: Linkselbisches Tälergebiet. Auch dort drüben wurde vorzeiten an den Hanglagen Wein gebaut. Was im Prinzbachtal oberhalb der im Stich gelassenen Schiebbockmühle oder unterhalb des neu erstehenden Weilers Pinkowitz noch sehr gut zu erkennen ist an den Terrassierungen und erhaltenen Trockenmauern. Vielerorts zeugen aber nur noch die überlieferten Flurnamen von dieser abgelegten Kultur. Von der Qualität des Weins schweigen die Chronisten. Angeblich zog die Reblauskatastrophe einen dicken Schlußstrich unter das Kapitel Weinanbau. Inzwischen trennt eben der Wein die beiden Elbseiten in zwei grundverschiedene Landschaften. Links wird das Terrain vorwiegend für Ackerbau und Viehzucht genutzt. Noch immer. Vormals Miltitzer Ländchen geheißen nach der Familie sächsischen Landadels, der es gelang, große Ländereien zusammenhängend in ihren Besitz zu bringen. So wie zu meiner Zeit jenes Agro-Emirat, dessen Landbesitz den der Miltitze noch übertroffen haben wird. Auf Riffen und Bergspornen über dem Fluß Schlösser und Wehrbauernhöfe gereiht. Ursprünglich als Grenzbefestigungen angelegt gegen die slawischen Siedler. Nach dem Bauernkrieg hatten die Schlösser wiederum Wehrhaftigkeit zu demonstrieren. Diesmal gegen die Bauern. Jeder Aufruhr und Widersatz war mit drakonischen Strafmaßnahmen im Keime zu ersticken.
Ganz anders gelagert die Geschichte der rechten Elbseite, die mit mehr Sonne bedacht wird. Charakteristisch für deren Hanglagen die noch immer aufgerebten Flächen, so steil, daß sie nur mittels aufwendiger Handarbeit zu bewirtschaften sind. Der Weinbau hat diesen Lößnitz genannten Landstrich „versüdlicht vor Dresden gelegen“, in einem exzellenten Deutsch von dem Maler Karl Kröner in einem Essay beschrieben, kulturgeschichtlich bereichert, geprägt, geformt. Aus der Sicht eines Erdbewohners, der wie ich von der herberen Seite stammt, regelrecht veredelt.
Der Fluß ist ein scharfer Trennstrich geblieben. Nur an wenigen Stellen wird noch ein bescheidener Fährbetrieb für ein Geringes mehr als ein Vergeltsgott aufrechterhalten. Aber die Tage der Personenfähren dürften gezählt sein, nachdem die weithin stillgelegte Industrie kaum noch Arbeiter über die Elbe lockt. Warum die Elbe als großes Randseil apostrophiert wurde, vermag ich nicht zu dechiffrieren. Sollte dies in graue Vorzeiten zurückreichen, als die Elbe eine Grenze markierte? Wollte ich versuchen, diese Metapher zu den bis 1870 benötigten Bomätschern in Beziehung zu setzen, jenen Zugknechten, die auf den Treidelpfaden neben dem Fluß herliefen und an langen Seilen die Lastkähne stromauf zogen, lief ich erst recht Gefahr, mich in Spekulationen zu verlieren.
In meiner Kindheit und oft auch noch späterhin sah ich bei klarer Sicht fast immer nur von meiner Runkelrübenwelt über die Elbe, in die Lößnitz hinüber. Immer mit der Empfindung, in eine weit schönere als meine Welt zu blicken. Abends stachen Farbspiele in die Augen, wenn sich die untergehende Sonne an den Glasfronten der Gewächshäuser brach. Die zu besichtigende Ferne ist mir näher als der Standort. Verkehrte Welt! Linkerhand steht das nobel herausgeputzte Hohenhaus. Jetzt ein Zankapfel. Vormals Wohnsitz des Großkaufmanns Berthold Thienemann und seiner fünf Töchter. Eine von ihnen, Marie, lernte Gerhart Hauptmann im Herbst 1881 kennen. In der Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend (1937) erinnert er sich seiner Aufenthalte in diesem Haus. In seinem Lustspiel Die Jungfern vom Bischofsberg (1907) läßt er Marie, die er 1885 heiratete, als Agathe agieren. Rechterhand eine sich selbst überlassene Bürgerburg, die noch keinen betuchten Käufer gefunden zu haben scheint. Als müßte sich Verwahrlosung, Verrümpelung zwangsläufig breitmachen, sobald die letzten Mieter das Haus verlassen haben. Über den Erbauer und etwaige illustre Vorbesitzer war nichts in Erfahrung zu bringen. Ein Landsitz, der im Immobilistendeutsch als Filetstück gehandelt wird, behält sein Geheimnis vorerst für sich. Der Weg weiter hinauf schlängelt sich durch verwilderte Parkanlagen, die längst wildwüchsig verwaldet sind.
Eines sehr heißen Sommertags des Kriegsjahres 1942 oder 1943 zog meine Mutter mit uns fünf Kindern, das jüngste im Sportwagen sitzend, eine der Lößnitzstraßen hinauf, um eine Feldbekanntschaft, die auf Ährenlesen und Kartoffelstoppeln gründete, nicht verkümmern zu lassen. Auf der Bergstraße, die für uns kein Ende nehmen wollte, blieb eine Frau verwundert stehen und wußte sich angesichts der Korona nicht zu fassen:

Wenn das der Fiehrer sähn däde, där dädch awr frein!

Auch so ein Satz, der sich nicht abschütteln ließ und mir ein Leben lang nachgelaufen ist. Als Stimme des Zeitgeists und lößnitzbehaftet. Eine Schwester Hitlers soll damals ebendort gewohnt haben, wurde gemunkelt. Muß ich jetzt noch von dem Spannungsverhältnis zwischen Standort und Blickfeld reden, seitenverkehrt?

Wulf Kirsten, aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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