Die Prozession der Kamele folgt
ihren eigenen Fußspuren
rund um den Globus
Die Grenzen ahmen den Himmel nach
die Wüste ertrinkt im Prädikat
Grünhäutige Kinder springen mit der Horizontlinie
aaaaaSeil
die Frauen vergessen sie zu gebären
und schlucken den eigenen Körper herunter
Der Mann sagt: „Europa…“
und der Spiegel aus flimmernder Luft hat Durchfall
Ihr Angebot änderte zwar nichts an der Tatsache, daß Deutsch (nicht) meine Muttersprache ist, aber dafür bekam ich eine neue Sprachmutter.1
Wer sich als Muttersprachler in Yoko Tawadas deutschen Sprachraum wagt, wo ihre Wortwagen uns sicher durch die Buchstabentopografie ihrer Sätze transportieren, muss damit rechnen, dass er nach dieser Erfahrung nicht mehr lesen wird wie zuvor: Die japanische Autorin führt uns Besonderheiten einer Sprache vor Augen, die wir von Geburt an zu ,beherrschen‘ meinen. Durch die ihr ganz eigene Art der sprachlichen Konditionierung bringt sie uns dazu, den gelesenen Text nicht – wie sonst in der ,erwachsenen Welt‘ üblich – automatisch in Sinn umzusetzen, sondern ihm mit wiederentdeckten Kinderaugen auf spielerisch-assoziative Weise eine ganz andere Art von Bedeutung zu schenken. Indem sie ihre durch die Bildlichkeit der ideografischen ,Muttersprache‘ geprägte Denkweise auf die deutsche ,Fremdsprache‘ überträgt, vermag sie es, uns von der Blindheit zu großer Nähe zu heilen. In Talisman schreibt sie:
In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so daß man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, daß weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können.2
Jene befreienden Erlebnisse, die Tawada dem Muttersprachler mit ihren Texten beschert, rekapitulieren dabei einen Lernprozess, den die Autorin zu Beginn ihrer Zeit in Deutschland selber durchlaufen musste. So beschreibt sie in Talisman, wie sie zuerst der Hilfe einer ,Sprachmutter‘ bedurfte, um einen gewissen kreativen Abstand zu der ihr noch unbekannten Sprache aufzubauen und sich das Klammern an die einzelnen Buchstaben des lateinischen Alphabets abzugewöhnen. Ihre Schreibmaschine, die für sie die Rolle der ,Sprachmutter‘ übernahm, half Tawada bei dem ungewohnten Aneinanderreihen einzelner Buchstaben, indem sie ihr das komplette Buchstabenangebot der deutschen Sprache an die Hand gab. Zusammen mit der ihr eigenen sprachlichen Sensibilität ermöglichte dieses Geschenk der ,Sprachmutter‘ Tawada ein genaues Ausleuchten der ihr alltäglich begegnenden deutschen Sprache. Dabei leitet sie – ebenso spielerisch und assoziativ wie der Leser später bei der Textrezeption – oft große Zusammenhänge von Sprachdetails ab:
Wenn man eine neue Sprachmutter hat, kann man eine zweite Kindheit erleben. In der Kindheit nimmt man jede Sprache wörtlich wahr. Dadurch gewinnt jedes Wort sein eigenes Leben, das sich von seiner Bedeutung innerhalb eines Satzes unabhängig macht.3
Diese poetische Einsicht, die ihr nur als ,Fremdsprachlerin‘ zuteil wird, eröffnet Tawada besondere Gestaltungsmöglichkeiten für ihre Texte: Indem die Autorin sie auf diesem Weg an ,muttersprachliche‘ Leser weitergibt, macht sie uns auf Zusammenhänge und Eigenheiten der deutschen Sprache aufmerksam, die wir aufgrund unserer unbewussten Vertrautheit mit ihr nicht erkennen würden. So wird sie selbst für uns zu einer ,Sprachmutter‘.
Mit seinen wiedererweckten Kinderaugen erkennt der Leser vielleicht auch, dass das in der deutschen Sprache verankerte Verständnis von ,Muttersprache‘ und ,Fremdsprache‘ als hierarchischer Gegensatz die Realität der Sache bis zur Verfälschung vereinfacht, schon weil das ,Konzept Fremdsprache‘ nicht sehr verlässlich ist: Mit jedem in ihr erlebten Tag verliert die ,Fremdsprache‘ ein wenig an Fremdheit. Es scheint eine Ungerechtigkeit der deutschen Sprache zu sein, dass sie sich Tawada als ,fremd‘ aufzwingt, wenn diese doch ,Sprachmutter‘ für ,Muttersprachler‘ sein kann. So ist es als eine wesentliche Leistung des deutschsprachigen Werks von Yoko Tawada anzuerkennen, dass es uns zeigt, wie realitätsfern verallgemeinernde Besitzansprüche an Literatur sind, und wie viel wichtiger die Beziehung jedes Individuums zu Sprache ist, unabhängig von seiner Herkunft.
Hannah Arnold, TEXT+KRITIK, Heft 191/192, edition text + kritik, Juli 2011
Wörter werden zählbar, wenn sie getrennt geschrieben werden. Wenn sie ohne Lücken dastehen würden, würde ein Text wie eine lange Nudel aussehen. Die Gegner des Nudelgerichts haben die Worttrennung erfunden. („Sprachpolizei und Spielpolyglotte“, in: Volltext)
I. Wörterbücher und Lexika als Modelle literarischer Schreibweisen
Wer Wörterbücher benutzt, bedarf normalerweise der Orientierung, strebt normalerweise nach einer Transformation von Unvertrautem in Vertrautes. Die Vorformen heutiger Wörterbücher bestanden aus zwei- oder mehrsprachigen Wortlisten oder Glossaren und hatten rein praktische Funktionen: Sie erklärten Reisenden und in der Fremde Ansässigen (Kaufleuten, Missionaren) schwierige, seltene oder regionale Wörter oder aber den Lesern kanonischer dichterischer Werke die Bedeutung von ungeläufigen Beispielen poetischen Sprachgebrauchs – so die bereits im 5. Jahrhundert v.Chr. kompilierten „glossai“ zu Homer und anderen Autoren. Das Arrangement der erklärungsbedürftigen und der erklärenden Wörter konnte variieren. Die frühesten englischen Wortlisten entstanden im 8. Jahrhundert aus zunächst interlinear in lateinische Texte eingefügten übersetzenden Wörtern der Volkssprache. Die hieraus entstandenen Glossare und ihre vielen Verwandten in verschiedenen anderen Kulturen waren allerdings zunächst nicht systematisch aufgebaut. Erst wo ein Korpus von Wörtern lexikographisch organisiert ist, liegt ein Wörterbuch vor. Die alphabetische Ordnung ist hier die kulturell und wissensgeschichtlich signifikanteste, aber keineswegs die einzige; es gibt auch thematisch oder nach Wortfeldern geordnete Wörterbücher.
Wörterbücher informieren nicht nur über Wörter, sie vermitteln auch das Weltwissen, das sich an die Wortbestände knüpft.4 Insofern sind sie eine Spezialform der enzyklopädischen Darstellung. Berühmte Wörterbücher wie der „Larousse“ oder der „Webster“ verbinden lexikalische mit enzyklopädischen Informationen. Wenn Umberto Eco aus semiotischer Perspektive zwischen Enzyklopädien und Wörterbüchern unterschieden wissen will, so beruht dies auf einer künstlichen, in pragmatischen Kontexten vielleicht sinnvollen, sachlich aber anfechtbaren Differenzierung.5 Tatsächlich hat man seit der Zeit der französischen Enzyklopädisten die Unterscheidung zwischen Kompendien des Wortwissens und solchen des Weltwissens zwar getroffen, aber zugleich als rein heuristische Unterscheidung betrachtet.6
Die alphabetisch strukturierte Enzyklopädie entsteht um 1700 im Zuge des Bruchs mit älteren Ordnungen des Wissens. Der Kosmos der vor-alphabetischen Wissensdiskurse wird mit dem Siegeszug der alphabetischen Ordnung partikularisiert und am Leitfaden der alphabetischen Ordnung restrukturiert – und das heißt: am Leitfaden der Ordnung, welche man bereits der Sphäre der Wörter gegeben hat. Die Ordnung der Wörter übernimmt die Rolle der zuvor hypostasierten Ordnung der Dinge. Dabei wird die Enzyklopädie zum Kunst-Werk, zum quasi-literarischen Projekt.7 Wie Andreas Kilcher eingehend dargelegt hat, kommen Säkularisierung und Ästhetisierung im Zeichen des Alphabets zur Deckung.8
Indem man im 18. Jahrhundert die Abhängigkeit der Weltinterpretation von sprachlichen Strukturen und Prozessen entdeckt, avanciert das Wörterbuch zu einem privilegierten Schlüssel zur Welt. Seitdem gilt das Wörterbuch als kulturelle Schlüsselinstitution, als Weltvermittlungsinstanz. Auf den ersten ,linguistic turn‘ des späteren 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Herder, Hamann, Humboldt) folgte in den 1960er Jahren ein zweiter.9 Vor allem Samuel Johnsons Dictionary of the English Language, 1755 in zwei Bänden erschienen, trug der Institution des Wörterbuchs als solcher größeren Respekt ein, als man ihr vorher je gezollt hatte: Als philologisch fundierte Bestandsaufnahme des kompletten englischen Wortschatzes angelegt, beruhte es auf einem Korpus von Beispielen, die Johnson zu weiten Teilen literarischen, philosophischen und biblischen Texten entnommen hatte: Schon dies nobilitierte das „Dictionary“ und verlieh ihm eine normative Dimension, die für Jahrhunderte auf die Textform Wörterbuch als solche abstrahlen sollte.
Erst im 20. Jahrhundert verliert sich diese normative Kraft des Wörterbuchs allmählich wieder. Und der Impuls zum Bruch mit Normen, zum Regelverstoß und zur Grenzüberschreitung führt bei Angehörigen verschiedener avantgardistischer Strömungen nun gerade zum kritischen – dabei aber auch wieder produktiven Schreiben gegen das Wörterbuch: zum Verstoß gegen die in ihm festgeschriebenen Konventionen, zu seiner Erweiterung um Neologismen, zu seiner Transformation und Verfremdung. Sich eine eigene Sprache zu erfinden, ein neues Vokabular oder eine neue Grammatik zu erproben, erscheint in den Selbstbeschreibungen von Dadaisten und anderen Avantgardisten vielfach als Inbegriff kreativer Arbeit.
Die Literatur hat sich auf verschiedenen Ebenen mit der Institution des Wörterbuchs und seiner enzyklopädischen Komponente, mit seiner alphabetischen Form und deren Implikationen auseinandergesetzt – mit dem Zusammenspiel von Partikularisierung und Fragmentierung einerseits, dem konstruktiven Charakter von Weltbeschreibungen in Wörterbuchform andererseits. Das Wörterbuch bietet eine Welt in Buchformat – so die vielfach variierte Ausgangsidee. Jean-Paul Sartre erzählt in Les Mots von der Faszinationskraft des „Larousse“, der ihm zur Kinderzeit angesichts des ansonsten mageren von der Familienbibliothek repräsentierten Universums alles Fehlende ersetzt habe: Das in Bände gegliederte Universum wird dem kindlichen Leser zum Ort der Begegnung mit der eigentlichen Wirklichkeit, der Essenz der Dinge, mit der verglichen die außerhalb des Wörterbuchs anzutreffenden Objekte selbst derivativ und weniger wirklich erscheinen. Was bei Platon der Ideenkosmos gewesen war – eine Sphäre der Urbilder –, ist hier das illustrierte Wörterbuch. Allerdings lädt dessen letztlich arbiträre Ordnung dazu ein, auch entsprechend wahllos in ihm umherzuschweifen.
[…] der ,Larousse‘ ersetzte mir alles: ich nahm mir wahllos einen Band vom vorletzten Regal hinter dem Schreibtisch: A-Bello, Belloc-Ch oder Ci-D, Mele-Po oder Pr-Z (diese Verbindungen von Silben waren Eigennamen geworden, welche die Sektoren des Universalwissens bezeichneten: es gab die Region Ci-D oder die Region Pr bis Z, nebst Fauna und Flora, nebst Städten, Schlachten und großen Männern); ich […] öffnete ihn [den Band], ich hob dort richtige Vögel aus, jagte dort nach richtigen Schmetterlingen, die sich auf richtigen Blumen niedergelassen hatten. Menschen und Tiere waren dort, in Person: die Abbildungen waren der Körper, der Text war ihre Seele, ihre einzigartige Essenz; außerhalb der Zimmerwände traf man auf matte Entwürfe, die sich mehr oder weniger den Archetypen annäherten, ohne deren Vollkommenheit zu erreichen. Die Affen im Zoologischen Garten waren weniger Affe, die Menschen im Luxembourg-Garten waren weniger Mensch. Platoniker meines Zeichens, ging ich den Weg vom Wissen bis zur Sache; ich fand an der Idee mehr Wirklichkeitsgehalt als an der Sache selbst, denn die Idee ergab sich mir zuerst, und sie ergab sich mir wie die Sache. Ich habe die Welt in den Büchern kennengelernt: dort war sie assimiliert, klassifiziert, etikettiert, durchdacht, immer noch furchterregend; und ich habe die Unordnung meiner Erfahrungen mit Büchern verwechselt mit dem zufälligen Ablauf wirklicher Ereignisse. Hier entsprang jener Idealismus, den ich erst nach dreißig Jahren von mir abtun konnte. (Sartre: 1968, S. 30)
Hermann Burger erzählt in seiner Novelle „Blankenburg“ die Modellgeschichte eines Ichs, das sich durch sein allzu gieriges und intensives Eintauchen in die Welt der literarischen Werke an Sprachlichem übernommen hat – wie jemand, der sich den Magen verdirbt oder dessen Augen ermüden. Burgers Ich-Erzähler weiß die Wörter-Welt nicht mehr zu verarbeiten, verliert schließlich gleichermaßen den Bezug zu Wörtern und Dingen. Nebel breitet sich um ihn aus; Differenzlosigkeit scheint alles zu absorbieren. In diesem Zustand der „Leselosigkeit“ bekommt der am „Morbus Lexis“ Erkrankte von einer den Kosmos des Literarischen repräsentierenden, quasi-allegorischen Frauengestalt den Weg zur Sprache und damit zur Welt zurück gewiesen: Die Herrin von Blankenburg lässt ihm das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm zukommen, und er liest sich Band für Band, Wort für Wort die Welt und sein eigenes Selbst wieder zusammen (Burger: 1986a, S. 90 u.a.). Was in „Blankenburg“ als der Geschichte einer erfolgreichen Wörterbuch-Kur mit grasgrünem Grimm allerdings nur angedeutet wird, tritt in Burgers Erzählung über den „Mann, der nur aus Wörtern besteht“ (Burger: 1986b, S. 239–241) stärker heraus: Für den, der allein mittels der Wörter zu den Dingen und zu sich findet, gibt es eben keinen un-mittelbaren Welt- und Selbstbezug. In einer Wörter-Buch-Welt, die das Ich zur Vokabel macht, ist gerade der passionierte Leser und Schriftbenutzer nichts anderes als ein „Mann aus Wörtern“. Und auch der Bericht über sich selbst und die eigene Heilung ist nichts als Zitat (Burger: 1986a, S. 153).
Ganz anders und deutlich positiver akzentuierend, berichtet Peter Handkes Ich-Erzähler in Die Wiederholung von einem Wörterbuch seines Bruders, das ihm als eine Schwelle zu den Dingen gilt (Handke: 1986a). Werkheft und Wörterbuch des Bruders sind hier Wiederholungen (!) der Dingwelt, die an sich selbst bereits Signaturencharakter besitzt. Das slowenische Wörterbuch macht Unsichtbares sichtbar – durch seine „anderen Namen“.10 Nicht allein, dass das die Wirklichkeit der Landschaft, des Gartens zugleich bildhaft erstehen und bedeutsam werden lässt; es macht über die Wort-Geschichten individuelle und kollektive Geschichte lesbar. Das Ich selbst fühlt sich angesprochen durch die Einträge im Wörterbuch.11 Bruder Gregors Wörterbuch ist also ein Beschwörungsbuch, es enthält die Formeln der Dinge in Schriftgestalt. Als „Umschreibungen“ der slowenischen Vokabeln sind die deutschen Erläuterungen Sprach-Kreise von raum-erschließender Kraft: in ihrem Kreis erscheint das Gegenständliche wie in einem Akt magischer Evokation.
[…] entsprechend wirkte nun das alte Wörterbuch auf mich als Sammlung von Ein-Wort-Märchen, mit der Kraft von Weltbildern […]. Ja, um ein jedes Wort, bei dem ich ins Sinnieren kam, bildete sich die Welt. [… ] so zogen nun die Einzelwörter Kreise, die mich an eine Figur der Vorgeschichte, […] an den legendären Orpheus, denken ließen […]. Jeder Wortkreis ein Weltkreis! Entscheidend war dabei, daß der Kreis jeweils von dem einzelnen, fremden Wort ausging. (ebd., S. 205f.)
Das Wörterbuch als Sammlung von Umschreibungen wird bei Handke zum Modell des poetischen Textes selbst. Denn dieser will eine Leerform sein, um Abwesendes evozieren zu können.
Und die Leerform hieß: Erzählung. (Handke: 19866, S. 11)
Die bei Sartre, Burger und Handke erfolgende Verwandlung des Wörterbuchs zur poetologischen Metapher kann also ganz unterschiedlichen Akzenten unterliegen. Wörterbücher sind aber nicht allein Gegenstände der semantisierenden und metaphorisierenden Beschreibung, sondern sie können auch als Strukturmodelle des poetischen Textes selbst dienen. Michel Leiris etwa hat ein umfangreiches, phantastisches „Glossaire“ vorgelegt.12 Unter dem Buchstaben A finden sich u.a. folgende Einträge, an denen die Verfahrensweise des Dichters ablesbar wird: Er deutet (durch anagrammatische und andere Verfremdungen) konventionelle Vokabeln als Kürzel für komplexe und oft rätselhafte Ausdrücke:
ABİME – vie secrète des amibes
ABONDANCE – (non-sens, sans l’abandon)
ABRUPT – âpre et brut
ABRUTI – abrité
ABSENCE – espace vacant, d’un banc de sable qui s’en va…
ABSOLU – base unique: sol aboli
ACADÉMIE – macadam pour les mits
ACCALMIE – lame de mica tranquille
ACCIDENT – phénomène en dents de scie (la scie est l’axe)
ACCOUPLEMENT – poulpe d’amants, en coupe.
ACROBATE – embarqué de bas en haut, de haut en bas, il bat du corps et baratte l’air sans accrocs.
ACTE – attaque
AGONIE – je divague, j’affirme et je nie tour à tour, honni par l’âge qui mèst une dague
AIGLE – angle d’ailes […]
(Leiris: 1991, S. 112)
Simon Werle, Übersetzer13 und Kommentator des „Glossaire“, spricht vom Vorstoß des Dichters Leiris „in den Binnenraum der Sprache“ (ebd., S. 94).14 Felix Philipp Ingold spricht in seiner Interpretation zu Michel Leiris’ Buchstabenspielen, Wortverdrehungen und homonymen Doppellesarten von einer „lautliche(n) Übertragung“, die auch als „anagrammatischer Kommentar“ gelesen werden könne (ebd., S. 102). Die Idee, quasianagrammatische Wort-Spiele als innersprachliche Übersetzungen zu betrachten, impliziert für Ingold, dass das spielerisch zutage Geförderte in der Sprache selbst „steckte“, so wie eine Aussage in einem zu übersetzenden Text steckt und durch Übersetzung aus diesem „heraus“ geholt wird.15 Was bei Burger auf die selbstkritische Diagnose hinausläuft, nichts als ein „Mann aus Wörtern“ zu sein, bedeutet bei Ingold, seinen tragenden Grund in der Sprache immer schon gefunden zu haben. (Ob Leiris selbst wirklich, wie es diese post-auktorial inspirierte Interpretation will, die Autorschaft ostentativ an die Worte delegiert,16 lässt sich übrigens keineswegs eindeutig entscheiden. Denn ebensogut könnte man behaupten, er demonstriere durch seine an den Wörtern vorgenommenen Transformationen die auktoriale Gewalt dessen, der sich ein Wörterbuch aneignet – die Gewalt zur Verwandlung des Vorgefundenen.)
Die poetischen Wortlisten von Leiris ähneln in ihrer Zeilenform strukturell lyrischen Texten. Andere Lyriker, darunter Ernst Jandl haben ebenfalls an die Wörterbuch- oder Wortlistenform angeknüpft (z.B. mit „chanson“).17 Für narrative Texte und Prosabeschreibungen wird parallel dazu vor allem die lexikographische Form zur vielfältig verwendbaren Matrix. Lexikographische Strukturen werden erzählerischen Texten in verschiedenem Umfang integriert; teilweise sind diese sogar komplett lexikographisch strukturiert.18
II. Über Wörterbücher bei Yoko Tawada
Verschiedene Figuren Yoko Tawadas führen ein Leben mit, wenn nicht sogar in Wörterbüchern. In der Erzählung „Saint George and the Translator“ stellt sich die Ich-Erzählerin als Übersetzerin vor – ebenso wie auch in Das Bad. Sie hat sich auf eine Kanarische Insel in ein einsames Ferienhaus zurückgezogen, um einen Text ins Japanische zu übertragen, und ringt dort mit ihrem Auftrag.19 Von dem zu übersetzenden Text scheint eine Bedrohung auszugehen,20 und die einzige Verteidigungswaffe, die der Übersetzerin zur Verfügung steht, ist ihr Wörterbuch – das sich allerdings als eine eher schwache Waffe gegen die (teilweise halluzinatorischen) Bedrohungen der Situation und die sperrige Übersetzungsvorlage erweist. (Eine Analogie zur Legende um Sankt Georg und den Drachen ergibt sich insofern, als die Frau auf einen Freund namens George wartet, wodurch suggeriert wird, dass sie in der Rolle der zu befreienden Prinzessin mit einem ,Drachen‘ konfrontiert ist – mit ihrer Situation, mit dem fremden Text.) Der Erzählerinnenbericht über ihre Tage im Ferienhaus wird immer wieder unterbrochen durch Wörterlisten. Offenbar handelt es sich um die Vokabeln, die die Protagonistin nachgeschlagen hat, so dass diese als ein Schatten des zu übersetzenden Textes, allerdings ohne dessen syntaktische Struktur, aber auch als ein aus Wörterbuch-Vokabeln gebauter Wall in den Haupttext eingewoben sind.
… in open mouths, in throats, stuck, stabbed, tongue at the bottom, run through… (Facing the Bridge, S. 112)
Die nachgeschlagenen Vokabeln, die teilweise anschließend gegen treffendere ausgetauscht werden müssen, wollen sich nicht zu einem zusammenhängenden Ganzen fügen. Dies scheint zum einen an der Struktur des zu übersetzenden Textes zu liegen.21 Zum anderen aber neigt die Übersetzerin auch dazu, Gelesenes zu atomisieren, es in einzelne Wörter und Buchstaben zu segmentieren, die sich dann gegen eine Synthetisierung zu sperren scheinen. Das Wörterbuch liefert ihr nur Bausteine, keine Zusammenhänge. Gelänge es, die geschriebenen Wörter als Satz-Zusammenhang zu lesen, in einem Atemzug, so wäre diese wörterbuchspezifische Segmentierung vielleicht überwindbar, und es entstünde ein kohärenter Übersetzungstext.
… for them, is waiting, the same, lot, they, grow up, into it, to become sacrifices, just one, far from that, are shown, the young, together, being killed, with one strake, two at a time…
Unconnected words scattered across the page. I knew that I had to link them together into sentences but I was physically deficient. My lung capacity wasn’t good enough. „The trick is to read one sentence slowly while taking a deep breath, hold your breath while you translate the sentence in your head and rearrange the words, then, while carefully exhaling, write the translation down“, my translator friend Ei told me but reading only one word left me panting and with all these breathless thoughts running through my head I couldn’t seem to get the next one. (ebd., S. 121)
Was ist Übersetzen? Die Erzählerin fragt sich dies, während sie den vor ihren Augen in Einzelsegmente zerfallenden Ausgangstext Stück für Stück in ihre eigene japanische Sprache überträgt – und sie gibt gleich zwei mögliche, aber kontroverse Antworten: Entweder das Übersetzen ist ein solcher Transport von Sprachpartikeln, bei dem das Wörterbuch als Transportvehikel fungiert – oder es ist ein fundamentaler Verwandlungsprozess des Textes, dessen Resultat keine Kollektion aus Wortbausteinen, sondern ein lebendiges Ganzes ist. Den ,Transport‘ beherrscht die Wörterbuchbesitzerin, doch die ,Verwandlung‘ will nicht gelingen.22
Tawadas Texte dokumentieren insgesamt ihr ausgeprägtes Interesse an Wörterbüchern – was angesichts der in ihnen dominierenden Themen – Sprache, (kulturelle) Fremdheitserfahrung und Zeichenlektüre – auch nicht überrascht. Ihre Figuren bewegen sich zwischen differenten Sprachräumen und haben schon darum gute Gründe, Wörterbücher zu konsultieren. Sie besitzen eine große Sensibilität für die materiell-konkrete Dimension von geschriebener Sprache23 und sind deshalb besonders dazu disponiert, das Wörterbuch als Aktionsraum eigensinniger, oft sogar quasi-lebendiger Wörter und Sprachpartikel wahrzunehmen.24 Dinge ,falsch‘ zu sagen oder zu entziffern, bedeutet, sie ,neu‘ zu sehen, zu bezeichnen oder zu deuten – so eine verfremdungsästhetische Kernidee, die Tawada immer wieder zum Ausgangspunkt des Schreibens nimmt. Das Eintauchen in eine fremde Sprachwelt führt zu Normverstößen gegen deren Regeln, in denen zumindest schöpferische Potenziale liegen. Wer eine Fremdsprache gebrochen oder unbeholfen spricht, entzieht sich der Reglementierung – hierüber zu lachen, wäre borniert.
Durch das Studium [der Fremdsprachen] gewinnt man die Fähigkeit, etwas falsch zu machen. Alles, was neu ist, erscheint zuerst als falsch. Und die Freunde lachen dich aus, ohne zu merken, daß sie dadurch zu Sprachpolizisten werden. („Sprachpolizei und Spielpolyglotte“, in: Volltext)
Solche positive Einschätzung der Unbeholfenheit im fremden Sprachraum deutet bereits daraufhin, was Wörterbücher aus Tawadas Perspektive jedenfalls nicht sind oder sein sollten: nämlich Instrumente, die den Sprachgebrauch normgerecht regulieren und den Verstoß gegen Konventionen des Bezeichnens unterbinden. Wie aber können Wörterbücher, die doch meist eigentlich genau zu diesem Zweck kompiliert, publiziert und genutzt werden, ihrer Indienstnahme durch die Sprachpolizei entzogen werden? Man muss sie offenbar gegen den Strich lesen.
Das Gegen-den-Strich-Lesen alltäglicher Schriftstücke ist ein zentrales poetisches Prinzip. Bei Tawada vollzieht sich mancher Aufstand der sonst so braven Schriftzeichen gegen die konventionelle Nutzung. Oft werden Zeichen vor den Augen der Erzählerinnen zu Dingen, ja zu lebendigen Objekten, Dinge hingegen zu (Schrift-)Zeichen und Texten. Selbst das eigene Ich kann als ein Buchstabengebilde gelesen werden. Wörtersammlungen können sich als Ding-Repertoires präsentieren und umgekehrt. Einfallsreich umspielen Tawadas Texte die ohnehin offene und nur bedingt gültige Grenze zwischen Glossar und Enzyklopädie.
Die Ordnung der Zeichen (der Wörter) und die Ordnung der Dinge, einerseits untrennbar miteinander verwoben, stellen einander zugleich wechselseitig in Frage. Erstere deckt sich mit letzterer allenfalls bezogen auf den sprachlich-kulturellen Raum, in dem das sprechende Individuum aufwächst und sozialisiert wird. Wo es später in einen anderen sprachlich-kulturellen Raum wechselt (wie viele Figuren Tawadas es tun), dort ist es als Folge der Begegnung mit einer neuen Ordnung der Zeichen zur Revision seiner Vorstellungen über die Dinge selbst gezwungen. Tun sich beim Sprachraum-Wechsel in der sprachlich bezeichneten Welt Inkongruenzen und Brüche auf, so werden die Dinge selbst vieldeutig und diffus. Orientierungsbedürftig, aber auch fasziniert begegnet der kulturelle Grenzgänger ihren neuen Gesichtern. Die Benutzung eines Wörterbuchs erzeugt hier keinesfalls automatisch Orientierung. Im Gegenteil kann auch und gerade das Wörterbuch zum Gegenstand der Irritation, ja des Befremdens werden.
(1) Wörterbuch-Geschichten
Der Gebrauch von Wörterbüchern führt in Tawadas Geschichten auf programmatische Weise gerade nicht dazu, dass ein zunächst fremder Text durch Anfertigung einer muttersprachlichen Interlinearversion zu einem lesbaren und verständlich anmutenden Gebilde wird. Stattdessen entsteht bei der Verwandlung des fremdsprachigen Textes in Texte aus Vokabeln der vertrauten Sprache ein fremder Text aus vertrauten Vokabeln. Und so wird dann die eigene Sprache auch noch fremd. In Das nackte Auge verwendet die Erzählerin einige Nummern der Filmzeitschrift ecran als fremdsprachiges Lesebuch, und sie tastet sich mittels eines Wörterbuchs an dessen Sätze heran.
Ich schlug jedes Wort im Wörterbuch nach, wenn ich in dem Dialogstück in ,ecran‘ weiterlas. So kam ich nur langsam vorwärts. Die fett gedruckte Stimme: „Fragen – sehr – originell – für anfangen: wie – sind – Sie – angefangen – in – Kino? Sie – ? – fünfzehn – Jahre –, ich – glauben“. Das irritierte mich. (Das nackte Auge, S. 57)25
Dass bekannte Dinge im fremdsprachigen Raum auf einmal anders heißen, führt dazu, dass sie sich selbst verwandeln – was den Beobachter faszinieren, aber auch irritieren und erschrecken kann. Tawada erzählt eine ganze Reihe einschlägiger Geschichten über solche Erfahrungen des Befremdlichen.26 Zu unvorhersehbaren Entdeckungen kommt es aber vor allem angesichts fremdsprachiger Reden und Ausdrücke. Homonymien beispielsweise stiften allerlei Verwirrung. Hat ein Laut oder eine Lautfolge in verschiedenen Sprachen verschiedene Bedeutungen, so verschmelzen für den Grenzgänger zwischen den Sprachen die Signifikate zu hybriden Wesen. Für Homographien gilt Analoges. So fühlt sich die Ich-Erzählerin in „Coronis“ als Folge der Wörterbuch-Erklärung zum englischen Wort „tube“ fortan in englischen Untergrundbahnen so, als sei sie in einer deutschen „Tube“.
,Tube‘ bedeutet U-Bahn, lese ich in einem meiner Wörterbücher. Seitdem fühle ich mich halb flüssig, wenn ich ihn einer U-Bahn sitze. (Opium für Ovid, S. 78f.)
Wiederholt verbindet sich der Erzählerbericht über fremdsprachliche Entdeckungen mit dem über Schwindelerfahrungen. Der deutsche Ausdruck „Kreislaufstörungen“ erscheint so als Auslöser der (außerhalb des Deutschen unbekannten) Gesundheitsbeeinträchtigung, die er bezeichnet.27
Solche Darstellungen der vom Fremdsprachlichen ausgelösten Irritationen korrespondieren Tawadas Verständnis literarischen Schreibens unmittelbar. Denn dieses beruht auf Irritationen und erzeugt neue. Wer Wörterbücher benutze, strebe normalerweise nach Transformation von Unvertrautem in Vertrautes, so hieß es einleitend. Tawadas Poetik der Verfremdung zufolge ist dies eine Reduktion. Zu unterscheiden wäre zwischen ,sinngemäßer‘ und ,literarischer‘ Übersetzung. Die erste soll die Fremdheit des Ausgangstextes zum Verschwinden bringen oder doch relativieren, die letztere soll sie gerade sichtbar machen und betonen.
Wenn ich einen Text sinngemäß übersetzen will, entferne ich mich zunächst von den Buchstabenkörpern. Ich lese deutsche Sätze laut vor, übersetze den gesprochenen Inhalt in Denkbilder und versuche dann, diese Bilder auf japanisch zu beschreiben. Das ist eine kommunikative Übersetzung, aber keine literarische. Eine literarische Übersetzung muss obsessiv der Wörtlichkeit nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die konventionelle Ästhetik sprengt. Eine literarische Übersetzung muss von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen. (Verwandlungen, S. 35)
Die Ich-Erzählerin in „Saint George and the Translator“ verwahrt sich gegen die Ansprüche ihrer Kritiker, als Übersetzerin glatte Texte in konventionellem Japanisch zu lesen. Ihre Übersetzungen, so betont sie selbstbewusst, indem sie das kritisch gemeinte Prädikat ,translationesisch‘ ins Positive wendet, sollen etwas von jenem Befremden vermitteln, das zunächst vom übersetzten Originaltext ausgeht.
University professors occasionally criticize my work. Other translators haven’t though scholars seem to think translators are like students and like to point out my mistakes and dismiss my style as ,translationese‘ while complaining that my Japanese is wrong or my use of Chinese characters strange. (Facing the Bridge, S. 121)
Und im Gespräch mit dem Postangestellten, der ihre Übersetzung nach der Fertigstellung von der Insel expedieren soll, findet die Übersetzerin eine Metapher, in der ihre persönliche Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Übersetzungen zum Ausdruck kommt:
[…] translation itself is something like a separate language. If the writing feels like pebbles falling down then you know it’s a translation. (ebd., S. 147)
Es sei, so Tawada, banal und irreführend, eine Übersetzung dafür zu loben, dass sie nicht nach einer Übersetzung klinge.
Dieses Lob zeugt von verdrehter Logik. Man sagt doch auch nicht: Diese Literatur ist gut, weil man fast vergißt, daß es Literatur ist. Für mich besteht der Reiz einer Übersetzung darin, daß sie den Leser die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren läßt. Die Sprache der Übersetzung tastet die Oberfläche des Textes vorsichtig ab, ohne sich von seinem Kern abhängig zu machen. Es gibt sogar Texte, die wie Übersetzungen wirken, obwohl sie keine sind. (Verwandlungen, S. 35f.)
Kleist und Kafka haben Tawada zufolge solche Texte geschrieben – Texte also, die eigentlich die eigene Sprache ,abtasten‘ und sie zur Fremdsprache machen, indem sie unter der Oberfläche des Konventionellen und Verständlichen Bedeutungsdimensionen freilegten, die sich der Decodierung entziehen. Sich in keiner Sprache wie selbstverständlich zuhause zu fühlen, ist insofern charakteristisch für den Dichter an sich, der – wie Tawada es ausdrückt – eher ,Übersetzungen‘ als Originale schreibt. In Opium für Ovid ist die Sprachlehrerin Clymene eine solche Grenzgängerin zwischen den Sprachen.28
Manchmal bedarf es des katalysatorischen Effekts von Fremdsprachen, um Distanz zur eigenen, viel zu geläufig benutzten Sprache zu gewinnen. Die fremde Sprache befreit vorübergehend von der Bindung an die eigene, von der Bindung an die vertrauten Dinge und Anschauungsweisen. Die daraus resultierende Bindungslosigkeit hat aus der Perspektive der Anhänger von Sicherheit und Ordnung etwas Verdächtiges.
Vielleicht ist es tatsächlich eine Sünde, neue Sprachen zu lernen, vielleicht ist jeder Sprachlehrer ein Teufel. Einmal las ich in einem Leserbrief, der in der Zeitung abgedruckt war, daß man keine andere Sprache lernen solle außer der einen, die man bekommen habe. Das sei die Sprache der Verantwortung, die man ein Leben lang auf dem Rücken tragen solle. Wenn man keine Augen auf dem Rücken hat, sieht man die Sprache nicht, die man trägt. Deshalb darf man in dieser Sprache weder lachen noch lügen. Wer sich davon zu trennen versucht, verliert das Vertrauen der anderen, denn in einer fremden Sprache lügt man, ob man will oder nicht. In einer fremden Sprache lernt man also endlich zu lügen, Wort für Wort eine Welt zu flechten, die es nicht gibt. Clymene bot uns diese verbotenen Waren an, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. (Opium für Ovid, S. 103; Hervorhebung von mir, M. S.-E.)
Wer sich darauf verlässt, im ,Haus‘ der Muttersprache sicher wohnen zu können, vergisst allzu leicht, dass dieses Haus selbst kein festes Fundament in den Gegebenheiten der Welt hat. Seine Architektur mag eine feste Ordnung der Dinge suggerieren, doch tatsächlich ist sie kontingent. Darauf verweist ein Gespräch zwischen der Ich-Erzählerin und Clymene bei einer Ausstellung von Skulpturen, die das Innere von Köpfen darstellen.
„Wo wohnen die Sprachen überhaupt?“ / „Ich dachte, wir wohnen in den Sprachen. Deshalb habe ich nie das Gefühl, daß ich obdachlos bin, selbst wenn ich wochenlang unterwegs bin.“ „Aber wo wohnen die Sprachen?“ (Opium für Ovid, S. 104f.)
Clymenes starkes Sensorium für das sprachlich Differente lässt sie Wörter und Sprachen als konkrete Dinge sinnlich erfahren. Dass dies nicht immer angenehm ist, lässt eine Episode ahnen, in der ihr ein Wörterbuch von Sprachen, die sie nicht beherrscht, schmerzhaft auf den empfindlichen Fuß fällt.29
(2) Die Wörter-Liste als Textform: „Ein Chinesisches Wörterbuch“
Ein Text aus den Überseezungen trägt den Titel „Ein Chinesisches Wörterbuch“. Das klingt, als sei damit die Signifikanten- oder Ausdrucksebene bezeichnet, tatsächlich aber bezieht sich der Titel auf die Inhalts-Ebene. Der Text selbst ist gar kein chinesisches Wörterbuch (auch dem Umfang nach nicht; es handelt sich eher um eine kurze Wörterliste), sondern ein ausschließlich deutsches Wortgebilde, das allerdings aus der Konsultation eines chinesischen Wörterbuchs hervorgegangen ist. Jeweils einem Wort aus der deutschen Sprache steht hier die wörtliche deutsche Übersetzung desjenigen Ausdrucks gegenüber, den die chinesische Sprache für dasselbe Signifikat bereithält. Der buchstäbliche Sinn des chinesischen Ausdrucks erscheint somit in der Gestalt einer intrasprachlichen (deutschen) Übersetzung. Auf die rechte und die linke Seite verteilt scheinen wir Vokabeln aus zwei verschiedenen deutschen Sprachen zu sehen; das Deutsche selbst ist hier also offenbar nicht ganz mit sich selbst eins – das Chinesische ist sozusagen dazwischengekommen.
Pandabär: große Bärkatze
Seehund: Seeleopard
Meerschweinchen: Schweinmaus
Delphin: Meerschwein
Tintenfisch: Tintenfisch
Computer: elektrisches Gehirn
Kino: Institut für elektrische Schatten
schwindelerregend: in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht
Ohnmacht: Abenddämmerung der Vergangenheit
(Überseezungen, S. 31)
Die dem Text zugrundeliegende Konstruktionsidee ist denkbar schlicht; das Resultat aber verweist auf gleich mehrere Modelle der Beziehung zwischen differenten Sprach- und Vorstellungswelten. Die „übersetzten“ Dinge verwandeln sich offenbar durch die Manipulation ihrer Namen: Aus einem „Pandabär“ wird eine „große Bärkatze“, aus einem Seehund ein „Seeleopard“ etc. Keine Kongruenzen, aber Konvergenzen: Es scheint, als bestünden zwischen den beiden Seiten des Spielfeldes Verwandtschaftsbeziehungen. Namensähnlichkeiten machen die deutschen und die ins Deutsche übersetzten chinesischen Tiere zur Sippe.
Gelten die ersten vier „Wörterbuch“-Zeilen Tiernamen, also den Bezeichnungen lebendiger Wesen, so geht es mit den letzten vier Zeilen um Objekte, eine Eigenschaft und einen Zustand. Was im konventionellen Deutsch einen unauffälligen Namen hat, wird im ,chinesischen‘ Deutsch jeweils metaphorisch bezeichnet. Schon durch ihre Metaphorizität machen die Ausdrücke auf sich aufmerksam. (Der Leser mag sich an die These von der ursprünglichen Metaphorizität aller sprachlichen Ausdrücke erinnert fühlen – und an die romantische Vorstellung, die poetische Sprache widme sich aus einer gewissen Distanz zur Norm- und Alltagssprache heraus dem Auffrischen vertrockneter Sprach-Blumen. Offensichtlich ziehen ja ungeläufige, weil aus einer anderen Sprache übersetzte Metaphern die Aufmerksamkeit in ganz anderer Weise auf sich als geläufige Sprachbilder.)
Wie in einer Beispielsammlung werden hier verschiedene rhetorische Verfahren illustriert: Offenbar ist das „Chinesische Wörterbuch“ ein Mini-Kompendium von rhetorischen Formen und poetischen Sprechweisen.30 Es leitet dazu an, Alltagssprachliches in eine ,andere‘ Sprache zu transformieren. Das solcherart Transformierte ist dann nicht mehr dasselbe.
Im Rahmen einer solchen poetologisch-reflexiven Lesart des Textes erscheinen die zusammengetragenen Ausgangswörter nicht beliebig gewählt. Im Ensemble spielen sie auf eine Sphäre der Imaginationen und Träume an, in der sich vermeintlich Vertrautes und Banales verwandelt, bis hin zu Schwindel und Orientierungsverlust – zum Dämmerzustand, in dem Vergangenes (ver)schwindet, um neuen Erfahrungen Platz zu machen. Umschrieben werden also die Effekte genuin ästhetischer Erfahrungen. In Tawadas Texten sind technische und visuelle Medien wie Computer und Kino Orte der Erscheinung von Geistern, der magischen Transformation, der derealisierenden Entgrenzung von Wirklichem und Imaginärem – bis hin zur Absorption des Ichs durch die Welt der medialen Simulacren.31 In eben dieser schwindelerregenden Eigenschaft spiegeln sie aber den poetischen Sprachgebrauch, der eine Brücke vom Alltäglichen zum tief Befremdlichen schlägt und die Grenze zwischen Realität und Traum verwischt.32
Bei Tawada, die sich auf Ovid mehrfach explizit bezieht, ist Verwandlung Inbegriff, ja Synonym des dichterischen Verfahrens. Die Ich-Erzählerin in „Saint George and the Translator“ imaginiert – während sie mithilfe ihres Wörterbuchs den zu übersetzenden Originaltext stückweise ins Japanische ,hinübersetzt‘, von einer Verwandlung des Originals in ein neues Gebilde (Facing the Bridge, S. 121). Verwandlungen heißen Tawadas Poetik-Vorlesungen (deren Verwandlungstexte motivlich mit den Erzählungen über Kino und Computer, Schwindel und Ohnmacht eng vernetzt sind), die damit bereits signalisieren, dass damit das für Tawada zentrale poetische Prinzip benannt ist.33 Und das „Chinesische Wörterbuch“ führt auf programmatische Weise vor Augen, wie sich ein Ausgangstext verwandelt. Insofern ist es ein Meta-Gedicht – als ein Buch der (Ver-)Wandlungen, das alles mögliche im Licht seiner Wandelbarkeit erscheinen lässt.34
Metamorphotisch erscheint die Welt der natürlichen Wesen (hier die der Tiere), metamorphotisch die der Artefakte und Medien – und die Übersetzung vom Deutschen ins ,chinesische‘ Deutsche bietet das sprachliche Äquivalent dazu. Zwischen den vier Quadranten der Gedichtwelt (Tiere deutsch, Tiere deutsch-chinesisch, Bilder deutsch, Bilder deutsch-chinesisch) steht wie in der Mitte zwischen vier Himmelsrichtungen unübersetzt der Tintenfisch. Er bleibt ein Tintenfisch, auch im „Chinesischen“, der Übersetzung offenbar unbedürftig (oder aber un-übersetzbar), er ist dabei aber wiederum ein Mischwesen, und zwar eines, in dem Animalisches (Fisch) und Gegenständliches (Tinte) hybridisiert sind. Sowohl seine Mittel- und Mittlerstellung als auch seine Beziehung zur Welt der Tinte verlocken dazu, in ihm den Repräsentanten des (oder der) Schreibenden zu sehen, also den Platzhalter des poetischen Übersetzers selbst. Das Reich des Tintenfischs ist das „Reich der Mitte“ (also Chinas, so wie man es in deutschen Wörterbüchern manchmal nennt).
Tinte und Fisch sind bei Tawada übrigens je für sich poetisch semantisiert: Die Tinte ist eines der verschiedenen Schreibmaterialien, die Tawada als Akteure ihrer autoreflexiven Geschichten über das Schreiben auftreten lässt (vgl. Talisman, S. 12); der Fisch ist Bewohner – oder vielmehr Bewohnerin – einer Gegenwelt, die die Kehrseite der Alltags- und Menschenwelt bildet,35 einer Welt des Dazwischen und des Übergangs.
Eine konnotationsreiche Fisch-Frau ist die Dolmetscherin in Das Bad. Sie begleitet hier ein Arbeitsessen deutscher und japanischer Geschäftspartner. Mit „gesenktem Kopf“ gibt sie „wie mechanisch“ die Äußerungen der Beteiligten wieder, fühlt sich durch ihre Auftraggeber herablassend behandelt36 und subvertiert ihre Aufgabe insofern, als sie für manche Äußerungen der beiden Seiten der jeweils anderen Seite eine falsche Übersetzung anbietet. Dadurch werden allerdings Konflikte vermieden, welche sich aus unterschiedlichen kulturellen Prägungen entspinnen könnten; man bleibt höflich zueinander, weil man einander nicht richtig versteht. Die irritierte Bemerkung eines japanischen Gesprächsteilnehmers über den kurzen Rock einer deutschen Teilnehmerin übersetzt die Dolmetscherin falsch als Bemerkung über die Schönheit des alten Porzellans. Die Dolmetscherin liebt Seezungen.37 Dass sie sich zu Fischen hingezogen fühlt, hängt nach ihrer Einschätzung mit deren Stummheit zusammen.38
Fischnamen und Fischgestalten markieren wiederholt wichtige Kreuzungspunkte semantischer Netze. Die Bedeutung dieses Motivkreises hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie Namensähnlichkeiten als Indizien für sachliche Zusammenhänge liest, auch wenn die wissenschaftliche Etymologie dies nicht stützt. Der Fisch, der im „See“ wohnt, erinnert an die „Seele“.39 Und im Wort „Überseezungen“ etwa steckt die Seezunge als (ihrerseits zur sprachlichen Transformation einlandende) Vertreterin des Fischreichs.
(3) Schreiben am Leitfaden von Wörterbüchern: Das „Wörterbuchdorf“
Ein „Wörterbuchdorf“ errichtet Tawada in dem Band Talisman. Der auf den einander gegenüberliegenden Doppelseiten zweisprachig gesetzte Text der Erzählung (dessen beide Hälften auch durch den bedruckten Untergrund, eine stark verfremdete Photographie, in einem Spiegelungsverhältnis zueinander stehen) stammt im japanischen Original von Tawada und wurde von Peter Pörtner ins Deutsche übersetzt. Als „Buch im Buch“ (so der Obertitel) nimmt die Erzählung die Seiten 63–79 des insgesamt aus gut 130 Seiten bestehenden Bandes ein – und damit dieselbe Mittelstellung wie der „Tintenfisch“ im „Chinesischen Wörterbuch“. Ein weiteres Reich der Mitte also – und eines des Übersetzens. Als eine Erzählung, die gleich zweimal abgedruckt ist, eben auf Japanisch und auf Deutsch, ist der Text zudem ebenso gedoppelt wie der Tintenfisch im „Chinesischen Wörterbuch“. Dass gleich im Eingangsabsatz Fische auftauchen, freilich solche, die in Bäumen hängen und insofern offenbar wieder einmal Bewohner eines Zwischenraums sind, überrascht da nicht.
Morgens um fünf Uhr. Die Glocken der Kirche schrecken den Kalender auf. Der Wind dröhnt. Die Alaska-Lachse, die Krähen und die Äpfel werden krachend aus den Ästen der großhäuptigen Bäume geweht. In der weichen Erde öffnet sich ein topfförmiges Loch. (Talisman, S. 65)
Nach dieser kurzen Exposition wird die Erzählung auch schon mit dem autoreflexiven Hinweis darauf unterbrochen, wie und auf welcher Grundlage sie zustande kam. Ihre Matrix, so heißt es, sei ein Wörterbuch. Entsprechend seien es auch nicht wirkliche Ereignisse, die dargestellt würden. Was kann es dann sein, das sich darstellt? Es müssen wohl die Wörter selbst sein. Diese erscheinen als Bausteine einer erzählerisch entfalteten Welt – einer, in der man sich über nichts zu wundern braucht, weil hier alles anders zugeht als anderswo, das Verschiedenartigste sich verbinden kann. Verwechselungen – so heißt es dann auch – seien nichts Peinliches hier.40 Die Genese des Dorfes wird im folgenden beschrieben: als Konkretisierung der sich in Dinge verwandelnden Wörter aus einem Wörter-Buch, das schließlich (nachdem alle seine Wort-Elemente es verlassen haben) als leere Hülse zurückbleibt. Von den Dingen, in welche sich die Wörter verwandelt hätten, wisse man aber, so der Bericht weiter, schon einen Tag später nicht mehr, aus welcher Sprache sie abstammen, aber es sei auch legitim, nach Entstehung einer solchen Welt ihre Matrix zu vergessen.41
Die im folgenden erzählte Geschichte entspinnt sich am Leitfaden der Wörter eines Wörterbuchs, das sich der Leser denken muss, da es ihm ja nicht mitgeliefert wird. (Der deutsche Leser steht dabei dem japanischen Wörterbuch, aus dem der Originaltext seine Komponenten bezieht, noch ferner als der Leser des Originals. In gewissem Sinn muss aber auch der Leser des japanischen Textes das Wörterbuch rekonstruieren, aus dem sich die Autorin bedient.) Der Text bezeichnet sich insofern selbst als das Produkt eines Vorgangs, bei dem sich ein Vokabular entfaltet – und nicht etwa die Darstellung einer vorgestellten Sequenz sprachunabhängiger Ereignisse. Entsprechend sinnlos wäre es, die dargestellten Ereignisse als solche entschlüsseln zu wollen.42
Es scheint im Übrigen, als hätten sich die Elemente dieser Dorfwelt trotz ihrer Ablösung vom Wörterbuch doch keineswegs von ihrem ursprünglichen Wortcharakter getrennt (und tatsächlich besteht das „Dorf“ ja strikt genommen aus Wörtern und sonst nichts). Als eine „Eigentümlichkeit“ des Wörterbuchdorfs erwähnt wird eigens, dass es hier .Botschafter“ gibt (Talisman, S. 67),43 und das Bier hat im Dorf einen allzu starken Geruch, weil sich „vielleicht […] das Wort Bier zu häufig in der Nachbarschaft des Worts Exkrement aufgehalten und deshalb zu stinken angefangen“ hat (ebd.). Die Wörterbuch-Weltgeschichte durchläuft eine weiße und eine grüne Phase, beides offenbar unter dem Regiment von Wörtern für weiße bzw. für grüne Objekte. So ergibt sich zunächst eine Kette von Milch über Schaum, Waschmittel, schneeweißen Tischdecken, weißen Ohren und einer pigmentlosen Familie. Danach begrünt sich die intradiegetische Welt, indem ein „Grünes Jahr“ geschildert wird. Das Wort „bohren“ löst eine Kette von mit ihm verbundenen Vorstellungen aus – Lärm, Maschine, Bohrer, Straßenbau, Löcher in der Straße – wobei letzteres Bild zum Anlass der Versicherung wird, eigentlich gebe es im Wörterbuchdorf keine durchlöcherbare Straße, denn hier bestehe „die Erdoberfläche […] aus Papier und darunter ist nichts“ (ebd., S. 73). Auf eine surrealistisch anmutende Weise reihen sich in der Wörterbuchdorf-Geschichte allerlei rätselhafte Berichte und Feststellungen aneinander; dabei taucht auch das von Tawada als poetologische Metapher verwendete Puppenmotiv auf (ebd., S. 75). Die Geschichte endet autoreferenziell; sie verdeutlicht abschließend nochmals, dass in ihrer Welt alles aus Wörtern gemacht ist und insofern einen chimärischen Zwischenstatus besitzt, halb real, halb irreal. Ein junger Motorradfahrer wird angesprochen und
[…] sieht, wie der Mond eine halbfertige Frau beleuchtet. Halbfertig heißt, daß die rechte Hälfte ihres Körpers nur nebelhaft, wie vage hingefälscht erscheint, genau als wär sie gar nicht da. Der junge Mann spricht sie an, hört aber mittendrin wieder auf. Er denkt, ich bin ja selbst so. Ein mittendrin unterbrochenes Wort. Auch ich selbst. (Talisman, S. 79)
Auch „Das Wörterbuchdorf“ ist ein metapoetischer Text, ein Modell für das, was sich aus Tawadas Sicht im poetischen Prozess vollzieht: die Genese einer Eigenwelt aus Wesen, die dem Wörterbuch entstammen, der Ablauf von Ereignissen, die von Vokabeln induziert sind – und die niemals ganz aufhören, nach einem Wörterbuch auszusehen und zu klingen.
(4) Das Wörterbuch als Keimzelle und Brutstätte. Tawadas Wortgeburten
Der dem Ende des „Wörterbuchdorfes“ zugrundeliegende Einfall, Wesen aus geschriebenen Wörtern hervortreten zu lassen, erinnert kaum zufällig an Walter Benjamins Aufsatz über ABC-Bücher. In ihrer germanistischen Dissertation zum Thema Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur (2000) hat Tawada diesen Aufsatz ausführlich kommentiert.44 Sie selbst experimentiert mit der Produktion von Wortgeschöpfen. Ganze Geschichten entstehen aus dem Nukleus von Wörtern, die ihr aufgefallen sind. Dafür nur zwei Beispiele, die nicht zufällig mit dem Vorstellungshorizont um Körperwachstum und Fortpflanzung verknüpft sind:
Das deutsche Wort „Zelle“ wird in „Erzähler ohne Seelen“ (in: Talisman, S. 16ff.) zur Keimzelle einer Erzählung über allerlei Zellen.
Eines der deutschen Wörter, die mir in der letzten Zeit zunehmend gefallen haben, ist das Wort ,Zelle‘ – Mit Hilfe dieses Wortes kann ich mir viele kleine lebende Räume in meinem Körper vorstellen. In jedem Raum befindet sich eine erzählende Stimme. Diese Zellen sind deshalb vergleichbar mit Telefonzellen, Mönchszellen oder Gefängniszellen. (Talisman, S. 16)
Im folgenden überblenden sich – bedingt durch die im Deutschen bestehende Homonymie – Bilder und Berichte über Kommunikationsformen und -technologien (Reihen von Telefonzellen mit Mädchen darin, Beichtstühle, Schreibtische, Raumschiffe, Simultanübersetzerkabinen) einerseits, über den menschlichen Körper andererseits. Das eine erscheint im Licht des anderen – und im Bild der Übersetzung, die in einer „Zelle“ stattfindet.
Der menschliche Körper hat auch viele Kabinen, in denen Übersetzungsarbeiten gemacht werden. Ich vermute, daß es dort um die Übersetzungen ohne Original geht. (ebd., S. 19)
Eine Liste von Komposita von „-mutter“ wird zum Ausgangspunkt für „Sieben Geschichten der sieben Mütter“ (Talisman, S. 100ff.). Das Stichwort „Stiefmutter“ löst eine Reflexion über die Fremdheit gegenüber sich selbst und die Distanz zwischen vorgeburtlichem und geborenem Ich aus, die „Gebärmutter“ wird zum Modell, dem die Erzählerin ihr Schreibzimmer anzugleichen versucht. Mit „Doktormutter“ assoziiert wird der Wunsch nach einer Gebärmutter mit zwei Ausgängen, deren je einer in die Welt der Toten und in dieser Sprache führt; weitere Reflexionen knüpfen sich an „Perlmutter“, „Muttermale“, „Muttererde“ und „Mutterseelenallein“ (ebd., S. 101–104).
Diese und andere Sprach- und Wortspiele sind Konkretisierungen einer Poetik, die beim Sprachlichen ansetzt, um verfestigte Bedeutungen zu verflüssigen, geläufige Codes aufzubrechen – und so die Welt zu verwandeln. Im Zentrum steht dabei – eng verknüpft mit dem Vorstellungsfeld um Hybridwesen und Verwandlungen – das Konzept poetischer Magie, dem auch ihre germanistische Dissertation gilt. Hier kommentiert sie eine Passage von Horkheimer/Adorno über die Affinität zwischen Kunst und Zauberei in einer Weise, die nicht zuletzt ein Licht auf die Bedeutung des Wörterbuchs in ihren Texten wirft:
Künstler werden hier gleichsam als eine gesellschaftliche Gruppe verstanden, die nach der Ausweisung der Magie in verschobener Form weiterhin magische Traditionen pflegt. Es ist jedoch fragwürdig, ob die Kunst für diese Tradierung magischer Momente eine abgeschlossene Welt benötigt, in der nur ihre eigenen Gesetze gelten. Eher ahmt die ,Sprache‘ der Kunst das kommunikative Zeichensystem bis zu einem bestimmten Grad nach, um es dabei zu verschieben oder aufzulösen. Meiner Meinung nach enthält gerade diese Technik ein kritisches Potential, das der modernen Kunst ermöglicht, einen Raum für die Rückkehr der Magie zu inszenieren. (Spielzeug und Sprachmagie, S. 15)
Tawadas Poetik, so lässt sich ausgehend von diesen Bemerkungen bilanzieren, beruht auf folgenden Grundthesen:
(a) Literarische Produktivität ist im wesentlichen eine spezifische Form des Umgangs mit Zeichensystemen.
(b) Sie nimmt implizit und indirekt Bezug auf magische Praktiken, die einen direkten Wirkungszusammenhang zwischen Sprache und Dingen voraussetzten, indem sie die Suggestion eines solchen Zusammenhangs zitierend wiederholt.
(c) Dies geschieht durch verfremdende Nachahmung des konventionellen Umgangs mit Zeichen, durch ,abweichenden‘ Zeichengebrauch. Insofern spielt sich Kunst nicht in einem abgeschlossenen Raum ab, sondern schließt (negierend, verfremdend, transformierend) an den Alltagssprachgebrauch an.
(d) Durch die Verfremdung der konventionellen Beziehungen zwischen Wörtern und Bedeutungen (und zwischen den Wörtern selbst) verändert sich die – normalerweise durch Codes gestiftete und geregelte – Beziehung zwischen Zeichen und ihren Bedeutungen: Die Wörter verwandeln sich von bloßen Etiketten zurück in Bedeutungsträger, die von keiner Konvention, keinem Code abhängen; ihre Bedeutungen oder Bedeutungspotentiale hängen (bildlich gesprochen) ohne jede Vermittlung eines Dritten an ihnen selbst.
Bei der Be- oder Umschreibung dieser Idee eines ,unmittelbaren‘ Bezugs zwischen Wörtern und Bedeutungen ist Walter Benjamins Sprachtheorie Tawada eine wichtige Argumentationshilfe; darum nimmt sie auf diese Sprachtheorie ausführlich Bezug. Benjamin beschreibe, so Tawadas Paraphrase zur „Aufgabe des Übersetzers“, eine mythische Urszene, in der die Sprache ihre magische Kraft verloren habe (Spielzeug und Sprachmagie, S. 15). Die „Magie der Sprache“ habe ihm zufolge in ihrer „Unmittelbarkeit“, ihrem „vor- oder nichtmedialen Charakter“ bestanden. In der (nun verlorenen) magischen Sprache sei die „Sprache der Dinge“ selbst artikuliert worden; die post-magische Sprache sei demgegenüber „instrumental“ und „abstrahierend“.
Nach dem ,Sündenfall‘ der Sprache tragen nur noch bestimmte Sprachen – z.B. die der Kunst – Spuren der magischen Sprache.45
Was bedeutet dies für das Wörterbuch als poetologisches Modell? Das Wörterbuch macht erstens evident, dass die Dinge verschiedene Namen haben, der Bezug zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen also durch Konventionen geregelt ist. Gerade Übersetzer wissen dies. Zweitens lassen sich gerade Wörterbücher so arrangieren, dass die im Übersetzungsprozess stattfindenden semantischen Verschiebungen evident werden. Wenn ein ,übersetzter‘ Ausdruck konnotationsreicher, komplexer oder schlichtweg ,anders‘ klingt als vertraute Ausdrücke, dann erweist sich ganz konkret, in welchem Maße Bedeutungen von ihren sprachlichen Signifikanten abhängen und geprägt werden. Wird der „Delphin“ im Chinesischen als Meer-Schwein beschrieben, so ist „Meerschwein“ kein einfaches Äquivalent zu „Delphin“. Sondern die Differenz beider Ausdrücke verdeutlicht, in welchem Maße die Vorstellung von einem bestimmten Tier davon abhängt, wie man es nennt. Die Wörter selbst, mehr als bloße Etiketten, bestimmen über diese Vorstellung. Das Übersetzen ist Metapher des literarischen Arbeitsprozesses, weil es entsprechende Verschiebungsprozesse auslöst.46 Literarisches Schreiben ist Arbeit an und mit einer Fremdsprache, auch und gerade wenn es sich um ein Schreiben in der eigenen Muttersprache handelt.47
Tawada interessiert sich für die oft unscharfen Ränder unserer mit Wörtern verbundenen Vorstellungen. Sie tastet gern Wörter und Ausdrücke fremder Sprachen auf deren meist vergessene Bildhaftigkeit und Metaphorizität ab, verbindet mit ihnen mögliche Konnotationen und beobachtet sie auch hinsichtlich ihrer Lautwerte oder visuellen Qualitäten mit der Neugier dessen, der auf Überraschungen gefaßt ist. Aber auch Ausdrücke aus dem Japanischen und aus dem ihr inzwischen zur geläufigen Schreibsprache gewordenen Deutschen werden entsprechend unter die Lupe genommen, be- und umschrieben wie in einem Wörterbuch. Im Wörterbuch wird aus vertrauten Vokabeln durch scheinbare Bereitstellung schlichter Äquivalente etwas anderes: Assoziationshorizonte, die das Signifikat umgeben, verschieben sich, die Abhängigkeit von Welt-Bildern von ihren Bezeichnungen wird evident. Indem so das Wörterbuch exemplarisch die Bindung zwischen Wörtern und Vorstellungsgehalten demonstriert, wird es zum Ort, an dem die quasi-,magische‘ Dimension poetischen Sprachgebrauchs sich exemplarisch entfaltet.
Das „Wörterbuch“ ist Matrix – und in dieser Eigenschaft ein Gleichnis des poetischen Textes. Es enthält – auf der ,einen Seite‘ – geläufige Ausdrücke, löst diese aber aus ihrem gewöhnlichen Kontext und versetzt sie in neue Kontexte, durch welche die Ausdrücke auf unvertraute Weise ,umschrieben‘ werden. Diese neue ,Umschreibung‘ des Ausdrucks bedingt es, dass die Abhängigkeit seiner Bedeutungen von den jeweiligen Umschreibungen erkennbar wird. So erschließen sich erstens bislang unentdeckte Bedeutungspotenziale. Und zweitens wird durch die umschreibende Arbeit am Ausgangswort demonstriert, dass zwischen Ausdruck und Bedeutung ein innerer Zusammenhang besteht. Die Wörter gewinnen – mit Benjamin und Tawada gesagt – etwas von ihrer magischen Kraft zurück, bzw. diese wird wieder sichtbar gemacht.48
Monika Schmitz-Emans, aus Christine Ivanovic (Hrsg.): Yoko Tawada – Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk, Stauffenburg Verlag, 2010
YOKO TAWADA
Märchen lügen nicht. Aber ihre Tanten.
Begegnet dir ein guter Stoff, stehst du
mit deinen Füßen drin. Hunger ist Geld
ohne Dispositionskredit. Wer keine Zeit hat,
kommt gerade nicht von müssen.
Peter Wawerzinek
MEIN ZIFFERN ALFA BEET
Viele 0815 Menschen sind durch meinen 1 A Körper gegangen
Viele 007 Männer, viele XYZ Bücher von 00 Männern, viele Din A4 Bücher
Von Männer über Männer, von Frauen über Männer von Frauen über Frauen
Eine Menge Kochbücher drunter ganze Fußballmannschaften
Von A bis 100 000 plus Schiedsrichter plus Platzwarte
Viele kleinere und größere Dörfer siedeln in mir und Namen
Westliche Städte, südliche Skylines, die zum Beispiel von N.Y.
Ein Haufen Hinweisschilder vor allem Waldbrandwarnstufen
Und viele Zahlen sind in mir, die setzen Wort an
Unverdaut wandeln sie sich
Werden ich wie ich
War 1-t ver-2-felt 3-st in mich ver4-t
Die Beine be-5-t wollt ich 6 mich durch 7
Gab fein 8 sagte zu keinem 9 mußte 10
Wohin das führt
Peter Wawerzinek
Lilian Peter: HOW TO COOK A PHALLUS #6 Aufforderung zum Zungentanz: Für eine Umwertung der literarischen Werte
Neue Überseezungen. Yoko Tawada
Hana Paseková: Verwandlungen von Tawada Yōko
Jacqueline Gutjahr: Einladung zum Spiel – den Texten von Yoko Tawada auf der Spur
Florian Gelzer: Sprachkritik bei Yoko Tawada
Peter Waterhouse: Laudatio (Manuskript 1–11, Manuskript 12–25) zum 5. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2013 an Yoko Tawada
„Überseezungen“: Yoko Tawada und Pia Tafdrup sprechen über „Poesie und Verfremdung“, am 10.10.2014 im Lyrik-Kabinett München, Moderation: Heinrich Detering.
Humorvoll und mit Tiefgang – Yoko Tawada
Yoko Tawada liest am 5.7.2011 im Koeppenhaus in Greifswald.
Schreibe einen Kommentar